COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Die Reportage 19.8.2012 Titel: Hinter der Schleuse - Leben im Maßregelvollzug Autorin: Svenja Pelzel Psychisch kranke Straftäter erscheinen vielen als besonders gefährlich, weil sie für unberechenbar gehalten werden. Fernseh-Krimis greifen oft auf diese Stereotype zurück, auch aktuelle Fälle wie der des norwegischen Attentäters Breivik machen Angst. Wer in Deutschland eine Straftat im Wahn begeht, gilt als psychisch krank und kommt nicht ins Gefängnis, sondern in den Maßregelvollzug, also in ein gefängnisähnliches Krankenhaus. Was viele nicht wissen: die Kranken bleiben dort im Durchschnitt viel länger als im Gefängnis, im Durchschnitt sind es sechs Jahre. Skript: Atmo 1 hoch 0'52 Pfleger schließt Schleuse auf 0'7 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 2 Atmo 2 darunter (Station) 6.30 Uhr. Annas Welt wird ein Stück größer. Ein Pfleger schließt die Schleusen auf Station 10 b auf, weckt die Patienten. Immer zwei Zimmer und ein Bad sind nachts durch die schwere Schiebetür vom Rest der Station getrennt. Zur Sicherheit, denn Station 10 b gehört zur Klinik des Maßregelvollzugs im Berliner Stadtteil Reinickendorf. Die 17 Männer und 16 Frauen hier sind krank, haben im Wahn Straftaten begangen, sind deshalb schuldunfähig, sitzen nicht im Gefängnis, sondern in einer Klinik. Zur Sicherung und Besserung, wie es heißt. Auch Anna ist deshalb hier. O-Ton 1 Atmo 3 darunter (Zimmer) 0'16 Anna Ich habe eine Dame in den U-Bahnschacht geworfen als ich psychotisch war. Ich habe immer sehr religiöse Wahnvorstellungen und in dem Moment war sie einfach für mich jemand, der eine Sünde begangen hatte und ich musste sie dafür bestrafen. So habe ich in dem Moment gedacht. Autorin 3 Das war im Juni 2011, seitdem lebt Anna, die eigentlich anders heißt, in dem knapp zehn Quadratmeter großen Zimmer. Von ihrem Bett aus kann sie durch die geöffneten vergitterten Fenster einen Baum sehen, hört sie das Gezwitscher der Vögel. Anna ist 31, wirkt mit ihren kurzen rot gefärbten Haaren, der blauen Latzhose und ihrem freundlich blickenden, mädchenhaften Gesicht wesentlich jünger. Seit zehn Jahren kämpft Anna mit Psychosen, vier Mal war sie bereits in psychiatrischen Kliniken. Das Problem: Am Anfang einer Psychose, fühlt Anna sich großartig, setzt alle Medikamente ab, hat das Gefühl, Bäume ausreißen zu können. Den Strudel, in den sie sich dadurch begibt, nimmt sie in dem Moment bereits nicht mehr war. Der letzte Schub war der bislang heftigste .Er dauerte sechs Monate. In dieser Zeit begeht sie die Straftat, wird verurteilt und eingeliefert. Und macht auf der Station dauernd Ärger. Tagtäglich erinnert sich Anna an diese schrecklichen Monate, sobald sie die Wände ihres Zimmers betrachtet: Überall hat sie mit Essbesteck Kichergesichter und Kreuze eingeritzt, jede freie Fläche beschmiert. O-Ton 2 0'19 Anna Ich hab ganz viele Kreuze hier hin gemalt mit Lippenstift und Herzen. Was ich genau gedacht habe, als ich das gemacht, kann ich gar nicht ganz genau sagen. Das weiß ich nicht mehr, das war im Wahn sozusagen. Ich finde, das drückt auch etwas das Chaos im Kopf aus, es ist alles sehr chaotisch. Autorin 4 Als nach sechs Monaten Behandlung die Medikamente langsam wirken, sich das Chaos im Kopf lichtet, beginnt Anna zu realisieren, was sie gemacht hat. Sie fühlt sich nicht mehr großartig, sondern nur noch schrecklich, verfällt in Depressionen. O-Ton 3 0'27 Anna Wenn ich zurück blicke, was ich da alles gedacht habe, ich bin dann