Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Dossier Rechts, extrem, alternativ - Die Identitäre Bewegung will völkisches Denken salonfähig machen Autor: Nail Al Saidi Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: DLF 2017 Erstsendung: Freitag, 03.02.2017, 19.15 Uhr Sprecher: Nail Al Saidi Regie: Wolfgang Schiller Ton und Technik: Hendrik Manook und Caroline Thon Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Atmo O-Ton Robert Timm: "Wir haben es mal wieder getan. Die Identitäre Bewegung hat ein Gebäude besetzt." O-Ton Kahane: "Die Identitären - das ist eine popkulturelle Gruppe, die Nazi-Progaganda macht. Im Grunde ist es nichts anderes." O-Ton Maike Roesch: "Wir verstehen uns als aktivistischer Arm der Neuen Rechten." O-Ton Andreas Zick: "Warum beschäftigen die Jugendlichen sich so viel mit Heimat? [...] die dann auf einmal Identitäre faszinierend finden? [...] Die dann auf einmal eine Idee des Völkischen gut finden?" O-Ton Lenard Suermann: "Die Identitären sind ein Stück weit vielleicht die Rechtsextremen, die wissen, wie man Selfies macht." O-Ton Aktivisten-Chor: "Augstein, Käßmann hört gut her, die Zukunft wird identitär! Augstein, Käßmann hört gut her, die Zukunft wird identitär! ..." O-Ton Margot Käßmann: "Also: Das sind ein paar nicht dialogfähige Jungs, die gern stören und stolz darauf sind." O-Ton Timm Chor: "Freiheit, Freiheit, Tradition! Multi-Kulti Endstation!" Ansage: Rechts, extrem, alternativ - Die Identitäre Bewegung will völkisches Denken salonfähig machen Ein Dossier von Nail Al Saidi Autor: Sie nennen sich "identitär". In dem Wort steckt Identität. Zweifellos. So wie in jedem Menschen. Aber "Identitäre" haben wohl noch etwas mehr zu bieten. Sind es Menschen, die sich ihrer Identität ganz besonders bewusst sind? Und was folgt daraus? Eine "Jugendbewegung ohne Migrationshintergrund". So lautet eine Selbstbezeichnung der Identitären aus dem Internet. Eine neue Subkultur, importiert aus Frankreich. Im deutschsprachigen Raum tauchen sie das erste Mal 2012 auf. Die Identitären geben vor, anders zu sein. Anders als alles, was bisher am rechten Rand stand. Sie behaupten, gewaltfrei zu sein, weder nationalistisch noch rassistisch. Stattdessen: demokratisch und weltoffen mit zivilem Ungehorsam - und einer klaren Vorstellung, wer und wie das deutsche Volk zu sein hat. In spontanen Aktionen wettern sie gegen die deutsche Asylpolitik, gegen die multikulturelle Gesellschaft und gegen eine vermeintliche Islamisierung. Seit Sommer 2016 hat sie der Bundesverfassungsschutz auf dem Schirm. Nun werden sie beobachtet: wenn sie im Burka-Gewand durch Innenstädte laufen wie Spukgespenster. Oder auf das Brandenburger Tor klettern. Oder ins Theater reinplatzen. Intro radioeins Freitag Salon O-Ton Jakob Augstein: "Guten Abend meine Damen und Herren! Ich begrüße sie zum ersten Freitag und radioeins Salon nach der Sommerpause. Ich hoffe, Sie sind fröhlich, ich weiß warum sie heute Abend hier sind. Wir sitzen im Gorki Theater und es ist klimatisiert." Autor: Berlin. Das Gorki Theater Mitte September 2016. Auf der Studiobühne sitzen Margot Käßmann und Jakob Augstein. Der Chefredakteur der linken Wochenzeitung der Freitag interviewt die evangelische Theologin für eine Radiosendung - live vor Publikum. Augstein und Käßmann wollen über das Jubiläumsjahr zur Reformation reden und die Bedeutung von Martin Luthers Wirken für heute und auch über die aktuellen politischen Ereignisse: über die Fremdenfeindlichkeit und die geflüchteten Menschen. Käßmann ist die offizielle Botschafterin des Rates der evangelischen Kirche in Deutschland für das Reformationjubiläum 2017. O-Ton Käßmann: "Sie müssen sich vorstellen, das ist ein dunkler Raum, Sie sitzen im Licht, sehen aber eigentlich nicht genau, wer im Publikum sitzt. Es war gut gefüllt und Jakob Augstein und ich haben gerade darüber gesprochen, was die Veränderungen in Deutschland bedeuten, und ich habe gesagt, das Burka-Verbot ist doch eine Symbol-Debatte, das war nach einer Stunde Gespräch ungefähr, sehr ruhigem Gespräch." Atmo radioeins und Freitag Salon Käßmann: "Ich habe wirklich mal ausgerechnet. Es gibt geschätzt 800 Burka-Trägerinnen in Deutschland. Das sind 0,001 Prozent der Bevölkerung." Autor: Dann wird es im Publikum plötzlich laut. Atmo radioeins und Freitag Salon Männlicher Ruf aus dem Publikum: "Ich kann ihre Lügen nicht mehr hören!" Käßmann: "Ja, ist ja okay. [leicht unverständlich:] Sie können ja rausgehen. Sie sind ein freier Mensch in einem freien Land. Sie müssen ja nicht." Weiblicher Ruf aus dem Publikum: "Ihr beide seid Heuchler!" Autor: 20 Aktivisten, hauptsächlich junge Männer, erheben sich in der vierten Reihe. Chor der Aktivisten: "Heuchler! Heuchler! Heuchler!..." O-Ton Käßmann: "Ich bin dann auch ziemlich ruhig geblieben, hab' gesagt: ‚Wir sind ein freies Land, Sie können gerne gehen.' Und dann brüllte ein anderer: ‚Heuchler, Heuchler!' Und dann hielten sie Schilder hoch. Waren gut sortiert. ‚Heuchler' stand dann da auch mit Großbuchstaben. Und Herr Augstein sagte: ‚Können Sie uns sagen, warum wir Heuchler sind?" Und dann brüllten sie wieder: ‚Käßmann, Augstein hört gut her, Deutschland wird identitär!' Und brüllten, brüllten." O-Ton