COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Manuskript für DeutschlandRadio Kultur: Sendedatum 21. Mai 2014 "Zeige mir deine Zeichen, und ich sage dir, wer du bist" - Schriftzeichen und die Geburt nationaler Identitäten - Susanne Billig und Petra Geist Musik 1 "Übergeordnete Klänge" Erkennungsmusik für die übergeordneten Überlegungen Geräusch 1 Collage aus Politiker-Reden (z.B. Politiker aus der Weimarer Zeit, Hitler-Rede, Heinemann, Erdogan, arabischer und koreanischer Redner) O-Ton 1 ANDREAS KOOP Bei einem körperlich anwesenden Sprecher wirkt das, was er sagt, aber es wirkt natürlich auch, wie er es sagt. Also seine Aussprache. Seine Geste, seine Mimik ... Geräusch 2 Collage wieder hochkommen lassen O-Ton 2 ANDREAS KOOP Bei einem Druckwerk ist es so, dass die Schrift ein Stück weit diesen eben nicht mehr anwesenden Sprecher ersetzt und repräsentiert. Und das ist eben ganz interessant. Wie stellt man sich sozusagen, diese Regierung, diese Haltung, diese Nation in Typografie vor? AUTORIN 1 Ruhig, sachlich, unaufgeregt - so präsentiert sich die deutsche Regierung heute in ihren Publikationen. Auch ein klares, zurückhaltendes Schriftbild gehört dazu. Wohin sind sie verschwunden, die ausdrucksstarken, gebrochenen Schriften, landläufig meist "Fraktur" genannt? Im deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik prangten die kräftigen Buchstaben mit ihren abrupten Richtungswechseln ganz selbstverständlich auf allen offiziellen Dokumenten. Über Jahrhunderte hinweg galt die Fraktur als die deutsche Schrift im In- und Ausland. Musik 2 Musik aus dem 16. Jahrhundert AUTORIN 2 Ihren Aufschwung nahmen die gebrochenen Schriften im sechzehnten Jahrhundert. 1534 veröffentlicht der Reformator Martin Luther seine berühmte Bibelübersetzung in deutscher Sprache - ein wortgewaltiges Werk, das Luther bewusst in einer kräftigen, gebrochenen Schrift setzen lässt. Sie bringt seine Stimme auch optisch voll zur Geltung - und unterscheidet sein Werk auf den ersten Blick von den Büchern der Katholischen Kirche. Auch von den Schriften der gelehrten Humanisten setzt er sich ab, die auf Lateinisch schreiben und in der Typografie der Römer drucken - der Antiqua-Schrift mit ihre klaren, runden Bögen. In dieser Zeit deutet sich die weltanschauliche Aufladung der Schrift bereits an: Eine Luther-Bibel-Ausgabe von 1545 unterscheidet sogar zwischen Gut und Böse mit den Mitteln der Typografie: Wörter wie Gnade, Trost, Gott und Engel sind in Fraktur gedruckt; Wörter wie Zorn, Strafe, Tod und Pest tauchen im Antiqua-Schriftbild auf. Andreas Koop, Grafikdesigner und Autor des Buches "Schrift und Macht": O-Ton 3 ANDREAS KOOP Und das ist natürlich schon interessant und unglaublich manipulativ, wenn man mit einer Schrift das Negative konnotiert und verbindet. AUTORIN 3 Schon im sechzehnten Jahrhundert gibt es erste Stimmen, die die deutsche Sprache und die gebrochene Schrift zu einem Gesamtereignis verschmelzen. So schreibt der Nürnberger Kalligraph Wolfgang Fugger in seinem Büchlein über "Mancherley schöne Schrieften": Z I T A T O R 1 Es will nit schön sehen, so man die Teutschen Sprach mit Lateinischen Buchstaben schreyben will. Musik 3 Klänge aus dem 18. Jahrhundert AUTORIN 4 Dennoch herrscht bis Mitte des achtzehnten Jahrhunderts weitgehend Einigkeit in Sachen Schrift: Wissenschaftliche Werke erscheinen in Antiqua und im gebildeten Latein. Deutsche Prosa und Gedichte werden in gebrochener