Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 24. Juni 2017, 11.05 ? 12.00 Uhr KW 25 Die Brcke ber die Drina - 25 Jahre nach den Massakern im bosnischen Visegrad Eine Sendung von Dirk Auer Redaktion: Gerwald Herter Musikauswahl und Regie: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschtzt und darf vom Empf„nger ausschlieálich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielf„ltigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die ber den in õõ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzul„ssig. ¸ - unkorrigiertes Exemplar ? Opener 1: Bernt Hahn Auf der Brcke, um sie herum und in Verbindung mit ihr verl„uft und entwickelt sich das Leben der Bewohner von Visegrad. In allen Erz„hlungen ber pers”nliche, famili„re und gemeinsame Erlebnisse kann man immer wieder die Worte "auf der Brcke" h”ren. Autor So beschrieb Ivo Andric die enge Verbindung der Visegrader mit ihrer Brcke. Fr seinen Roman ?Die Brcke ber die Drina? hat der Jugoslawe 1961 den Literaturnobelpreis bekommen. Opener 2a: Branislav/Volker Hengst Dank Ivo Andric sind wir so berhmt geworden. Autor Das sagt ein bosnischer Serbe. Er freut sich vor allem ber die Touristen, die heute die Stadt besuchen. Opener 2b: Branislav/Volker Hengst Die ganze Welt kommt nach Visegrad, um diese wundersch”ne Brcke zu sehen. Autor Ganz andere Bilder hat dagegen die Muslimin Bakira Hasecic im Kopf, wenn sie an die Brcke denkt. Opener: Bakira In der Nacht h”rt man nur die Schreie und dann den Aufprall. Sie haben die Leute lebend von der Brcke in die Drina geworfen. Und weiter flussabw„rts wurden sie dann von einer anderen Gruppe erwartet und ermordet. Wie Ameisen trieben die Leichen auf dem Wasser. Sprecher Gerwald Herter Die Brcke ber die Drina. 25 Jahre nach den Massakern im bosnischen Visegrad. Eine Sendung von Dirk Auer. Reportage 1: Die Brcke, die Stadt und der Dichter Atmo Autor Fr ein paar Stunden am Tag wird die Stadt lebendig, wenn die Busse kommen. Dann erheben sich die Souvenirverk„ufer von ihren Klappsthlen, setzen ein L„cheln auf, die Kellner in den Cafes werden gesch„ftig, und auch im kleinen Container des Touristenbros, direkt am Parkplatz, halten sich die Angestellten bereit. O-Ton 1 Die Brcke ist das Herz der Stadt, wo alle Dinge begonnen haben. Autor Umringt von einer Reisegruppe steht ein Touristenfhrer auf der Brcke - auf der berhmten Mehmed Papa Sokolovic Brcke. O-Ton 2 Hier sind die ersten Ansiedlungen im 16. Jahrhundert entstanden. Sp„ter hat sich die Stadt dann auf die Hgel ausgebreitet und dann weiter entlang der Drina. Autor Branislav Andric heiát der junge Mann. Er ist Nachfahre jener Familie Andric, die vor ein paar Jahrhunderten nach Visegrad kam. Und ja, so erz„hlt er, von ihr stammt wohl ber viele Ecken auch Ivo Andric ab. Die Brcke, die Stadt, der Dichter: eine unzertrennbare Einheit. O-Ton 3 Andric ist hier aufgewachsen, und w„hrend die anderen gefischt und gespielt haben, hat er stundenlang auf der Mitte der Brcke gesessen und den Erz„hlungen der alten Leute zugeh”rt. Und als er Schriftsteller wurde, hat er dann alle diese Erz„hlungen, Erinnerungen und Legenden fr seine Erz„hlungen und Romane benutzt, einschlieálich der ?Brcke ber die Drina?. Viele der Figuren, die dort auftreten, haben tats„chlich