Chor der Aktivisten: "Augstein, Käßmann hört gut her, die Zukunft wird identitär! Augstein, Käßmann hört gut her, die Zukunft wird identitär! ..." O-Ton Käßmann: "Und dann fingen die anderen im Publikum an zu pfeifen und gegenzubrüllen und dann kamen sehr schnell Ordner vom Theater und baten sie rauszugehen und dann marschierten die auch ab." Autor: Später, in einer Kolumne, nennt Jakob Augstein die Identitären die "Bodentruppe der AfD". Die Störer selbst veröffentlichen im Internet so etwas wie eine Pressemitteilung. Man habe eine "Ästhetische Intervention" gemacht gegen Jakob Augstein und Margot Käßmann. Die beiden seien "selbstverliebte Fürsprecher der Abschaffung Deutschlands". Ihre Schlacht im Gorki Theater zur Rückeroberung des Abendlandes dokumentieren sie in einem Internetvideo. Viedoausschnitt: "Europa, Jugend, Reconquista - Europa, Jugend, Reconquista!" [Jubel] O-Ton Käßmann: "Es hat mich erinnert an die 68er, als ich in Marburg in der Schule war und die ab und zu solche Brüllaktionen hatten. Also in der Situation finde ich, haben wir das gut gemeistert, aber ich muss sagen, hinterher, als wir noch zusammensaßen, da hat mir dann doch ein bisschen die Hand gewackelt, weil es hat was Brutales: laut, brutal und ohne jedes Wollen von Dialog. Einen Dialog wollten die nicht." Autor: Auf ihren schwarz-gelben Fahnen benutzen sie als Logo das Lambda - den 11. Buchstaben des griechischen Alphabets. Er sieht aus wie das Dach eines Hauses. Oder wie ein Zacken. Übernommen haben sie das von den Spartanern. Die hatten das Lambda auf ihre Schilde gemalt, als sie das Perserreich mit nur 300 Mann schlugen - vor 2.500 Jahren. Eine lange Zeit vor Christus und Mohammed, doch die Identitären sind immer noch im Kampf gegen Mächte aus dem Orient. Autor: Der zweite Advent 2016 in der Bochumer Innenstadt. Wochenlang habe ich verschiedene Regionalgruppen kontaktiert. Ich hätte sie gerne bei ihren Stammtischen erlebt oder als sie Pfefferspray an Frauen in der Paderborner Fußgängerzone verteilt haben. Und auch in Bielefeld wäre ich gerne gewesen, als sie sich für ein Seminar mit Burschenschaftlern und AfDler trafen und mit Jürgen Elsässer, dem Chef des rechtspopulistischen Compact-Magazins. Aber da wollten sie mich nicht dabei haben. Nur bei dieser Aktion darf ich als Journalist erscheinen: Wenn die Identitären in Bochum Weihnachtsplätzchen verteilen. Atmo Weihnachtsmarkt Maike Roesch: "Das sind Oblaten, Haselnuss-Oblaten, Kokos-Schoko-Kugeln, Butterkeks und Schokolade, ... Schokolade mit Früchten, Schokolade-Früchte, Cornflakes-Crossies mit gemischten Nüssen und ..." Al Saidi: "Und natürlich verziert. Mit dem Zeichen der Identitären Bewegung. Dem Lambda." Roesch: "Aber selbstverständlich!" Autor: Ein antikes Symbol auf christlichen Weihnachtsplätzchen. Hauptsache: Europäischer Kulturraum, sagt Maike Roesch. Sie leitet die Identitäre Bewegung im Rheinland. Aus dem Kofferraum holt sie Tüten mit selbstgebackenen Plätzchen. 80 bis 100 Identitäre soll es in Nordrhein-Westfalen geben, sagt Maike Roesch. Gekommen sind heute acht. Rein optisch würden diese jungen Leute auch in die Junge Union passen. Höflich, ordentlich gekleidet, vom Alter zwischen 20 und Mitte 30. Darunter zwei Doktoranden, ein Maschinenbau-Ingenieur, ein Bauunternehmer und auch eine Abiturientin. Marco, einer von ihnen, erzählt, dass er sogar Ausländer in seinem Freundeskreis hat. Deswegen sei er definitiv kein Rassist. Den Vorwurf kenne er schon. Und rechtsextrem könne er gar nicht sein, denn die Identitären würden ja schließlich auf Gewalt verzichten. O-Ton Marco: "Über Facebook, über einen gesponserten Beitrag, bin ich auf die IB aufmerksam geworden, hab' dann auch Kontakt mit denen aufgenommen, ein Gespräch geführt, ein Erstgespräch und hab' eigentlich sofort gemerkt, dass wir relativ auf einer Wellenlänge sind. Bisher gab es leider nie ein anderes Angebot - sag' ich mal - für das patriotische Lager außer das Rechtsextreme, wovon ich mich immer ferngehalten habe, das habe ich immer vermieden und möchte das auch weiterhin." Autor: Er zeigt mir eines der Flugblätter. Darauf steht: sichere Grenzen, sichere Zukunft. Und im Hintergrund: ein Maschendrahtzaun. O-Ton Al Saidi, Marco: Al Saidi: "Und wie steht das dann im Zusammenhang mit Weihnachtsplätzchen?" Marco: "Es geht einfach darum, dass im Zuge der offenen Grenzen unsere eigene Kultur natürlich immer mehr unterspült wird und wir darauf halt aufmerksam machen möchten, und selbstverständlich vieles aus dem Ruder gelaufen ist, da kann man natürlich verschiedene Ansichten darüber haben, ob das nun gut ist oder nicht. Aber wir sehen natürlich, dass auch - ich sag' mal - die Auflösung unserer eigenen Kultur, oder was heißt Kultur, unserer eigenen Traditionen, die immer weniger Anklang finden in der Gesellschaft, dass dies schon irgendwo mit den offenen Grenzen auch in Zusammenhang steht." Autor: Ohne die sonst mitgeführten Fahnen und Banner entern die Identitären dann den Bochumer Weihnachtsmarkt. Sie strömen in alle Richtungen aus, in der einen Hand Plätzchentüten, in der anderen gelbe Flugblätter. O-Ton Weihnachtsmarkt: "Guten Tag, darf ich Ihnen ein paar Kekse zum Advent schenken? Kein Haken, kein nichts. Wir