Deutschlandradio Kultur Reihe : LITERATUR, 00.05 Uhr Titel : Er wartet heimlich auf das Erwachen - Traum und Literatur Autor : Michael Opitz Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 19.09. 2010 Besetzung : Erzähler Zitator (Grünbein , Bloch, Aragon) Zitator (Benjamin, Müller) Regie : 0-Ton/Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig "Er wartet heimlich auf das Erwachen"- Traum und Literatur" Autor: Michael Opitz Sendedatum: 19. September, 00:05 Uhr Redaktion: Sigried Wesener Erzähler: Zitator: Durs Grünbein/Louis Aragon/Ernst Bloch: Zitator: Walter Benjamin,/Heiner Müller Musik: EST: Winter in Venice, Track 7 Richard Strauss: Vier letzte Lieder (3. Lied) Jan Garbarek: Rites Jan Garbarek: In Praise of Dreams Jan Garbarek: Visible World Traumzitate: "Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt / Und was man geglaubt, es sei geschehn / Kann man von weitem erst kommen sehn." (Novalis) "Die Spraches des Traumes liegt nicht in Worten, sondern unter ihnen." (W. Benjamin) "Der Traum ist das Mutterland der Phantasie." (Jean Paul) "Fürchterlich tief leuchtet der Traum in den von uns gebauten Epikur- und Augiasstall hinein, und wir sehen in der Nacht alle die wilden Grabtiere und Abendwölfe lebendig umherschweifen, die am Tage die Vernunft in Ketten hält." (Jean Paul) "Der Traum ist der Hüter des Schlafs." (S. Freud) "Das träumende Kollektiv kennt keine Geschichte. Ihm fließt der Verlauf des Geschehens als immer nämlicher und immer neuester dahin." (W. Benjamin) Erzähler: Wenn Nyx, die Göttin der Nacht, ihren schwarzen Schleier ausbreitet und Hypnos, der Gott des Schlafes, die Schlafenden in sein Reich führt, wartet bereits sein Sohn Morpheus, der Gott des Traumes, auf die Ankommenden. Morpheus ist ein Verwandlungskünstler, der jede beliebige Gestalt annehmen kann. In immer neuen Varianten irrlichtert dieser Vielgestaltige durch die Träume. Wer träumt, bekommt Besuch von Morpheus, den antike Büsten mit Flügeln an den Schläfen zeigen. Er ist der einzige verlässliche Gast in den Träumen, in denen er in immer neuen Verkleidungen auftritt - manchmal liebreizend, dann wieder frech, schließlich aufdringlich wandelt er durch die Träume. Musik: Jan Garbarek: In Praise of Dreams Erzähler: Dem Träumenden bleibt keine Wahl - für die Dauer eines Traumes muss er die Ungerufenen als seine Gäste akzeptieren. Respektlos - ohne um Einlass zu bitten - nehmen sie die Traumbühne von Novalis, Jean Paul, Sigmund Freud und Walter Benjamin in Besitz. Und der Träumer? Er wird zum Zuschauer in einer Theaterinszenierung und ist ohne Einfluss bei der Rollenvergabe. Der eigentliche Regisseur, der die Traumrollen vergibt, bleibt unerkannt - er arbeitet im Untergrund. Oft muten seine Entscheidungen rätselhaft an. Zwar kann sich der Träumer vornehmen, etwas Bestimmtes träumen zu wollen, aber wenn die Nacht den Schlafenden umfängt, lässt sich der Traum nicht zwingen und geht seinen eigenen Weg. Wenn es Morpheus gefällt, dann entführt er den Träumenden auch in eine verwunschene Unterwasserwelt zur sagenumwobenen Insel Atlantis. Einen solchen Traum erzählt Durs Grünbein in "Die Bars von Atlantis". Zitator D. Grünbein: "Im Traum betrat ich eine geräumige, wenn auch ziemlich trübe, in grünlichem Licht schwimmende Kaschemme. Es war ein unterirdischer Schauplatz, ein Etablissement, buchstäblich zum Abtauchen - a dive, wie es früher im amerikanischen Schundkrimi hieß, wovon auch die Tatsache zeugte, dass vor den Fenstern, riesigen Bullaugenfenstern, Fischschwärme kreuzten, Quallen pulsierend vorüberschwebten. Auch erinnerte die Vegetation draußen mehr an Seetang als an Pinien oder Palmen. Da wußte ich, dass ich mich auf schwankendem Boden befand, in surrealem Gelände. Ich war in eins dieser Nachtlokale geraten, in denen zu allen Zeiten der künstlerische Teil der Bevölkerung zusammenfindet, ein Treffpunkt für Spieler und Literaten. Wie ich näher hinsah, bemerkte ich, dass die Gäste dort allesamt längst Verblichene waren. Seltsam steif saßen sie auf ihren Barhockern, lauter Berühmtheiten der Weltliteratur, wenngleich nicht ganz so wächsern und tot wie die Figuren in Madame Tussauds Kabinett. Unübersichtlich war dieser Raum, vollgestopft mit dem üblichen Plunder der Hafenkneipen [...]. Über dem Tresen hing ein Bibelspruch: ,Der Mensch ist ein Fremdling auf dieser Welt.' Zumindest darüber herrschte Einigkeit unter den untoten Dichtern, die dort unten, jeder in seine Aura der Einsamkeit gehüllt, beieinander hockten. Sie verständigten sich in einer Sprache, die schwer nach Hebräisch klang. Es bringt wenig, sie alle aufzuzählen; es war eine gute Auswahl der schriftstellerischen Prominenz aller Zeiten, wie jeder halbwegs Belesene sie aufstellen könnte. [...] Der Traum hatte einen Sprung, und so gab es in diesem naiven Tableau vivant die immergleichen Szenen, in denen Platoniker und Aristoteliker sich die Hände reichten, über ganze Kulturepochen hinweg, die Wassertrinker, die Opiumraucher und die Alkoholiker vor dem Herrn, die mit dem Tiefenrausch und die mit Gipfelfieber. Es waren auch Frauen darunter, dass Haar streng zum Zopf gebunden oder solche mit Kurzhaarschnitt, und ein Blinder (Grieche oder Argentinier) bildete den Mittelpunkt einer separaten Symposiumsrunde. Ehemalige Duellanten, gegenseitige Kritiker und Verächter saßen im angeregten Gespräch bei allerlei geistigen Getränken. Um es kurz zu machen, ich schaute in ein Unterwassermuseum. Es