in Visegrad gelebt, so dass wir ?Die Brcke ber die Drina" teilweise als historischen Roman lesen k”nnen. Autor Mit einer, so k”nnte man sagen, ungew”hnlichen ?Hauptfigur?: einer Brcke aus hellem Stein, mit elf weit gespannten B”gen, 180 Meter lang und sechs Meter breit. Auf und um sie herum vollzieht sich das Leben der Stadt Visegrad. Ost und West, Nationen und Religionen treffen hier aufeinander. O-Ton 4 Andric hat das Zusammenleben der V”lker beschrieben, die hier gelebt haben: Christen, Katholiken, Muslime und Juden. Er hat die Menschen und das Leben geschildert, wie es wirklich stattgefunden hat. Autor Und tats„chlich funktioniert das multikulturelle Miteinander ber die Jahrhunderte meistens. Aber immer wieder kommt es auch zu Spannungen, ja zu Gewalt, dann n„mlich, wenn die vertraute Ordnung der Dinge durcheinander ger„t. O-Ton 5 Das Osmanische Reich, sp„ter ™sterreich-Ungarn: Andric hat beschrieben, wie die Menschen mit jeweils unterschiedlichen Erwartungen auf ein neues Regime geblickt haben, die einen mit Hoffnung, die anderen mit Angst. Weil sie nicht wissen, wie das Leben danach weiter geht - aber auch, wie sich dann doch alle arrangiert haben mit den neuen Verh„ltnissen. Autor ?Das Leben erneuerte sich immer wieder?, heiát es im Roman. Die Generationen kamen und gingen - aber sie, die Brcke, die stille Zeugin, blieb unver„ndert, wie das Wasser, das unter ihr dahinfloss. Atmo Die Zeit zwischen den Fhrungen verbringt Branislav in einem Cafe, direkt am Flussufer. Breit und grn, dunkelgrn, ist die Drina bei Visegrad. Der Roman endet mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. O-Ton 6 Aber auch fr mich, als heutiger Brger Visegrads, ist die Brcke immer ein besonderer Ort gewesen. Als ich jung war, haben wir uns hier oft getroffen. Wir haben auf der Brcke gesessen, mit unseren Gitarren, mit Bier, und so haben wir die warmen Sommern„chte verbracht. Denn dann war das hier khlste Ort in der Stadt. Pause O-Ton 8 Leider kam dann dieser unglckliche Krieg. Autor Der Bosnienkrieg, 1992. Branislav Andric war damals zehn Jahre alt. Deshalb, sagt er, und auch weil er die meiste Zeit bei Verwandten in Serbien verbracht habe, sei er dafr eigentlich kein guter Gespr„chspartner. Aber auch die Touristen fragen ihn manchmal nach dieser Zeit. O-Ton 9 Und im Wesentlichen ist meine Antwort dann, dass die meisten K„mpfe auáerhalb der Stadt stattgefunden haben. Es waren vor allem die D”rfer, die gelitten haben, w„hrend die Stadt selbst gr”átenteils erhalten blieb. Und auch die Brcke hat diese Zeit ohne irgendwelche Zerst”rungen berstanden. Autor Aber sind nicht auch auf der Brcke Menschen get”tet worden? O-Ton 10 Es gibt viele Geschichten darber. Aber wieviel Wahres ist daran? Es ist schwer objektiv zu sein. Autor Der Krieg ist vorbei, vergangen. Jetzt muss es nach vorne gehen, das Leben sich wieder einmal erneuern, wie so oft in der Vergangenheit sagt Branislav Andric. O-Ton 11 Das Leben geht weiter. Und wie heiát es noch im Roman? Sie steht fest und unverwundbar da: die Brcke. Atmo, ca. 10 Musik Literatur Jeder hatte an seinem Platz gestanden, und fr jeden hatte es Platz gegeben. Und ber allen hatte eine Ordnung und ein Gesetz, eine fest Ordnung und ein strenges Gesetz gestanden. So war Lottika