wie ausgewechselt. Ich bin dann ganz anders. Das ist wie eine eigene Welt, die sich dann auftut, hat mit der Realität eigentlich nichts zu tun. Und dieses 'verrückt' ist für mich auch ganz bezeichnend. Weil wenn ich eine Psychose habe, dann fühl ich mich auch verrückt. Wie neben mir stehend so. Autorin 5 Anna bekommt ein Mal im Monat ein Medikament gespritzt, nimmt dazu täglich ein zweites ein. Beide unterdrücken die Psychosen, beide verträgt sie gut. An diesem Morgen frühstückt sie wie immer auf ihrem Zimmer, das sie von innen abschließen kann. Nur die Pfleger und Ärzte haben einen Schlüssel, können jederzeit rein. Anna ist gerne für sich allein, braucht manchmal Ruhe vor den Mitpatienten. (Atmo 2 wieder darunter). Die forensische Abteilung 10 b der psychiatrischen Klinik in Reinickendorf hat 33 Einzelzimmer, die über zwei Stockwerke verteilt, links und rechts von einem dicht bepflanzten Atrium mit Glasdach liegen. Es gibt drei Gruppenräume, in denen geraucht werden darf, eine Tischtennisplatte, den obligatorischen Kicker. Alles ist hell und freundlich, aber auch ziemlich hellhörig. Atmo 4 hoch 0'37 Patientin ruft: Die machen mir mein Leben kaputt - morgen. Wo sind die grad drin? - morgen. Darf ich hier raus, Herr Anders, meinen Radiowecker krieg ich auch nicht, was machen die mit mir, hey? 0'17 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 6 Jedem, der vorbei kommt, erzählt die Frau, deren Zimmer nur ein paar Räume neben dem von Anna liegt, dass sie raus will. Wenn es sein muss, zehn mal in der Stunde, auch ihrem Arzt Bodo Anders. Atmo 5 hoch 1'15 Patientin Sieben Jahre sitz ich jetzt hier wegen einer Tankstelle die noch steht. Ich wollte die Tankstelle am Hermannplatz in die Luft jagen, aber das war vor sieben Jahren. Ich finde das ist Freiheitsberaubung. - Türgeräusch - Ich will raus hier. 0'14 frei stehen lassen, dann darüber: O-Ton 4 0'13 Anna Es ist oft auch demotivierend das ganze Umfeld und so. Wir sind hier einfach eine Zwangsgemeinschaft, keiner hat sich ausgesucht hier zu sein. Man vergisst nie wo man ist. Psychiatrie ist noch mal was ganz eigenes. Autorin 7 9 Uhr. Der erste Teil des Tages ist geschafft. Anna kann die Station verlassen, raus in den Garten zur Arbeitstherapie. Atmo 6 hoch 1'57 Piepgeräusche - ist offen? - nein zu - zu - in einem ordentlichen Haushalt ist alles zugeschlossen. - Türe, Schlüssel, Schritte zum Garten 0'14 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 8 Wie am Flughafen scannt ein Pfleger Anna von Kopf bis Fuß mit einem Metalldetektor ab, dann darf sie allein durch das Gebäude zum Garten gehen. Seit April arbeitet sie täglich von 9 bis 13 Uhr, mittwochs bis 14 Uhr draußen. Wobei 'draußen' lediglich 'an der frischen Luft' bedeutet. Noch hat Anna keinen Lockerungsstatus, kann den umzäunten Klinikbereich nur mit einer Begleitperson verlassen. Im Hofgarten sucht sie ihre Ergotherapeutin Britt Luthardt, will wissen, was sie heute tun kann. Atmo 7 hoch (Kursives kürzbar) 0'50 Gespräch mit Ergotherapeutin Frau Luthardt haben sie kurz Zeit wegen der Fleißigen Lieschen, wo ich die hin setzen soll? - Haben sie die schon raus geholt, die Fleißigen Lieschen? - ja, hab ich schon raus geholt - dann gehen wir zu ihnen ins Beet - ach so die sollten - ja zu ihnen ins Beet, da können sie die einsetzen. Schritte, Atmo Garten 0'15 frei stehen lassen, dann darüber: O-Ton 5 0'28 Anna Die Arbeit find ich gut. Das gibt mir ganz viel Halt, wo man auch was Sinnvolles macht und wo der Tag nicht so verstreicht. Es ist viel