war dies eine der Bars von Atlantis." (D. Grünbein: Die Bars von Atlantis) Erzähler: Gern würde man diesen Traum nachträumen, um die Dichter zu sehen, die in dieser Bar zusammengefunden haben. Wer wäre in der rauchigen Atmosphäre zu erkennen? Vielleicht Homer, der sich mit Shakespeare unterhält, während beide von Brecht beobachtet werden, der sich gerade dem Tisch nähert, an dem die Sappho sitzt? Die wiederum will Kontakt mit Else Lasker-Schüler aufnehmen, der Samuel Beckett Feuer gibt. Zu gern würde Beckett James Joyce etwas fragen, aber Joyce diskutiert so intensiv mit Franz Kafka, dass er sich zurückhält und zu E.T.A. Hoffmann geht, der eben dabei ist, für sich und Ingeborg Bachmann noch eine Flasche Wein zu bestellen. Möglich, dass Max Frisch deshalb so eifersüchtig dreinschaut, obwohl doch die Günderrode an seiner Seite sitz. All' diese Berühmtheiten finden erst als Tote und im Traum zueinander. Was zu Lebzeiten unmöglich war, gelingt im Traum. Nun, da sie nicht mehr schreiben, jedenfalls kommt nichts Schriftliches von dort unten zu den Lebenden nach oben, könnte es sein, dass die literarischen Berühmtheiten ihre Zeit in der Bar von Atlantis damit verbringen, sich ganz entspannt ihre Träume zu erzählen? Erzähler: In dieser Atlantisbar könnten sich auch Ernst Bloch, Walter Benjamin und Heiner Müller treffen. Benjamin lernte Bloch 1918 in Bern kennen, wo er mit einer Arbeit über den "Begriff der Kunstkritik in der Romantik" promovierte. Bloch wusste Benjamin mit seinem Debüt "Geist der Utopie" zu beeindrucken. Zu der Zeit war Heiner Müller noch nicht geboren, der beide erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schätzen lernte. Die drei sind Traumspezialisten. Walter Benjamin, 1892 geboren, bezieht sich in seinem "Passagen-Werk" auf den Traum; Ernst Bloch, sieben Jahre älter als Benjamin, konzentriert sich in "Das Prinzip Hoffnung" auf die utopische Kraft von Tagträumen und der 1929 geborene Heiner Müller dachte daran, ein Traumbuch zu schreiben. Träume, die ihnen wichtig waren, haben sie notiert. Was dabei zu beachten ist, hat Walter Benjamin in seinem 1928 erschienenen Buch "Einbahnstraße" festgehalten. Der Text mit der Überschrift "Frühstücksstube" liest sich wie eine Gebrauchsanweisung für den Umgang mit Träumen: Zitator Benjamin: "FRÜHSTÜCKSSTUBE Eine Volksüberlieferung warnt, Träume am Morgen nüchtern zu erzählen. Der Erwachte verbleibt in diesem Zustand in der Tat noch im Bannkreis des Traumes. Die Waschung nämlich ruft nur die Oberfläche des Leibes und seine sichtbaren motorischen Funktionen ins Licht hinein, wogegen in den tieferen Schichten auch während der morgendlichen Reinigung die graue Traumdämmerung verharrt, ja in der Einsamkeit der ersten wachen Stunde sich festsetzt. Wer die Berührung mit dem Tage, sei es aus Menschenfurcht, sei es um innerer Sammlung willen, scheut, der will nicht essen und verschmäht das Frühstück. Derart vermeidet er den Bruch zwischen Nacht- und Tagwelt. Eine Behutsamkeit, die nur durch die Verbrennung in konzentrierte Morgenarbeit, wenn nicht im Gebet, sich rechtfertigt, anders aber zu einer Vermengung der Lebensrhythmen führt. In dieser Verfassung ist der Bericht über Träume verhängnisvoll, weil der Mensch, zur Hälfte der Traumwelt noch verschworen, in seinen Worten sie verrät und ihre Rache gewärtigen muß. Neuzeitlicher gesprochen: er verrät sich selbst. Dem Schutz der träumenden Naivität ist er entwachsen und gibt, indem er seine Traumgesichte ohne Überlegenheit berührt, sich preis. Denn nur vom anderen Ufer, von dem hellen Tage aus, darf Traum aus überlegener Erinnerung ansgesprochen werden. Dieses Jenseits vom Traum ist nur in einer Reinigung erreichbar, die dem Waschen analog, jedoch gänzlich von ihm verschieden ist. Sie geht durch den Magen. Der Nüchterne spricht von Traum, als spräche er aus dem Schlaf." (W. Benjamin: Einbahnstraße) Erzähler: Der Versuch, die bizarre Bildkraft des Geträumten in Worte zu übersetzen, ist zum Scheitern verurteilt, weil Träume selten eine logische Struktur aufweisen. Oft sind sie wild, verworren und gänzlich ungezügelt, denn der Traum akzeptiert keine Vernunftfesseln. Beinahe spielend nimmt er alle Hürden, die ihm die Logik in den Weg stellen will - ums Verstehen kümmert er sich nicht. Im Traum ist alles möglich, selbst das Unwahrscheinlichste. Deshalb sind Traumerzählungen, die ordnend eingreifen wollen, wo im Traum Chaos herrscht, nur ein schwacher Abglanz des Erlebten. Das erinnert an Siegmund Freuds Traumanalyse, die Benjamin kannte. Der Vater der Psychoanalyse war sich sicher, dass selbst der sinnloseste Traum noch einen hintergründigen Sinn besitzt. Diesem verborgenen Sinn kommt der Psychoanalytiker dann auf die Spur, wenn er den Traum zunächst kommentiert. Danach soll der Trauminhalt assoziativ ausgelegt werden, wobei der eigentliche Traum durch den Kommentar eine Erweiterung erfährt. Erst dann beginnt die Traumdeutung bei der es Freud für möglich hält, dass vom Trauminhalt auf die "latenten" Traumgedanken geschlossen werden kann. Dieses hermeneutische Prinzip liegt auch Benjamins Überlegungen zu Grunde: Zitator Benjamin: "Die Sprache des Traumes liegt nicht in Worten, sondern unter ihnen. Die Worte sind im Traum Zufallsprodukte des Sinns, welcher in der wortlosen Kontinuität eines Flusses liegt. Der Sinn ist in der Traumsprache versteckt nach Art einer Figur in einem Vexierbild. Es ist sogar möglich, daß