damals die Welt erschienen. Jetzt aber hatte sich alles verschoben und seinen Platz gewechselt. Die Menschen entzweiten sich und sonderten sich ab, und das, wie es ihr erschien, ohne Ordnung und sichtbaren Sinn. (?) Das Leben zerriss, zerbr”ckelte und zerfiel. šberhaupt schien es der jetzigen Generation mehr auf ihre Lebensauffassungen als auf das Leben selbst anzukommen. Das schien irrsinnig und war ihr vollkommen unfasslich, aber es war so. Atmo Autor Visegrad: eine Stadt im Osten Bosniens. Vor dem Krieg lebten hier 21.000 Menschen: zwei Drittel muslimische Bosniaken, ein Drittel orthodoxe Serben. Man habe gut zusammen gelebt, beteuern die Bewohner der Stadt. Bis zum April 1992. Wie schon Slowenien und Kroatien hatte sich auch Bosnien von der Bundesrepublik Jugoslawien losgel”st. Als Antwort beginnen serbische Einheiten damit, die mehrheitlich von Serben bewohnten Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen. Ihre Mittel sind Terror und Vertreibung - wobei an kaum einem anderen Ort die Politik der sogenannten ?ethnischen S„uberung? so konsequent und brutal vorangetrieben wurde wie in Visegrad, der Stadt mit der ?Brcke ber die Drina", der Stadt von Ivo Andric. Fr das Leiden der Muslime von Visegrad stehen heute Namen wir Bikavac, Barimo, das Hotel Vilina Vlas - oder: das Haus in der Pionirska ulica, der Straáe der Pioniere. Reportage 2: Das Massaker in der Pionirska Straáe Atmo Autor Camil Vatres folgt einem schmalen Pfad zwischen zwei Grundstcken. Das Haus liegt inmitten eines Wohngebiets. Unscheinbar ist es, hat zwei Stockwerke, das Dach ist neu gedeckt, die Fassade weiá getncht. Camil Vatres, ein hagerer Mann, das Haar und der Bart ergraut, bleibt stehen. Dann breitet er seine Arme aus, hebt und ”ffnet die H„nde zur Dua, dem islamischen Bittgebet. O-Ton 1 Ich bin schon so viele Male hierhergekommen. Und dann bete ich fr alle, die hier umgekommen sind. Einige von ihnen kenne ich zwar gar nicht. Aber fr mich sind alle gleich, es tut mir leid um die Leute. Aber am meisten natrlich um meine Schwester und ihre Kinder Atmo: weint Autor Es war am 14. Juni 1992, als die Serben, angefhrt von Milan Lukic, das Dorf Koritnik berfielen. Es liegt ein paar Kilometer flussabw„rts der Drina und war haupts„chlich von Muslimen bewohnt. O-Ton 2 Das ganze Dorf haben sie mitgenommen. Und zu Fuá sind sie dann hierher getrieben worden. Es waren so viele Kinder darunter, und eins war gerade einmal zwei Tage alt. Hier in Visegrad ist es geboren worden. Autor 70 Menschen waren es, alle Zivilisten. Geld und Schmuck mussten sie abgeben, sich auszuziehen. Lukics Leute bergossen die Teppiche im Haus mit Benzin, verbarrikadierten die Tr mit schweren M”beln. Dann steckten sie alles in Brand: O-Ton 3 Sie waren eingeschlossen, da oben im zweiten Stock. Und dann ist meine Schwester Ismete aus diesem Fenster dort herunter gesprungen. Aber hier unten haben dann auch schon die Serben auf sie gewartet. Autor Schsse fallen. Aber irgendwie gelingt ihr die Flucht. Vier Tage sp„ter wurde sie in einer Krankenstation von Visegrad gesehen, mit schweren Verbrennungen und einer Gewehrkugel im Bein. Dann verliert sich ihre Spur. Neun Jahre lebt Camil Vatres in Ungewissheit - bis schlieálich Ismetes šberreste in einem Massengrab gefunden