Zeit, in der man rum sitzt, in der man sich selbst beschäftigen muss, und manchmal hat man auch keine Lust oder keinen Antrieb irgendwas zu machen. Da muss man aufpassen, dass man nicht in so ein Loch fällt. Und da ist die Arbeitstherapie ganz gut, das gibt einem ein bisschen Struktur, dass man morgens aufsteht und was zu tun hat. Atmo 8 hoch Gartenatmo, 0'3 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 9 Der Hofgarten besteht aus einer großen Rasenfläche mit zwei Fußballtoren, einer Sporthalle, es gibt zahlreiche Blumen- und Gemüsebeete, Pflanzkübel, einen Teich mit Enten, Kaninchenställe und Vogelvolieren. In den Gebäuden am Rand liegen die Aufenthaltsräume der Gärtner, eine Fahrrad- und Malerwerkstatt, sowie eine Töpferei. 33 Ergotherapeuten beschäftigt die Klinik für Maßregelvollzug an ihrem Standort in Berlin Reinickendorf. 33 für rund 400 Patienten. Häufig muss Therapeutin Britt Luthardt deshalb jemanden abweisen, der zu ihr in die AT, das heißt in die Arbeitstherapie, will. O-Ton 6 0'21 Britt Luthardt In den ATs dürfen maximal zehn Patienten untergebracht werden und in den stationsbezogenen sind es glaube ich acht Patienten. Wir bräuchten natürlich viel mehr Ergotherapeuten und Räume müssen dann auch zur Verfügung gestellt werden. Es gibt auch Patienten, die auf den Stationen sitzen und keiner Beschäftigung nachgehen können, ja das gibt es auch. Atmo 9 hoch 3'13 Fahrradwerkstatt 0'5 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 10 Während Anna in ihrem Beet Fleißige Lieschen einsetzt, hievt Andreas ein Fahrrad in einen Spezialschraubstock. Der 51jährige trägt wie Anna Blaumann, dazu graue Strubbelfrisur, eine kantige Brille, sieht freundlich und harmlos aus. Andreas ist pädophil, mehrfacher Wiederholungstäter, war insgesamt schon vier Mal im Gefängnis, das erste Mal noch zu DDR Zeiten. Seit 15 Jahren lebt er nun in der Klinik des Maßregelvollzugs. In den ersten Jahren fand Andreas es noch völlig in Ordnung, dass er kleine 12jährige Jungs zum Sex gezwungen hat. O-Ton 7 0'25 Andreas Anfangs wollt ich gar nicht so richtig therapiert werden. Ich fand das schön, mein Leben ist schön, so wie ich es mir eingerichtet hatte. Hatte mich damit abgefunden pädophil zu sein, hatte mich arrangiert zum Beispiel mit den Sprüchen: bei den Griechen war das normal und die Kinder haben auch keinen Schaden davon getragen. Und habe gesagt, na dann sollen die mich mal therapieren hier! Autorin 11 2003 finden Klinikmitarbeiter bei Andreas kinderpornographische Bilder. Ähnlich wie im Gefängnis werden auch in einer geschlossenen Nervenklinik regelmäßig Drogen und sonstige verbotene Sachen eingeschmuggelt. Andreas wird wegen der Pornos erneut verurteilt. Damals hat irgendetwas in meinem Kopf klick gemacht', erzählt er während er die Gangschaltung des Fahrrades vor sich genau überprüft. Andreas nimmt erstmals in seinem Leben ein Medikament, das seinen Sexualtrieb unterdrückt, beginnt ernsthaft mit einer Therapie. Sein Verstand hat seitdem viel begriffen, sein Gefühl hinkt noch hinterher. O-Ton 8 0'16 Andreas Ich habe viele Fortschritte gemacht, aber mir fehlt es noch an Opferempathie. Da bin ich noch nicht so wie es sein müsste. Ich weiß zwar, dass es falsch ist und dass ich Schaden anrichte, aber ich kann es noch nicht so richtig nachvollziehen. Autorin 12 Atmo 8 wieder Andreas hat mittlerweile unbegleitet Ausgang. "Ich habe mir draußen eine Alkoholikergruppe gesucht", erzählt er und wirkt dabei etwas stolz, "zu der werde ich alleine hin fahren". Wenn die