Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 5. Juni 2010, 11.05 ? 12.00 Uhr Rückkehr zum Kerngeschäft: Russlands nukleare Ambitionen mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier am Mikrophon: Britta Fecke Musikwauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar ? Trailer Mod auf Musik Mod.: .... DIE MITARBEITERIN EINES RUSSISCHEN ATOM-KONZERNS O-Ton: ..." "Bulgarien, Iran, China und Indien ? das sind bislang unsere wichtigsten Märkte. Aber auch in anderen Schlüsselregionen ist unser Unternehmen aktiv: in der Türkei und der Ukraine, in Tschechien, Weißrussland, Armenien und Vietnam. Wir bieten das volle Service-Spektrum: Atomkraftwerke schlüsselfertig. Von der Projektierung über den Bau bis hin zum Rückbau." Mod:... UND EIN UMWELTSCHÜTZER, DER ERST VIZE-ENERGIEMINISTER WAR UND DANN ZUM ATOMKRAFTGEGNER WURDE: O-Ton: ...."Russland hat die größten Gasvorräte weltweit, es exportiert in großem Stil. Aber es ist abhängig vom Uranimport! Obwohl wir mehr Gas besitzen als jedes andere Land ? den wertvollsten und sichersten Rohstoff, den wir uns nur wünschen können. Ist das etwa eine kluge Energiestrategie? Ich meine, nicht". Gesichter Europas: Besinnung aufs Kerngeschäft - Russland auf dem Weg zum Nukleargroßhändler Mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier Am Mikrophon begrüßt sie Britta Fecke. Mod 1: Während in Deutschland noch um den Ausstieg aus der Atomkraft gerungen wird, setzt Russland klar auf den Ausbau der Kernenergie: 26 neue Meiler sollen bis 2026 im eigenen Land ans Netz gehen, darüber hinaus will die russische Regierung mit ihrer Nukleartechnik den Weltmarkt erobern. Vom Kernkraftwerk bis zum Brennstoff, vom Uranabbau bis zur Anreicherung: Russland kann den gesamten Brennstoffkreislauf liefern und tut es auch von Aserbeidschan bis China. Atmo: Geforscht und gerüstet wird dafür wie jeher im Verborgenen, versteckt in der Weite des Urals. Zu Sowjetzeiten waren die Nuklearstädten auf keiner Landkarte verzeichnet und bis heute sind sie hermetisch vom zivilen Leben abgeschirmt. Kleinstädte - sogenannten geschlossenen Städte - von Sicherheitszäunen umgeben vom Geheimdienst bewacht, irgendwo in den Bergwäldern. Seit dem zweiten Weltkrieg, als die Sowjets ihre Industrie vor der heranrückenden Wehrmacht verstecken mussten, hat sich die russische Militärindustrie im Ural angesiedelt, jener Gebirgskette, die Europa und Asien voneinander trennt. Inzwischen lebt hier schon die dritte Generation, wenn auch nicht mehr so priviligiert wie zu Großvaters Zeiten. Beitrag 1: Die geschlossenen Stadt - Bewacht und verstrahlt Novouralsk: eine 100 000-Einwohner-Stadt, 70 Kilometer nordwestlich von Jekaterinburg. Mit spitzem Finger fixiert Olga den Punkt auf der Straßenkarte. OLGA Früher gab es Militärindustrie in Novouralsk, und die Bewohner hatten ein gutes Leben. Früher, zu Sowjetzeiten, wollten wir alle dort leben, weil es in diesen geschlossenen Städten Dinge zu kaufen gab, die nirgendwo sonst zu kriegen waren: Kleidung, Lebensmittel oder Schuhe aus Moskauer Produktion. Heute glaube ich, man wollte damit nur die Gesundheitsschädlichkeit des Umfelds kompensieren. Hier, in den Waldgebieten des Ural, reihen sich die Ortschaften entlang der Landstraßen auf. Eigentlich will die 40-Jährige nach Pervouralsk, doch die Straße führt durch Novouralsk hindurch. Und genau das ist das Problem: Denn die Stadt ist das, was man in Russland ein "Geschlossenes administrativ-territoriales Gebilde" nennt: ringsum von Hochsicherheitszäunen umgeben, mit einer Zutrittsgenehmigung nur für registrierte Einwohner. Das war schon zu Sowjetzeiten so, und es hat sich nicht geändert. Andererseits, überlegt Olga, weist die Straßenkarte keinerlei geschlossenes Territorium aus. So hegt sie die leise Hoffung, dass die Stadt wenigstens für den Durchfahrtsverkehr geöffnet sein könnte. Noch heute wundert sie sich darüber, wie man so eingeschlossen leben kann. OLGA Ich kenne Leute aus Novouralsk, denen gefällt es dort. Sie fühlen sich sicher. Sie passieren die Schranke, die Türen schlagen hinter ihnen zu, und sie haben ihre Ruhe. Dort kennt man sich, man kann seinen Wagen unabgeschlossen stehen lassen und nachts unbehelligt herumlaufen. Kein Papierchen, keine Scherbe. Seit Generationen arbeiten sie in diesen Fabriken, und auch ihre Kinder werden dort arbeiten. Das ist eine Art Familientradition. Das Ortseingangschild zeigt Verch Nevinsk an, die Nachbarstadt. Auch sie war zu Sowjetzeiten geschlossen. Heute ist sie eine ganz normale russische Kleinstadt mit einem steinernen Lenin auf dem Marktplatz. Hinter dem Markt aber endet die Straße ohne jede Vorwarnung vor einer Schranke. Die Autos stauen sich: Novouralsk, Sitz des "Uraler Elektrochemischen Kombinats". Es ist eine Anreicherungsanlage, die früher einmal Waffen-Uran für Nuklearsprengköpfe hergestellt hat. Heute, so liest man auf der Firmenwebsite, diene die Produktion ausschließlich zivilen Zwecken. OLGA QUATSCHT MIT SICHERHEITSMANN Olgas Wagen