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Und seine Lieder sind natürlich mit deutschen Gedichten komponiert - und so habe ich dadurch immer noch eine Beziehung mit der deutschen Sprache gehabt. 02 Musik: Franz Schubert, Ave Maria 01 Autorin: Eine Beziehung, die für Jahrzehnte die einzige Verbindung zu Deutschland bleibt, dem Land, in dem Leslie Baruch Brent geboren wird und die ersten 13 Jahre seines Lebens verbringt. Der heute 86jährige sitzt zurückgelehnt auf dem Sofa eines Hotelzimmers in Berlin- Pankow. Die Beine übereinander geschlagen, das weiße Jackett hat er neben sich gelegt. Schlank, leicht ergraut, kaum Falten im Gesicht. Für ein paar Tage ist der weltweit bekannte Immunologe aus London nach Berlin gekommen. Noch vor zehn Jahren konnte er sich das nicht vorstellen. 02 O-Ton Brent 0'28 Ich wurde einmal vor vielen, vielen Jahren eingeladen zu einem medizinischen Kongress in Berlin, da habe ich abgesagt. Das konnte ich nicht, das wollte ich nicht. Mit den jungen Deutschen habe ich keine Probleme, ich habe nur Probleme mit Deutschen, die so älter sind wie ich, und das sind nicht so viele jetzt (Lachen). Denn als ich die getroffen habe, habe ich immer gedacht, was hat der Mann in der Nazizeit getan, wie hat er sich benommen. 02 Autorin: Leslie Baruch Brent wird am 5. Juli 1925 als Lothar Baruch in Köslin geboren, einer 30.000 Einwohner zählenden Stadt in Pommern. Sein Vater arbeitet als Handlungsreisender für große Unternehmen, seine Mutter hilft ihrem Mann in der Buchhaltung, kümmert sich aber vor allem um ihren Sohn und dessen zwei Jahre ältere Schwester Eva. Die Familie genießt in der jüdischen Gemeinde von Köslin hohes Ansehen, ist religiös, aber nicht orthodox. Wohlbehütet wachsen er und seine Schwester auf, früh wird die Liebe zur Musik in ihm geweckt: der Vater spielt Klavier, seine Mutter singt im Chor und nimmt die beiden Kinder regelmäßig zu den Proben mit. 03 O-Ton Brent 0'57 Ich hatte eine ganz schöne Kindheit eigentlich, bis die Nazis zur Macht kamen. Meine Eltern haben mich zur Mittelschule geschickt, nicht zum Gymnasium, weil ich dort Englisch gelernt habe, das war sehr prophetisch von ihnen eigentlich! Und ich kam in die Klasse, und da stand auf der Tafel geschrieben: alle Christen sind Lügner und Betrüger. Ich war der einzige jüdische Junge in der Klasse, da wurde natürlich sofort von dem Lehrer - der war ein Nazilehrer, der manchmal in der SA-Uniform in die Schule kam - der hat gesagt, na ja, das hat der Jude, der jüdische Junge getan, da musste ich vorn stehen und zuhören, wie er mich beschimpft hat, und da war ich verzweifelt. Da konnte ich nicht mehr zu der Schule gehen. Da haben meine Eltern sich entschlossen, mich irgendwie anders zu erziehen. 03 Autorin: Und so kommt der damals 11jährige im Dezember 1936 nach Berlin. Seine Eltern glauben, dass er dort vor den antisemitischen Schikanen geschützt ist und schicken ihren Sohn ins jüdische Waisenhaus nach Berlin-Pankow, das ein Bekannter der Eltern leitet. Noch heute huscht ein Schatten über sein Gesicht, wenn er an die überstürzte Abreise aus Köslin zurückdenkt, getrennt von seinen Eltern und seiner Schwester, katapultiert in eine Umgebung, die ihn erschreckt. 04 O-Ton Brent 0'26 Für einen Jungen, der ein Familienleben gehabt hat, ein intimes Familienleben, war das ein großer Schock. Dieses große Gebäude mit ungefähr 100 anderen Jungen, viele von denen sehr arm, ziemlich schreckliches Leben, die waren wirklich Waisen und haben eigentlich kein gutes Leben gehabt und sind sehr unglücklich gewesen. Das war schon ganz schwer in so einer großen Masse plötzlich zu leben. 