haben die gebacken und verteilen die heute. Dazu gibt's noch ein bisschen Lesestoff. Aber Sie müssen nichts unterschreiben oder sonst was." O-Ton Al Saidi, Weihnachtsmarktbesucher: Al Saidi: "Wissen Sie was Sie gerade angenommen haben?" Erste Frau: "Nee, muss ich noch lesen, keine Ahnung, was das ist." Al Saidi: "Kennen Sie diese Gruppierung, die Identitäre Bewegung? Sagt Ihnen das was?" Erste Frau: "Öh-öh. Nee, ich weiß überhaupt nicht, was das ist hier. Hab ich keine Ahnung von." [lacht] Al Saidi: "Sagt Ihnen ‚Identitäre Bewegung' irgendwas?" Zweite Frau: "Nee, überhaupt nicht, gar nichts. Politik bin ich eigentlich nicht für. Ist das hier von Atom oder was?" Al Saidi: "Von Atom? Ach so, wegen der gelben Farbe?" Zweite Frau: "Wegen der gelben Farbe da, genau." Al Saidi: "Nee, damit hat das nichts zu tun." Zweite Frau: "Okay." Al Saidi: "Wissen Sie, was Sie da gerade angenommen haben? Oder was diese Identitäre Bewegung bedeutet?" Dritte Frau: "Nein, das weiß ich nicht. Deshalb guck' ich jetzt gerade...Bündnis 90 steht jetzt hier, Grüne Düsseldorf, Weihnachtsbaum. Ja keine Ahnung." Autor: Das Flugblatt der Identitären behauptet, dass durch Multi-Kulti und Einwanderung Weihnachtstraditionen verschwinden würden. Weihnachtsmärkte würden in Wintermärkte umgetauft und die Grünen in Düsseldorf würden den Weihnachtsbaum vor dem Rathaus abschaffen wollen, behauptet der Zettel. Eine Falschmeldung. Die Grünen hatten eigentlich versucht, am Rheinufer einen Tannenbaum zu pflanzen, anstatt jedes Jahr eine Tanne fürs Rathaus zu fällen. Dann findet sich noch ein interessierter junger Familienvater. Er scheint die Identitären schon zu kennen und will sich ihnen vielleicht anschließen. O-Ton Interessent aus Recklinghausen: "Mich spricht an, dass sie friedliche Aktionen machen. Sozialkritisch gegen die Islamisierung zum Beispiel, was ich als Christ sehr zwiespältig sehe. Ich habe selber zwei Kinder und die sind zu zweit als Deutsche in der Schulklasse. Der Rest besteht tatsächlich nur noch aus Ausländern." Autor: Nach einer halben Stunde gehen den Identitären die Plätzchen aus. Dann verabschieden sich sie sich von mir. Sie wollen nach Essen fahren zum gemeinsamen Fernsehgucken. Es ist Wahltag. O-Ton Roesch: "Wir sind natürlich sehr gespannt, wie das Renzi-Referendum ausgeht und die Bundespräsidentenwahl in Österreich, wir werden das heute Abend dann mit großer Spannung verfolgen." Autor: In Italien hoffen sie, dass der EU-freundliche linke Ministerpräsident Matteo Renzi das Verfassungsreferendum verliert, weil er danach zurücktreten wird. Bei der Wahl in Österreich drücken sie Nobert Hofer die Daumen, dem Kandidaten der FPÖ. Nicht nur weil sie seine rechtspopulistischen Ansichten unterstützen, sondern weil sie auch eng mit Identitären aus Österreich zusammenarbeiten. Die Gruppen dort haben für die Deutschen eine Vorbildfunktion: Die Aktionen der Österreicher sind lauter, aggressiver und bekommen mehr Platz in den klassischen Medien. Die treibende Kraft dahinter ist Martin Sellner, ein junger Wiener und der Star der Identitären. O-Ton Martin Sellner: "Servus Leute. Mein Name ist Martin Sellner. Ich bin ein identitärer Aktivist und ich mache patriotische Videos auf Youtube. Und man sagt mir nach, dass ich oft zu lange spreche und deshalb auch zu lange Videos mache." Autor: Sellner ist Kopf und Stratege der deutschsprachigen Identitären Bewegung. Wie kein zweiter verkörpert er den neuen rechten Lifestyle. Er nennt sich selbst einen "Ibster", geschrieben am Wortanfang mit "i" und "b", der Abkürzung der Identitären Bewegung. Und was macht so ein rechter Hipster? Sellner schmückt seine Tweets mit Heidegger-Zitaten, schreibt Artikel über einen vermeintlichen Bevölkerungsaustausch und betreibt einen Fan-Shop für Identitäre. Das Design und die Sprüche auf seinen T-Shirts und Aufklebern reichen von witzig gemeint bis martialisch: "Make Love and Defend Europe" - "So sehen Patrioten aus" oder "Ab in den Süden - Remigration". Der letzte Spruch erinnert an das NPD-Plakat "Guten Heimflug". Mit dem hatte sich die rechtsextreme Partei auf Facebook blamiert, weil auch noch draufstand: "unser Volk zuerst". So ein Fauxpas würde dem rechten Styler Martin Sellner nicht passieren. Er kennt sich aus im Netz, Die meiste Zeit verbringt er damit, sich und seine Meinung, wie man als Identitärer die Welt zu sehen hat, zu filmen. O-Ton Sellner: "Leute, ihr müsst nicht alles glauben, was man euch vorsetzt. Auch wenn es von patriotischen Seiten kommt und auch wenn es vielleicht grundsätzlich in unser Weltbild passen würde." Autor: Bis zu 60.000 Klicks haben seine Videos bei Youtube. Eigentlich ist der Arztsohn Sellner Jura- und Philosophiestudent. Aber zum Studieren bleibt keine Zeit. Der rechte Aktivist Sellner ist viel unterwegs in Österreich und in Deutschland, hält Reden bei Pegida oder fährt zu neurechten Veranstaltungen. Für ein Treffen von Angesicht zu Angesicht bleibt keine Zeit. Also verabreden wir uns Anfang Oktober 2016 zu einem Gespräch über Skype. Erstaunlich offen ist er, obwohl er ansonsten von Lügen- oder Lückenpresse spricht. Mit mir, dem Journalisten der klassischen Medien, redet er trotzdem gerne. O-Ton Begrüßung Al Saidi: "Hallo Herr