ist zur Schranke vorgerückt. Die Kontrollstationen tragen die Aufschrift "Zoll", am Straßenrand stehen junge Männer in Zivil ? offensichtlich vom Geheimdienst. Der bewaffnete Uniformierte will die Zutrittsgenehmigung sehen. Olga argumentiert. Sie wolle doch gar nicht aussteigen, sondern das Stadtgebiet nur passieren, auf dem Weg nach Pervouralsk. Der Sicherheitsmann zuckt die Achseln. Fahren Sie nach Jekaterinburg zurück, und nehmen Sie einen anderen Weg nach Pervouralsk. Eine Zutrittsgenehmigung kriegen nur Verwandte. TEXT: Am Rande des Hochsicherheitszauns sitzen Leute auf Klappstühlen, bieten Weißkraut und alte Bücher zum Verkauf. Es sind Einwohner von Novouralsk, die sich hier draußen ein Zubrot verdienen: für Olga DIE Gelegenheit, mehr zu erfahren über das Leben in Geschlossenen Städten. Bei einer Rentnerin kauft sie geröstete Sonnenblumenkerne. Da drinnen gibt es doch nichts mehr zu tun für uns! Keine Wohnung zu putzen, kein Gebäude zu bauen. Und jetzt stehe ich hier, und verdiene keine Kopeke. Aber ich bin doch in Novouralsk geboren, soll ich jetzt noch woanders hin ziehen? Keine Arbeit. Keine Bautätigkeiten, lange schon. Einfach nichts. Literatur 1 auf Musik: Den Kampf um ein sibirisches Metallkombinat in den 90er-Jahren, nahm Julja Latynina zum Anlass um die Methoden von Bankern, Kriminellen und Funktionären in einem Politkrimi zu verarbeiten, die Tatsache, dass die russische Autorin mehrfach darauf hinweißt, dass die beschriebenen Ereignisse frei erfunden sind, mag als Hinweis dienen wie nah sie der Realität gekommen ist. Elchjagd ist 2009 im Astrel-Verlag Moskau erschienen: Vjatscheslav Isvolskijs Grund, nach Moskau zu kommen, war recht ungewöhnlich für einen Direktor aus Russland. Aber Isvolksij wollte sich sein eigenes Energiewerk bauen. Nun ist klar, dass kein einziges russisches Metallkombinat sich einfach auf der Grünen Wiese ein Energiewerk bauen kann. Aber darum ging es ja, dass nämlich von einer Grünen Wiesen keine Rede sein konnte. Etwa 100 Kilometer vom Metallkombinat entfernt ? dort, wo die Steppe endgültig in die lichte Taiga überging -, gab es ein Städchen namens Weißes Feld. Und darin widerum ein Atomkraftwerk, dessen Bau im Jahr 1993 bereits zum zweiten Mal gestoppt worden war. ( ... ) Das Städchen befand sich in einem haarsträubenden Zustand. Es war irgendwann inmitten in die Kiefern- und Fichtenwälder hineingebaut worden, und hätte so etwas werden sollen wie eine sozialistische "Stadt der Zukunft" ? mit geraden Straßen, mit Grünanlagen zum Flanieren und mit schneeweißen Häusern. Zum ersten Mal waren die Bauarbeiten nach Tschernobyl gestoppt worden, im Jahr 1986. 1993 waren sie dann völlig zum Erliegen gekommen. Zwei Reaktorblocks waren bereits zu 97 Prozent fertig gestellt - und mit jedem Jahr wuchs der junge Wald dichter an sie heran. In dem Städtchen gab es, außer den Bauarbeiten am Atomkraftwerk, keinerlei Arbeit. Es gab auch kein Dorf, das näher als 40 Kilometer gelegen hätte. Die Kernenergiespezialisten lebten vom Jagen und Sammeln. Kaum jemand von ihnen hatte die Möglichkeit, wegzuziehen: Das Leben in der toten Stadt kostete dreihundert bis vierhundert Dollar, und dafür konnte man in einem regionalen Zentrum nicht mal mehr eine Hundehütte kaufen. ( ... ) 2 Mod. : In Prag, vor mehr als einem Jahr verkündete US-Präsident Barack Obama seine Vision von einer atomwaffenfreie Welt. Am selben Ort, im April dieses Jahres unterzeichneten Obama und sein russischer Amtskollege Dmitri Medwedew dann den umfassendsten atomaren Abrüstungsvertrag seit zwei Jahrzehnten, darin verpflichten sich beide Seiten unter anderem, die Zahl der Atomsprengköpfe um ein Drittel zu verringern. Dieser neue Start-Vertrag ist ein Meilenstein, - aber - wie die einstigen Gegenspieler des Kalten Krieges betonten, nur ein erster Schritt auf dem Weg zur Reduzierung ihrer Atomarsenale. Und dabei geht es nicht nur um die Atomwaffen, sondern auch um die unkontrollierte Verbreitung von Nuklearem Material. Seit dem 11.September herrscht vor allem in den USA die Angst, dass zum Beispiel waffenfähiges Plutonium in die Hände von Terroristen gelangen könnte. Atmo: wenn sie es hergibt, hier kurz als Zäsur stehen lassen Doch während die militärische Nutzung der Atomkraft begrenzt werden soll erlebt die zivile Nutzung der Nukleartechnik eine Renaissance. Zwei widersprüchliche Tendenzen, denn was sich zivil nutzen lässt, kann auch zu militärischen Zwecken missbraucht werden. Dennoch will Russland den Export von Nuklearmaterial ausbauen. Die Staatsholding Rosatom leitet die militärische und die zivile Atomindustrie in Russland, der Hauptsitz ist vom Kreml fußläufig zu erreichen. Auch das zeigt die Nähe der Holding zur Regierung, mehr Nähe lässt das Pilasterverzierte Gebäude allerdings nicht erahnen, es steht einer Festung gleich an der Straße. Etwas zugänglicher und vor allem weniger repräsentativ sind da die Gebäude der Rosatom-Tochter Atomstrojexport: Beitrag 2: Tschernobyl war gestern Bulgarien, Iran, China