Männer und Frauen im Bus wüssten, wer Andreas ist und was er getan hat, würden sich wahrscheinlich viele vor Wut und Sorge um ihre eigenen Kinder auf ihn stürzen. Die Angst vor Männern wie Andreas sitzt tief in der Bevölkerung, vor allem bei Wiederholungstätern. Trotzdem: wenn sich Andreas weiter so gut entwickelt, werden irgendwann ein Richter, ein Staatsanwalt und die Ärzte der Klinik gemeinsam entscheiden, dass er fünf Jahre Bewährung bekommt und raus darf. Dann wird er als erstes in ein betreutes Wohnprojekt ziehen, in dem er lernt, seinen Alltag alleine zu meistern. Dieser Schritt ist ihm sehr wichtig. O-Ton 9 0'38 Andreas Ich kann mich zusammen reißen, der Wille ist da. Aber ich weiß nicht, wenn ich jetzt wieder im Berufsleben stehe, dann fange ich wieder mit Trinken an, wat ich nun auch nicht darf, weil damit habe ich meine bisschen Bedenken dann weg getrunken. Ich möchte es erst mal vorsichtig testen .Ich möchte noch nicht entlassen werden. Ich möchte gern langsam raus, um zu testen, wie geht es Dir überhaupt draußen. Ich bin 15 Jahre hier drin. Hier lebe ich unter der Käseglocke, hier passiert mir nichts und hier kann ich auch keinem wat tun. Autorin 13 In Berlin leben derzeit um die 180 Menschen in solchen Einrichtungen. Überwiegend sind es Männer. Die vorhandenen Plätze reichen jedoch bei Weitem nicht aus. Seit Jahren nimmt die Zahl derer, die in den Maßregelvollzug eingewiesen werden, bundesweit zu. Die Gründe sind vielfältig: Zum einen werden psychisch Kranke immer schneller aus stationären Kliniken entlassen. Kaum oder unzureichend betreut, werden viele von ihnen auffällig. Manche begehen (in ihrer Verwirrung) eine Straftat, andere randalieren im Verfolgungswahn, bedrohen Passanten, beschimpfen Polizisten, die sie festnehmen wollen. Zum anderen erklären Richter verhaltensauffällige Menschen heute schneller für strafunmündig, ordnen nicht Gefängnis, sondern Maßregelvollzug an. Im Schnitt bleiben die Patienten sechs Jahre hier. Im Schnitt. Anna wird es - wenn sie die Medikamente weiter so gut verträgt - schneller raus schaffen. Atmo 10 hoch 2'30 Visite, 0'5 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 14 Alle 14 Tage ist auf Station 10 b Visite. Bereichsleiter Bodo Anders und sein Team gehen an diesem Vormittag von Tür zu Tür, sprechen systematisch mit jedem Patienten, überprüfen zum Beispiel, ob einer andere Medikamente braucht, wer welche Lockerungsstufen bekommen kann und ob eventuell eine Entlassung in Frage kommt. Wann ist ein Mensch psychisch gestört? Wann allgemeingefährlich und wann geheilt? Wie schwierig es ist, diese Frage zu beantworten, haben zuletzt die unterschiedlichen Bewertungen der Zurechnungs- und damit Schuldfähigkeit im Prozess gegen den norwegischen Attentäter Anders Behring Breivik gezeigt. Psychiater Bodo Anders ist klar, dass manch einer in der Bevölkerung, die Kranken gerne für immer auf seiner Station sähe. O-Ton 10 0'31 Anders Ansatzweise kann man das schon nachvollziehen, weil ein Allgemeinbürger sich gar nichts vorstellen kann darunter, was hier passiert. Und dann sehen die Menschen die Straftaten die geschehen, die sind teilweise ja wirklich schrecklich. Letztendlich ist es aus meiner Sicht nicht korrekt, wenn die so was sagen. Ich denke, wer hier raus geht, ist auch ausreichend stabil und therapiert am Ende, auch wenn es vielleicht etwas länger dauert, weil wir zu wenig Personal haben. Autorin 15 Auch bei Anna ist heute Visite. Sie hat ihre Gartenarbeit unterbrochen, ist zurück in ihrem Zimmer. Atmo 11 hoch 1'38 Visite bei Anna Ja, was gibt's denn heute für die Visitenrunde? - Eigentlich gar nichts - Dass Sie sich die Haare gefärbt haben, ist das Ausdruck von irgendwas? - Vielleicht von Lebensfreude - Schön ... 