Sellner." Sellner: "Grüß Gott." Autor: Sellner sitzt in Österreich gut gelaunt vor seinem Laptop. Ein fotogener Typ, schwarze Hornbrille, er fährt sich durchs braune Haar, modisch nach rechts gescheitelt, die Seiten kurz. Ein sympathischer Kerl, dem man gar nicht böse sein kann. Er gibt sich sozialkritisch und undogmatisch, wie ein Rebell, der das rechte Lager aufmischen will. Jürgen Elsässer, sein Patron vom Compact-Magazin, hat ihn sogar mit der 68er-Ikone Rudi Dutschke verglichen. O-Ton Sellner: "Diese komplette Einheitsmeinung ärgert mich sehr. Und Leute, die jetzt ganz idealistisch diese...diese...bewusst eine Meinung vertreten, wie Rudi Dutschke, mit diesen Leuten - muss ich sagen - bin ich immer schon besser zurechtgekommen als mit denen, die einfach mit der Masse mitschwimmen und aus so einem Koformitätsdruck eine Meinung vertreten." Autor: Vor ein paar Jahren noch hat Sellner in neonazistischen Kreisen verkehrt. Im Internet existieren Bilder aus dieser Zeit: Sellner mit Gleichgesinnten einer freien Kameradschaft. Alle in Schwarz und in Reih und Glied. Eine Jugendsünde, beteuert er heute. O-Ton Sellner: "Auf der Straße gab es immer nur die alten, gleichen, ewigen Skinheads, Nationalisten, NPD-Leute. Und wir haben gesagt: Das geht nicht mehr, wir müssen letztlich auch denen die Straßen streitig machen." Autor: Mit dem Rechtsextremismus von damals habe er nichts mehr zu tun, sagt Sellner. Er redet von "alter Szene" und "alter Rechte". Gemeint ist damit alles, was mit dem Nationalsozialismus zu tun hat. Davon habe er sich distanziert. Er und ein paar Freunde hätten dann eine neue rechte Heimat gesucht, sagt Sellner. Sie lasen Texte neurechter Autoren und bekamen mit, wie sich schon Anfang des Jahrtausends in Frankreich ein sogenannter "identitärer Block" gebildet hat, eine Gruppe, die sich "Jugendbewegung ohne Migration" nennt und die gegen eine vermeintliche Islamisierung ankämpft, mit Mitteln des zivilen Widerstands. 2012 importierten Sellner und Co. das Konzept nach Österreich. Heute zählt die Gruppe dort 300 Aktivisten, sagt Sellner. Für Demos könne er sogar bis zu 1.500 Sympathisanten mobilisieren. O-Ton Sellner: "Es gibt eine andere Jugend. Es gibt einen normalen Patriotismus, der nichts mit NS zu tun hat. Und der hat auch ein Recht, ein Mitspracherecht in politischen Debatten." Autor: Zu diesem "normalen Patriotismus" gehört offenkundig auch, dass man sich lieber auf die deutsche Geschichte vor 1933 beruft. Als die deutsche oder österreichische Welt noch heil war. Eine Tradition und Kultur, auf die man uneingeschränkt stolz sein will. Die deutsche Geschichte des Dritten Reiches und der Holocaust dagegen werden umschifft. Darauf angesprochen, trifft man einen wunden Punkt bei Sellner: Dass seine biodeutschen Landsleute mit dem Holocaust gar nicht so locker und so unverkrampft umgingen, wie er das wohl gerne hätte. O-Ton Sellner: "Wenn man mich so halt fragt, was ist jetzt ein echter Deutscher oder was ist jetzt ein Biodeutscher, dann gibt's 'ne recht provokante Antwort. Ich sag' immer, dass sind immer die Leute, die sich schuldig fühlen für die Deutsche Geschichte oder Probleme mit der deutschen Geschichte haben. Und mir kommt es eben auch vor, das fällt mir auch jetzt wieder auf, dass Leute mit einem Migrationshintergrund meistens viel lockerer und viel unverkrampfter über das Thema reden können." Autor: Martin Sellner möchte, dass man eine angstfreie Debatte über Geflüchtete und Asyl führt. Das einzige Problem dabei: Redet man mit ihm darüber, driftet das Gespräch schnell in Richtung "Islam" und der bedeutetet für ihn - fast gleichbedeutend mit "Islamisierung" - immer Gefahr. Sellner lebt in Wien. Jeder zweite Einwohner dort hat einen Migrationshintergrund. O-Ton Sellner: "Unsere Angst ist, das diese demographische Umwälzung auch eine Umwälzung in der Identität und der Kultur bedeuten wird und damit unsere Identität verschwinden könnte aus der Geschichte und unserer Demokratie." Autor: Sellner spricht von einem sogenannten "Großen Austausch", dass angeblich die einheimische Bevölkerung durch Fremde ersetzt würde. Er redet schnell, beflissen und jongliert mit Autorennamen und Theorien. Ständig geht es im Gespräch um "wir" und die "anderen". Sich selbst und seine Mitstreiter sieht Martin Sellner als "europäische Ureinwohner". Alle, die diesen vermeintlichen Bevölkerungsaustausch zuließen - die verschmäht er als die "Multi-Kultis". Sie würden die Heimat durch Fremde zerstören. Mit Fremdenfeindlichkeit und Rassismus habe das nichts zu tun, sagt Sellner. Er beruft sich auf das Konzept des sogenannten "Ethnopluralismus". Demnach habe jedes Volk seine eigene Identität und Kultur. Alle seien gleichwertig und hätten das Recht zu existieren, aber bitte nur dort, wo sie ursprünglich herkommen. Vermischen dürften sich die Kulturen auf keinen Fall. Ansonsten drohe der Untergang der Völker. O-Ton Lenard Suermann: "Also, die Oberfläche ist geschickt kaschiert, aber was dahintersteckt, ist immer noch ein sehr klassisches, völkisch-nationalistisches Weltbild." Autor: Sagt Lenard Suermann. Er arbeitet in Düsseldorf als Berater gegen Rechtsextremismus und kennt die Denkmuster der Neuen Rechten. O-Ton Suermann: "Das wäre der Austausch, der davon ausgeht, dass es eben halt so einen Volkskörper gäbe, einen biologisch gedachten Volkskörper, und jeder Deutsche, autochthone Deutsche, wäre dann eine Zelle, der dann im Austausch gegenüber gestellt wird eine nicht integrierbare Noch-Minderheit, die bald eine Mehrheit ist von Menschen, die qua Gene nicht in der Lage wären, sich an einer Deutschen Kultur zu integrieren sich anzupassen, teilzuhaben." Autor: Die Identitären versuchen, sich abzugrenzen von den klassischen Neonazis - doch immer wieder berühren sich die beiden: So etwa 2016 im bayerischen Freilassing, als bei einer Demo neurechte Identitäre neben altrechten Nazis aufmarschierten. Versuche der extremen Rechten, sich neu zu erfinden und zu verkaufen, gab es schon immer, sagt Suermann. Ehrenamtlich arbeitet er im Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung. Das Institut ist auf Rechtsextremismus spezialisiert und verfolgt seit 1984 die Entwicklungen am rechten Rand. O-Ton Suermann: "Das ist also der Eingang zum Archiv. Hier haben wir zunächst die Bücher nach '45 der extremen Rechten zu verschiedensten Themen. Es geht oft um den Nationalsozialismus, also die geschichtsrevisionistische, geschichtsklitternde Reinwaschung der Deutschen von den Nazi-Verbrechen. Aber auch andere Themen, also den Kulturkampf von Rechts, wie man ihn aus der Rechten eben führt. Hier haben wir Bücher und sozusagen im Raum nebenan gibt es dann die Periodika, die Zeitschriften und Zeitungen." Autor: Im Keller lagern tausende rechtsextremer Bücher und Zeitschriften. O-Ton Suermann: "Hier haben wir zum Beispiel Wir 89er - wer wir sind und was wir wollen. Und die 89er - da war die Neue Rechte halt gerade sehr im Kommen - ist das Gegen-68. Und so wird es inszeniert." Autor: Suermann zieht das Buch aus dem Regal. Er stellt es auf den Kopf und aus der 89 wird eine 68. Ein Pamphlet für eine neurechte Wende. O-Ton Suermann: "Wenn man sich jetzt anschaut, wie verschiedene Autoren oder verschiedene Akteure der Identitären eben sprechen, dann passt das in den Kontext dieser Neuen Rechten. Die 68er, die haben die Familie verraten, die haben die Kirchen verraten, die haben diese Kulturpolitik installiert durch den Durchmarsch durch die Institutionen, gegen den man jetzt 5 vor 12 aufstehen muss, damit der große Aufstand verhindert werden kann." Autor: Die Identitären sind nicht die einzigen, die so denken. Sie sind Teil einer Kampagne, die sich "1 Prozent" nennt. Diese will versuchen, ein Prozent der Deutschen für ihre neurechten Ideen zu gewinnen. 800.000 neurechte Aktivisten sollen dann als soziale Bewegung diese Gesellschaft mit ihrem vermeintlich linksliberalen Drall wieder gerade biegen. Soweit die Theorie. O-Ton Suermann: "Wenn man sich jetzt mal tatsächlich versucht, in so einen neurechten Menschen hineinzudenken, dann ist in der Vorstellung es wirklich 5 vor 12. Ich kann mir vorstellen, dass diese Menschen, die das wirklich glauben, ihr Weltbild wirklich verinnerlicht haben, mit 'nem Puls von 180 morgens aufwachen und glauben, bald geht unser schönes Deutschland unter. Die glauben, dass diese Volksgemeinschaft hier wirklich wie ein Körper gedacht wird, dass der krank ist, dass der infiziert ist und dass es nur noch eine gewisse Zeit gibt, bis dieser Körper nicht mehr lebensfähig wäre. Und da gibt es Bedrohungsszenarien, Kriseninszenierungen, wo man wirklich sagen kann: Denen geht es da scheinbar tatsächlich um die eigene Existenz." Autor: Seitdem die neuen Geflüchteten im Land sind, sehen sich Menschen mit rechtsextremen Einstellungen erst recht vor dem Untergang. Manche wähnen sich schon in einer Art Bürgerkrieg. Ihre Wahrnehmung ist nur noch auf Bedrohung fokussiert. Aus jeder Statistik zur Bevölkerung und Flüchtlingen wird der Untergang Deutschlands herausgelesen und Bundeskanzlerin Angela Merkel dafür persönlich verurteilt. O-Ton Suermann: "Die Möglichkeit einer Inklusion oder die Möglichkeit der Integration von nach Deutschland kommenden Menschen, die wird überhaupt nicht mitgedacht. Also man addiert nur. In jedem Jahr kommen so und so viel tausend Menschen und dann haben wir irgendwann mal die zigtausenden, die dann einer deutschen Minderheit gegenüber stünden. So als würden die, die hier hinkommen, nicht genauso bemüht sein, hier die Sprache zu lernen, sich anzupassen, aber auch eigene kulturelle Praxen mitzubringen, was ja auch erst mal gar nicht schädlich ist. Aber die Idee, dass daraus etwas Gutes und Neues entstehen kann, das wird von vornherein negiert. Und da kommt man zu Slogans wie ‚Deutschland schafft sich ab' oder wie es die Identitären neu formulieren: Es kommt ‚der große Austausch'." Autor: Die Identitären kämpfen gegen diese "Vorstellung" - in einem Kleinkrieg aus politischer Aktionskunst. Für eine breite Bewegung reicht das bisher nicht aus, sondern nur für ein paar rechtsintellektuelle Kreise, die allerdings international gut vernetzt sind. Es gibt Identitäre nicht nur in Österreich und Frankreich, sondern auch in Italien, Großbritannien, Tschechien und in den skandinavischen Ländern. Man beschwört ein gemeinsames Verständnis der europäischen Kultur - jenseits der Europäischen Union. Einig ist man sich vor allem, wogegen