und Indien ? das sind bislang unsere wichtigsten Märkte. Aber auch in anderen Schlüsselregionen ist unser Unternehmen aktiv: in der Türkei und der Ukraine, in Tschechien, Weißrussland, Armenien und Vietnam. Wir bieten das volle Service-Spektrum: Atomkraftwerke schlüsselfertig. Von der Projektierung über den Bau bis hin zum Rückbau. TEXT: Die Büroflure sind schmal. Wenn jemand vorbei will, muss die Pressesprecherin ihre kleine Unternehmensführung unterbrechen, um Platz zu machen. So prunkvoll wie bei der Staatsholding Rosatom geht es hier nicht zu. TEXT: Beim Tochterunternehmen Atomstrojexport wird gearbeitet, nicht repräsentiert. Alexandr Gluchov, der erste Vizepräsident des Konzerns, empfängt seine Gäste an einem riesigen Mahagoni-Tisch, der fast den gesamten Besprechungsraum einnimmt. Der 41-Jährige - sportliche Figur, legeres Sakko - macht einen ebenso geschäftigen wie gut gelaunten Eindruck. Ich mag unser Unternehmen sehr, und ich kann es nicht oft genug sagen: Hier möchte ich bis zu meiner Rente arbeiten. Es gefällt mir, komplexe Anlagen zu planen und auszurüsten ? und Kernkraftwerke gehören mit Sicherheit zu den kompliziertesten Anlagen, die je gebaut wurden. Es gibt eine Menge technischer Entscheidungen, die verschiedensten Anbieter und Nachfrager und viele Risiken. Es ist, als löse man eine Gleichung mit mehreren Unbekannten. Das macht die Projekte so interessant. TEXT: Tatsächlich: Die Ereignisse der vergangenen Jahre haben viele neue Herausforderungen gebracht. Russland will den Kernkraft-Anteil der Energieversorgung im eigenen Land erhöhen, und gleichzeitig die globalen Märkte erobern. Auf der politischen Weltbühne ist die Diskussion um die Nichtverbreitung von Atomwaffen neu entbrannt ? das hat das Bauprojekt im Iran, das Kernkraftwerk Bushehr, zum Politikum gemacht. Der technologische Wettlauf der Nuklearkonzerne um Neuentwicklungen hat nach Jahren des Stillstands wieder an Tempo gewonnen. Und allen Neuentwicklung zum Trotz muss die russische Nuklearindustrie immer noch gegen ihr schlechtes Image ankämpfen: Ein alter Fluch aus Sowjetzeiten mit Namen "Tschernobyl". Gerade die Tschernobyl-Katastrophe hat doch zur Verbesserung der Standards geführt. Doppelte Reaktor-Ummantelung, passive Wärmeabfuhr und vieles mehr ? das alles gewährleisten russische Atomkraftwerke heute. Damit jede ungewöhnliche Situation unverzüglich lokalisiert und diagnostiziert werden kann. Ein Austritt von Radioaktivität ist praktisch unmöglich. Aber offensichtlich scheinen immer noch viele zu glauben, dass unsere Technologie per se unsicher ist. Nicht etwa, weil das Produkt schlecht ist ? nein, es ist hochwertig! Nur weil es aus Russland ist! Aber die Situation ändert sich. Die französische Areva zählt uns inzwischen zu ihren größten Konkurrenten auf dem europäischen und dem Weltmarkt. TEXT: Gluchovs Finger zeichnet auf der Mahagoni-Tischplatte eine Weltkarte: In den GUS-Staaten und in Osteuropa war Russland immer schon der unangefochtene Hauptlieferant. Mit China als Großabnehmer von Kernkraftwerken steht für Atomstrojexport auch die Tür in den asiatischen Markt weit offen. In Westeuropa und den USA dagegen hatte der russische Anbieter bislang kaum Chancen. Doch das könnte sich ändern: Ausgerechnet Deutschland mit seiner Debatte um den Ausstieg aus der Atomenergie lässt Gluchov jetzt hoffen. Mit dem Kauf von Nukem Technologies, einem deutschen Spezialisten für Atommüll und AKW-Rückbau, will Rosatom jetzt auch in diesem Bereich seine Standards verbessern. Und mit Siemens steht die Staatsholding in Verhandlung über die Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens. Das ist paradox! Die Bundesrepublik hat einen so hochentwickelten Nuklearsektor, aber sie kann ihre Technologie nur im Ausland anbieten! Siemens hat sie über Jahrzehnte entwickelt, aber auf dem deutschen Markt ist sie nicht mehr gefragt. Nun ja, das ist allein die Entscheidung der Deutschen. Wenn Deutschland seine Kompetenzen selbst nicht nutzen will, dann kann uns das nur recht sein. Wir nehmen TEXT: Deutsches Qualitätssiegel für russische Atomtechnik: Gluchov lehnt sich in seinem Stuhl zurück und nippt an seinem Kaffee. Dann schwärmt er von einer Rosatom-Neuentwicklung, die gerade in Petersburg gebaut wird: Ein schwimmendes Atomkraftwerk. Bald soll es die Marktreife erlangen ? es könnte ein Exportschlager werden, glaubt Gluchov. Denn eines steht für ihn fest: die Nukleartechnologie steht am Anfang einer neuen Epoche. Im Kosmos, überirdisch, unterirdisch ? Atomenergie kann einfach überall eingesetzt werden! Ich will keine Prognosen abgeben. Aber sie ist für jede Art von Transportmittel geeignet. Spezialfahrzeuge zum Beispiel könnten mit Minireaktoren statt mit Motoren fahren. Sie kann auch Wärmeenergie Mod 3: Die weltweiten Bestände an hoch angereichertem - also waffenfähigem - Uran stammen noch aus den Zeiten des Kalten Krieges und der mit Abstand größte Anteil dieses Gefahrenguts liegt in Russland und Amerika. Die einstigen