der Ursprung der Vexierbilder in solcher Richtung zu suchen ist, sozusagen als Traumstenogramm." (W. Benjamin) Erzähler: Freud hat seine Traumtheorie um 1900 entwickelt. Wenige Jahre zuvor hatte das Kino das Licht der Welt erblickt. Wenn es dunkel wird, kommen die Traum- und Kinobilder in Bewegung. Beide Bilderwelten sind gleich flüchtig, sie verschwinden, wenn das Licht angeht. Diesem Medium stand Freud zwar skeptisch gegenüber, aber er hat stets den Bildwert der Träume betont und mehrfach darauf verwiesen, welche Bedeutung Bilderrätsel für die Traumdeutung besitzen. Der Rebus, bei dem Bilder in Worte übersetzt werden, erscheint Freud als ein wichtiger Schlüssel, um in die Welt der Träume vordringen zu können. Nach Worten für ihre Traumbilder haben auch die Surrealisten gesucht. Dichtern wie André Breton und Louis Aragon galt der Traum als eine unverzichtbare Inspirationsquelle ihrer Literatur. In Louis Aragons Buch "LE PAYSAN DE PARIS" von 1926 erweist sich eine Pariser Passage als das ultimative Refugium der träumenden Surrealisten: Zitator: "Ich verkündige der Welt die hehre Botschaft: Soeben ist uns ein neues Laster entstanden, ein Taumel mehr ist dem Menschen gegeben: der Surrealismus, Sohn des Wahnsinns und der Finsternis. Hereinspaziert, hier werden augenblicklich neue Reiche erschlossen. Die aus tausendundeiner Nacht erwachten Schläfer, die Erleuchteten und die Verzückten, wie werden sie euch, die modernen Haschischraucher, beneiden." (L. Aragon: Pariser Landleben; übersetzt von Rudolf Wittkopf) Erzähler: Walter Benjamin konnte in Aragons Buch immer nur wenigen Seiten lesen, weil er um sein Herz fürchtete. Das fing immer intensiver zu schlagen an, je mehr er sich auf das Buch einließ. In seinem 1929 erschienenen Aufsatz "DER SÜRREALISMUS" geht Benjamin auch auf die Traumerlebnisse der Surrealisten ein: Zitator Benjamin: "Damals [...], als [der Surrealismus] in Gestalt einer [...] Traumwelle über seine Stifter hereinbrach, schien er das Integralste, Abschließendste, Absoluteste. Alles, womit er in Berührung kam, integrierte sich. Das Leben schien nur lebenswert, wo die Schwelle, die zwischen Wachen und Schlaf ist, in jedem ausgetreten war, wie von Tritten massenhafter hin und wider flutender Bilder, die Sprache nur sie selbst, wo Laut und Bild und Bild und Laut mit automatischer Exaktheit derart glücklich ineinandergriffen, daß für den Groschen ,Sinn' kein Spalt mehr übrigblieb. Bild und Sprache haben den Vortritt. Saint-Pol-Roux befestigt, wenn er gegen Morgen sich zum Schlafe niederlegt, an seiner Tür ein Schild: Le poéte travaille [Der Dichter arbeitet]. [...] Im Weltgefüge lockert der Traum die Individualität wie einen hohlen Zahn. Diese Lockerung des Ich durch den Rausch ist eben zugleich die fruchtbare, lebendige Erfahrung, die diese Menschen aus dem Bannkreis des Rausches heraustreten ließ." (W. Benjamin: Der Sürrealismus) Erzähler: Lange vor den Surrealisten entdecken die Romantiker, dass zur Nacht Wesen und Erscheinungen gehören, die der Vernunft nicht gehorchen wollen. Novalis, Wackenroder oder Tieck interessieren sich für die Dunkelzonen des Daseins. Ihre Aufmerksamkeit gehört der Nacht. Sie räumen der Traumwelt einen gleichberechtigten Platz neben der Wachwelt ein. "Der Traum wird Welt, die Welt wird Traum", heißt es bei Novalis. Mit dieser Aufwertung des Traumes stoßen die Romantiker jenes Fenster auf, dass den Blick auf eine bisher so nicht gesehene Welt frei gibt. Benjamin erinnert an diese geistesgeschichtliche Zäsur um 1800, wenn er 125 Jahre später in der Glosse "Traumkitsch" schreibt: Zitator Benjamin: "Es träumt sich nicht mehr recht von der blauen Blume. Wer heut als Heinrich von Ofterdingen erwacht, muß verschlafen haben. Die Geschichte des Traumes bleibt noch zu schreiben und Einsicht in sie eröffnen, hieße, den Aberglauben der Naturbefangenheit durch die historische Erleuchtung entscheidend schlagen. Das Träumen hat an der Geschichte teil. Die Traumstatistik würde jenseits der Lieblichkeit der anekdotischen Landschaft in die Dürre eines Schlachtfeldes vorstoßen. Träume haben Kriege befohlen und Kriege vor Urzeiten Recht und Unrecht, ja Grenzen der Träume gesetzt. Der Traum eröffnet nicht mehr eine blaue Ferne. Er ist grau geworden." (W. Benjamin: Traumkitsch) Erzähler: Was Benjamin den rückwärtsgewandten Träumern ins Traumbuch schreibt, klingt wie ein Weckruf. Träumer, die in eine blaue Ferne flüchten, verschlafen nicht nur die Gegenwart, sondern sie müssen damit rechnen, böse Überraschungen zu erleben, wenn sie erwachen. Der spanische Maler Francisco de Goya hat auf einem seiner Caprichos mit dem Titel "Schlaf oder Traum der Vernunft" die Ungeheuer festgehalten, die mit sehr wachen Augen auf einen Schlafenden zufliegen. Die Vernunft darf nicht schlafen. Wach sein erweist sich als ein Erfordernis jeder Gegenwart. Doch jede Zeit hat auch das Recht zu träumen. Das Interesse Walter Benjamins ist deshalb sowohl auf den Traum als auch auf das Erwachen gerichtet. "Der Traum wartet auf das Erwachen" und das Erwachen selber ist ein "spezieller Fall" des Erinnerns. Über die "Technik des Erwachens" schreibt Benjamin im "PASSAGEN-WERK": Zitator Benjamin: "Die neue dialektische Methode der Historik präsentiert sich als die Kunst, die Gegenwart als Wachwelt zu erfahren, auf die sich jener Traum, den wir Gewesenes nennen, in Wahrheit bezieht. Gewesenes in der Traumerinnerung durchzumachen! - Also: Erinnerung und Erwachen sind aufs engste verwandt." Erzähler: Benjamin versteht Erwachen als einen historischen Vorgang. Hintergrund dieser Überlegungen sind die Ereignisse in Deutschland, die ihn 1933 zwangen, ins Exil zu gehen. Während er in Paris im Lesesaal der Pariser Bibliothéque Nationale an seinem "PASSAGEN-WERK" arbeitet, erobert die deutsche Wehrmacht nach und nach den europäischen Kontinent. Wer staunt, dass so etwas möglich ist, hat die Zeit verschlafen. Zitator Benjamin: "Das kommende Erwachen steht wie das Holzpferd der Griechen im Troja des Traumes." (Walter Benjamin) Musik: Jan Garbarek: Rites Erzähler: Wer die Zeit verschläft, kann sich nicht damit herausreden, dass der Traum so schön war. Erwachen heißt, sich der eigenen Lage bewusst zu werden. Träume besitzen aber auch ein utopisches Potential. Das hat die Tagträume für Ernst Bloch so interessant gemacht. Bloch hätte seinen Freund Benjamin in der Bar von Atlantis auf sein zwischen 1938 und 1947 im amerikanischen Exil entstandenes Hauptwerk "DAS PRINZIP HOFFNUNG" verwiesen. Ursprünglich sollte das Buch, für das sich in Amerika kein Verleger fand, "TRÄUME VOM BESSEREN LEBEN" heißen. Der erste von insgesamt drei Bänden erschien 1954 im Ostberliner Aufbau Verlag. Zu diesem Zeitpunkt war Benjamin bereits 14 Jahre tot. Zitator Bloch: "Die Menschen träumen nicht nur nachts, durchaus nicht. Auch der Tag hat dämmernde Ränder, auch dort sättigen sich Wünsche. Anders als der nächtliche Traum zeichnet der des Tages frei wählbare und wiederholbare Gestalten in die Luft, er kann schwärmen und faseln, aber auch sinnen und planen. Er hängt auf müßige Weise (sie kann jedoch der Muse und der Minerva nahe verwandt werden) Gedanken nach, politischen, künstlerischen, wissenschaftlichen. Der Tagtraum kann Einfälle liefern, die nicht nach Deutung, sondern nach Verarbeitung verlangen, er baut Luftschlösser auch als Planbilder und nicht immer nur fiktive." (E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung) Erzähler: Bloch richtet dem Traum im Begriffshaus der Philosophiegeschichte ein mit vielen Fenstern versehenes Zimmer ein. Ihn interessieren die Träume, die nach vorn geträumt werden. Diese Träume sind in dem Zwischenraum beheimatet, der sich zwischen dem Noch-nicht und dem verbesserungswürdigen Jetzt auftut. Der Tagträumer entwirft Luftschlösser, weil ihm die realen Unterkünfte zu schäbig sind. Er bezieht seine Traumenergien aus dem Ungenügen am Bestehenden. Weil etwas fehlt, wird in den Tagträumen vom besseren Leben geträumt. Blochs Tagträume haben eine sehr dynamische Seite, denn der Tagträumer macht sich stets dorthin auf, wo er gern sein würde. Vier Punkte benennt Bloch, die den Wachtraum vom nächtlichen Traum unterscheiden. Zitator Bloch: "Erstens hat [...] der wache Traum an sich, nicht drückend zu sein. Er steht in unserer Macht, das Ich startet eine Fahrt ins Blaue, stellt sie ein, wann es will. So entspannt der Träumer hier auch sein mag, er wird von seinen Bildern nicht verschleppt und überwältigt [...]. Zweitens ist das Ego im Tagtraum lange nicht so geschwächt wie im Nachttraum, trotz der Entspannung, die auch hier statthat. Selbst in der passivsten Form, wo das Ich seinen Träumereien lediglich nachhängt oder nachsieht, sieht es ihnen recht intakt nach, bleibt im Zusammenhang seines Lebens und seiner Wachwelt. [...] Das Ich des wachen Traums mag so weit werden, daß es andere mit vertritt. Damit ist der dritte Punkt erreicht, der Tag- und Nachtträume unterscheidet: menschliche Breite unterscheidet sie. Der Schläfer ist mit seinen Schätzen allein, das Ego des Schwärmers kann sich auf andere beziehen. Ist das Ich dergestalt nicht mehr introvertiert oder nicht nur auf seine nächste Umgebung bezogen, so will sein Tagtraum öffentlich verbessern. [...] Viertens versteht es der wache, also offene Traum, nicht entsagend zu sein. Er lehnt es ab, fiktiv satt zu werden oder auch nur Wünsche zu vergeistigen. Die Tagphantasie startet wie der Nachttraum mit Wünschen, aber führt sie radikal zu Ende, will an den Erfüllungsort." (E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung) Erzähler: In den Tagträumen wird vom Möglichen geträumt, was ihre Dynamik ausmacht. Sie überschreiten die realen Grenzen und dringen bereits dorthin vor, wohin man erst in der Zukunft gelangen will. Insofern schwingt in den Tagträumen ein enormes Hoffnungspotential mit. Doch es gibt keine Garantie dafür, dass sich das Hoffen erfüllt. Zwar steht die Hoffnung mit dem Werden im Bunde aber sie kann, wie Bloch es formuliert hat, enttäuscht werden. 1. O-Ton Ernst Bloch: "Utopien traten lange Zeit ausschließlich als gesellschaftliche Utopien auf: Träume von einem besseren Leben. [...] Die ,optima res publica' - der beste Staat - ist bei Thomas Morus als Ziel gesetzt. Also eine Veränderung der Welt zur größten Ermöglichung von Glück, von sozialem Glück. Es ist nicht so, daß die Utopien ohne Fahrplan wären. Utopien sind in ihrem Inhalt von den gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig. [...] Campanella, hundert Jahre später, [...] setzt dieses Gegenspiel zur Freiheit. Er sagt: Alle Verhältnisse können nur in Ordnung gebracht werden, wenn die größtmögliche Ordnung herrscht, wenn alles ,ins Lot kommt', wie der sehr sinnige Ausdruck bekanntlich lautet. Das Ziel aber bei beiden ist immer das Traumreich, das mehr oder minder objektiv fundierte oder im Traum zumindest fundierte und