man sich abgrenzt: gegen die Afrikaner und die Muslime. O-Ton Robert Timm: "Wir haben es mal wieder getan. Die Identitäre Bewegung hat ein Gebäude besetzt. Die Frage ist: Warum haben wir das getan?" Autor: Natürlich um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Berlin Mitte November an einem Samstag. Acht Männer der Identitären stehen auf einem Balkon, eine weitere Bühne für ihren Kampf um eine Wende des politischen Zeitgeists. Mit Methoden der 68er gegen die Politik der 68er. Und keine andere Partei verkörpert für die Identitären den Geist der 68er mehr als die Grünen. O-Ton Emily Büning: "Sie sind hier hochgekommen, also da gibt es ja Videos auch von, dass sie eine Leiter aufgestellt haben und auf den Balkon im ersten Stock, der schon relativ hoch ist, muss man sagen." Autor: Erzählt Emily Büning, die organisatorische Geschäftsführerin von Bündnis 90/die Grünen. Sie ist an diesem Samstag zu Hause, so wie alle anderen aus der Geschäftsstelle auch, als die Identitären auf den Balkon klettern. O-Ton Büning: "Sind die mit 'ner Leiter hochgestiegen. Haben das Banner hier festgemacht, haben Fotos gemacht und sind dann aber mit Banner und Leiter wieder 'runter und haben dann allerdings, das hat mir später der LKA-Beamte berichtet, mit dem ich telefoniert habe: Sie haben ihre Leiter dann stehengelassen auf der Flucht. Also die wurde von der Polizei sichergestellt." Autor: Die Aktion dauert zehn Minuten, lange genug fürs nächste Video im Netz. Compact-TV ist mit dabei. O-Ton Timm: "Die Partei Bündnis90/die Grünen haben sich selbst den Multi-Kulturalismus auf die Fahnen geschrieben. Gleichzeitig sind sie die, die meinen, bei jeder Gelegenheit für Frauenrechte einzutreten. Dass sich das beides beisst, haben wir spätestens seit Silvester in Köln... [Jubel der Anhänger] Seit Silvester in Köln können wir Pfefferspray in Drogerien und Baumärkten kaufen. Zwischen Schokoriegeln und Gummibärchen. Sind das die neuen Errungenschaften, die uns hier bereichern sollen? Durch Multi-Kulti? Ich glaube wohl kaum." Autor: Dramaturgie und Aufbau sind aber weniger im Stile der 68er geplant, sondern streng durchgezogen: Links und rechts zwei Fahnenschwenker. Das schwarze Lambda auf gelbem Grund. In der Mitte ein Mann am Megafon, der Anführer der Identitären aus Berlin, und die anderen im Hintergrund nebeln die Kulisse mit gelbem Rauch ein. Am Balkon haben sie ein Banner aufgehängt, im Stile eines Grünen-Plakats mit Original-Partei-Logo. Das Wort "Frauenrechte" ist durchgestrichen. Stattdessen steht ein Häkchen bei "Multi-Kulti und Masseneinwanderung". Und darunter der Vorwurf: "Ihr habt unsere Frauen längst vergessen!" Nach einigen Minuten endet die Aktion. O-Ton Timm: "Wir beenden an dieser Stelle unsere Intervention. Wir bedanken uns für Ihre Aufmerksamkeit und wünschen Ihnen noch ein schönes und vor allem sicheres Wochenende, vielen Dank." Autor: Im Netz verkaufen die Identitären die Aktion als "Besetzung der Geschäftsstelle", etwas großspurig formuliert. Tatsächlich waren sie nur auf dem Balkon. Einen Monat später hocken sie sich vor die CDU-Partei-Zentrale. Spät abends, als keiner mehr im Haus ist. Wen sollte das schon blockieren? Die sozialen Netzwerke haben dafür nur Spott übrig. Die Grünen entscheiden sich in ihrem Fall, medial gar nicht zu reagieren. Man wolle die Aktion nicht noch mehr verbreiten. Die einzige Reaktion: eine Anzeige gegen die Aktivisten wegen Hausfriedensbruch. Bei den Provokationen geht es immer darum, einen bekannten und symbolischen Platz in der Öffentlichkeit einzunehmen, damit sie und auch die Presse später schreiben: Die Identitäre Bewegung hat den Platz erobert, geentert, gestürmt, besetzt. Das lässt sie dann groß und bedeutend aussehen. In Deutschland hat der Verein der Identitären Bewegung nach eigenen Angaben aber nur 600 Unterstützer: 200 Aktivisten und 400 Fördermitglieder . O-Ton Andreas Zick: "Man möchte auch wahrgenommen werden als Provokateur und man genießt die Unterstützung, die man dann in den Kommentaren bekommt, aus der Mehrheitsgesellschaft: ‚genau richtig' und so weiter." Autor: Sagt der Sozialpsychologe Andreas Zick, denn was die Identitären zurzeit hauptsächlich umtreibt, ist der Kampf darum, überhaupt gehört zu werden. Mit Blick in die Medien nimmt er wahr, dass das Phänomen "Identitäre" tatsächlich auf viel Anklang stößt: Das Feuilleton beschäftigt sich mit den Aktivisten und auch das Fernsehen. Der österreichische Privatsender Servus TV hat Martin Sellner - den Kopf der Identitären aus Österreich - im Herbst zu einer Diskussionsrunde eingeladen. Andere Politiker etablierter Parteien sagten daraufhin ihre Teilnahme wieder ab. Richtig so? Sollte man die jungen Aktivisten der Identitären tatsächlich ignorieren? O-Ton Zick: "Nein, ignorieren auf gar keinen Fall! Weil...diese Bewegungen erzählen uns etwas über die Mehrheitsgesellschaft." Autor: Auch die Identitären seien ein Symptom für Haltungen, die in der Mehrheitsgesellschaft weit verbreitet seien. Das geht aus der sogenannten "Mitte-Studie" hervor. Andreas Zick führt sie regelmäßig am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld durch. Die repräsentative Studie fragt: Wie verbreitet sind rechtsextreme