DEUTSCHLANDFUNK - Köln im Deutschlandradio Redaktion Hintergrund Kultur Essay & Diskurs Barbara Schäfer Essay & Diskurs Denksystem Afrika Der senegalesische Philosoph Cheikh Moctar Ba im Gespräch mit Michael Magercord Sprecher: Bernd Reheuser Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Sonntag, 30. März 2014, 09:30 - 10:00 Uhr O-Ton Cheikh Moctar Ba Sprecher: Am Anfang der modernen Philosophie stand die Frage: Wer bin ich? Das ist die grundlegende Frage. Ich bin ein Neger - was bedeutet es, Neger zu sein? Mit dieser Frage begann bei uns die moderne Philosophie, und diese Frage ist weiterhin hochaktuell, immer und überall. Denn überall drängt sich die Frage nach der Identität auf. Das Individuum, in all den Zwängen, denen es sich ausgesetzt wähnt, stellt diese grundsätzlichen Fragen: Worin liegt mein Stolz begründet, worin meine menschliche Würde? Diese Selbsterkenntnis erst macht mich zum Meister meiner selbst und befähigt mich, den Anderen offen gegenübertreten. Und dieses Verständnis darüber, was an mir einzigartig und ursprünglich ist, erlaubt mir, an der Ausgestaltung einer Globalisierung mitzuwirken, die sich endlich auch um die menschliche Seite bemüht. Ansage: Denksystem Afrika - der senegalesische Philosoph Cheikh Moctar Ba im Gespräch mit Michael Magercord ATMO Autor : Professor Cheikh Moctar Ba lehrt an der Universität von Dakar im Senegal. "Afrikanische Philosophie" heißt seine Vorlesungsreihe. "Schwarzafrika verfügt über ein Denksystem, das in sich schlüssig und gut begründet, stringent und logisch ist, selbst wenn es sich westlichen Denkstrukturen nicht sofort erschließt", ist der hochgewachsene Mann überzeugt. Geistesgeschichtlich ist Afrika bislang der weiße Kontinent. Am kleinen Lehrstuhl für afrikanischen Philosophie an Westafrikas ältester Universität möchte man das ändern und das Denken Afrikas in die universelle Geistesgeschichte einreihen. Wie schwer das schon in Afrika selbst ist, erfährt Cheikh Moctar Ba zu jedem Semesterbeginn in seiner Einführungsveranstaltung. ATMO Autor : Dort muss er immer wieder aufs Neue zuerst die Skepsis seiner eigenen Studenten überwinden. Gibt es überhaupt eine afrikanische Philosophie, die sich an den Standards der Denkstrukturen der Europäer messen lassen kann, oder ist das Denken Schwarzafrikas nicht doch so eigenständig, dass es sich gar nicht erst daran messen lassen muss, sondern an ganz eigenen Kategorien? O-Ton Cheikh Moctar Ba Sprecher: Das ist nicht eindeutig zu beantworten. Die Frage nach der Existenz einer afrikanischen Philosophie lässt uns nämlich unweigerlich in eine Falle tappen. Denn wenn wir von der Philosophie als universelle, allgemeingültige und absolute Disziplin sprechen, müsste ich sagen, dass es die Kategorie einer afrikanischen Philosophie im strengen Sinne nicht gibt. Wenn wir aber sagen ja, es gibt eine afrikanische Philosophie, dann können wir uns nicht die Freiheit nehmen, losgelöst von den Kategorien der Philosophie, die als Disziplin eine Geschichte und Kriterien hat, eine afrikanische Philosophie zu reklamieren. Es nutzt aber auch nichts, in diese Disziplin ethnische Untergruppen einzuführen. Deshalb sage ich im Gegensatz zu jenen, die meinen, das afrikanische Denken sei einzigartig: Ja, es existiert ein philosophierendes Denksystem in den unterschiedlichen Regionen Afrikas, dem bestimmte gemeinsame Formen des Denkens und Philosophierens zugrunde