Schrift gesetzt - die darum allmählich immer "deutscher" wirkt. SPRECHERIN 1 Froh bin ich, dass deine Schrieften, alte und neue, nicht in den mir so fatalen Lateinischen Lettern das Licht der Welt erblickt haben - beym Römischen Carneval, da mags noch hingehen - aber sonst im übrigen bitte ich dich, bleibe deutsch auch in deinen Buchstaben. AUTORIN 5 Das schreibt Goethes Mutter an ihren berühmten Sohn, der selbst durchaus Sympathien hegt für die Antiqua - sein Urfaust beispielsweise wird darin gedruckt. Mitte des achtzehnten Jahrhunderts entwickelt sich die Frage des Schriftbilds offen zum Politikum. Aufklärer drucken nun erstmals deutschsprachige Gedichte in Antiqua - sie möchten auch im Ausland gelesen werden. Doch im Zuge der Befreiungskriege und im Kampf gegen Napoleon wird nun auch die Fraktur in Stellung gebracht - als ein Mittel der Abgrenzung gegen die "welsche" Schrift der Franzosen. O-Ton 4 ANDREAS KOOP Die welsche Schrift steht für die Antiqua und damit sozusagen einfach für einen undeutschen Geist, für etwas Lateinisches, Französisches, also einfach etwas nicht Deutsches. AUTORIN 6 Als im neunzehnten Jahrhundert der Nationalismus in Europa um sich greift, erlebt die Fraktur die Zeit ihrer größten Verbreitung. 1861, zehn Jahre vor Gründung des Deutschen Reiches, erscheinen achtzig Prozent der Bücher in gebrochener Schrift. Reichskanzler Otto von Bismarck erkennt sehr genau, dass die gebrochene Schrift helfen kann, die Identität der deutschen Nation zu formen. O-Ton 5 ANDREAS KOOP Die Bildung der Nation war ja seine große Mission gewissermaßen. Für ihn war natürlich wichtig, dass er alles in diese Waagschale wirft. Und dazu gehörte ja auch Schrift. Er hatte ja mal behauptet, er lese kein Buch, das in welscher Schrift, also in Antiqua gesetzt sei. AUTORIN 7 Zehn Jahre nach der Reichsgründung liefern sich in Deutschland Vereine pro Fraktur und pro Antiqua eine heftige Schriftdebatte. Antiqua-Anhänger werden als "Lateinschriftlinge" diffamiert und beschimpfen die Fraktur-Schrift im Gegenzug als Z I T A T O R 2 wurmstichige Frucht am Baume des Schriftwesens der europäischen Kulturvölker! AUTORIN 8 Bis in den Reichstag schafft es der Streit: Im Mai 1911 debattieren die Parlamentarier heftig über die Frage, welche Schrift die Volksschüler im Land erlernen sollen. Fraktur-Anhänger wettern: Z I T A T O R 3 Hinaus mit dem Kuckucks-Ei römischer Schrift aus unserer deutschen Volksschule, fangen wir hier mit der Reinigung an und legen in die Seele des Kindes den Keim der Achtung vor deutscher Sitte und Volkstümlichkeit. AUTORIN 9 Auch die Antiqua-Befürworter pochen auf das nationale Interesse - die lateinische Schrift erleichtere Deutschland den Handel und den kulturellen Austausch mit dem Ausland. Zu einem Parlamentsentscheid kommt es nicht. Nach dem Ersten Weltkrieg zeigt sich die erste deutsche Demokratie, die Weimarer Republik, als zerrissenes Konstrukt - auch im Gebrauch der Schriften. O-Ton 6 ANDREAS KOOP Es ist diese Republik in keiner Weise - und eben auch sogar bei Farben, bei Flaggen und bei Schriften - niemals gelungen, wirklich mal eindeutig Position zu beziehen, eindeutig für das Demokratische einzustehen und die rechten Kräfte irgendwie in ihre Schranken zu weisen. Die Verfassung, die zur Zeit der Weimarer Republik entstanden und gedruckt wurde, deren Titelseite hätte genauso gut im Kaiserreich entstehen können und das drückt natürlich schon ein Selbstverständnis