Gegenspieler des Kalten Krieges haben sich in diesem Frühling auf der Nuklearsicherheitskonferenz in Washington geeinigt, innerhalb von vier Jahren das gesamte waffenfähige Spaltmaterial so sicher zu verwahren, dass es nicht in die Hände von Terroristen gelangen kann. Zudem wollen die USA und Russland je 34 Tonnen ihres waffenfähigen Plutoniums vernichten. Atmo: Im Auto Russland wird einen großen Teil dieses Plutoniums in seinem schnellen Brüter als Kernbrennstoff verheizen. Und in dieser Rechnung treffen zwei der ungünstigsten Komponenten aufeinander: Plutonium als künstliches aber vor allem giftigstes Element der Welt und der umstrittenste Reaktortyp der Welt: der schnelle Brüter. Er stellt durch seine enorme Energiedichte schon für sich genommen ein größeres Risiko da, als zum Beispiel ein Druckwasserreaktor, denn ein Brüter kann nicht einmal mehr mit Wasser gekühlt werden., sondern nur noch mit flüssigem Metall, mit Natrium. Kommt es zu einem Störfall zum Beispiel in der Kühlkette, dann kann es zu einer nuklearen Explosion kommen, ähnlich der Zündung einer Atombombe. Belojarks ist der weltweit größte schnelle Brüter, er steht rund 50 km der Millionenstadt Jekaterinburg entfernt. Hierhin wird das giftige Plutonium gebracht: Beitrag 3 Der schnelle Brüter von Beloyarsk Dieser Reaktorblock ist einzigartig. Es gab hier zwar mal einen Versuchsreaktor, einen BN-300, ebenfalls ein Schneller Brüter. Und bei Moskau, in Obninsk, gibt es einen weiteren experimentellen Brutreaktor. Das hier aber ist ein ganz normales Atomkraftwerk. Der einzige kommerzielle Schnelle Brüter Russlands. Mit einem Reaktor, der als Kühlmittel flüssiges Metall nutzt. TEXT: Der Straßenposten winkt durch. Und während der Mann hinter dem Steuer redet, ist der Wagen plötzlich mitten auf dem Betriebsgelände. Über eine kleine Nebenstraße ist dann ganz leicht, was mit offiziellen Presseanfragen an die Werksleitung nicht gelungen ist: der Zugang zu "Beloyarsk", jener Kernanlage, die ? wenn es nach der russischen Regierung geht ? bald eine neue Ära der Nukleartechnologie einläuten soll. Hier und da an den Straßenrändern parken Autos. Sind es Mitarbeiter bei einer Zigarettenpause? Oder ist es der Geheimdienst, der hier ? wie zu hören ist ? die ganze Gegend überwacht? Der Fahrer jedenfalls plaudert von seiner Arbeit, von seinen Kindern - völlig unbeschwert. Und das, obwohl er, wie alle Beschäftigten, gemäß seines Arbeitsvertrags zur Verschwiegenheit verpflichtet ist. Doch Dima ? sein wahrer Name bleibt geheim - ist lieber hilfsbereit als verschwiegen. Besonders dann, wenn er gebeten wird, für eine deutsche Journalistin eine kleine Exkursion zu organisieren. Mit seinem Finger weist er auf den Hochsicherheitsbereich der Anlage: Dort arbeitet er. Dima steuert den Reaktor. Sehen sie das Rohr dort? Das ist mit dem dritten Reaktorblock verbunden. Die beiden Rohre dahinter, die parallel verlaufen, die führen in das Gebäude mit den Blocks Eins und Zwei. Die sind außer Betrieb, sie werden jetzt teils rückgebaut, teils konserviert. Die Rohre haben früher radioaktiven Dampf geleitet, darum sind sie jetzt, soweit ich weiß, selbst radioaktiv. Und dort drüben, auf dem Bauplatz, wird gerade der vierte Reaktorblock gebaut. Der soll 2013 ans Netz gehen. In dem Pavillon hier sitzt die Bauleitung. TEXT: Es ist ein eigentümliches Industriegebiet, inmitten der Wälder des Ural: eine Landschaft aus Rohren. Kreuz und quer laufen sie über das Betriebsgelände, verbinden die Gebäude der Reaktoren mit den Kühltürmen. Block Drei ist 1980 ans Netz gegangen. Damals setzte die Atomindustrie weltweit auf Schnelle Brüter. Doch der GAU von Tschernobyl bereitete der Entwicklung ein jähes Ende. Wegen der Sicherheitsbedenken wurden weltweit fast alle Programme gestoppt. Beloyarsk aber blieb am Netz. Erst kürzlich hat Rosatom die Laufzeit weitere 15 Jahre verlängert. Auch der vierte Block wird ein Brutreaktor sein. Schnelle Brüter können den abgebrannten Kernbrennstoff aus anderen Atomanlagen verarbeiten ? na ja, theoretisch. Das wäre ein geschlossener Energiekreislaufs: Es wird weniger Müll produziert, und der Reaktor selbst arbeitet sehr sauber. Das Gefährliche ist nur, dass das Kühlmittel Natrium heftig reagiert, wenn es mit Wasser in Berührung kommt. Auch in unserem Reaktor ist es schon mal zum Wasseraustritt gekommen, das ist kein Geheimnis. Aber damals ist es gelungen, das Wasser vom Natriumkreislauf fernzuhalten. TEXT: Dima selbst scheint über solche Vorkommnisse nicht sonderlich beunruhigt. Geboren und aufgewachsen ist er in Zarechnyj ? und in dieser Stadt leben alle von dem Atomkraftwerk. Für Dima ist Kernkraft eine billige und saubere Energie. Das Stadtgebiet, erzählt er, zeige keine erhöhten Strahlenwerte. Da ist er sich sicher, denn er hat die offiziell bekanntgegebenen Messwerte mit dem eigenen Dosimeter überprüft. Und zur Verhütung von Unfällen führe das Werk jede Woche Spezialtrainings durch. Angst vor Atomtechnologie, sagt Dima, das ist etwas für