Einstellungen und rassistische Vorurteile in der Mitte der Gesellschaft? Im Herbst 2016 wurde das erste Mal auch untersucht: Wie verbreitet sind völkisch-nationale Einstellungen der Neuen Rechten, die auch von den Identitären vertreten werden? Gefragt wurde unter anderem, ob man an eine Unterwanderung durch den Islam glaube oder an ein Meinungsdiktat von sinngemäß "die da oben - wir da unten" und ob man sich mehr von der EU abwenden solle. Das Ergebnis ist nicht einheitlich: Nur eine kleine Minderheit von sechs Prozent fühlt sich durch die Geflüchteten bedroht. Und über die Hälfte - 56 Prozent - finden die Aufnahme von Flüchtlingen nach wie vor gut. Andererseits tendieren 28 Prozent der deutschen Bevölkerung zu neurechten Einstellungen. Und 40 Prozent meinen: Der Islam unterwandere die deutsche Gesellschaft.. O-Ton Zick: "Es ist eine weitgeteilte Antipathie. Muslime sind die am meisten gehasste Gruppe in der Gesellschaft...Also wenn wir in der Mitte der Gesellschaft mehrheitsfähig so extrem negative Bilder über Muslime haben, wenn wir Ideen haben, dass wir Gruppen anordnen können nach Höherwertigkeit und Minderwertigkeit und das weit geteilt ist, dann produziert Jugend daraus eine Ideologie und eine Gruppierung. Das heißt, sie nehmen die Elemente einer Mehrheitsgesellschaft - menschenfeindliche Bilder, Stereotype - und formen sie um in Ideologien, die zur ihrer Zeit passen." Autor: Andreas Zick sagt: Die Antipathie gegen Islam und Muslime biete das perfekte Mittel dafür, dass sich Identitäre ihr eigenes Selbstbild schaffen können. O-Ton Zick: "Man braucht geradezu die Islamisierung, um die eigene Identität zu bestimmen. [...] Man braucht geradezu die Abgrenzung gegenüber Muslimen, dem Islam. Eine Religion gegen die Nation. Man muss ständig Islamisierung unterstellen, weil nur aus dieser Differenz heraus bestimmt sich die Identität. [...] Und das macht diese Identität selbst für den Rest der Gemeinschaft so bedrohlich." Autor: Dass die Zahl fremdenfeindlicher Angriffe steigt, beunruhigt Rassismus-Forscher Andreas Zick. Und auch, dass Jugendliche aus der Mitte der Gesellschaft von den neurechten Identitären angezogen werden. Bei Untersuchungen von Facebook-Einträgen habe sich gezeigt, dass sich ihr Denken dabei radikalisiert, denn das Wirken der Identitären schüre die Feindbilder. O-Ton Zick: "Also noch funktioniert Gewaltdistanz. Noch funktioniert sie. Das Problem ist - von Außen betrachtet: Es ist im Kern so rassistisch. Der Rassismus strebt eigentlich immer nach gewaltorientierter Durchsetzung." O-Ton Sellner: "Der Vorwurf, wirklich zu sagen, wir würden die Toten zu Politik machen, die Taten ausleihen, ist eine derartige debile Frechheit, eine schizophrene Unterstellung! Weil gerade sie sind es doch, die Linken, die permanent auf dem Rücken von Toten Politik machen....Dann importieren wir uns mit diesen Menschen die Strukturen und die Brutalität und die Gesellschaft, aus der sie gekommen sind. Und das erleben wir jetzt in Europa, nachdem eine Straße, ein Viertel nach dem anderen der Islamisierung zum Opfer fällt. Und als Kollateralschaden am Rande dieses Prozesses die Gewalt, die Vergewaltigung wuchert und sprießt!" O-Ton Elisabeth Wehling: "Wir wissen, dass diese Metaphern von Krankheit und Unreinheit, also von Dreck ein Stück weit, dass diese Metaphern wahnsinnig stark die Menschen sofort nach rechts schieben - politisch." Autor: Sagt Sprachforscherin Elisabeth Wehling, eine Expertin, wenn es um sprachliche Beeinflussung in der Politik geht. Wehling forscht in Berkeley, Kalifornien. Dort hat sie den Wahlkampf von Donald Trump beobachtet und vorausgesagt, dass er gewinnen wird. Ihr aktuelles Buch heißt Politisches Framing - wie eine Nation sich ihr Denken einredet und daraus Politik macht. Die Kernidee: In der Kommunikation setzen Wörter einen Frame, also einen Rahmen, in dem man denkt. Hören wir zum Beispiel das Wort "Hammer", denken wir automatisch an: "Nagel" oder vielleicht an den dicken Daumen. Gegen diese Gedanken kann man sich nur schwer wehren, denn die Prozesse laufen unbewusst ab. In der Politik kann man deswegen mit geschickten "frames" das Wahlverhalten der Bürger lenken. Entweder sprachlich oder auch durch andere Reize - sogar mit Gerüchen. O-Ton Wehling: "Zum Beispiel hat man Teilnehmer in ein Labor gesetzt und hat sie wiederum einen politischen Fragebogen ausfüllen lassen. Und in der ersten Gruppe hat man über das Ventilationssystem den Geruch von verfaultem Fisch in den Raum hineinblasen lassen, in der zweiten Gruppe nicht. Sofort unmittelbar in der ersten Gruppe sind die Teilnehmer politisch nach rechts gerutscht - signifikant - weil das Aktivieren von Ekel im Gehirn oder auch das Aktivieren von der Angst vor Krankheit im Gehirn Menschen hin ins Konservative bringt, und zwar gerade Menschen, die ideologisch ein Stück weit ungeklärt und flexibel sind, also diese sogenannte politische Mitte, gerade diese Menschen bekommen Sie damit besonders gut bewegt.