liegen. Es muss uns afrikanischen Philosophen nun darum gehen aufzuzeigen, wie wir Afrikaner ausgehend von den Umständen und Zwängen unseres Kontinents philosophieren und damit den vielen unterschieldichen Betrachtungsweisen der Wirklichkeit eine weitere hinzufügen. O-Ton Cheikh Moctar Ba Sprecher: Wenn Hegel uns das Verstehen der Wirklichkeit als Aufgabe der Philosophie auferlegt hat, dann kann man dieser Aufforderung meiner Überzeugung nach auf zwei Weisen nachkommen. Man kann zum einen einige der wahrgenommenen Phänomene mit Hilfe der gedanklichen Objektivierung aus der umfassenden Wirklichkeit herauslösen und für sich genommen analysieren. In diesem Moment der Objektivierung kann man sich dann einbilden, die Philosophie beschäftige sich tatsächlich mit Dingen, die mit Hilfe der Vernunft verstehbar und verständlich sind. Diese Philosophie setzt eine objektiv verstehbare Wirklichkeit voraus, und sie zu erfassen gelänge einzig in der Form des Verstandes, der sich auf dem Kult des Bewusstseins gründet. Existenz offenbart sich demnach einzig im Denken, so wie es Descartes formuliert hat: "Ich denke, also bin ich". O-Ton Cheikh Moctar Ba Sprecher: Man kann Hegels Aufforderung, die Wirklichkeit zu verstehen, aber auch auf andere Weise erfüllen und fragen, ob das, was ist - also der komplette Füllstoff der materiellen Wirklichkeit - überhaupt objektiv verstehbar ist? Wenn ich etwas sehe, bleibt daran nicht letztlich immer etwas Unverstehbares zurück, das mit dem Verstand eben nicht erklärbar ist? Wenn wir diesen Umstand akzeptieren, aber trotzdem annehmen, dass wir die Wirklichkeit erfassen können, sind wir gezwungen, in Kauf zu nehmen, dass es ein Verständnis der Wirklichkeit gibt, das den Rahmen der westlichen Auffassung vom Verstand sprengt. Dem westlichen Verstand mangelt es an dem Verständnis für das Unverstehbare: In Afrika können wir über ein Abbild mit einem anderen Individuum in Kontakt treten, das Abbild nimmt am Leben eines Individuums teil - das kann der westliche Verstand nicht akzeptieren. Uns zeigt diese Ablehnung nur, dass dieser Verstand die Kräfte der Natur nicht erfassen kann. Im afrikanischen Universum hingegen herrscht eine stetige Interaktion dieser Kräfte, die immerfort in eine Beziehung zur individuellen Lebenskraft treten. Wir fassen als Wirklichkeit nicht nur all das auf, was war und ist. Bei uns ist auch das, was sein wird, in Form der Naturkräfte bereits stetig spürbar. Wenn wir also die Forderung Hegels ernst nehmen, dann müssen wir an dieser Stelle über die Vernunft an sich zu Gericht sitzen: Gibt es nur eine einzige Vernunft - die westliche - oder existiert daneben ein Logos, eine andere Vernunft, die den westlichen Verstand übersteigt? Zeigt uns die Unfähigkeit der Wahrnehmung der Lebenskräfte nicht einen Schwachpunkt im westlichen Verstandesmodell? Wäre es nicht genau die Öffnung zu einer anderen Vernunft, die es uns erst erlaubte, die Existenz einer wirklich universellen, einer "großen" Vernunft anzunehmen, die sich freilich nur über den Umweg über die jeweiligen, kulturell bestimmten "kleinen Vernünfte" begreifen ließe? Wenn also die Vernunft nicht nur im Singular existiert, dann wird die Philosophie zu einem großen System, welches aber nur über die vielen kleinen Konzeptionen von der Welt - oder wie die Deutschen sagen: Weltanschauungen - und ihrer Wirklichkeit verstehbar ist. Wenn wir nun aber