nicht ganz sinnlose Tagtraumreich eines besseren gesellschaftlichen Lebens." Erzähler: Der Tagt- oder Wachtraum besitzt utopisches Potential, weil in ihm Möglichkeiten entworfen werden. Der Tagträumer ist ein wacher Beobachter der Gegenwart, von der er sich nicht abwendet. Während der Nachtträumer ein Stelldichein mit Morpheus hat, wird der Tagträumer von der Hoffnung begleitet. Sie führt ihn in jene Landschaften, in denen ein besseres Leben als "echte Zukunft" Konturen annimmt. Er braucht diese Begegnung mit dem Noch-nicht, damit er in die Gegenwart hinein entwerfen kann, was noch werden soll. Zitator Bloch: "Bedeutende Tagtraumphantasiegebilde machen keine Seifenblasen, sie schlagen Fenster auf, und dahinter ist die Tagtraumwelt einer immerhin gestaltbaren Möglichkeit. Unterschiede zwischen den beiden Traumarten bestehen also auch an diesem Ende genug; Weise wie Inhalt der Wunscherfüllung gehen in ihnen ununterschlagbar auseinander. Das macht immer wieder: der Nachttraum lebt in Regression, er wird in seine Bilder wahllos hineingezogen, der Tagtraum projiziert seine Bilder in Künftiges, durchaus nicht wahllos, sondern noch bei ungestümster Einbildungskraft dirigierbar, mit objektiv Möglichem vermittelbar. Der Inhalt des Nachttraums ist versteckt und verstellt, der Inhalt der Tagphantasie ist offen, ausfabelnd, antizipierend, und sein Latentes liegt vorn. Er kommt selber aus Selbst- und Welterweiterung nach vorwärts her, ist Besserhabenwollen, oft Besserwissenwollen durchaus." (E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung) Erzähler: In seinen weltverbessernden Phantasien und seinem utopischen Potential weist der Tagtraum Parallelen zum Kunstwerk auf. Wie der Traum sind die bleibenden Kunstwerke mit dem Kommenden im Bunde. Im Traum wird wie im Kunstwerk improvisiert. Doch anders als der Traum kann das Kunstwerk im Entstehungsprozess verändert werden. Solche Korrekturen kann der Träumende an seinen Träumen nicht vornehmen. Fliehen kann er aus bedrängenden, Angst erzeugenden Träumen nur, wenn er aufwacht. Der Traum aber entzieht sich geschickt jeder Kontrolle und akzeptiert keinerlei Zensur. Die Vernunft, die sonst das Denken und Handeln bestimmt, hat im Traum wenig zu sagen. Vielmehr muss sie akzeptieren, dass das Unvernünftige, Unlogische sich vehement in den Träumen zu Wort meldet. In solchen Träumen wird der Träumende mit Wort- und Bildeskapaden konfrontiert, die in der Kunst den Avantgarden zugerechnet werden. Musik: Jan Garbarek: Visible World Erzähler: Walter Benjamin und Ernst Bloch haben das utopische Potential des Traums betont. Träume, in denen Wunsch und Hoffnung zueinander finden, beziehen ihre Energien aus dem Unfertigen. Bloch und Benjamin orientieren sich mit dieser Traumbeschreibung zwar auf die Zukunft, allerdings verfallen sie keinem naiven Fortschrittsoptimismus. Benjamin spricht in den Thesen "ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE" vom Engel der Geschichte, der von einem Wind, dem Fortschritt, aus dem Paradies in die Zukunft getrieben wird. Er fliegt rückwärts und kann nur sehen, was hinter ihm liegt. Dieses Geschichtsverständnis, das den Fortschritt in der Katastrophe definiert, hat Heiner Müller an Benjamins Geschichtsphilosophie interessiert, wobei er Benjamin vor dem Hintergrund des Blochschen Hoffnungsprinzips liest. Aus diesem Grund hat auch er ein verständliches Interesse an dem Gespräch in der Bar von Atlantis. In seinem Text "DER GLÜCKLOSE ENGEL" nimmt er den Dialog mit dem Benjaminschen Angelus Novus auf. Sein Engel wartet, hofft und träumt von Geschichte. 2. O-Ton Heiner Müller: DER GLÜCKLOSE ENGEL. Hinter ihm schwemmt Vergangenheit an, schüttet Geröll auf Flügel und Schultern, mit Lärm wie von begrabnen Trommeln, während vor ihm sich die Zukunft staut, seine Augen eindrückt, die Augäpfel sprengt wie ein Stern, das Wort umdreht zum tönenden Knebel, ihn würgt mit seinem Atem. Eine Zeit lang sieht man noch sein Flügelschlagen, hört in das Rauschen die Steinschläge vor über hinter ihm niedergehn, lauter je heftiger die vergebliche Bewegung, vereinzelt, wenn sie langsamer wird. Dann schließt sich über ihm der Augenblick: auf dem schnell verschütteten Stehplatz kommt der glücklose Engel zur Ruhe, wartend auf Geschichte in der Versteinerung von Flug Blick Atem. Bis das erneute Rauschen mächtiger Flügelschläge sich in Wellen durch den Stein fortpflanzt und seinen Flug anzeigt." Erzähler: Im Nachlaß von Heiner Müller hat sich eine Mappe mit dem Titel "Traumbuch" gefunden, die unter anderem Traumprotokolle enthält, die Müller zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 1952 aufgezeichnet hat. Diese Texte sind 2009 zusammen mit anderen Traumtexten in einem eigenständigen Band erschienen. Sie bilden - wie der Herausgeber, Gerhard Ahrens, betont - den Grundstock für ein Traumbuch, das Müller schreiben wollte. In einem Gespräch äußert sich Müller 1981: Zitator Müller: "Im Augenblick interessiere ich mich sehr für meine Träume und versuche sie manchmal wenigstens zu notieren. Die Hauptarbeit, scheint mir, besteht darin, daß man seine Träume beim Schreiben einholt, was unmöglich ist. Man kann sie nie so präzise und zugleich so komplex notieren, wie man sie träumt." (H. Müller) Erzähler: Der Traum ist ein Refugium für Phantasierzeugung. Im Entwerfen und Ausmalen von wunderbaren aber auch dämonischen Ereignissen ist der Traum kaum zu übertreffen. Spielend fügen