aus. Musik 4 Collage: Nazi-Marschmusik + düstere elektronische Klänge AUTORIN 10 Die Nationalsozialisten setzen bei ihrem Aufstieg ganz auf die gebrochene Schrift. Damit signalisieren sie Volkstümlichkeit und nationale Gesinnung. Fette, schwarze Lettern sollen lautstarke Entschlossenheit demonstrieren. Nach der Machtübernahme 1933 beobachtet der polnische Graf Antoni Sobanski, wie sich Stadtbild und Verlagswesen schlagartig ändern. Damals werden gebrochene Schriften auch häufig als "gotisch" zusammengefasst: Z I T A T O R 4 Mit Gewalt wird überall die gotische Schrift eingeführt. Bücher, die in zweiter Auflage herauskommen sollten, wurden zurückgezogen und mussten in Fraktur neu gesetzt werden. In Antiqua beschriftete Schilder werden flugs ausgetauscht. Begonnen wird natürlich mit dem Adolf-Hitler-Platz. AUTORIN 11 Während der Olympischen Spiele 1936 in Berlin verschwindet die Fraktur für einige Wochen aus dem öffentlichen Raum. Liberal und international möchten die Nationalsozialisten auf das Ausland wirken. Nachdem man sich große Teile dieses Auslands einverleibt hat, wird - mitten im Zweiten Weltkrieg - die gebrochene, die deutsche Schrift plötzlich verboten. Z I T A T O R 5 Der Stellvertreter des Führers, Stabsleiter Martin Bormann, Obersalzberg , 3. Januar 1941. Rundschreiben. Zur allgemeinen Beachtung teile ich im Auftrag des Führers mit: Die sogenannte gotische Schrift als eine deutsche Schrift anzusehen und zu bezeichnen ist falsch. In Wirklichkeit besteht die sogenannte gotische Schrift aus Schwabacher-Judenlettern. Am heutigen Tag hat der Führer entschieden, daß die Antiqua-Schrift künftig als Normalschrift zu bezeichnen sei. AUTORIN 12 Die hanebüchene Begründung: Die gebrochenen "Judenlettern" seien von jüdischen Schriftsetzern erfunden worden, dabei war der Beruf im Mittelalter für Juden verboten. Tatsächlich geht es um den Pragmatismus des Herrschens - im überfallenen Ausland sind nationalsozialistische Verlautbarungen auf Fraktur kaum zu entziffern. 1941 vertraut Reichspropagandaminister Joseph Goebbels seinem Tagebuch an: Z I T A T O R 6 Der Führer ordnet an, daß die Antiqua künftig nur noch als deutsche Schrift gewertet wird. Sehr gut. Unsere Sprache kann wirklich Weltsprache werden. Musik 5 Collage: Nazi-Marschmusik + düstere elektronische Klänge akustisch in der Ferne verschwinden/abreißen lassen AUTORIN 13 Auch nach 1945 werden noch Bücher in Fraktur gedruckt. Eine Theodor-Storm-Gesamtausgabe findet 1953 reißenden Absatz. Auch die Bibeln der evangelischen Kirche halten bis in die sechziger Jahre an der "deutschen" Schrift fest. Als letztes Biotop der gebrochenen Schrift ist das Bier-Etikett geblieben. Doch als Repräsentationsschrift der deutschen Regierungen bleibt sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs tabu - zu sehr haftet die rechtsnationale Gesinnung ihr an. Musik 6 "Übergeordnete Klänge" AUTORIN 14 Schriften erzeugen Identitäten - doch es muss sich dabei nicht immer, wie bei der Fraktur, um nationale Identitäten handeln. Die Kenntnis der Schrift selbst, der sichere Umgang mit ihren Zeichen markierte über Jahrtausende hinweg den gesellschaftlichen Unterschied zwischen unten und oben. Und die Schriftkundigen - Verwalter, Beamte, Adelige - hüteten eifrig die Vorteile, die sich daraus ergaben. Florian Coulmas, Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien und international einer der renommiertesten Sprach- und