0'15 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 16 Bodo Anders ist Annas behandelnder Psychiater. Die Visite macht er heute gemeinsam mit dem zweiten Stationsarzt, einer Psychologin, dem Oberarzt und zwei Praktikanten. Die kleine Gruppe steht etwas gedrängt in Annas Zimmer, füllt den Raum fast vollständig aus. Trotz der Enge ist das Gespräch zwischen Patientin und Therapeuten vertraut. Beide sprechen darüber, dass Anna aufpassen soll, dass sie sich nicht wieder überfordert. Und sie lachen auch gemeinsam. Nach zehn Minuten kann Anna zurück in den Garten, das Team zieht weiter zur nächsten Patientin. Behutsam versuchen die Ärzte zum wiederholten Mal diese davon zu überzeugen, endlich Medikamente zu nehmen. Atmo 12 hoch Bäh. Ist ja furchtbar, Mensch sie haben mich genug gequält. - Schnief-Geräusch. - Mensch, jetzt sind Sie heute wieder so schlecht drauf. - ne ich vertrag das nicht, mein Körper will das nicht - aber Sie wollen ja generell überhaupt keine Medikamente - nein jedenfalls keine auf der neuroleptisch-epileptisch- krampffälligen Bereich mehr. Ich habe nie Schizophrenie gehabt, ich habe immer die Wahrheit gesagt. 0'20 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 17 Eine viertel Stunde lang reden Anders und sein Kollege sanft auf die ältere Dame ein. Vergeblich. Mal wieder. Zwingen wollen die Ärzte niemanden. Sie trauen sich nicht. Im März 2011 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Patienten nur in bestimmten Ausnahmefällen gegen ihren Willen zwangsbehandelt werden dürfen. Ein weiterer Grund dafür, dass die Zahl der Patienten kontinuierlich steigt. O-Ton 11 0'22 Anders Theoretisch können wir ja behandeln. Es ist auch gesagt worden, es kann behandelt werden, bis zur Herstellung der Einsichtsfähigkeit des Patienten. Aber es ist trotzdem jetzt alles so ein bisschen offen, weil sich keiner traut und niemand will sich strafbar machen. Man läuft als Psychiater jetzt Gefahr sich strafbar zu machen, wenn man einen Patienten behandelt, wenn der nicht will. Autorin 18 Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, erzählt Anders während er bei seiner Visite ins nächste Zimmer geht, ging damals bei den Patienten rum wie ein Lauffeuer. Seitdem verweigern die Kranken häufiger eine Behandlung, laufen auf seiner Station mehr "Verrückte" rum, wie Anders es ausdrückt. Er und sein Team müssen zudem regelmäßiger Patienten isolieren, entlassen seltener jemanden. Einigen Männer und Frauen könnte Anders mit umfangreicheren Therapien besser helfen, doch dafür fehlen ihm ganz einfach die Mitarbeiter, sagt er und wirkt dabei leicht bitter. O-Ton 12 0'12 Anders Wir haben immer Personalmangel, immer. Das ist eine ziemlich furchtbare Situation. Deswegen können wir auch nicht im Prinzip so eine ganz dichte Betreuung am Patienten, so wie wir es eigentlich wünschen würden, sicherstellen. Autorin 19 Bodo Anders hat vorher in der Stadt Brandenburg gearbeitet. "Dort waren für 22 Patienten sechs bis acht Pflegekräfte zuständig", erinnert er sich. Das sind 3 bis 4 Patienten pro Pfleger. Auf Station 10 b in Berlin sind es fast 5 Mal so viel. 33 Patienten werden betreut von zwei Pflegern und einer Hilfskraft. Die sitzt an diesem Vormittag ununterbrochen im Beobachtungsraum neben einer isolierten Patientin, ein Pfleger schreibt