04 Autorin: Leslie Brent nimmt seine Brille ab, legt für einen Moment die Hand über die Augen. Es ist, als ob die Eindrücke von damals wieder lebendig werden. Dann gibt er sich einen Ruck und lächelt. 05 O-Ton Brent 0'40 Aber ich habe großes Glück gehabt, ich habe immer großes Glück gehabt in meinem Leben, muss ich sagen. Der Direktor hatte mich scheinbar sehr gerne, hat mich sehr nett behandelt und hat mich auch einmal zu einem wunderbaren Konzert, von dem jüdischen Kulturbund organisiert, das war eine Aufführung von Elias, das wunderbare Stück von Mendelsohn - und er hat mich dort hingenommen. Und das war eine sehr aufregende Sache für mich, sehr eindrucksvoll. Ich habe das Werk seitdem zweimal mit einem Chor gesungen, das war eine ganz wunderbare Erfahrung für mich. 03 Musik Auszug von "Elias" / aus dem Anfang - Instrumental oder Chor 05 Autorin: Es scheint, als könne der Direktor des Waisenhauses Kurt Crohn die Kinder vor dem staatlichen Antisemitismus abschirmen. Bis zum Spätsommer 1938. Dann kann auch der mittlerweile 13jährige Leslie nicht mehr ignorieren, was um ihn herum geschieht. 06 O-Ton Brent 1'11 Ungefähr drei Monate vor Kristallnacht gab es eine sogenannte Probe in Pankow: Da ist das Waisenhaus erstürmt worden von einem Mob von Männern, die haben das Tor aufgemacht, obwohl man sich dagegen gewehrt hatte, und sind in das Haus gekommen. Aber ein Lehrer hat diesen Mob auf der Treppe getroffen mit einem kleinen Jungen im Arm und sie ganz ruhig angesprochen und gesagt: Ich möchte Sie erinnern, dass dieses Haus ein Waisenhaus ist, ich möchte Sie auffordern, das Haus sofort zu verlassen. Das haben die getan. Und da war nur der erste Stock etwas zerstört und der Grundstock. Nachher haben wir im Garten gesessen und haben Erdbeeren mit Sahne gegessen. (Lachen) Das erinnere ich sehr gut daran. Aber in der Kristallnacht wurde das Waisenhaus überhaupt nicht angegriffen. Komisch, verstehe ich nicht. Alle anderen jüdischen Häuser, Synagogen und Geschäfte und so weiter wurden zerstört, aber das Waisenhaus wurde nicht angegriffen. 06 Autorin: Dennoch ist die sogenannte Kristallnacht, der 9. November 1938, der Wendepunkt im Leben von Leslie Baruch Brent. Es ist klar, dass er weg muss. Seine Rettung sind die Kindertransporte: 1938/39 ermöglicht die britische Regierung 10.000 Kindern die Flucht aus Deutschland. 07 O-Ton Brent 0'23 Durch den Direktor von dem Waisenhaus Dr. Kurt Crohn bin ich auf den ersten Kindertransport nach England geschickt worden. Das war am 1. Dezember '38. Ja, und das war natürlich ein vollkommener Bruch in meinem Leben, dass ich dann in eine Zukunft kam, wo ich wirklich nicht wusste, was geschehen würde. 07 Autorin: Einen Tag vor der Abreise trifft der 13jährige seine Eltern und seine Schwester Eva, um sich zu verabschieden. Sie leben mittlerweile im Berliner Untergrund. Es ist das letzte Mal, dass er sie sieht. Noch heute, 73 Jahre danach, kann Leslie Baruch Brent nicht über seine Eltern sprechen, ohne dass es ihn schmerzt. Es ist der einzige Moment während des gesamten Gesprächs, an dem seine Stimme zittert. Die Augen füllen sich mit Tränen, als er weiterspricht: 08 O-Ton Brent (Gesamtlänge: 1'33) Ich hatte immer früher gedacht, dass sie nach