Schriftwissenschaftler. O-Ton 7 FLORIAN COULMAS Die Idee der umfassenden, allgemeinen Schriftkenntnis für alle - die gibt es ja erst seit der Aufklärung. Eine Bevölkerung auszubilden, das kostet Geld, beziehungsweise dafür muss ein Mehrwert erwirtschaftet werden, den es lange Zeit nicht gab. Dadurch ergab sich automatisch, dass die Schriftkenntnis ein Privileg einer kleinen Elite war, das entsprach einer wirtschaftliche Notwenigkeit. Musik 7 Alte koreanische Klänge AUTORIN 15 Das eindrücklichste Beispiel dafür, wie der Umgang mit einer Schrift dabei hilft, gesellschaftliche Differenzen zu zementieren - und schließlich aufzusprengen - liefert Korea. Wer hier im Mittelalter einen Text verfassen wollte, musste dies auf Chinesisch tun, denn Jahrhunderte lang stand das Königreich unter dem Einfluss seines mächtigen Nachbarn. Schon 1230 erfand man auf der koreanischen Halbinsel den Buchdruck mit beweglichen Bronzelettern - zweihundert Jahre früher als in Europa. Doch eine eigene Schrift gab es nicht. Holmer Brochlos, Lehrbeauftragter und Sprachlektor am Institut für Koreastudien der Freien Universität Berlin. O-Ton 8 HOLMER BROCHLOS Ein normaler Bauer, der jeden Tag arbeiten muss, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, der konnte sich nicht hinsetzen und tausend chinesische Zeichen lernen. AUTORIN 16 Wer als Beamter Dienst tun will, muss eine anspruchsvolle Prüfung ablegen - natürlich im klassischen Chinesisch. Auf diese Weise kann sich der Adel Jahrhunderte lang gegen das einfache Volk abgrenzen, ist chinesisch identifiziert und pflegt das konfuzianische Erbe. Die koreanische Sprache wird zwar gesprochen und es werden auch Umschriften entwickelt, um Koreanisch mit chinesischen Schriftzeichen zu schreiben. Doch weil das Koreanische die Wörter vielfach beugt, das Chinesische dagegen überhaupt nicht, sind diese Versuche extrem umständlich: Viel zu häufig ist unklar, ob ein Schriftzeichen die chinesische oder eine koreanische Bedeutung meint. Wenn Koreaner Texte in einer der Umschriften lesen, denken sie die Zeichen auf Koreanisch, sprechen sie aber chinesisch aus, vermischt mit koreanischen Lauten. Musik 8 Koreanische Klänge AUTORIN 17 Bis zum Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts bleibt das koreanische Königreich ohne eigene Schrift, bis ein großer Reformer den Thron einnimmt: der berühmte König Sejong. Z I T A T O R 7 Unter den unwissenden Bauern gibt es viele, die, wenn sie etwas schreiben möchten, unfähig sind, es auszudrücken. Dies bedauernd habe ich achtundzwanzig Buchstaben kreiert - und hoffe, jeder lernt und gebraucht sie im täglichen Leben. O-Ton 9 FLORIAN COULMAS Das ist sehr ungewöhnlich in der Weltgeschichte, dass ein Herrscher, der naturgemäß zur Elite gehört, sagte: Was wir brauchen, ist eine einfache Schrift für unsere eigene Sprache. Dass die Leute nicht, um gebildet zu werden, erst einmal eine andere Sprache lernen müssen. AUTORIN 18 König Sejong ruft eine "Akademie der Weisen" zusammen und es wird - das erste und einzige Mal in der Geschichte - eine Schrift am Reißbrett völlig neu konzipiert. Was dabei herauskommt, ist kein steriles Konstrukt, sondern ein Entwurf voller Intelligenz, Schönheit und Leben. Legenden ranken sich um die neue Hangeul-Schrift. Ist sie inspiriert vom Gitterwerk auf traditionellen koreanischen Türen? Oder von den Mustern, welche Seidenraupen in Maulbeerblätter fressen? O-Ton 10 HOLMER BROCHLOS Es ist eigentlich eine