Leute, die keine Ahnung haben. Sein Ärger gilt der Werksleitung, die ? wie er sagt - an der Schutzausrüstung für ihre Belegschaft spart. ÜBERSETZER: DANIEL WIENER Unsere Schutzkleidung zum Beispiel: Dem einen ist sie drei Nummern zu groß, dem anderen zu klein. Alles ist riesig, Taschenlampen, Ohrschützer, Helme! Wie soll ich mit diesen Klötzen am Kopf mein Funkgerät benutzen? Dauernd rutscht alles runter! Schrecklich! Dabei gibt es am Markt schon lange vernünftige Sachen zu kaufen. Was ist so schwer daran, Mitarbeitern, die direkt am Reaktor arbeiten, eine bequeme Schutzausrüstung zur Verfügung zu stellen? Ansonsten kommt es nämlich vor, dass wir, wenn es mal schnell gehen muss, die ganze Gerätschaften einfach nicht benutzen. Dabei verlangen wir doch nur, dass sie uns bei der Arbeit nicht behindern. TEXT: Der Wagen rollt auf den Platz vor dem Hauptverwaltungsgebäude. An der Frontfassade prangt das riesige Konterfei von Igor Kurchatov, dem berühmten sowjetischen Atomphysiker. Hier sitzt die Werksleitung. Dima schaltet den Motor aus ? direkt im Eingangsbereich. DIMA REDET BEIM PARKEN Die Arbeitsplätze seien schlecht klimatisiert, klagt er, im Sommer sei es stickig, im Winter klirrend kalt. Die Gehälter würden zwar pünktlich ausbezahlt, aber sie seien zu niedrig. Von umgerechnet 600 Euro im Monat könne man keine Familie ernähren. Fast alle leitenden Ingenieure seien Rentner, die sich durch ihre Weiterarbeit ein Zubrot zur Pension verdienen. Dima selbst hat zwar die Möglichkeit, sein Gehalt mit Risikozuschlägen aufzustocken ? gern macht er es nicht. Bei uns in Russland läuft das folgendermaßen: Da gibt es eine Aufgabe in einem schwer strahlenbelasteten Bereich zu erledigen. Aber nicht du selbst entscheidest über die Dosis, die du abbekommen willst, das tut der Schichtführer, der dich für diese Arbeit einteilt. Dessen Chef kann dir die Dosis noch mal erhöhen, die Werksleitung legt noch ein paar weitere Millisievert drauf. Dann sagen sie dir, was du zu tun hast. Den Risikozuschlag aber ? knapp 100 Euro im Monat - gibt es nur einmal, unabhängig davon, wie hoch deine Dosis war. Das ist paradox: Du bekommst immer genau die Dosis ab, die sie dir erlaubt haben. Also freu dich drüber. TEXT: Was wird wohl in einigen Monaten in Beloyarsk sein, wenn das Plutonium-Programm anläuft, von dem die Weltpresse jetzt berichtet? Wenn hier das russisch-amerikanische Abrüstungsabkommen umgesetzt wird? Schließlich ist Beloyarsk die erste Anlage weltweit, die versuchen will, Waffenplutonium in großem Stil als Reaktorbrennstoff einzusetzen - ein "gefährliches Experiment", wie Kritiker sagen. Dima sieht ratlos aus. Von Kernbrennstoff, sagt er, versteht er nichts. Und von einem neuen Plutoniumprogramm hat er noch nie gehört. Lit 2 auf Musik: Der Leiter der Aktiengesellschaft - ein repräsentativer, grauhaariger Herr -, lauschte den Plänen des Kombinatsdirektors aus Sibirien und erkundigte sich dann, für wieviel genau er denn das Atomkraftwerk zu erwerben gedenke. Isvolskij sagte, er würde es gern geschenkt nehmen. "Immerhin planen wir, 2 Milliarden 900 Millionen (2 900 000 000) Dollar in den Weiterbau zu investieren", sagte Isvolskijs Gegenüber. "Aber in den nächsten fünf Jahren wird es keine Kopeke abwerfen", sagte Isvolskij, und danach ist es eine heruntergekommene Ziegenweide." Isvolskijs Gesprächspartner schaute ihn ungehalten an und sagte, dass er schon aus Gründen der nationalen Sicherheit kein Atomkraftwerk in private Hände geben könne. Darauf entgegnete Isvolskij liebenswürdig, dass die Gebietsverwaltung ihr Atomkraftwerk liebend gern in Privathände abgeben würde. Es sei nämlich so, dass das Energiewerk bis 1993 einen Schuldenberg angehäuft hat, daraus seien dem Steuerzahler wie auch dem Werk selbst gewaltige Zinsen entstanden waren, und wegen einer solchen Baustelle wolle nun wirklich niemand bankrott gehen. "Dann muss ich die Frage über die Kosten des Weiterbaus wohl mit dem Gebietsgouverneur besprechen ? obwohl ich sie auch direkt hier mit Ihnen besprechen könnte", sagte Isvolskij. "Und zu welchen Bedingungen würde Sie sie gerne mit mir direkt besprechen?", sagte der andere. Isvolskij zog seinen Notizblock heraus und schrieb: 500 000 Dollar. Das war für den Direktor eine beleidigende Summe, und das gab er auch zu verstehen. Isvolskij bediente sich zwei weitere Male seines Notizblocks, aber nicht einmal für eine Million war der Direktor bereit, das zu verkaufen, was er die "Nuklearsicherheit des Landes" nannte. ( ... ) Jeder andere Mensch hätte spätestens jetzt auf die ganze Geschichte gespuckt, aber Isvolskij hatte die Durchsetzungskraft und Hartnäckigkeit eines Panzers. Darüber hinaus wunderte er sich über die Worte des Direktors, dass für den Weiterbau des Atomkraftwerks angeblich fast 3 Milliarden Dollar eingeplant waren. "Für soviel Geld könnte man ein Atomkraftwerk in der Antarktis bauen", dachte er bei sich. Die "Aufklärungsarbeit" dieser Sache gab er weiter an Tscherjága und Breller. Etwa drei Wochen