Auschwitz geschickt worden sind. Und ich war auch einmal in Auschwitz. Als ich einen Vortrag in Polen gemacht habe, hat mich ein polnischer Chirurg von Krakow nach Wroclaw / Breslau genommen und auf dem Weg hat er gesagt: Wir sind in der Nähe von Auschwitz. Wollen Sie vielleicht dorthin gehen? Das ist ein großes Denkmal. Und da wurde mir ganz übel. Ich sagte nein, das will ich nicht, und ich habe ihm auch gesagt wieso. Und dann, als ich näher kam, fühlte ich mich wie mit einem Magnet dorthin gezogen. Und dann sind wir hingegangen, und da habe ich zum ersten Mal wirklich richtig geweint, denn ich hatte ja kein Grab für sie, ich wusste nicht genau wo, wann oder wie sie gestorben sind. Und da hatte ich gedacht, dass sie in Auschwitz gestorben sind. Dann habe ich später erfahren, dass sie "zum Osten" transportiert wurden. Ich wusste nicht genau, was das heißt "zum Osten", aber in den letzten sechs, sieben Jahren habe ich gefunden, dass meine Eltern, meine Schwester im Oktober '42 nach Riga in die Wälder genommen und erschossen wurden. Das muss ich sagen, wenn man das sagen kann: Ich glaube, es ist besser, erschossen zu werden als in Auschwitz in einer Gaskammer umzukommen, und alles was damit verbunden ist. Aber trotzdem: Es macht es nicht leichter, das Schicksal meiner Familie zu tragen. 04 Musik Auszug von "Elias" / aus dem Anfang - Instrumental 08 Autorin: Die Erinnerungen nehmen Leslie Baruch Brent immer wieder mit, auch wenn er sie schon oft erwähnt hat. Vor zwei Jahren veröffentlichte er ein Buch über sein Leben: "Ein Sonntagskind?". Danach hat er viele Interviews gegeben, erst in England, wo das Buch zuerst erschien, später in Deutschland. Und doch quält es ihn immer wieder, sich an die Flucht aus Nazi-Deutschland und den Neubeginn in Großbritannien zu erinnern. Bis 1942 hält er Kontakt zu seinen Eltern - über das Internationale Rote Kreuz, das eine Übermittlung von Nachrichten im Telegrammstil ermöglicht. Da sie in Deutschland zensiert werden, sind sie in einem beruhigenden und unverdächtigen Tonfall geschrieben: Zitator: 14. September 1940: Bin heiter und gesund. Macht euch keine Sorgen. Ferien vorbei. Bin in der 5. Klasse. Schreibt so schnell wie möglich. Küsse an alle, Lothar. Zitatorin: 24. Dezember 1940: Geliebter Junge, wir sind glücklich über deine Nachricht. Uns geht es gut. Schreib bald und ausführlich. Beachte unsere neue Adresse. Mu, Vatsch, Eva. 13. Juli 1942: Geliebter Junge! Sehr glücklich, deine Nachrichten erhalten zu haben. Du wirst deinen Weg gehen, Du bist schließlich ein Sonntagskind! Wir drei sind gesund. Liebste Küsse, Vati, Mu. Zitator: 21. Juli 1942: Geliebte Eltern, große Freude über Eure Nachrichten. Habe meinen Geburtstag sehr angenehm verbracht, dachte viel an euch. Lothar. Zitatorin: 23. Oktober 1942: Geliebter Junge! Briefe erhalten, große Freude! Wir drei wohlauf. Wir sind froh für dich! Möge Gott dich beschützen! Vati, Mu, Eva. 09 Autorin: Es ist die letzte erhaltene Nachricht seiner Eltern. Drei Tage später, am 26. Oktober 1942, werden sie gemeinsam mit der Schwester Eva im verschlossenen Viehtransportwagen nach Riga geschickt, zusammen mit 897 anderen Juden. Sofort nach ihrer Ankunft am 29. Oktober werden alle in die Wälder nahe der Stadt gebracht und erschossen. 05 Musik: Franz Schubert, Ave Maria (unter Autorin-Text oben aufblenden? Oder schon nach der Zitatorin?) 