´ Autor: Ich habe Elisabeth Wehling Texte der Identitären geschickt: Pamphlete, Slogans und Postings aus dem Internet. Die Sprachforscherin sollte sich anschauen, welche Frames darin aktiviert werden. Elisabeth Wehling kommt auf drei Geschichten, die von den neurechten Identitären über Framings erzählt werden: O-Ton Wehling: "Das ist eine Geschichte der Willenlosigkeit. Eine Geschichte der Krankheit und Unmoral. Und eine Geschichte des Herabwürdigens deutscher Bürger als Tiere geradezu, die ausgerottet werden sollen." Autor: Besonders untersucht hat Wehling die Texte um den konstruierten Bevölkerungsaustausch. Da trifft alles zusammen, was im Kopf ein Horrorszenario erzeugen soll. O-Ton Wehling: "In dem wir also sagen: ‚Die Deutschen sollen ausgerottet werden', assoziieren wir ganz automatisch einen Frame, der die Deutschen als niedere Kreaturen sag' ich mal, als Tiere begreifbar macht, also entmenschlicht. Und wir wissen aus der Forschung, dass das Entmenschlichen von Gruppen sich unmittelbar ausschlägt darauf, wie denkt man über diese Gruppen, möchte man ihnen Schutz geben? Hat man Empathie? Zum Beispiel wird von der AfD und anderen Akteuren in Deutschland ja auch die Gruppe der Flüchtlinge selbst entmenschlicht, indem man sie als Wassermassen begreifbar macht. Also der Flüchtlingsstrom, die Flüchtlingswelle." Autor: Geflüchtete, die keine Menschen mehr sind, und Einheimische, die man jagt wie Tiere. Was ist die Konsequenz solcher Sprachbilder? O-Ton Wehling: "Das ist natürlich letztlich eine Geschichte, die bei jedem Mitbürger aktivieren soll: das Bedürfnis nach Selbstverteidigung. Kommt Leute, wir müssen aufstehen, wir müssen uns verteidigen, sonst werden wir ausgerottet, weil die Regierung uns nicht als wertvoll, geradezu nicht als menschlich begreift. Wir sind der Regierung völlig egal." Autor: Dabei ist egal, ob man an diese Geschichten glaubt oder nicht, sagt die Framing-Theorie. Entscheidend ist nur, wie oft wir davon hören. Egal ob in der Talkshow, im Netz oder in den Nachrichten. Eine Art unbewusste Radikalisierung der Massen. Donald Trump habe es vorgemacht. Jetzt sei Deutschland dran. O-Ton Wehling: "Also die eine ganz klare Parallele, die ist einfach augenscheinlich, das ist, dass sowohl die Identitären, als auch die AfD, als auch zum Beispiel Donald Trump in den USA ganz oft bemühen den Frame, das Sprachbild, das Gedankenbild von Krankheit und Schmutz. Und zwar insbesondere angewandt auf Migranten, auf Geflüchtete oder auf Menschen, die einen anderen Lebensentwurf haben." Autor: Nach der Framing-Analyse könnte man die Identitären auch die "Autoritären" nennen. O-Ton Wehling: "Tatsächlich ist es so, wenn Sie sich die Geisteshaltung der Identitären anschauen, dass diese Geisteshaltung relativ eins zu eins sich aus einer Ideologie speist, die wir in der Forschung als die strenge Ideologie kennen. Kern der Ideologie sind Konzepte wie absolute Autoritäten, Gehorsam, ein objektives Richtig und Falsch, also Wertedogmatismus versus dem Werterelativismus, eine starke Fürsorge für die Seinen und die Abgrenzung und gar Bekämpfung der anderen, und letztlich auch ein Konzept der Dichotomie von Gut und Böse. Also die Vorstellung, dass in der Welt letztlich immer das Gute und das Böse in einem Kampf begriffen sind, und das man selber natürllich per Definition als Gute Gruppe das Böse bekämpfen muss und von sich fernhalten muss." Autor: Man könnte mit einem anderen Framing natürlich auch für das Gegenteil werben: für eine Politik der Entspannung und der Empathie, des Mitfühlens und der Solidarität. O-Ton Wehling: "Und im Übrigen können Sie auch mit dieser Geschichte der Empathie diejenigen Mitbürger zunehmend wieder abholen, die sich vielleicht eher rechtspopulistischen Gruppen oder gar identitären Gruppen angeschlossen haben, weil letztlich im politischen Kampf und im politischen Miteinander Sie natürlich die größte Chance für Sie, einen Menschen zurückzuholen zu sich, weil Sie denken, dass Ihre Weltsicht die richtige ist und die moralische, ist natürlich, ihn mit Empathie abzuholen, nicht mit Beschimpfungen, nicht mit Herabwertung, nicht mit Entwertung seiner Menschlichkeit oder auch seiner Würde. Denn da sind Sie ja sofort in einem streng-ideologischen Frame, wo man sagt: Wir sind die Guten, ihr seid die Bösen! Wir hauen mal ordentlich drauf. Da geht auch diese Aussage von Sigmar Gabriel natürlich in die Richtung: das Pack! [...]" Autor: Dass die Identitären bei aller medialen Aufmerksamkeit insgesamt als Gruppe von nur 200 Aktivisten doch eher unbedeutend sind, hat womöglich einen anderen Grund, meint die Sprachforscherin Elisabeth Wehling. O-Ton Wehling: "Da muss man wirklich auch mal sagen, das Wort ‚identitär' ist viel zu kompliziert für das, was sie eigentlich benennen wollen, das heißt, da haben die sogenannten Identitären einen wirklichen Framing-Faux-Paus begangen und schießen sich selber ins Knie, weil das worum es ihnen ideologisch geht - natürlich kann man es mit dem Wort ‚identitär' irgendwie nachvollziehen, man muss aber wirklich ein bisschen nachdenken: Was ist da eigentlich gemeint. Da hätte es viel wirkkräftigere Framings geben können. Da muss man sagen: schlecht gemacht." Absage: Rechts, extrem, alternativ - Die Identitäre Bewegung will völkisches Denken salonfähig machen Ein Dossier von Nail Al Saidi Ton und Technik: Hendrik Manook und Caroline Thon Regie und Redaktion: Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2017 1