geniale Schrift. Da haben sich offensichtlich wirklich Sprachwissenschaftler, Linguisten, die auch wirklich Bescheid wissen, eine Schrift entwickelt, die genau der koreanischen Sprache angepasst ist. O-Ton 11 FLORIAN COULMAS Die neue Schrift war einfach; sie war so einfach, dass man sie innerhalb von einer Woche lernen konnte. Sie war außerordentlich gut durchdacht, und sie war ästhetisch durchaus ansprechend, passte sich ein in das, was man hatte, von der Tradition her - nämlich eine hoch entwickelte Kalligraphie mit dem Chinesischen. AUTORIN 19 Die minimalistisch designte Hangeul-Schrift kennt drei Vokal-Grundzeichen, die sich elegant auf philosophische Prinzipien beziehen: Ein Kreis bildet den Himmel ab, ein waagerechter Strich die Erde, ein senkrechter Strich den Menschen darauf. Die Schriftzeichen zeigen zudem die Stellung der Zunge im Mund an - absolut einzigartig in der Welt der Schriften. Und obwohl die Akademie der Weisen das chinesische Hieroglyphen-Prinzip völlig über Bord wirft und eine reine Buchstabenschrift ersinnt, schließt sie doch ästhetisch an die chinesischen Bilderzeichen an. Das gelingt mit einem Trick - die Buchstaben werden nicht linear hintereinander geschrieben. O-Ton 12 HOLMER BROCHLOS Sondern man bastelt die dann zu so kleinen Silben-Päckchen zusammen. Die sehen richtig schön aus - weil man sich eben im fünfzehnten Jahrhundert nicht wirklich von heute auf morgen aus diesem übermächtigen chinesischen Kulturkreis lösen konnte. Da hat man wenigstens diese Quadrate, dieses quadratische Bild der Schrift beibehalten wollen. AUTORIN 20 So genial die neue Schrift gelingt - die Beamten des Landes laufen Sturm dagegen. In einer wütende Eingabe an König Sejong heißt es: Z I T A T O R 8 Menschen, deren Schreibsysteme sich von den chinesischen Zeichen unterscheiden - wie die Mongolen, die Japaner, die Tibeter - sie alle sind Barbaren. Eine neue Schrift zu erfinden heißt: Barbar wie sie zu sein. AUTORIN 21 Als "Vulgär-Schrift" wird das neue System Jahrhunderte lang diffamiert, eine Schrift für dumme Bauern und Frauen. Hartnäckig halten die Eliten des Landes bis ins neunzehnte Jahrhundert an den chinesischen Zeichen fest. Und auch hier verschafft erst die europäische Idee des Nationalismus, die in Korea einsickert, der Hangeul-Schrift Aufwind. Zu dieser Zeit hat das verknöcherte Königreich gründlich abgewirtschaftet. Viele wünschen sich eine Öffnung und Modernisierung des abgeschotteten Landes. O-Ton 13 HOLMER BROCHLOS Und in dieser Zeit dann allmählich haben eben auch die koreanischen Eliten dann überhaupt die Schrift erstmal für sich entdeckt. Dass man diese Schrift auch nutzen kann als ein Mittel, um nationale Identität zu schaffen, um Bildung zu vermitteln und Werte - und das Land dann dadurch insgesamt voranzubringen. Geräusch 3 Traurige koreanische Klänge AUTORIN 22 1910 annektiert Japan die koreanische Halbinsel. Ab 1938 schlägt die Fremdherrschaft endgültig in brutale Unterdrückung um. Die Koreaner dürfen ihre Sprache nicht mehr sprechen, ihre Kleidung nicht mehr tragen, müssen sogar ihre uralten Familiennamen ablegen. O-Ton 14 FLORIAN COULMAS Und jetzt regte sich gegen die japanische Annexion starker Widerstand in Korea. Ein solcher Widerstand braucht nicht nur Symbole, sondern in diesem Fall war ein Symbol auch gleichzeitig noch ein probates Kommunikationsinstrument - nämlich die Schrift in eigener Sprache. Das war der Moment, in dem Hangeul zum Symbol Koreas wurde. Musik 9 Triumphierende koreanische Klänge AUTORIN 23 Mit dem Zweiten Weltkrieg endet die japanische Besatzung und es kommt zur Teilung Koreas. Beide Regierungen setzen nun die Hangeul-Schrift ein, um ihren Staaten Kontur und Identität zu verleihen. Der kommunistische Norden schafft die chinesischen Zeichen umgehend ab. In Südkorea dauert dieser Prozess wesentlich länger - dafür wird das Hangeul hier in den höchsten Tönen gepriesen und sogar mit einem Feiertag geehrt. 