10 Autorin: Am 2. Dezember 1938 ist Lothar Baruch in England eingetroffen. Erst 1944 ändert er seinen Namen in Leslie Brent, als er in die britische Armee eintritt. Und ein weiteres halbes Jahrhundert später fügt er den Namen "Baruch" als zweiten Vornamen ein - eine Geste der Verbundenheit mit seiner Familie, sagt er. Doch zurück ins Jahr 1938. Die ersten zwei Monate verbringt der 13jährige im Auffanglager "Dovercourt" in Harwich. 09 O-Ton Brent 1'44 Dort habe ich zufällig und glücklicherweise einen Jungen getroffen, der in diesem Lager geholfen hat, von einer Schule, die hieß Bunce Court School - das war eine jüdische Schule. Die Führerin dieser Schule hieß Anna Essinger, die kam von Ulm in Süddeutschland. Dort hatte sie eine Internatsschule, und 1933, als sie zum ersten Mal gefragt wurde, die Hakenkreuzfahne auf ihr Dach ... aufzuhängen? (AUTORIN) zu fliegen, da hat sie gesagt, das kann ich nicht, da mach ich nicht mit, ich kann nicht jüdische Kinder in dieser Atmosphäre erziehen. Da hat sie die ganze Schule mit vielen Kindern und vielen Lehrern nach England gebracht. Und das war '33! Das war sehr prophetisch von ihr. Und die hat dieses Lager teilweise organisiert. Und da waren einige ältere, die dort geholfen haben. Ich habe einen von diesen Jungen getroffen, und der hat mir über die Schule erzählt und hat gesagt, vielleicht willst Du ja hinkommen. Ich habe gesagt, ja, das wäre sehr schön! Und dann bin ich eines Tages an eine sehr dicke Frau gelaufen in einer Tür - die hat mich angesehen und hat gesagt: Ja, wer bist du denn? Und ich hab gesagt: ich bin Lothar Baruch, da hat sie gesagt: Möchtest du gerne in meine Schule kommen? Ich habe gesagt ja bitte - und das war's! Zwei Monate später war ich in ihrer Schule in Kent. Und das war für mich ein Riesenglück! 10 Autorin: In der Internatsschule in Bunce Court in der Grafschaft Kent seien die ersten Grundsteine für seine neue Identität gelegt worden, meint Leslie Baruch Brent heute rückblickend. Zwar habe er unter der Trennung von seiner Familie gelitten und sich vor der ungewissen Zukunft gefürchtet. Gleichzeitig aber sei er stolz gewesen, dass die Schule ihn angenommen hat. Er will ein neues Leben beginnen, sich integrieren, dazu gehören. 10 O-Ton Brent 0'43 Im Allgemeinen wollte ich nicht Deutsch sprechen. Ich hatte eine Köchin in der Schule, die hieß Gretel Heid, eine sehr reizende Frau, sie hat viele von den Kindern bemuttert, sagt man das so, ja? Und ich war einer von denen - als ich in der Armee war, hat sie Pakete geschickt mit Essen, Keksen usw. Und sie hat nicht sehr gut Englisch gesprochen, mit der habe ich Deutsch gesprochen. Aber sonst habe ich sehr wenig Deutsch gesprochen, mein Deutsch war vollkommen verrostet, und es ist nur in den letzten zehn Jahren, als ich jetzt wieder nach Berlin zurückkam, dass mein Deutsch sich etwas verbessert hat. Das ist immer noch nicht sehr gut, es ist besser als es früher war. 11 Autorin: Drei Jahre bleibt Leslie Baruch Brent in Bunce Court. Er findet dort nicht nur ein Zuhause, sondern entdeckt auch sein Interesse für Biologie - eine Weichenstellung für sein Leben. 11 O-Ton Brent 0'22 Wir hatten einen sehr guten Lehrer gehabt an der Schule in Bunce Court, der gut Biologie gelehrt hat und das hat mich sehr an dem Fach interessiert. Und da habe ich immer gedacht, na, es wäre sehr schön, Biologie zu studieren. Aber ich hatte keine Ahnung, dass das eine Möglichkeit sein würde. Ich habe die Schule im 15. Jahr verlassen müssen, da war kein Geld mehr für mich. 12 Autorin: Das ist im Januar 1942. Der "Central Jewish Fund for German Refugees" kann seine Schulgebühren nicht mehr bezahlen. 