trotzdem die Existenz einer einzigen Wirklichkeit annehmen, dann gibt es keinen Grund, einer Denkweise, die in Afrika ausgearbeitet wurde und sich mit typisch afrikanischen Fragestellungen beschäftigt, den Status einer Philosophie im Sinne der Vorgabe Hegels, die Wirklichkeit zu verstehen, abzusprechen. ATMO Autor: Afrikanische Gegenwart: In einem einfachen Flachbau befindet sich der Lehrstuhl der Philosophie. Auf den Fluren eilen Studenten in die beengten Seminarräume, wir treffen uns in dem kargen Büro von Cheikh Moctar Ba: Ein grauer Blechschreibtisch, als Unterlage dient der Kalender einer Druckerei. Das war's, kein Schrank, kein Regal und auch kein Buch - es gibt, sagt der Professor, kaum Fachliteratur und Primärliteratur gibt sowieso nicht. Afrikanisches Denken vollzog sich innerhalb einer ausschließlich mündlichen Kultur und auf der Universität ist die Lehrsprache nun Französisch - auch unter den afrikanischen Philosophen. Viele afrikanische Denker der älteren Generation, die ihre Schul- und Ausbildung noch zu Kolonialzeiten erfuhren, scheuen die Auseinandersetzung mit westlichen Philosophien. Sie propagieren hingegen die Existenz einer völlig eigenständigen Ethno-Philosophie, die sich nicht mit westlichen Denken vergleichen ließe. Dabei will es Cheikh Moctar Ba nicht belassen: Vor der Übernahme der Professur in der senegalesischen Heimat hat er in Frankreich und in Québec studiert und gelehrt. Man dürfe sich als Afrikaner, sagt der 43-jährige, nicht davon abbringen lassen, Mitglied der Weltzivilisation zu sein. In seiner Doktorarbeit, die in Frankreich als Buch veröffentlicht worden ist, hat er eine vergleichende Studie zwischen den Kosmologien der griechischen Antike und des heutigen Afrikas angestellt. Dank dieser Abgleiche mit anderen Denkweisen sei es für eine orale Kultur möglich, ihre philosophische Grundstruktur herauszuarbeiten und dann auch schriftlich festzuhalten. O-Ton Autor Autor : Doch wird sich eine Denkweise, die bislang einzig mündlich weitergegeben wurde, durch eine Verschriftlichung nicht verändern? O-Ton Cheikh Moctar Ba Sprecher: Eine Verschriftung ändert die Bedeutung und Entwicklung des Denkens fundamental. Das Geschriebene gilt als Kriterium zur Beurteilung der Konzeption von der Welt und es verleiht der Vorstellung von der Wirklichkeit ihre Glaubwürdigkeit. Eine derart dokumentierte Glaubwürdigkeit ist es, was wir ein theoretisches Fundament nennen. Wir verfügen nicht über dieses theoretische Fundament. Als orale Kultur stehen wir Afrikaner vor dem Problem, dass es eine Philosophie gibt, aber sie wurde nicht niedergeschrieben. Aber wir haben eine Methode der Überlieferung, die wir die "List der Erinnerung" nennen und die es uns erlaubt, unsere Weltanschauung weiterzugeben und unser altes Wissen weiterhin nutzbar zu machen. Es ist das berühmte System der Initiation. O-Ton Cheikh Moctar Ba Sprecher: Die Initiation ist der Moment, in dem der junge Afrikaner mit der Wirklichkeit konfrontiert wird und sein Appetit nach dem Verstehen dieser Wirklichkeit geweckt wird. Er wird mit philosophischen Wissen in Form von Mythen und Legenden konfrontiert. Dahinter verbirgt sich das philosophische Denken, das sich dem jungen Menschen zwar noch in rätselhafter Form präsentiert, doch mit der Initiation wird ihm der Schlüssel ausgehändigt, mit dem er vielleicht irgendwann einmal deren Botschaft dekodieren kann. Durch die