später tauchten diese mit einer Mappe voller Dokumente und zwei Videokassetten bei ihrem Direktor auf. Tscherjaga erkundigte sich, ob dieser nach wie vor an dem Atomkraftwerk interessiert sei, und der antwortete: "Natürlich!" "Nun, es handelt sich um eine dunkle Angelegenheit", stöhnte Tscherjaga. "Da stechen wir in einen Bienenkorb." "Wie meinst du das?" "Weißt du, vieviel Geld die Atomenergie AG in den vergangenen Jahren in das Atomkraftwerk Weißes Feld investiert hat?" "Null!", antwortete Isvolskij: Er erinnerte sich gut an die Zufahrten zum Gebäude, die seit bestimmt seit drei Jahren von keinen LKW-Reifen mehr berührt worden waren. "250 Milliarden Rubel", sagte Tscherjaga. Isvolskij stieß einen leisen Pfiff aus. "Und wo ist dieses ganze Geld hin?" "Das läuft folgendermaßen", antwortete liebenswürdig Tscherjaga. Unsere Atomenergie AG hat eine Tochter namens "Atombau-Finanz", und die gibt die Wechsel heraus, mit denen die Atomenergie-AG mit den Bauunternehmen abrechnet. Diese Bauunternehmen widerum verkaufen die Wechsel am Markt, wo sie für 18 Prozent ihres Nominalwertes gehandelt werden. Gekauft werden sie von verschiedenen Strukturen ? hier habe ich eine Liste ? und dann an unserer Aktiengesellschaft zurückgekauft, die sie dann zum Nominalwert tilgt." "Mit Geld?", versicherte sich Isvolski. "Mit Geld!" 4 Mod: In der Weite der Bergwälder irgendwo zwischen Ural und Baikalsee ist es weniger idyllisch als man meint. Westeuropäische Unternehmen, auch deutsche, haben hier über Jahre ihr abgereichertes Uran hingeschafft, denn in Russlands Osten ist die Wiederanreicherung des Brennelements viel billiger als etwa in Frankreich. Zehntausende Tonnen radioaktives und hochgiftiges Uranhexafluorid wurden allein von Deutschland aus nach Sibirien transportiert. In den Zentrifugen der sogenannten Wiederaufbereitungsanlagen werden die Urananteile von anderen schädlichen Chemikalien getrennt. Der dadurch extrahierte Brennstoff geht zurück gen Westen, der weit größere Anteil, der Atommüll bleibt in Sibirien wird in Fässern unter freiem Himmel gelagert, kontaminiert den Boden, und verseucht Seen und Flüsse, die aber als Trinkwasserquelle für Millionen Menschen dienen. Sibirien ist ein offenes Endlager unter freiem Himmel, beklagen russische und westeuropäische Umweltschützer - ein Endlager für westeuropäischen Atommüll. Atmo: Nah der chinesischen Grenze wird zudem Uran für deutsche Kernkraftwerke gefördert. Nur wenige Tonnen Uranoxid wurden bisher aus dem Erz gewonnen, die vielen Tausend Liter hochgiftiger Abwässer, die dabei entstehen, hat dagegen keiner gezählt. Sie werden einfach ungefiltert in die Landschaft gekippt. Nur wenige gehen in Russland deshalb auf die Barrikaden: Beitrag 4: Der gesetzbrechende Umweltschützer "Kommt er?" - "Er kommt. Er hat gesagt, er kommt!" Letztes Stühlerücken im Unabhängigen Pressezentrum. Es ist eine spontane Pressekonferenz, einberufen über ein neues Gesetzesprojekt, das den Umgang mit Atommüll regeln soll. Die Organisatoren sind zur Stelle: Die russlandweit bekannten Umweltaktivisten Vladimir Sliviak und Aleksej Jablokov, außerdem die Vertreterin des Pressezentrums. Ein Referent aber fehlt: Vladimir Milov - eine der schillerndsten Persönlichkeiten in dem Oppositionsbündnis Solidarnost. Ein Experte mit Vergangenheit, der durch seine Berufsjahre unter anderem im Energieministerium die Branche von innen kennt. Die Tür schwingt auf, und Milov eilt herein: eine hoch gewachsene Gestalt in Jeans mit einem fast jungenhaften Gesicht. Organisator Sliviak lacht erfreut: letztes Abstimmen der Positionen. Guten Tag, danke dass Sie gekommen sind. Es geht um das Atommüll-Gesetzesprojekt, das am 20. Januar in erster Lesung die Staatsduma passiert hat. Wir vertreten 30 Umweltorganisationen, die in einem gemeinsamen Schreiben an die Duma dagegen protestiert haben. Dabei warten wir lange auf so ein Gesetz. Unser Land sitzt auf einer halben Milliarde Tonnen von radioaktivem Müll, und es gibt keine Rechtsgrundlage. Aber in dieser Form ist das Gesetz haarsträubend! Anstatt das Problem wenigstens im Ansatz zu lösen, schützt es nur die Konzerninteressen der Staatsholding Rosatom. TEXT: Die Kosten für die Lagerung des bislang angefallenen Atommülls wolle Rosatom auf den Steuerzahler abwälzen, berichtet Sliviak. Flüssige Atomabfälle dürften weiterhin in die Erde geleitet werden, und ein Mitspracherecht von Anwohnern sei nicht vorgesehen. Milov hört aufmerksam zu. Dann schlägt er seine Strategie für die Pressekonferenz vor: Nicht nur an das ökologische Bewusstsein wolle er appellieren, sondern auch an den Geldbeutel. In meiner Funktion als staatlicher Kontrolleur hatte ich Einblick in die Bilanzen der Atomindustrie ? die ja angeblich so billig ist. Und da las ich schwarz auf weiß, wie teuer und uneffektiv sie eigentlich ist. Die Kernkraft deckt gerade mal 15 Prozent des russischen Energieverbrauchs. Aber wieviel Kopfschmerz bereitet sie einem dafür! So viele verdeckte Kosten für einen Energiezweig, der