sich im Traum die verschiedenen Handlungsstränge und Bildkompositionen. Kühne Sprünge, gewagte Verschiebungen haben etwas Selbstverständliches, Figuren treten unvermittelt und ohne jegliche Vorankündigung in Erscheinung, um im nächsten Moment auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Die Surrealisten haben nach Ausdrucksmöglichkeiten gesucht, solche Vorgänge in Sprache zu übersetzen. Wie kaum einem anderen ist es Franz Kafka gelungen, seine Träume in Sprache zu übertragen. Beide hätte Heiner Müller gern beerbt: Zitator Müller: "Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das [...] Niveau seiner Träume zu kommen. Das geht nur, wenn er nicht interpretiert, was er hervorbringt. Ich schreibe mehr, als ich weiß. Ich will nicht nachdenken über das, was ich mache." (H. Müller) Erzähler: Müller versteht das eigene Schreiben als Überwindungsstrategie, bei der es gilt, die gestalterische Kraft der eigenen Träume zu erreichen. Hierbei handelt es sich um einen zentralen Gedanken seiner Poetologie, auf den er in seiner Autobiographie "KRIEG OHNE SCHLACHT" noch einmal zurückkommt: Zitator Müller: "Mich hat immer die Erzählstruktur von Träumen interessiert, das Übergangslose, die Außerkraftsetzung von kausalen Zusammenhängen. Die Kontraste schaffen Beschleunigung. Die ganze Anstrengung des Schreibens ist, die Qualität der eignen Träume zu erreichen, auch die Unabhängigkeit von Interpretation." (H. Müller) Erzähler: Scheinbar mühelos hat Franz Kafka diese Diskrepanz zu überwinden gewusst. Er ließ sich von der Schrift keine Zügel anlegen, wenn er seine Traumlandschaften in Literatur übertrug. Für Müller besteht eben darin die eigentliche Herausforderung der Literatur - wie gelingt es, die Architektur der Träume in die Sprache der Dichtung zu übertragen. In "Traumtext. Die Nacht der Regisseure" bildet dieser poetologische Ansatz das Zentrum der Geschichte: Zitator Müller: "[,Traumtext'] versucht den Traum zu beschreiben. Die Beschreibung kann nur eine Fortschreibung sein, eine Fälschung. Der Zwang, die Flucht der Bilder als Folge darzustellen, wie tote Falter im Schaukasten, ergibt die Lebenslüge des Zusammenhangs, die Illusion der Bedeutung. Der Traum arbeitet mit anderm Material als dem schreibenden Bewußtsein zur Verfügung steht. Schon die Farben, die der Text den Bildern aufträgt, sind Interpretation, Schutz gegen den Sog, der von der andern Wirklichkeit des Traums ausgeht, die Strahlkraft seiner Bilder, das Vernichtungspotential seiner Dunkelzonen, in dem vielleicht seine Heilkraft beruht. Auch der Kommentar nur eine Ausflucht, Angst um die eingebildete Souveränität des Autors, die der Traum allnächtlich in Frage stellt." (H. Müller: Traumtext) Erzähler: Während die Traumbilder kein Vernunftkorsett dulden, ist die Traumerzählung versucht, die Traumbilder zu ordnen und in eine logische Abfolge zu bringen. Heiner Müller hat in den achtziger Jahren Traumprotokolle notiert, denen man anmerkt, dass sie weder nachträglich interpretiert noch bearbeitet worden sind. Sehr unmittelbar hält er fest, was er geträumt hat und beschränkt sich bei der Protokollierung auf das Faktische. Ein Protokoll hält folgenden Traum fest: Zitator Müller: "Aufwachen in / Ich wache auf in einer unbekannten Landschaft / (mein Gedächtnis ist ausgelöscht). Vielleicht / bin ich gerade geboren / mein Geburtsort .. / Ort/Schauplatz meiner Geburt od[er] m[eines] Todes / von einer Mutter keine Spur." (H. Müller) Erzähler : Der Träumer ist unsicher, ob er von seiner Geburt oder von seinem Tod träumt - von einer Mutter jedenfalls findet sich keine Spur. Mit Sicherheit weiß er hingegen, dass sein Gedächtnis ausgelöscht ist. Die Verluste, die im Traum dominieren, werden im Traum an keiner Stelle interpretiert. Alles ist verloren: das Gedächtnis, die Mutter, das eigene Leben. Von Verlustangst handelt auch Müllers "TRAUMTEXT OKTOBER 1995". Die Geschichte, die auf verschiedenen Träumen basiert, hat Müller kurz vor seinem Tod im Dezember 1995 geschrieben. Darin beschreibt er, was ihm Angst macht. Die beschriebene Situation erinnert in ihrer Ausweglosigkeit an die Erzählung "DER VATER". Zitator Müller: "TRAUMTEXT OKTOBER 1995 Ich gehe, meine Tochter, sie ist zwei Jahre alt, in einem aus Bambus geflochtenen Korb auf dem Rücken, einen schmalen Betonstreifen ohne Geländer am Rand eines riesigen Wasserbeckens entlang, rechts oder links, je nach der Richtung meines Rundgangs (die einzige Wahl, die ich habe), eine unersteigbar hohe Wand, die ebenfalls aus Beton besteht. Die Wand ist lückenlos, kein Ausstieg aus dem Kessel, ein Rätsel und der Steg so schmal, daß meine rechte oder linke Schulter den Beton streift, wenn mein Schritt, aus Furcht vor dem Wasser, das keinen sichtbaren Grund zeigt, unsicher wird. Bei jedem Richtungswechsel, ich weiß nicht, wie viele Runden ziellos hin und her ich schon gegangen bin, wenn ich die Fingernägel in den Beton kralle, um gegen das Schwanken des Bambuskorbs auf meinem Rücken, in dem das Kind sich bewegt, das Gleichgewicht zu halten, fällt mein Blick auf eine Nebelwand, die unsern Kessel einschließt und die Außenwelt meiner Sicht entzieht. Warum ich nicht stehen bleibe, statt meine Beine zu ermüden. Warum ich mich nicht hinsetze, um auszuruhn, den Korb im Schoß und in den Armen. Warum ich mich nicht hinlege, um ein wenig zu schlafen, den Korb auf der Brust. Mein im Schlaf ruhigerer Atem, der den Brustkorb hebt und senkt, könnte