Dramatisierung der Ideen und die Nähe zum Spiel bei ihrer Vermittlung ist dieses System der Wissensüberlieferung sehr effektiv und zuverlässig. Mit Hilfe von Mythen und Spruchweisheiten wird die Substanz des Denkens sogar von jenen bewahrt, die es selbst gar nicht unbedingt verstehen müssen. So wird über die Legenden das Wissen schließlich auch an jene übertragen, die in viel späteren Zeiten über die Fähigkeit und Berechtigung verfügen werden, es wieder zu entschlüsseln. Afrikanisches Denken hatte also immer existiert, es wurde auch immer überliefert und weitergeführt, aber systematisch ist es nie erklärt worden, weil es anders als im Westen eben kein theoretisches Fundament gibt. Aber in Afrika gab es bisher auch keinen Bedarf dafür. Die afrikanischen Bräuche sind ganz konkrete, alltägliche Bräuche. Wenn jemand krank ist, benutzt man ein Blatt des Baumes oder nimmt eine Zeremonie vor, dazu brauchte man keinen Diskurs oder keine Rechtfertigung. Wir hätten es gar nicht früher systematisieren können, denn was wirklich wichtig war, wurde ganz selbstverständlich gelebt. Heute spüren wir den Bedarf zur Theoretisierung, denn durch die Konfrontation mit der Moderne werden die Bräuche und Zeremonien zunehmend ihrer Selbstverständlichkeit beraubt. Doch zuvor gab es keinen Grund, ein Denksystem zu entwickeln. Wir lebten dieses System ohne es systematisieren zu müssen. O-Ton Autor Autor : Im westlichen Denken wird der übersinnliche Teil der Wahrnehmung nicht der eigentlichen Wirklichkeit hinzugerechnet. Es gibt das Reale, ja, aber dem zweiten Teil der Wirklichkeit, dem Übersinnlichen, wird keine Existenz zugebilligt. In einem animistischen System hingegen wird dieser Teil der Wahrnehmungen als Wirklichkeit anerkannt? O-Ton Cheikh Moctar Ba Sprecher: Wenn wir von einem animistischen System sprechen, reden wir über die Dynamik von Kräften und Kraftfeldern, die über ihre Wechselwirkungen unablässig wahrgenommen werden. Diese Dynamik der Wechselwirkung von Kräften im afrikanischen Universum ermöglicht, dass jemand, der einem anderen Individuum etwas antun will, mit Hilfe des Kraftfeldes eines Mittlers handeln kann, ohne selbst mit dem anderen Individuum in direktem Kontakt zu kommen. Was wir etwa einem Bildnis oder Gegenstand zufügen, fügen wir dem sich damit repräsentierten Subjekt zu. Das glaubt der Westen nicht und für uns kommt es nun darauf an, welche Vernunft angewendet wird, um unser Denken in den Kanon der "großen Vernunft" einzureihen. Denn es ist ja nicht so, dass, wie immer gesagt wird, dieses Denken den Disziplinen der Ethnologie oder Anthropologie zuzuordnen ist. Diese Einsortierung in Fachdisziplinen mag im Westen von Bedeutung sein, aber in Afrika enstand das Wissen immer im Geist der Enzyklopädie: Ein Marabout wird aufgesucht bei Kopfschmerzen, Eheproblemen oder wenn man eine Arbeit sucht - immer ist es dieselbe Person mit einem Zugang zum gesamten Kraftfeld des Universums. Das afrikanische Denken beruht also auf dem Wissen um die Totalität der Wirklichkeit. Es ist nun die Aufgabe der jungen Forscher des afrikanischen Denkens, die Substanz der afrikanischen Philosophie herauszuarbeiten und über dieses Wissen unsere eigene Geschichte zu verstehen, auch um zu schauen, wie wir unsere Gegenwart und Zukunft besser als bisher gestalten können. Es ist an uns, ein System zu finden und zu etablieren. O-Ton Autor Autor : Wenn wir im Westen von