schlichtweg nicht rentabel ist. Atomkraft ist ein Nebenprodukt der Militärindustrie, das jetzt irgendwo in der zivilen Welt seinen Platz sucht. Früher war ich Atomkraftgegner, weil ich um unsere Umwelt fürchtete. Heute denke ich, dass wir aus wirtschaftlichen Gründen aussteigen müssen. TEXT: Aus der Atomenergie aussteigen: Radikale Ansichten wie diese können politische Karrieren beflügeln, und ebenso schnell zum Absturz bringen ? Milov weiß das besser als jeder andere. Im Jahr 2000 hatten seine Reformideen die Aufmerksamkeit des damaligen Wirtschaftsministers German Gref geweckt. Zwei Jahre später wurde Vladimir Milov zum stellvertretenden Energieminister ernannt. Doch es war die erste Amtszeit von Präsident Putin, und der schaffte - nach und nach - nicht nur die Gremien zur Umweltkontrolle ab: das Staatliche Ökologiekomitee und die Atomaufsicht. Er ging auch gegen die allzu ökologisch orientierten Mitglieder seines Kabinetts vor. Milov ging in die Opposition. Seitdem nutzt er jedes Podium, das sich bietet, um die Reformbedürfigkeit des russischen Energiesektors anzuprangern. ÜBERSETZER: HANS BAYER Russland hat die größten Gasvorräte weltweit, es exportiert in großem Stil. Aber es ist abhängig vom Uranimport! Wir verbrauchen fünftausend Tonnen Uran im Jahr, aber selbst fördern wir nur dreieinhalb Tausend. Und Rosatom-Chef Sergej Kirienko reist nach Australien, Kasachstan, in die Mongolei, um Uran aufzutreiben. Obwohl wir mehr Gas besitzen als jedes andere Land ? den wertvollsten und sichersten Rohstoff, den wir uns nur wünschen können. Ist das etwa eine kluge Energiestrategie? Ich meine, nicht. Die Stühle im Konferenzraum haben sich gefüllt. Etwa ein Dutzend Journalisten sind gekommen, die meisten vertreten kleinen Regionalzeitungen und Fachblätter. Die Sprecherin des Pressezentrums sieht zufrieden aus: mehr war nicht zu erwarten. Liebe Kollegen, fangen wir an. Es geht um das neue Gesetzesprojekt zum Thema Atommüll. Ich freue mich, Ihnen unsere Referenten vorzustellen: Vladimir Sliviak, der Vorsitzende der Umweltorganisation Ecodefence, Professor Alexej Jablokov, der langjährige Umweltberater von Präsident Jelzin, und Vladimir Milov, der ehemalige stellvertretende Energieminister, heute Mitglied von Solidarnost. TEXT: Milov schaut vom Rednertisch in die Runde. Sein Oppositionsbündnis ist bekannt für regierungskritische Kampagnen in vielen Bereichen. Atommüll gehörte bislang nicht zu seinen Prioritäten. Doch das könnte sich bald ändern. ÜBERSETZER: HANS BAYER Liebe Kollegen, abgesehen von den Umweltorganisationen gibt es leider nur wenige, die sich überhaupt für dieses Thema stark machen. Auf der politischen Bühne sind die Parteien Jabloko und Solidarnost die einzigen. Machen wir uns keine Illusionen, wir kennen das System. Wenn die Präsidialadministration zustimmt, dann wird das Gesetz das Parlament passieren. Es wird verabschiedet werden, ohne dass die Bevölkerung irgendein Mitspracherecht bekommt. Sollte es tatsächlich soweit kommen, dann werden wir vor dem Verfassungsgericht Klage erheben. Wir werden kämpfen. Musik 5 Mod. Seit dem 11. September 2001 wird der Begriff "Nuklearsicherheit" anders definiert. Dachte man vor den Anschlägen auf das World Trade Center in erster Linie an Reaktorsicherheit und Strahlenschutz, gilt die Sorge jetzt vor allem dem physischen Schutz von Spaltmaterial und Strahlenquellen; dass sie bloß nicht auf den Schwarzmarkt gelangen und von dort in die Hände von Terroristen Atmo: Radioaktive Materialien zu sichern, das ist in Russland Aufgabe der staatlichen Kernkraftwerksbetreiber. Doch wie sichert kann eine Atomanlage vor Flugzeugattentaten geschützt werden, wie ein Uranlager vor Diebstahl? In Russland in Obninsk gibt es seit 1993 eines der modernsten und größten Schulungszentren für die Sicherheitstechniker der Atomanlagen. Es ist nicht umsonst in Obninsk, denn die Stadt südwestlich von Moskau wird auch die Wiege der russischen Atomkraft genannt. Hier stand das erste kommerzielle Atomkraftwerk der Welt und in dieser Tradition sind hier immer noch die renommiertesten Institute für die Weltraumtechnik und Kernforschung - und eben auch für die angewandte Praxis: Beitrag 5: Die Schule der Anti-Terror-Ingenieure Vorsichtig nähert sich der Mann der Backsteinmauer. Gute zwei Meter ist sie hoch, und zusätzlich bewehrt mit einem Stacheldraht-Aufbau. Eine Barriere, die das Überwinden schwierig macht - aber nicht unmöglich. Beherzt nimmt der Mann Anlauf, hängt sich mit beiden Händen an die Oberkante der Mauer und zieht sich hoch. Doch er hat etwas übersehen, so scheint es: ein unscheinbares Kabel, das in einer Zementfuge verlegt ist. Das ist der Detektor, der anzeigt, dass jemand die Absperrung zu überwinden versucht. Wäre das hier kein Übungsgelände, sondern eine echte kerntechnische Anlage, wäre der Alarm sehr viel lauter. Ausgelöst wird er durch das Mikrofonkabel, sobald jemand mit seinem Fuß in den unteren Bereich der Mauer gelangt (ALARMSIGNAL). Die