das Kind in seinen Schlaf wiegen. Ich darf nicht stehen bleiben, müde wie ich bin, oder mich hinsetzen, um auszuruhn. Ich darf nicht schlafen. Ich könnte im Wasser aufwachen, der Korb neben mir mit dem vielleicht schon ertrunkenen Kind." (H. Müller) Erzähler: Der Schlafende, der wach ist im Traum, träumt davon, sich schlafen zu legen. Aus dem Kessel, in dem er gefangen ist, gibt es kein Entkommen. Zitator Müller: "Die Ahnung, oder ist es schon eine Gewißheit, daß ich an diesem Leben nicht mehr teilnehmen werde, bzw. der reißende Schmerz, mit dem mein schlafsüchtiger Körper die Gewißheit aufnimmt, bewegt mich zum nächsten sinnlosen Rundgang um das schwarze Wasser, das keinen Grund verrät. Im Gehen über die Schulter zurückblickend sehe ich im zwölften oder dreizehnten Stock des einsamen Hochhauses, auf einer Terrasse, unter einem Sonnenschirm, in einem Liegestuhl einen Mann sterben. [...] Mein zu langer Blick auf den Sterbenden im Liegestuhl muß meinen schritt verwirrt haben, wie durch einen Filmschnitt bin ich in das grundlose Wasser gestürzt, sehe im Auftauchen mit Erleichterung, daß der Bambuskorb mit meiner Tochter schief über mir auf dem Betonstreifen steht und mit Angst, daß sie versucht, aus dem Korb herauszukriechen, die Augen auf mir, der aus dem Wasser nicht heraus kann, der Betonrand zu hoch, BLEIB WEG VON MIR DER DIR NICHT HELFEN KANN mein einziger Gedanke, während ihr fordernd vertrauender Blick mir hilflosem Schwimmer das Herz zerreißt." (H. Müller) Erzähler: Zu diesem Traumtext existieren zwei Traumprotokolle und ein weiterer Entwurf, der den Übergang vom Traum zum Text verdeutlicht. Die beiden Traumprotokolle sind sehr kurz, Müller hat nur das Handlungsgeschehen des Traums festgehalten. Zitator Müller: "Traum 4./5.[Oktober] Ufermauer Anna / ich falle ins Wasser / no chance wieder herauszukommen / getrennt v[on] A[nna] durch anderes /Element / vorher Blick auf Hochhaus -/ Balkon (Terrassen): Männer / sonnen sich. Einer wird / ermordet werden." (H. Müller) Erzähler: Dieser Traum bildet das Grobgerüst für "TRAUMTEXT OKTOBER 1995". Ob Müller im Traum bereits mehr durchlebt hat, und dieses Gerüst nur aufschrieb, um sich bei der Arbeit am Text an den Traum erinnern zu können, lässt sich nicht sagen. Die Grenzen zwischen Traum und Text sind nicht eindeutig zu bestimmen. "TRAUMTEXT OKTOBER 1995" handelt wie der Prosatext "DER VATER" von Verrat. Der Mann in "TRAUMTEXT" vermag seiner Tochter kein Vater zu sein, - er kann sie nicht beschützen. Es handelt sich um die Wiederholung einer Erfahrung. Müller beschreibt in "DER VATER", wie er sich enttäuscht von seinem schwachen Vater abwendet. Nun, da er selbst Vater ist, ist auch er zu schwach, um seine Tochter beschützen zu können. Der Traum wird zum Albtraum. Wenn seine Tochter überleben will, darf sie nicht seine Nähe suchen. Ihr Blick fordert, worauf sie ein Recht hat, doch er trifft einen Hilflosen. Musik: Jan Garbarek: In Praise of Dreams Erzähler: Durs Grünbein hat in seinem Traum zum Besuch einer Bar in Atlantis eingeladen. Der Traum war ein Angebot, ihn weiterzuträumen und sich drei Männer vorzustellen, die in dieser Bar - an einem Tisch sitzend - über den Traum diskutieren. Ein Treffen, das nur im Traum stattfinden konnte. In diesem Traum sind Tote zu neuem Leben erweckt worden, damit sie - wie es Heiner Müller einmal beschrieben hat - hergeben, was mit ihnen begraben wurde. Kurz bevor Heiner Müller 1995 in Berlin starb, war er Gast der Getty Foundation in Santa Monica. Dort hielt sich zwischen 1992 und 1993 auch Christa Wolf auf. Ihr Roman "STADT DER ENGEL ODER THE OVERCOAT OF DR. FREUD" spielt in Santa Monica. Ausgangspunkt der Handlung bildet eine Leerstelle im Gedächtnis der Autorin. Nachdem sie in der Gauck-Behörde die 42 Ordner gelesen hat, die die Staatssicherheit über sie anlegen ließ, wird ihr eine schmale Täterakte offeriert. Sie ist entsetzt, weil sie nicht erinnern kann und hat gleichzeitig das Gefühl, als wäre sie in einem bösen Traum gefangen. 3. O-Ton Ch. Wolf: "Ich selbst war erschrocken darüber, als ich dieses kleine Faszikel, das die Stasi als sogenannte "Täterakte" angelegt hatte - übrigens ein unmögliches Wort, genauso wie "Opferakte" unmöglich ist - und da war ich schon erschrocken auch und gerade, dass ich es vergessen hatte." Erzähler: Die Frage, wie sie diesen Vorgang vergessen konnte, zieht sich durch den Roman. Am Tag liest sie die Zeitungsberichte, die sie per Fax in Santa Monica erreichen und nachts, wenn sie allein ist in der fremdem Stadt, wird sie in intensive Träume hineingezogen, die etwas Bedrohliches haben: Gliedmaßen werden ihr Scheibchenweise abgetrennt, sie muss eine dunkle Wasserfläche durchqueren, die von einem roten Mond beleuchtet wird und es ist ihr unmöglich, das Ufer zu erreichen, schließlich erstarren ihr in einem anderen Traum - bevor sie stirbt - sämtliche Gliedmaßen. Träume sind ein wesentlicher Bestandteil des Romans. In ihnen wird zum Teil jene Arbeit geleistet, durch die es erst möglich wird, die Geschichte zu erinnern, die Christa Wolf erzählen will. Nicht ohne Grund verweist der Untertitel auf Freuds Mantel. 