Anträge, und der zweite sortiert gerade aus einem Schrank mit über hundert verschiedenen Medikamenten die Mittagsration der Kranken in kleine Gläser. Atmo 13 hoch 3'05 Medikamente sortieren, 0'5 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 20 Bernd Heidkamp ist stellvertretender Stationsleiter. Der 50 jährige, grauhaarige, sportlich gebaute Mann arbeitet seit 20 Jahren hier, kann sich noch an andere Zeiten erinnern. O-Ton 13 0'35 Bernd Heidkamp Wir hatten auch schon Zeiten, wo wir hier besser personell besetzt waren, das ist noch gar nicht so lange her, vielleicht zehn, fünfzehn Jahre. Und da hatten wir eine Menge Gruppen im Angebot, man konnte viel intensiver auf die einzelnen Patienten eingehen. Es war ein viel entspannteres Klima auf der Station, sehr familiär teilweise. Früher hat man sogar auch Tagesausflüge gemacht, auch Gruppenausflüge, aber das hat sich im Laufe der Zeit alles verändert. Autorin 21 Jetzt geht es vor allem darum, die Bewohner mit Essen, Trinken und Medikamenten zu versorgen, zum Arzt und bei Ausgängen zu begleiten und auf der Station den Frieden zu wahren. "Das fragile Gleichgewicht", wie Heidkamp es nennt, ist ständig in Gefahr zu kippen, weil zum Beispiel wieder mal einer dem anderen einen Hähnchenschenkel aus seinem Gefrierschrank-Fach geklaut hat, jemand laut rumbrüllt, weint oder alle zum tausendsten Mal mit dem gleichen Gerede nervt: Atmo 14 hoch 3'00 Station: Patientin ruft: ich will raus hier! 0'2 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 22 Ungefähr fünf Mal die Stunde klopft Annas Nachbarin am Pflegerzimmer an. Jedes Mal unterbricht Heidkamp dann seine Arbeit, geht zur Tür, erklärt ihr ruhig, dass sie nicht raus kann. Die Klinik des Maßregelvollzugs ist für Bewohner und Mitarbeiter gleichermaßen anstrengend. Das zeigt nicht zuletzt der hohe Krankenstand beim Personal. Auch wirken Ärzte und Pfleger extrem gestresst, blicken sehr ernst. Für kleine Scherzchen oder Plaudereien, wie sie unter Kollegen üblich sind, haben Heidkamp und seine Kollegen auch an diesem Vormittag keine Zeit oder keine Nerven. O-Ton 14 0'41 Heidkamp Man wird ja auch von den Patienten sehr oft in Frage gestellt. Man steht ja für den Staat für die Gesellschaft, für die Justiz und da werden einem ständig irgendwelche Sachen unterstellt. Man muss seine Handlungen immer wieder erklären, begründen, erläutern und man wird trotzdem immer wieder beschimpft. Das ist nicht so einfach. Man muss schon ein starkes, inneres eigenes Wertesystem haben, um sich da nicht so aus dem Lot bringen zu lassen. Autorin 23 In den 20 Jahren, die er hier arbeitet, hat sich nicht nur der Personalschlüssel geändert, sondern vor allem auch Grundsätzliches. Früher ging es um Besserung und Sicherung der Patienten, heute ist es umgekehrt. "Das liegt vor allem an Frank Schmökel und seinen vielen Ausbrüchen", sagt Heidkamp. Schmökel war zuletzt im Jahr 2000 aus der Landesklinik Neuruppin entflohen, hatte danach einen Menschen getötet und zwei schwer verletzt. O-Ton 15 0'32 Heidkamp Früher ist man ein größeres Risiko eingegangen. Das war aber dadurch so ein entspanntes Klima, den Patienten ging es hier so gut, es wollte keiner weg. Es ist auch kaum einer geflüchtet. Als ich hier angefangen habe zum Beispiel, gab es noch keine Gitter vor den Fenstern, es gab keinen Stacheldraht auf dem Dach, es gab keinen Wachschutz, es gab keine Plexiglasmauer. Das ist alles in den letzten Jahren Stück für Stück dazu gekommen. Autorin 24 Für Leute wie Schmökel findet Heidkamp