werden. O-Ton 4 So eine Trauer. Autor Camil Vatres schttelt den Kopf. O-Ton 5 Es ist normal, wenn eine Armee gegen eine Armee k„mpft. Aber warum t”tet man Kinder? Frauen? Alte? Was h„tten sie denn anrichten k”nnen im Krieg? Aber Gott sei Dank: Wenigstens meine Schwester haben wir noch gefunden. Sie hat jetzt ihren Frieden Atmo Autor Der muslimische Friedhof liegt am Rand der Stadt: ein weitl„ufiges Stck Wiese am Hang, auf dem sich ein paar hundert schlichte weiáe Grabsteine verteilen. O-Ton 6 Das ist das Grab meiner Schwester. Hier liegen ihre Knochen, hier kann sie ruhen. Und daneben haben wir noch drei freie Pl„tze fr ihre Kinder, sollte man auch sie noch finden. Autor Camil l„sst seinen Blick ber das Gr„berfeld schweifen. Auf fast allen Grabsteinen steht dasselbe Todesjahr: 1992, das Jahr, in dem der Bosnienkrieg begann - und mit ihm die Ermordung und Vertreibung der Muslime von Visegrad. O-Ton 7 Frher einmal haben hier Serben, Muslime, Kroaten, Juden und Roma alle zusammen gelebt. Aber 1991, da konnte man es schon sehen. Man hat sich getrennt, und manche Serben haben sich bewaffnet. Aber wir haben immer noch nicht geglaubt, dass wirklich etwas passieren wrde. Dass Nachbarn auf Nachbarn losgehen, das geht doch nicht! Autor Milan Lukic, der Brandstifter, war damals 24 Jahre alt. Vor dem Krieg fhrte er ein unauff„lliges Leben. Camil Vatres kannte ihn. Natrlich, sagt er, jeder habe doch praktisch jeden gekannt, damals in Visegrad, als alles noch in Ordnung war. O-Ton 8 Er ist mein Jahrgang gewesen. Aber auf einmal habe ich gemerkt, wie er sich abgeschottet hat. Er und seine Clique haben sich in einem Restaurant versammelt, und dann hat er angefangen, diese Klamotten zu tragen: Uniformen, wie sie die Serben im Ersten Weltkrieg anhatten. Sie haben sich die ?R„cher? genannt. Aber niemand hat gedacht, dass er der Schlimmste von allen wrde. Autor Das Morden beginnt im April: Wahllos treiben die sogenannten ?R„cher? unter dem Kommando von Milan Lukic die Muslime aus ihren H„usern. Sie plnderten, brandschatzten, mordeten und vergewaltigten. Die beiden Moscheen werden zerst”rt. Vier Monate sp„ter gibt es keine Muslime mehr in der Stadt. Sie waren geflohen, wurden vertrieben oder get”tet - viele von ihnen, Hunderte, ausgerechnet bei oder auf der Brcke ber die Drina. Und deshalb sagt Camil Vatres, als er auf der Rckfahrt aus dem Auto heraus auf die alte Brcke schaut: O-Ton 9 Ich dachte, dass es eine sch”ne Brcke ist. Oft habe ich sie berquert. Aber jetzt vermeide ich das. Ich will sie eigentlich noch nicht einmal mehr sehen. Atmo Autor Camils Haus liegt ein paar Kilometer weiter flussabw„rts, an einem Hang ber der Drina, mitten im Wald. O-Ton 10 Hier bin ich geboren, im Haus meines Vaters. Wir feierten Bajram, das Fastenbrechen, als die ersten Granaten auf das Dorf fielen. Ich wusste bis dahin berhaupt nicht was das ist, Granaten. Autor Und dann kamen die serbischen Freisch„rler auch hierher. Und wieder waren es keine Unbekannten. O-Ton 11 Novo Rajak hat mein Haus niedergebrannt. Ich habe es genau gesehen, denn ich war dort im Wald, als sie gekommen sind. Ich war mit ihm in derselben Klasse, zusammen haben wir die Mittelschule abgeschlossen. Man kann wirklich sagen, dass das hier alles Leute angerichtet