Afrika sprechen, sind wir bisher schnell mit Begriffen wie Magie oder Zauber bei der Hand. Aber sind westliche Denker nicht auch magisch veranlagt, nur haben sie in Bezug auf sich selbst das Wort verändert und sagen: Zufall? O-Ton Cheikh Moctar Ba Sprecher : Ja, es ist möglich, dass es sich um einen bloßen Unterschied in der Terminologie handelt. Was wir Magie nennen, nennt man im Westen Zufall. Beides Mal wird damit eine Situation beschrieben, die man nicht wirklich erfasst. Wenn man im Westen von Zufall spricht, ist es etwas, das die Ordnung aufhebt, etwas, das nicht normal ist, nicht vorhersagbar war und so vom westlichen Verstand nicht begriffen wird. Man befindet sich von da an im Reich des Zufalls, das sich nicht beherrschen lässt, aber eben auch nicht - und dafür steht der Begriff letztlich - beherrscht werden muss. Ist es Zufall, dass ich diesen oder jenen kenne? O-Ton Cheikh Moctar Ba Sprecher: Wenn man sich im afrikanischen Universum bewegt, muss man aber gar nicht die Magie bemühen, um Unverständliches zu rationalisieren. Magie ist eben nicht deckungsgleich mit dem Zufall des westlichen Systems, denn das, was darin als Zufall durchgeht, unterliegt im schwarzafrikanischen Universum einer bestimmten Konstellation der Kräfte, worin diese Art des Zufalls keine Daseinsberechtigung hat. Alles, was im Leben geschieht, geschieht für uns aus einer Notwendigkeit heraus. Das führt dazu, dass alles, was geschieht, als verstehbar gilt, ohne es dazu aber unbedingt verstehen zu müssen. Die gesamte Wirklichkeit - um einmal mehr einen Ausdruck von Hegel zu verwenden - ist verstehbar, denn für einen Afrikaner ist alles rational erfassbar und alles rational Erfassbare real. Man muss nun aber zwischen "real" und "rational" einen Sinn herstellen, der die Vernunft des Westens übersteigt. Es ist diese erweiterte Vernunft, aus der heraus wir das Gesetz der handlungslosen Anteilnahme verstehen. Es ist diese Vernunft, mit der wir die Interaktion der Kräfte begreifen können, die ein westlicher Verstand nicht begreifen kann. Darin spielt der Zufall keine Rolle. Umgekehrt profitieren wir nicht von dem Vorteil der westlichen Vernunft, den ihr der Zufall beschert. Es ist eine ungeheure intellektuelle Aufgabe, eine Notwendigkeit in allem zu erkennen. Wenn ich heute die Person X getroffen habe, dann musste ich ihn aus irgendeiner Notwendigkeit heraus treffen, und er mich auch. Irgendetwas gab es oder musste weitergegeben werden, was diese Begegnung notwendig werden liess. Den Grund dafür ausfindig zu machen, ist eine intellektuelle Anstrengung. O-Ton Cheikh Moctar Ba Sprecher: Es gibt also durchaus auch einen Bezug zur Faulheit des Geistes, wenn wir von Zufall sprechen, aber eben auch zur Angst vor der Zukunft, und das führt auch zur Unbeherrschbarkeit der Gegenwart. Denn wenn man von Zufall spricht, geht es immer um etwas, das wir nicht vorhersagen konnten, etwas, das wir nicht beherrschen, etwas, dem wir absolut keine Konturen geben können. Im schwarzafrikanischen Universum versuchen wir all dem, was im Westen Zufall genannt wird, eine Unabdingbarkeit zu verleihen, die wir nicht verstehen müssen, aber trotzdem als Notwendigkeit anerkennen. Und das erlaubt uns schließlich, durch unsere ganze Existenz einen Roten Faden zu legen und das gesamte Universum geistig zu bewältigen. Und gleichsam ermöglicht es uns, die Ordnung aufrecht zu erhalten, ohne stetig