12 O-Ton Brent 0'14 Ich habe Geld verdient in einer technischen Hochschule - das war zwischen meiner Schule und der Armee - und da hatte ich am Abend und am Wochenende studiert, um mich vorzubereiten für die Universität. 13 Autorin: Im Dezember 1943 gibt die britische Regierung bekannt, dass "vertrauenswürdige enemy aliens" in das Berufsheer eintreten können. Für Leslie Baruch Brent der bestmögliche Weg, seiner Familie in Deutschland zu helfen. Noch weiß er nicht, dass sie bereits tot ist. Er unterbricht seine Vorbereitungen fürs Studium und meldet sich mit 18 Jahren zur britischen Armee. Dort wird er für eine Ausbildung zum Infanterie-Offizier vorgeschlagen, die er im Februar 1945 abschließt. Erst im Frühjahr 1946 bekommt er die Erlaubnis, nach Berlin zu fahren. 13 O-Ton Brent 0'49 Ich war ein junger Offizier auf der Lüneburger Heide und ich wollte doch Berlin besuchen, um meine Familie zu suchen. Ich hatte keine Ahnung, was mit ihnen geschehen war. Und da bin ich nach Berlin gefahren mit einem Jeep und einem Fahrer. In die Wohnung konnte ich nicht. Eine Frau, die hat die Tür einen Spalt aufgemacht - und es war sehr verdächtig: ich war in Uniform natürlich, da hat sie gedacht, jemand will sie verhaften oder irgend so etwas. Ich habe ihr erzählt, dass meine Eltern dort früher gelebt haben, das war ja '46, sie haben dort wahrscheinlich bis '41 gewohnt, also fünf Jahre vorher, und sie hat gesagt: Nein, Nein, ich weiß gar nichts davon, und hat die Tür geschlossen. 06 Musik Auszug von "Elias" / aus dem Anfang - Instrumental 14 Autorin: Der 86jährige Leslie Baruch Brent lehnt sich auf dem Sofa des Berliner Hotelzimmers entspannt zurück, schlägt die Beine wieder übereinander und lächelt dezent. Jetzt kommt er zu seinem zweiten Leben, wie er es nennt, endlich. Das Leben in Frieden, in dem er zwei Mal heiratet, drei Kinder bekommt und Großvater von neun Enkelkindern wird. Und in dem er zum international bekannten Immunologen aufsteigt. 14 O-Ton Brent 1'08 Nach dem Krieg hatte ich die Möglichkeit, von dem Erziehungsministerium ein Stipendium zu bekommen zum Studieren. Und deshalb konnte ich vier Jahre studieren. Da habe ich Zoologie studiert und wollte auch Lehrer werden und hatte im letzten Jahr von meiner Universitätszeit mich schon eingeschrieben in Cambridge Universität für eine Lehrerausbildung. Und dann hat mein Professor mir angeboten, sein Student zu sein. Der hieß Peter Medawar, war ein ausgezeichneter Biologe, und da habe ich gesagt: ja, das mache ich gerne. Und ich wurde kein Lehrer, ich wurde Wissenschaftler! Also für mich war das eine ganz ungeheure Möglichkeit, zusammen mit diesem sehr charismatischen Mann zu arbeiten. Er war ein ausgezeichneter Lehrer, ein ausgezeichneter Wissenschaftler, ein wunderbarer Mann, den ich sehr verehrte. 