1947 erklärt der Bildungsminister: Z I T A T O R 9 Hangeul wurde geboren mit einer heiligen Mission. Wie viele Male musste Hangeul Dornenfelder überwinden, höchste Gebirge passieren oder sich in schwindelnde Abgründe stürzen. Heute, fünfhundert Jahre nach der Geburt von Hangeul, schwören wir feierlich, das furchtbare Schicksal der Vergangenheit zu bereinigen und versprechen eine glänzende Zukunft. AUTORIN 24 In solchen Lobpreisungen zeigt sich: Schrift ist weit mehr als ein Mittel der Kommunikation. In Korea wurde sie zu einem Symbol des Volkes selbst - seiner Kämpfe, seiner Leiden, seiner Hoffnungen. Zuvor allerdings muss ein solches Volk geformt werden, als homogene, nationale, muttersprachliche Einheit. Wie Schrift hilft, eine solche nationale Homogenität zu erzeugen, das zeigt sich wohl nirgendwo deutlicher als am Beispiel der Türkei, die fast über Nacht als Nationalstaat aus dem multikulturellen Osmanischen Reich hervorging. Buchstaben und viel Propaganda halfen dabei mit. Musik 10 Türkische Klänge AUTORIN 25 Im September 1928 unternimmt Mustafa Kemal, Mitbegründer der modernen Republik Türkei und ihr erster Präsident, eine Propagandareise durch Anatolien. Sein Ziel: eine neue Schrift unter die Menschen zu bringen. Zeitungsfotos zeigen den späteren "Atatürk" - "Vater der Türken" - als Lehrer neben einer großen Schultafel voller Buchstaben; im Hintergrund wehen türkische Fahnen. Geräusch 4 Ausschnitt Rede Atatürks AUTORIN 26 Schon die Herrscher des Osmanischen Reiches importieren aus dem Westen den Buchdruck und Armeestrukturen. Offiziere gehen nach Frankreich, um Französisch, Medizin und Technik zu studieren. 1829 verbietet eine Kleiderreform die alttürkische Tracht mit Turban und Pluderhosen. Forderungen, die arabische Schrift abzuschaffen, können sich noch nicht durchsetzen. Geräusch 5 Alter Kanonendonner AUTORIN 27 Mit dem Ersten Weltkrieg bricht das Osmanische Reich zusammen. Im. Oktober 1923 ruft die Mehrheit der Nationalversammlung auf Druck des modernistisch und pro-westlich orientierten Mustafa Kemal die Türkische Republik aus. O-Ton 15 CLAUS SCHÖNIG Dann beginnt eben diese Zeit der Zurückdrängung nicht nur der Religion, auch der islamischen Ideologie, wenn man so möchte - also das ist natürlich auch die Sprachreform. AUTORIN 28 Claus Schönig, Professor für Turkologie an der Freien Universität Berlin, und Ayse Tetik, Lektorin am Institut. O-Ton 16 AYSE TETIK Diese Schriftreform ist ja eingebettet in eine Reihe von ganz vielen Reformen zu der Zeit. Also Hut-Reform, Kalender-Reform, das römische Rechtssystem wurde ja eingeführt, also das Schweizer Zivilrecht, das italienische Strafrecht - eine unheimliche Hinwendung nach Europa hin und eine Europäisierung des Landes. AUTORIN 29 Die neue Türkei soll national gesinnt sein - dazu gehört die Ideologie einer homogenen türkischen Kultur. Seit der Antike leben Griechen in Anatolien - nun vertreibt man sie im großen Stil. 1927 nimmt eine