Empfindlichkeit des Sensors ist regelbar, sodass er auf kleine Tiere oder auf Wind nicht reagiert. Aber sobald jemand versucht, diese Pforte hier zu öffnen - hören Sie! Dasselbe. (ALARMSIGNAL) TEXT: Aleksej Farkis, Fachmann für Sicherheitstechnik. Er blickt dem gescheiterten Eindringling nach, der sich - durch diverse Infrarot- und Ultraschallschranken hindurch - über das Kamera-überwachte Gelände des Übungsplatzes davon macht. Eigentlich sind sie ein Team. Auf diese lebensnahe Weise demonstrieren sie ihren Kursteilnehmern, wie man Nuklearmaterial vor Diebstahl schützt. Das Übungsgelände ist gerade im vergangenen Jahr eingeweiht worden. Und schon voll gestellt mit Fragmenten von Hochsicherheitszäunen, Bewegungsmeldern und Videokameras. Der Übungsplatz liegt im Innenhof des gewaltigen Gebäudes, der zum "ISTC" gehört - dem "Interdisziplinären Spezialtrainingszentrum". Russlandweit ist es die größte Weiterbildungseinrichtung für Nuklearsicherheitskräfte. 1993 wurde sie gegründet, später erweitert mit finanzieller und technischer Unterstützung der Internationalen Atomenergie-Organisation. Hier zeigen wir den prinzipiellen Aufbau eines Schutzsystems. Unsere Teilnehmer können Sicherheitstechnik von verschiedenen Herstellern ausprobieren. Dann können sie auswählen, welches System für das spezielle Risikoprofil ihrer eigenen Atomanlage am besten geeignet is. Dann können sie zuhause ihre Werksleitung beraten. Zum Ausprobieren und Üben hat man doch im betrieblichen Alltag keine Zeit! Da ist man damit beschäftigt, sein Objekt zu schützen. TEXT: In den Seminarräumen folgt dann die Theorie. 12 000 Sicherheitskräfte aus ganz Russland haben hier schon die ein- bis zweiwöchigen Trainingseinheiten absolviert. Nuklearsicherheit ist eine Wissenschaft für sich. Denn eine kerntechnische Anlage besteht aus verschiedenen Einheiten zur Lagerung und Verarbeitung von Kernmaterial auf einem weitläufigen Betriebsgelände. Eindringlingen bietet das mehr Möglichkeiten, als sogar Sicherheitsprofis sich träumen lassen. TEXT: Den Lehrstuhl für physischen Schutz leitet Dmitrij Subkov. Er zeigt auf das Landschaftsmodell einer Kernanlage, die über ein mehrstufiges Sicherheitssystem verfügt. Da gibt es den Hightechzaun um das Betriebsgelände, mit seinen speziell gesicherten Zugängen für Fußgänger, Straßenfahrzeuge und Züge. Dann zeigt Subkov auf die Eingänge der einzelnen Gebäude, die wiederum mit Code-gesteuerten oder biometrischen Zugangskontrollen gesichert sein sollten. Und schließlich auf den Hochsicherheitstrakt, wo das spaltbare Material lagert. Das, sagt er, ist in russischen Kernkraftanlagen Standard. Aber wie jedes komplexe System, hat auch dieses seine Schwachstellen. Zum Beispiel eine Hochspannungsleitung. Auf den ersten Blick scheint es, als sei eine Hochspannungsleitung nicht gerade ein geeigneter Weg, auf das Betriebsgelände zu gelangen. Aber was ist bei Stromausfall? In einem solchen Fall könnte man sich durchaus - zum Beispiel mit Hilfe einer alpinen Kletterausrüstung - über die Umzäunung schwingen. Diese Sicherheitslücke zu schließen ? mit einem Infrarotdetektor zum Beispiel - ist weder kompliziert noch teuer. Aber dafür muss man sie erst mal entdecken! TEXT: Betriebsblindheit überwinden, und das begehrte Atommaterial verlässlich sichern ? vor Terroristen, die von außen eindringen wollen, und vor korrupten Mitarbeitern, die sich auf dem Nuklear-Schwarzmarkt ein Zubrot verdienen wollen: Die Weiterbildungs-Programme des ISTC sind gefragt wie nie, das zeigt schon der Gang durch das verzweigte Gebäude. An allen Ecken und Enden wird angebaut und erweitert: Zementsäcke, Farbgeruch und offene Kabelenden überall. Ein neuer Trainingskomplex für den Schutz von Strahlenmaterial in Krankenhäusern und Industrieanlagen ist so gut wie einsatzbereit, ein weiterer für die Sicherung von Atomtransporten im Bau. In diesen Bereichen steht die Lehre von der Nuklearsicherheit ganz am Anfang -in Russland wie überall auf der Welt. Die Angst vor dem neuen Nuklearterrorismus ? es hat die Atomindustrie über alle Grenzen hinweg zusammenrücken lassen. Jetzt setzt Direktor Jurij Barabanov, der Leiter des ISTC, auf Zusammenarbeit. Es ist ja kein Geheimnis, dass der Südkaukasus Russlands offene Wunde ist. Nicht nur lokale Banditen haben in den vergangenen Jahren Anschläge verübt. Da haben internationale Terrorgruppen ihre Fäden gezogen ? und das ist ein internationales Problem. Damals, im Kalten Krieg, haben alle in Angst vor dem Dritten Weltkrieg gelebt. Da gab es die Kuba-Krise und andere Spannungen. Die heimischen Probleme dagegen wurden gut verborgen. Heute gibt es Terrorgruppen wie Al Quaida. Und das ist eine größere Bedrohung als die Konfrontation zwischen den USA und Russland Musik Abmod. auf Musik: Gesichter Europas: Besinnung aufs Kerngeschäft - Russland auf dem Weg zum Nukleargroßhändler Mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier Die Musikauswahl traf Babette Michel Die Literaturauszüge am Mikrophon war Britta Fecke. 15