haben, die wir kennen. Und wer weiá, was mir passiert w„re, h„tte ich mich nicht hier im Wald versteckt. Autor Rajak wurde zu 14 Jahren Gef„ngnis verurteilt, wegen dieser und vieler anderer Verbrechen. Nach zwei Drittel der Haftzeit wurde er entlassen. Jetzt sieht Camil ihn manchmal, wenn er in Visegrad ist. O-Ton 12 Er geht vorbei als ob er mich nicht kennt. Autor Er hat sich nie entschuldigt - oder irgendjemand anderes? O-Ton 13 Niemand. Kein einziger. Manchmal sitze ich neben den Leuten, die das angerichtet haben. Aber niemand hat sich je entschuldigt oder auch nur zugestanden, dass er etwas getan hat. Atmo Drinnen gibt es trkischen Kaffee und Pflaumenschnaps. Durch das Fenster im Wohnzimmer hat Camil einen weiten Blick: ber die Drina, auf die andere Seite. Dort war das Dorf seiner Schwester. O-Ton 14 Manchmal ist das Leben strmisch und schwer. Es ist viel passiert. Und viele kennen die echte Wahrheit nicht. Noch nicht einmal ich. Ich weiá nur, was ich gesehen und geh”rt habe. Autor Jahrelang hatte er nach dem Krieg im Schuppen geschlafen, der fr die Haustiere gedacht ist. Jetzt ist das Haus wieder aufgebaut, fast so wie frher. Gut, sagt er, es ist nicht ganz einfach, ohne die helfende Hand einer Frau. O-Ton 15 Aber zufrieden bin ich jetzt - wieder. Ich habe einen Garten und unten an der Drina gibt es noch ein paar Pflaumenb„ume. Autor Der Garten, die Pflaumenb„ume, die Drina - noch einmal schaut Camil durch das Fenster ber das Tal. O-Ton 16 Es ist vorbei. Lass Gott dafr sorgen, dass es niemals wieder passiert. (Seufzt) Atmo Musik Literatur: Es passiert - es passiert nicht! Anfangs schien das den meisten, was es auch war, sinnlos, h„sslich und unm”glich. Aber in diesem Augenblick allgemeiner Erregung musste etwas getan werden, etwas Groáes, Ungew”hnliches, und das war das Einzige, was man tun konnte. Es passiert nicht - es passiert! Diese M”glichkeit verdichtete sich immer mehr und wurde mit jeder Minute und jeder Bewegung immer wahrscheinlicher und natrlicher. Warum schlieálich nicht? (?) Und so geschah innerhalb einiger Augenblicke, was in jedem Einzelnen dieser Augenblicke unm”glich und unwahrscheinlich erschienen war. Niemand hatte es fr m”glich gehalten oder gebilligt, dennoch hatte jeder ein wenig dazu beigetragen, dass sich der Hodza auf der Brcke wiederfand, mit dem rechten Ohr an dem h”lzernen Balken auf der Kapija festgenagelt. Reportage 3: Die T„ter feiern sich Atmo Autor Wer heute durch Visegrad l„uft, bemerkt nichts mehr von dem multikulturellen Gewimmel, das Ivo Andric noch beschrieben hatte. Nur wenige hundert Muslime sind nach ihrer Vertreibung zurck gekehrt, fast ausschlieálich in die umliegenden D”rfer. In der Stadt selbst sind die Serben jetzt unter sich. Atmo Eine Hochzeitsgesellschaft f„hrt durch das Stadtzentrum... Aus den Autos heraus werden serbische Fahnen geschwenkt. Visegrad geh”rt seit dem Kriegsende zur Republika Srpska, dem serbischen Teil von Bosnien-Herzegowina. Und dass man mit Sarajevo und dem brigen Land so wenig wie m”glich zu tun haben will, zeigt man bei jeder Gelegenheit. Wie in Serbien wird das kyrillische Alphabet benutzt, es l„uft serbisches Fernsehen, man trinkt vorzugsweise serbisches Bier. Atmo Und die ehemaligen K„mpfer aus dem Krieg? Sie feiern sich. Vor