Sprachkommission ihre Arbeit auf, begleitet von Propaganda. Die arabische Schrift - die Schrift des Koran - abschaffen und das Lateinische Alphabet der christlichen Welt übernehmen? Das ist in den Augen der religiösen Führer des Landes ein Sakrileg. Atatürk kontert, indem er die neue Schrift konsequent als "türkisches Alphabet" bezeichnet. Nur mit den neuen Buchstaben lasse sich das Volk alphabetisieren, erklärt er. Zudem gäben die arabischen Schriftzeichen die Schönheit der türkischen Sprache nicht angemessen wieder. Tatsächlich lebt das Türkische von seinen Vokalen - während das arabische Alphabet vorwiegend Konsonanten kennt. Dennoch: O-Ton 17 AYSE TETIK Das Osmanisch-Türkische wurde ja über Jahrhunderte mit diesem arabischen Alphabet geschrieben. Man hätte es reformieren können, was dazu geführt hätte, dass eben kein Bruch passiert wäre. Aber Sie wollten einen Bruch zur islamischen Welt - und sie wollten eine Orientierung zum Westen, nach Europa. AUTORIN 30 Am Abend des 9. August 1928 tritt Atatürk im Gülhane-Park in Istanbul auf und verkündet seine Buchstaben-Revolution. Z I T A T O R 10 Ich bin zufrieden, ich bin angerührt, ich bin glücklich, ich bin bewegt. Freunde, unsere harmonische, reiche Sprache wird mit den neuen türkischen Buchstaben voll zur Geltung kommen. Ihr müsst dies begreifen, um uns von unverständlichen Zeichen zu lösen, die seit Jahrhunderten unsere Gehirne in ihren eisernen Fesseln gefangen halten. AUTORIN 31 Bei Strafe lässt Atatürk die arabische Schrift verbieten - fast über Nacht ändert sich das gesamte Erscheinungsbild der Städte: Kinoplakate, Ladenschilder, die Bezeichnung öffentlicher Gebäude, die Zeitungsschlagzeilen. Wer lesen kann, wird dennoch mit einem Mal zum Analphabeten. Die Republik bietet landesweit Alphabetisierungkurse an, Millionen nehmen daran teil. Auf diese Weise gelingt es dem Staat auch, der islamischen Geistlichkeit das Bildungsmonopol zu entziehen. Sprunghaft steigt die Zahl lateinisch gedruckter Bücher, westliche Literaturklassiker finden in Übersetzungen Eingang in die türkische Kultur. Nach der Umstellung der Schrift macht sich Atatürk an eine beispiellose Sprachreform. Die osmanisch-türkische Sprache besteht zu über achtzig Prozent aus arabischen und persischen Lehnwörtern - ab 1932 soll die türkische Sprachgesellschaft sie allesamt durch türkisch klingende Neubildungen ersetzen. Doch "türkischer", wie propagiert, wird die Sprache dabei nicht. O-Ton 18 CLAUS SCHÖNIG Wirkliche Wissenschaftler waren da nicht beteiligt. Es sieht türkischer aus, es klingt vielleicht türkischer, aber im Grunde genommen hat man sich durch die Einführung solcher im Prinzip Wahnsinnsprodukte, die man irgendwie erschaffen hat, ja noch viel weiter von den anderen Türk-Sprachen entfernt. Das darf auch bei der Gelegenheit nicht vergessen werden. AUTORIN 32 Die Reform gerät so radikal, dass Anfang der 1930er Jahre in der Türkei niemand mehr ohne ein Wörterbuch zurechtkommt. O-Ton 19 AYSE TETIK Zum Teil haben die Journalisten damals so gearbeitet, dass sie in ihrer gewohnten osmanisch-türkischen Sprache geschrieben haben. Dann gab es mittlerweile sogar in den Redaktionen jemand, der dafür zuständig war, dass ins Neu-Türkische zu übersetzen. Und der hat dann dieses Wörterbuch zur Hilfe genommen und hat dann eben diese in traditionell Osmanisch-Türkisch verfassten Artikel dann ins Neu-Türkische übersetzt. Und die Leser mussten das gleiche aber auch