15 Autorin: Die Forschung, die Leslie Brent als Doktorand Ende 1951 bei Peter Medawar beginnt, befasst sich mit der "Immunologischen Toleranz" - mit der Frage, wie man bei Organtransplantationen das körpereigene Immunsystem überlisten kann, damit das neue Organ nicht vom Körper abgestoßen wird. 15 O-Ton Brent 1'09 Unsere Methode war ganz biologisch. Da konnten wir zeigen, dass, wenn man Zellen von fremden Mäusen in ganz junge Mäuse, die gerade geboren worden sind, injiziert, dann kann man das Immunsystem der Empfänger ganz ändern, sodass diese jungen Mäuse, wenn die älter werden, nicht mehr zwischen den fremden Zellen und seinen eigenen Zellen unterscheiden können. Verstehen Sie das? Ja, und dann kann man, wenn die Mäuse fünf, sechs Wochen alt sind, ein kleines Stück Haut von der Spender-Maus verpflanzen - und die wird dann angenommen. Wie normale Haut. Und das war natürlich so ein Ideal erschaffen: The Holy Grail heißt das auf Englisch. Das ist eine so mystische Sache - wenn man das "Holy Grail" findet, dann wird die ganze Welt wunderbar sein. 16 Autorin: Der heilige Gral in der Immunologie - und Leslie Baruch Brent ist bei der Entdeckung dabei. Noch heute leuchten die Augen des leidenschaftlichen Wissenschaftlers, wenn er über die Forschung auf dem Gebiet der Gewebe- und Organtransplantation spricht. Die Entdeckung, dass man das Immunsystem tatsächlich überlisten kann, ist so bahnbrechend, dass Medawar im Jahr 1960 den Nobelpreis für Medizin erhält. Die damalige Hoffnung, dieses Verfahren auch auf Menschen anwenden zu können, hat sich allerdings bis heute nicht erfüllt. Noch nicht, fügt Brent hinzu 16 O-Ton Brent 0'37 Hunderte von Abteilungen in der ganzen Welt haben versucht, das zu tun an Menschen. Im Menschen ist das problematischer, denn wenn ein Baby geboren wird, ist es immunologisch schon sehr entwickelt, mehr als eine neugeborene Maus zum Beispiel, die ein ganz primitives immunologisches System hat. Also die Lage ist ganz anders im Menschen, aber mit besonderen Methoden kann man das auch schaffen im Menschen, hoffen wir. Und in mancher Beziehung ist es schon geschehen eigentlich, aber die Methoden sind so kompliziert, dass man das nicht im Allgemeinen machen kann. 17 Autorin: Leslie Baruch Brent wird einer der weltweit führenden Immunologen, mit Professuren an Universitäten in Großbritannien, bis zu seiner Emeritierung 1990 in London. Auch danach bleibt er ein gefragter Experte: er ist heute Mitglied in einer Ethikkommission, die sechs Transplantationsteams in vier europäischen Ländern bei ihrer Arbeit berät. 07 Musik Franz Schubert, Nacht und Träume (Zäsur bei 1'30) 18 Autorin: Bis heute liebt Leslie Baruch Brent die Musik von Franz Schubert, Mendelssohn Bartholdy, Brahms. Sie erinnern ihn an sein Elternhaus, seine Kindheit und erwachende Pubertät. Für Jahrzehnte bleiben sie seine einzige Verbindung zu Deutschland nach1945. Während seines sogenannten zweiten Lebens verspürt Leslie Baruch Brent keinen Wunsch, Berlin zu besuchen. 17 O-Ton Brent 0'20 Ich habe immer ein Grauen vor Berlin gehabt als die Stadt, von der meine Eltern, meine Schwester, meine ganze Familie zum Tod geschickt worden sind - das hat mich gegraut, muss ich sagen. Das habe ich jetzt abgelegt, ja, jetzt kann ich sehen, dass Berlin eine wunderbare, schöne und interessante Stadt ist, sehr lebendig in jeder Beziehung. 19 Autorin: 2001 kommt er zum ersten Mal wieder nach Berlin, auf Einladung der Cajewitz- Stiftung, die das jüdische Waisenhaus in Berlin-Pankow kaufte und es sanieren ließ - und die Waisen von damals, die weltweit verstreut leben, nach Berlin einlud. Der damals 76jährige Brent zögert keinen Augenblick, die Einladung anzunehmen. 