etwas daran ändern zu müssen. Denn die Funktion des Universums beruht auf einer Ordnung, die es nicht zu stören gilt. Die Idee des Zufalls belässt einfach eine Leerstelle dort, wo man nichts versteht, doch wir können diese Leere nicht akzeptieren. Der Zwang, zunächst diese Zusammenhänge erkennen zu müssen, erlaubt mir, alle Verbindungen zwischen den Ereignissen und wirksamen Kräften der Natur im schwarzafrikanischen Universum zu finden. O-Ton Autor Autor : Ein westliches Universum, das man dem schwarzafrikanischen, wie Cheikh Moctar Ba es beschreibt, gegenüberstellen könnte, würde sich vor allem durch die Unterteilung der Naturkräfte in berechenbare Größen auszeichnen, und es war genau dieses Konstrukt der westlichen Logik und die Vermessung der einzelnen Bestandteile, die es erlaubte, eine rasante technische Entwicklung zu vollziehen. Jetzt aber zeigen sich die Grenzen dieser Wirklichkeitsbetrachtung. Wäre nun das afrikanische, das holistische Denken nicht ein Ansatz für die Suche nach einer Lösung für die ökologische Frage? O-Ton Cheikh Moctar Ba Sprecher : Es wäre zumindest ein Weg, den Zugang zu einem anderen Verständnis der ökologischen Probleme zu finden. Es ist der Gebrauch von Technik, der uns das Problem beschert hat. Die Lösung ist aber zuallererst kognitiv und kulturell zu suchen: Wir müssen nicht Milliarden aufbringen, um ökologisch zu sein. Die ökologische Frage ist eine ethisch-moralische Frage: Jeder ist Ökologe, sobald er seinen Scharfsinn nutzt und guten Willen beweist, um die Natur zu bewahren. O-Ton Cheikh Moctar Ba Sprecher: Die Art, wie wir in Schwarzafrika leben, richtet sich ganz nach dem Materiellen. Das Denken der Afrikaner ist konkret, das Sehen ist konkret und das Leben ist konkret. Es ist die Materie, die unsere Reaktionen hervorruft. Auch die Moral basiert auf diesem Materialismus. Wenn Sie im Gegensatz dazu jemanden betrachten, der gemäß der kantischen Idee von der Moral gegenüber einem Dritten handelt, stellen Sie fest, dass er den Anderen bloß als Mittel zur Erfüllung eines höheren moralischen Zwecks betrachtet. Die kantische Idee einer höheren Moral ist auch in Afrika gültig, außer in einem Punkt: Kant hat in seinem Naturrecht die moralische Bewertung einer Handlung von allem, was durch diese Handlung unbeabsichtigt und beiläufig ausgelöst wird, somit also "zufällig" geschieht, losgelöst. Bei ihm ist es das Prinzip, nach dem jemand handelt, das moralisch bewertet wird. Wir hingegen berauben die moralische Handlung nicht ihrer Zufälligkeit und ihren unbeabsichtigten Effekten. Sie sind in dem Akt der moralischen Bewertung automatisch eingebunden. Alles, was sich in einer Handlung letztlich materialisiert, befindet sich im Zentrum der moralischen Betrachtung. Mit anderen Worten: Für eine moralische Handlung wird die ganze Wirklichkeit berücksichtigt, die Bedingungen der Existenz und des Universums, oder modern ausgedrückt: die Umwelt. Während sich die kantische Ethik für nichts weiter als das Prinzip an sich interessiert, so basiert bei uns die Moral auf dieser Form des Materialismus. Die Moral des Westens hat sich seiner Umwelt beraubt, da sie sich wegen seiner Unbedingtheit der moralischen Prinzipien um die materielle Umwelt nicht schert. Bei uns wird hingegen vorausgesetzt, dass sich das Denken in der Umwelt materialisiert, und man nimmt entsprechend der Unmöglichkeit der Einschätzung aller Elemente