noch machen. Musik 11 Türkische Klänge 2 AUTORIN 33 Im Namen des "authentischen Türkisch" entstand so eine Kunstsprache. Gleichzeitig schneidet Atatürk die kommende Generation quasi über Nacht vom reichen Bildungsschatz der orientalischen Vorfahren ab. Seinen Höhepunkt erreicht der Reformeifer mit dem Mythos der "Sonnensprachtheorie", der die türkischen Sprachwissenschaftler ergreift. Danach sind die Türken die älteste Hochkultur der Menschheit und ihre Sprache ist der Ursprung Sprache selbst. O-Ton 20 AYSE TETIK Und die Theorie besagt eben, dass der Mensch das Bewusstsein durch die erste bewusste Wahrnehmung der Sonne erlangt hat, also zu einem menschlichen Bewusstsein gelangt ist, und der erste bewusste Laut dann angesichts der Sonne quasi artikuliert wurde. Und der erste Laut war Ach. Und aus diesem Ach - geschrieben "A plus yumusak ge", das ist ein türkischer Konsonant: Das ist quasi der Kern sämtlicher menschlicher Sprachen. AUTORIN 34 So skurril das Konstrukt klingt - dahinter steckt eine handfeste nationale Botschaft: Auch ohne Hilfe des Orients soll Türkisch als hohe Kultursprache gelten. O-Ton 21 AYSE TETIK Das gehört zu jeder Nationalismustheorie, dass die Geschichte und die Sprache eine ellenlange Geschichte vorweisen muss. Nur so kann man sozusagen diesen Nationalstolz pflegen. AUTORIN 35 Doch die radikale Sprachreform macht die Türkei zu einem Land der Sprachlosen und selbst der Vater der Türken gerät in Schwierigkeiten. O-Ton 22 AYSE TETIK Da gibt es die wunderbare Anekdote, dass eben Mustafa Kemal Atatürk anlässlich des Staatsbesuches des schwedischen Kronprinzen eine Rede in diesem Neu-Türkisch vom Blatt ablesen musste, weil das quasi wie eine Fremdsprache war. Wo natürlich auch die Sprachreformer spätestens gemerkt haben: O Gott, wir haben eigentlich keine Sprache mehr, die wir beherrschen. Musik 12 Aktuelle türkische Klänge AUTORIN 36 Längst hat die Türkei den Sprachpurismus und die Sonnensprachtheorie stillschweigend begraben. 2013 kündigte der türkische Ministerpräsident Erdogan sogar an, den Kurden des Landes - deren Sprache bei der Alphabet-Reform keinerlei Beachtung fand - die Buchstaben Q, X und W zu erlauben, die es im türkischen Alphabet nicht gibt und deren Gebrauch strafrechtlich verboten war. Im geschichtlichen Rückblick lässt sich sagen: Atatürk konnte seine Ziele erreichen. Die Türkei hat sich weit von ihren orientalischen Wurzeln entfernt. Ein neues, nationales Selbstverständnis ist entstanden und das Land in weiten Teilen westlich orientiert - ein extremer Identitätswechsel ohne historischen Vergleich. Buchstaben und Wörter halfen dabei. Musik 13 "Übergeordnete Klänge" AUTORIN 37 Fraktur oder Antiqua für die deutsche Sprache? Koreanisch schreiben mit den Zeichen des Königs Sejong oder in chinesischer Bilderschrift? Neue, lateinische Buchstaben in der Türkischen Republik? Diese Debatten haben ganze Länder in Aufruhr gestürzt. Denn Schriftbilder schaffen Identität. Und wer Identität definiert, kann Macht ausüben. O-Ton 23 FLORIAN COULMAS Einen Menschen zu zwingen, seinen Dialekt abzuschaffen und nur Standardsprache zu sprechen, ist viel, viel schwieriger, als der Schule vorzuschreiben: So wird geschrieben, basta. Sie ist sichtbar. Alle sehen Sie. Schrift, weil sie eben ein visuelles Zeichensystem ist, lässt sich sehr viel leichter für politische Zwecke verwenden oder allgemeiner für ideologische Zwecke als die gesprochene Sprache. 1 von 20