18 O-Ton Brent 1'29 Ich glaube, für viele Jahrzehnte nach dem Krieg wollten die jüdischen Emigranten in England zum Beispiel nicht über die Vergangenheit sprechen. Das wollten sie nicht. Aber dann, als sie älter wurden, dann haben sie gefunden, dass sie mit ihren Kindern und Enkelkindern und Freunden darüber sprechen wollen. Also, sie haben wieder eine Beziehung zu der Vergangenheit aufgeweckt - und viele wollen immer noch nicht nach Deutschland kommen. Die haben immer noch ein großes Vorurteil gegen die Deutschen und können nicht verstehen, dass die junge deutsche Generation ganz anders ist als die alte, die in der Nazizeit gewesen ist. Aber ich kann das ja ganz leicht tun. Ich kenne viele deutsche Wissenschaftler, die auch Probleme haben. Ich leide an einem Syndrom, das heißt Survivals Gilt - Schuld der Überlebenden - und ich habe gefunden, dass einige von diesen deutschen Wissenschaftlern, nicht jünger als ich, dass sie auch eine Schuld tragen. Das ist eine große Schuld für sie. Vielleicht noch schwerer zu ertragen als meine. Ich kann das sehr gut verstehen. Wenn ich gedacht hätte, dass meine Eltern vielleicht furchtbare Sachen getan hätten, das wäre für mich eine ganz furchtbare elendige Sache. Das ist also für viele jüngere Deutsche eine Schwierigkeit. 20 Autorin: Hat das Alter ihn milde gestimmt? Nein, es ist die Sehnsucht nach einer besseren, gerechteren Welt, sagt Leslie Baruch Brent. Und es ist die Einsicht, dass man die junge Generation nicht für die Fehler der älteren haftbar machen kann. Er ist kein Optimist. Zwar verdankt er sein ganzes Leben der Toleranz und Hilfsbereitschaft vieler Menschen: Sonst wäre sein Weg vom jüdischen Waisenhaus bis zum weltweit gefragten Immunologen undenkbar gewesen. Trotzdem glaubt er nicht an das Gute, an Toleranz und Hilfsbereitschaft, im Menschen. 19 O-Ton Brent 2'08 Es hat damit zu tun, dass wir alle noch sehr primitiv sind in vielen Beziehungen, dass wir immer noch glauben, dass unser Volk oder unsere Fußballmannschaft oder unsere Familie vielleicht viel wichtiger ist als die anderen. Und das muss man überkommen irgendwie, wie, weiß ich nicht. Das muss durch die Erziehung gemacht werden. Rassenhass zum Beispiel gibt es doch überall in der Welt, es gibt auch wieder sehr viel Antisemitismus - der hat ja schon seit Hunderten von Jahren bestanden, aber ich glaube durch die Aktion der israelischen Regierung ist das weiter gefördert worden. Das ist meine Meinung. Nicht jeder Jude hat dieselbe Meinung, aber ich habe die israelische Regierung sehr kritisiert. Die Behandlung der Palästinenser finde ich vollkommen unmenschlich, und ich glaube, dadurch hat sich der Antisemitismus sehr entwickelt in den letzten zehn, 15 Jahren. Also ich bin ziemlich pessimistisch, muss ich sagen, über die Menschheit im Allgemeinen, und es tut mir sehr leid, dass meine Generation der jüngeren Generation so eine schlechte Lage überlassen hat in jeder Beziehung - ob es durch Rassenhass ist oder ob es durch das Erwärmen der Welt ist oder die Atomprobleme. Das sind alles große Probleme, die wir hinterlassen haben, die wir nicht gelöst haben. 21 Autorin: In seinem Schlafzimmer, erzählt Leslie Baruch Brent, hängen Bilder seiner Eltern und seiner Schwester, die um die Zeit seiner Abreise aus Berlin aufgenommen wurden. Jeden Tag sieht er sie an - so sind sie ihm in Erinnerung geblieben. Dass er selbst als einziger überlebt hat, beschäftigt ihn bis heute. Warum er? Inzwischen sagt er: Ich will gern daran glauben, dass mein Überleben in diesem Land ein kleiner Trost für meine Eltern und meine Schwester war. 08 Musik evtl. Brahms, Symphonie Nr. 1 1