die neuen Sicherheitsmaßnahmen sinnvoll, Patienten wie Anna leiden eher darunter. Heute geht Sicherung vor Besserung, das heißt es wird ständig bewacht und kontrolliert. Als Anna um 13 Uhr von ihrer Gartenarbeit zurück auf ihre Station kommt, scannt Heidkamp sie mit dem Detektor ab, bevor er sie rein lässt. Anna könnte ja ein Werkzeug dabei haben. Atmo 15 hoch 3'30 Anna zurück auf Station So, hallo, Piepgeräusch, so Fuß hoch - das sind die Stahlkappen - die Stahlkappen und deswegen piept es hier vorne, nichts drin - nur mein dicker Bauch - Schlüsselgeräusch, Mahlzeit 0'15 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 25 Anna holt sich in der Küche ihr Mittagessen, geht auf ihr Zimmer, vorbei an den Mitpatientinnen. O-Ton 16 0'17 Patienten Ich sing ihnen ein Liedchen. Ich sing ihnen ein Liedchen - gehste zum Sport jetzt- nee heute nicht, morgen - Schritte, Stimmen - wirste entlassen - nee leider nicht - Schlüssel, Autorin 26 13 Uhr. Für Anna beginnt jetzt der zähe Teil des Tages. Ab 13 Uhr hat sie keine Aufgabe mehr. Von 15 bis 18 Uhr darf sie in den Garten, um mit anderen Patienten zu plaudern oder zum hundertsten Mal im Kreis spazieren zu gehen. 18 Uhr gibt's Abendessen, zwei Mal die Woche ist nachmittags Sporttherapie, freitags Bandprobe. Meistens verbringt Anna den Nachmittag in ihrem Zimmer, liest, versucht die Geräusche der Station zu überhören. O-Ton 17 0'14 Patientin schimpft wieder rum Saftladen hier. Nicht mal zum Sport gehen darf man. Was ist das für ein Scheißhaufen. Hey, - ist doch wahr - Nicht in dem Ton! - Ist doch war. Autorin 27 Atmo 3 wieder darunter Fernsehen will Anna erst nach acht Uhr abends, tagsüber findet sie das trostlos. Manchmal aber fehlt ihr für alles der Antrieb, dann legt sich Anna auf ihr Bett, blickt auf die beschmierten Wände, die zum Teil kaputten Möbel, den Baum hinter den Gitterfenstern, träumt. O-Ton 18 0'28 Anna Ich träum mich dann immer in die Freiheit, das sind so schöne Gefühle. Und ich weiß, dass ich die Freiheit ganz anders sehen werde mit anderen Augen. Hingehen zu können, wo man möchte, das ist schon ein hohes Gut. Ja so ganz einfach Sachen gehen einem einfach ab. Oder auch mal abends draußen zu sitzen, die Dämmerung mitzuerleben oder ganz, ganz früh morgens raus zu gehen oder so. Fehlt einfach. Autorin 28 (Kursives kürzbar) Ab und zu wird aus dem Träumen Grübeln. Autorin Anna baut das Keyboard auf, übt ihre Stücke für die Bandprobe am Freitag. Atmo 16 hoch Musikspielen, 0'5 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 30 Im Dezember hat Anna Anhörung vor Gericht. Geht es ihr dann immer noch so gut wie jetzt - was bei Psychosen niemand vorher sehen kann - bekommt sie wahrscheinlich Bewährung und darf in eine therapeutische Wohngruppe ziehen. Ein echter Neuanfang. O-Ton 19 0'28 Anna Man hat ja auch immer so Schranken und Barrieren im Kopf. Als ich das erste Mal in die Klinik gekommen bin, da war ich auch mit meinen eigenen Vorurteilen konfrontiert. Da habe ich mich so gefühlt, als wäre ich jetzt ein Idiot. Und jetzt auch noch kriminell geworden zu sein ist für mich noch mal ein Stück mehr in Richtung: ich hab mein Leben schon vergeigt. Ich bin so jung und hab mein Leben schon vergeigt. Autorin 31 22 Uhr - Annas Tag geht zu Ende. Ein Pfleger schließt die schwere Schleusentür, die ihr Zimmer und das ihrer Nachbarin von der Station trennt. Annas Welt wird wieder kleiner. In der Klinik des Maßregelvollzugs beginnt die Nachtruhe. Atmo 17 hoch Schleuse geht zu 0'5 frei stehen lassen, dann weg. 12