4. O-Ton Ch. Wolf: "Der Mantel, weißt du, der dich wärmt, aber auch verbirgt, und den man von innen nach außen wenden muss. Damit das Innere sichtbar wird." (Ch. Wolf: Stadt der Engel) Erzähler: Der Mantel des Wiener Psychologen wird zum Synonym für die Erinnerungsarbeit, die die Erzählerin zu leisten hat. Sie darf sich nicht den Mantel des Vergessens anziehen, sondern sie muss das Innere des Mantels nach außen wenden, ihn, während sie sich zurückwendet, umdrehen. Christa Wolf stellt sich der eigenen Vergangenheit, auch auf die Gefahr hin, der eigenen Person als einer Fremden zu begegnen. Sie taucht in den Schacht des gelebten Lebens hinab, weil sie nur dort finden kann, was sie vergessen hat, aber nicht vergessen geben will. 5. O-Ton Ch. Wolf: "The overcoat of Dr. Freud, sagte ich. - Wie bitte? - Ach nichts. - Kommst du darauf wegen der Libido? - Nein, aber: wäre das ein guter Titel? - Das käme darauf an. Worauf denn? Darauf, daß der Weg in die Unterwelt gelingt: Der Eingang in die Unterwelt ist eine Wunde, erfuhr ich. Die Bewegungsart: Langsames Zurücktasten ins Dunkle. Ein Tunnelgefühl. ICH MUSS HINUNTERSTEIGEN IN DIESEN SCHACHT." (Ch. Wolf: Stadt der Engel) Erzähler: Die Aufgabe, der sich Christa Wolf stellt, setzt Freuds Traumanalyse voraus. Als Therapeutin und Patientin in einer Person leistet die Autorin - wie Freud die Traumdeutung verstanden hat - "Schürfarbeit". Sie begibt sich in jene verschütteten Regionen der eigenen Vergangenheit, um dort nach Details zu suchen, die geborgen und durchgearbeitet werden müssen. Ihrem Roman hat Christa Wolf einen Satz aus Walter Benjamins Text "AUSGRABEN UND ERINNERN" als Motto vorangestellt. Zitator Benjamin: "So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde." Erzähler: Benjamin vergleicht Erinnern mit der Schürfarbeit des Archäologen: Zitator Benjamin: "Wer sich der eignen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. Vor allem darf er sich nicht scheuen, immer wieder auf einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen - ihn auszustreuen wie man Erde ausstreut, ihn umzuwühlen, wie man Erdreich umwühlt. Denn ,Sachverhalte' sind nicht mehr als Schichten, die erst der sorgsamsten Durchforschung das ausliefern, um dessentwillen sich die Grabung lohnt. Die Bilder nämlich, welche, losgebrochen, aus allen früheren Zusammenhängen, als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht - wie Torsi in der Galerie des Sammlers - stehen. Und gewiß ist's nützlich, bei Grabungen nach Plänen vorzugehen. Doch ebenso ist unerlässlich der behutsame, tastende Spatenstich in's dunkle Erdreich." (W. Benjamin: Ausgraben und Erinnern) Erzähler: In diesem Kontext verortet Christa Wolf das eigene Schreiben. Es ist keineswegs manisch, wenn sie so vehement das eigene Vergessen hinterfragt. Im Benjaminschen Sinne muss die Erinnerungsarbeit immer wieder auf den einen Sachverhalt zurückkommen, um ihn aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten zu können. Diesen Sachverhalt ergründet Christa Wolf in "Stadt der Engel" schreibend. Der Roman ist die Antwort auf die Frage, die sich ihr stellt. 6. O-Ton Ch. Wolf: "Ich schrieb mich an einen Kern heran, den ich deutlich spürte, nicht benennen konnte, bis ich eines Nachts aus dem Schlaf aufschreckte und den letzten Satz einer längeren Rede, die jemand mir gehalten hatte, als Schrift vor mir sah: DER FREMDE IN DIR. Das überzeugte mich gleich, es traf zu." (Ch. Wolf: Stadt der Engel) Erzähler: Einen entscheidenden Anteil bei dieser Expedition in die eigene Vergangenheit spielen Träume. In einem der letzten fliegt die Ich-Erzählerin an der Seite eines Engels über eine unwirklich anmutende Landschaft. Sie blickt von oben auf ein Tal und sieht, wie unter ihr die Toten aus ihren Gräbern steigen. 7. O-Ton Ch. Wolf: "Totes Tal. Tal der Toten. Dort lagen sie alle, meine Toten und quälten sich aus ihren Gräbern, während ich über sie hinflog. Sieh nur hin, sagte Angelina. Wie lange war sie schon neben mir? Wie lange schwebten wir schon über der Landschaft? Ich dachte, ob die Toten mir vielleicht etwas sagen wollten." (Ch. Wolf: Stadt der Engel) Erzähler: Man ist an die Perspektive des Benjaminschen Engels aus den Thesen "Über den Begriff der Geschichte" erinnert, der die Toten sehen, aber nicht erwecken kann. Benjamin hat ein Exemplar seiner Thesen - bevor er sich auf den Weg über die Pyrenäen machte, um in die USA zu gelangen - Hannah Arendt übergeben. Während Benjamins Flucht scheitert, glückt die von Hannah Arendt und die Thesen mit dem Angelus Novus gelangen in jenes Exilland, dem Benjamins Hoffnungen galten. Dort gehören sie zum Umzugsgut Theodor W. Adornos, als er im November 1941 von New York nach Santa Monica zieht. Wenige Monate später werden die Thesen zum ersten Mal veröffentlicht. Als Erscheinungsort steht in der hektographierten Gedenkschrift für Walter Benjamin - Los Angeles. Es handelt sich um die Stadt der Engel, wie Christa Wolf die Stadt in ihrem Roman nennt. 8. O-Ton Ch. Wolf: Angelina, die meine Gedanken kannte, sagte: Nein. Das sei ein Aberglaube der Lebenden, daß die Toten eine Botschaft für sie hätten. Zu ihren Lebzeiten waren sie nicht klüger, als die Lebenden es heute sind. Im Tod lernt man nichts..." (Ch: Wolf: Stadt der Engel) Erzähler: ... aber von den Toten. Im Traum ist es möglich, dass man ihnen begegnet - vielleicht in einer Bar von Atlantis, in die Durs Grünbein eingeladen hat. Musik: Richard Strauss: Vier letzte Lieder, 3. Lied "Beim Schlafengehen" "Nun der Tag mich müd gemacht, Soll mein sehnliches Verlagen Freundlich die gestirnte Nacht Wie ein müdes Kind empfangen Hände, lasst von allem Tun Stirn, vergiß du alles Denken, alle meine Sinne nun wollen sich in Schlummer senken." 1