die Unvollkommenheit der Moral von vornherein in Kauf. Das ist ein großer Unterschied. Die Voraussetzungen der Moral sind nicht dieselben, ihre Ziele auch nicht, und ja, warum sollte man also anbetracht der ökologischen Frage nicht zum Beispiel über die Freiheit neu diskutieren - doch nun in einem afrikanischen Kontext? Wie nutzen wir die Freiheiten? Wie wird Freiheit in Afrika aufgefasst? O-Ton Cheikh Moctar Ba Sprecher: Freiheit ist in erster Linie im Denken des Individuums verhaftet. Wenn wir von Afrika und seiner Geschichte sprechen, dann glauben wir ja meist, es handele sich um Gesellschaften, in denen das Individuum völlig in einer es absorbierenden Gesellschaft aufgeht. Dies seien, heißt es, gar keine Gesellschaften, sondern Clans. Doch es gibt Bereiche, die einzig der Initiative des Individuums vorbehalten sind. Allerdings ist im Unterschied zum westlichen Individualismus diese Freiheit gänzlich den sozialen Pflichten verschrieben. Diese Freiheit erlaubt uns bei jedem Akt zu überlegen, welcher Vorteil der Gemeinschaft aus meiner Handlung erwächst. Wir denken unsere Beziehung zur Welt als Beziehung zum Anderen. Das Andere ist gedanklich stets präsent. Anders ausgedrückt: Wir leben einen Individualismus, der aber einen anderen Bezugspunkt hat als der westliche Individualismus: Es ist der Andere. Und darin hat die Freiheit sehr wohl ihren Platz. Es ist die Freiheit der Initiative. Das mag als eine Freiheit in Klammern erscheinen, aber für uns liegt sie genau darin, stetig den Vorteil der Gemeinschaft und das Kollektiv bei unseren Handlungen mitzudenken. O-Ton Cheikh Moctar Ba ATMO Autor: Draußen auf den Fluren kommen die Studenten aus den Seminarräumen. Professor Cheikh Moctar Ba erzählt, dass er nach jeder Vorlesung noch mit Fragen überhäuft wird. Den meist doch sehr verunsicherten jungen Afrikanern geht es um die Stellung Afrikas in der westlichen Welt, im westlichen Denken. Der junge Dozent versucht, seine Studenten zu beschwören: "Wir müssen uns endlich über uns selbst bewusst werden, um schließlich selbstbewusst sagen zu können, dass Afrika eine globale zivilisatorische Mission hat." Ob allerdings ausgerechnet die Universität der Ort ist, wo die jungen Afrikaner das nötige Selbstbewusstsein tanken können? So kommen wir zum Ende unseres Gespräches auf die Institution der westlichen Bildung zu sprechen. Schul- und Universitätsabschlüsse dürfen ja durchaus als das Initiationsritual der Moderne gelten, sie versprechen die Aufnahme in die globale Erwerbsgesellschaft. O-Ton Autor Autor: Wenn man aber in Afrika das System Schule installiert, dann schafft man damit auch eine Institution, die im Widerspruch mit der traditionellen Gesellschaft steht. O-Ton Cheikh Moctar Ba Sprecher: Viele vor allem junge Menschen befinden sich in Afrika in einer Krise der Persönlichkeit. Bildung ist eine Sache, sie ist mittlerweile ein globales Recht, die andere Sache ist es, Arbeit zu finden und damit in die "große Welt" einzutreten. Darauf besteht kein Rechtsanspruch. Und für ein System der staatlich organisierten Solidarität, mit der man aus allgemeinen Geldern des Staates über Wasser gehalten wird, verfügen wir nicht über ausreichende Mittel. Aber es gibt andere Formen der Solidarität: den Sinn des Teilens. Die Figur des Sozialhilfeempfängers, der alleingelassen mit seinen Problemen in seiner Ecke lebt, und dessen Einkünfte von der Haltung der