dem Denkmal fr die ?Verteidiger der Republika Srpska?, ganz in der N„he der Brcke, ist eine Bhne aufgebaut. Es ist der 25. Jahrestag der Grndung der sogenannten ?Visegrader Brigade?. Ihr Kommandant war Luka Dragicevic. Sein Haar ist schlohweiá, er tr„gt eine randlose Brille. O-Ton 1 Als ich die Brigade bernommen habe, waren die muslimischen Stellungen dort oben auf den Hgeln, so dass man die Brcke berhaupt nicht berqueren konnte, h”chstens in der Nacht. Denn von dort oben haben sie auf die Brcke und die Stadt geschossen. Autor Auf seine Stadt. Auch Dragicevic ist ein Visegrader, obwohl er bis Kriegsausbruch in Sarajevo gewohnt hat. Zurck kam er erst im Juli 1992, wie er betont. O-Ton 2 Insofern weiá ich nicht, was hier passiert. Davon habe ich nur aus zweiter Hand erfahren. Atmo Musik Autor Aus den Lautsprechern dringt in Endlosschleife der ?Marsch auf die Drina", ein Lied aus dem Ersten Weltkrieg, das die Heldentaten der serbischen Armee preist. Atmo ?Sing, sing Drina. Erz„hl? meinem Volk, wie tapfer wir gek„mpft haben.? Atmo ?Das Blut floss. Das Blut str”mte die Drina herunter, fr die Freiheit.? Dragicevic schlieát gar nicht aus, dass es zu Gr„ueltaten an der Zivilbev”lkerung gekommen ist. Aber das sei vor seiner Zeit gewesen. Und: Es waren unorganisierte paramilit„rische Einheiten - nicht die Soldaten, die unter seinem Befehl standen. O-Ton 3 Das gr”áte Leiden der muslimischen Zivilbev”lkerung, das war vor der Grndung der Visegrader Brigade. Als die Brigade entstand, gab es faktisch keine Zivilbev”lkerung mehr innerhalb unserer Verteidigungszone. Insofern konnten wir berhaupt keine Verbrechen begehen. Autor Die Zeremonie beginnt. Ein paar Dutzend Veteranen stehen in Reih und Glied. In der ersten Reihe: Luka Dragicevic. Vor dem Denkmal legen Kinder in Folklorekostmen Kr„nze nieder. Atmo Ein Priester betet fr die Visegrader Brigade, ihre Angeh”rigen. Atmo Und fr alle anderen Brigaden des letzten, hier so genannten ?vaterl„ndischen Kriegs?. Atmo Dann tritt Luka Dragicevic ans Mikrofon. O-Ton 4 Verehrte Familien, Kriegsinvaliden, K„mpfer, Helden des vaterl„ndischen Krieges. Die Visegrader Brigade wurde am 19. Mai 1992 gegrndet. Es war die Antwort auf den muslimischen Terror gegen die serbische Bev”lkerung. Dem serbischen Volk wurde ein illegitimer Krieg erkl„rt. Unser Volk wollte den Krieg nicht. Die Fhrung des serbischen Volks hat alles unternommen, was in seiner Macht stand, damit es nicht zum Krieg kommt - wohl wissend, dass das serbische Volk auáer seiner Freiheit am allermeisten Frieden will. Autor Schon im Januar 1992 hatte die Fhrung der bosnischen Serben die sogenannte - und international nicht anerkannte - Republika Sprska ausgerufen. Im April begann die dreij„hrige Belagerung von Sarajevo. Und die Vertreibung der nichtserbischen Bev”lkerung aus den von Serben beanspruchten Gebieten Ostbosniens. O-Ton 5 Skrupellose Dschihadisten wollten uns erniedrigen und versklaven. Damit das nicht passiert, hat das serbische Volk von Visegrad seine eigene Brigade gegrndet. Sie hatte als Hauptaufgabe, das Volk zu retten und seinen Lebensraum zu verteidigen. Das haben wir geschafft. Wir haben gesiegt. Die Visegrader Brigade hat ihre Aufgabe vollst„ndig erfllt. Es leben die K„mpfer der Visegrader Brigade und