jeweiligen Regierung abhängig sind, gibt es in Afrika nicht. Derselbe Mensch wird bei uns weiterhin in seiner Familie leben, genauso wohnen und essen wie alle anderen Mitglieder der Familie. Das entspricht der Funktionslogik unserer Kultur, dem Sinn des Teilens. In lokalen und großfamiliären Gemeinschaften teilen wir alles, und anbetracht der wirtschaftlichen und sozialen Wirklichkeit bleiben wir logischerweise bei dieser Form eines Sozialismus à la Afrika. Oft finden wir uns in einer Situation, in der wir ganz vergessen, keinen Job zu haben. Die Gemeinschaft agiert immer im Interesse aller. Es findet sich immer eine Lösung für alle Probleme. O-Ton Cheikh Moctar Ba Sprecher: In den westlichen Staaten beruhen die sozialen Beziehungen nicht mehr auf individuellen und persönlichen Beziehungen. Wenn ich ein Problem habe, nehme ich den Staat in Verantwortung. Ich muss also mit einer nicht-individuellen Institution auskommen, doch bei uns ist es die menschliche Gemeinschaft, die soziale Probleme löst. Dieser Unterschied entspricht auch den unterschiedlichen Auffassungen vom Individuum. Es gibt also sehr unterschiedliche Herangehensweisen an Probleme und Fragen, und wenn wir daran denken, was Afrika in den Prozess der Globalisierung einbringen kann, so könnten wir für die Wiederbelebung und einen neuen Schwung in der globalen Kultur-Debatte sorgen. Wir haben einiges vorzuweisen. Nicht alles ist gut auf unserem Kontinent, aber auch nicht alles schlecht, und so müssen wir uns vor allem in die Wertedebatte einbringen. Unter den afrikanischen Werten gibt es etliche, die wir mit der Welt teilen können und positiv sind für alle Nationen, und die unser Beitrag zur Globalisierung wären. Vielleicht denken Sie nun gleich an Kriege, die Not und die Korruption in Afrika, aber diese Phänomene können Sie getrost zu der technischen Seite, dem Ringen um Rohstoffe und der Fama des Wohlstandsversprechens rechnen. Es ist doch normal, dass Gesellschaften, die stetig mit Füßen getreten werden, darauf reagieren. Trotzdem arbeiten wir an der Förderung der Menschlichkeit und Gemeinschaft. Jetzt drängen sich doch all die Fragen in den modernen Gesellschaften auf, die nach neuen Antworten suchen: Fragen der Ökologie, der Moral und Ethik. Da werden so viele Gedanken an die Technologie und die Wohlstandsmehrung nach den Kriterien des Kapitalimus verschwendet, doch die interessanteste Komponente des sozialen Lebens wurde schlicht vergessen: die menschliche. Der Mensch und sein Platz darin werden einfach übersehen. Doch an der Frage nach seinem Status stößt diese Form der Globalisierung nun an ihre Grenzen. Und weil unser afrikanischer Ansatz so anders ist als alle bisher ausprobierten, können wir einen Beitrag zur Verbesserung leisten. Man glaubt ja immer, nur wir Afrikaner müssten die globalen Gegebenheiten genau erforschen, um uns daran anzupassen. Dasselbe aber gilt für die Menschen im Westen: Um sich selbst besser zu verstehen, sollten sie wissen, was in Afrika vor sich geht und wie dort gedacht wird. Es geht um die Beziehungen zu den Anderen - wie denken sie? Und deren Gedanken muss man dann in seine Überlegungen und Handlungen einbeziehen. Dieses Vorgehen liegt im Interesse einer wirklich gelungenen Globalisierung, die sich eben nicht bloß auf wirtschaftlichem Feld vollzieht, sondern ebenso intellektuell und kulturell bewältigt werden muss. O-Ton Cheikh Moctar Ba 1