die K„mpfer der Republika Srpska. Es lebe die Republika Srpska! Atmo: Applaus Autor Nach einer Dreiviertelstunde ist der Spuk vorbei. Luka Dragicevic sitzt in einem Cafe und l„sst sich auch nicht durch die erneute Frage nach den Morden an der Zivilbev”lkerung aus der Ruhe bringen. Noch einmal, erkl„rt er geduldig: Die Armee, die Visegrader Brigade, hatte damit nichts zu tun. Die Verantwortung dafr trgen die paramilit„rischen Gruppen. O-Ton 7 Die Leute kennen den Unterschied nicht: Was ist die Armee? Was sind Paramilit„rs? Und sie wollen es nicht wissen. Das ist ihr Problem. Die muslimischen Medien sagen, dass die Armee einen Krieg gegen die muslimische Zivilbev”lkerung gefhrt hat. Aber das ist eine absolute Lge und eine groáe Propaganda. Autor Die Armee, eine ehrenwerte Gesellschaft - so der Eindruck, wenn man Dragicevic l„nger zuh”rt. Eine Armee, die lediglich gegen eine andere Armee gek„mpft hat, in einem Kampf, der ihnen von der anderen Seite aufgezwungen wurde. O-Ton 8 Sie waren am Anfang st„rker. Sie haben uns groáe Verluste beigebracht. Sie haben uns bis zur alte Brcke zurck gedr„ngt. Und ich gratuliere ihnen dafr. Aber sp„ter hat sich das Blatt gewendet. So ist der Krieg. Ich h„tte es auch lieber, wenn es gar nicht erst dazu gekommen w„re. Aber so ist das Leben. Autor Zum Schluss hat der ehemalige Kommandant noch eine Botschaft: O-Ton 10 H”rt auf die Wahrheit! Wenn man nur unkritisch den Lgen in den Medien vertraut, wird es nicht m”glich sein, einen Krieg in der Zukunft zu verhindern. Autor Aber gerade in Bosnien gibt bis heute so viele Wahrheiten ber den Krieg: Erinnerungen und Geschichten, Rechtfertigungen, Verleugnungen und Verdrehungen. Mit welchem Recht sagt jemand die Wahrheit? O-Ton 11 Die Tr„ger der Wahrheit sind wir, die wir im Krieg waren und ihn gefhrt haben. Autor Luka Dragicevic steht auf. Den Rest des Tages wird er mit seinen Veteranen in einem Restaurant verbringen. Dort werden sie feiern, sich, ihre Wahrheit - und die Rettung des serbischen Volks in Bosnien. Wie lange noch, ist ungewiss. Seit drei Jahren l„uft gegen Dragicevic ein Prozess am Kriegsverbrechertribunal in Sarajevo. Der Anklage zufolge soll er die Gefangennahme, Misshandlung und T”tung nichtserbischer Zivilisten angeordnet haben. Luka Dragicevic hat auf nicht schuldig pl„diert. Atmo Musik Literatur: Das hungrige Tier, das im Menschen lebt und sich nicht zeigen darf, solange die Barrieren der guten Sitten und der Gesetze nicht beseitigt werden, war jetzt los. Nun war das Zeichen gegeben, waren die Barrieren wegger„umt. Wie oft in der Geschichte waren Gewalt und Raub, ja sogar Mord stillschweigend erlaubt, unter der Bedingung, dass sie im Namen h”herer Interessen, unter festgelegten Losungen und gegen eine begrenzte Zahl von Menschen eines bestimmten Namens und einer bestimmten šberzeugung verbt wurden. Reportage 4: Rckkehr der Opfer Atmo Autor ?Schau?, sagt Safet Fejzic. Atmo ?92 Jahre alt war die Frau?. Er steht vor einem Denkmal, einem gemauerten Brunnen. Auf einer Tafel sind 26 Namen eingraviert. Atmo ?Alle: puff?. Erschossen. Atmo Das Denkmal steht im Dorf Barimo, 78 bosnische Muslime hatten hier vor dem Krieg gelebt, in bescheidenen H„usern mit Blick ber grne Felder und Obstplantagen. Etwas weiter unten flieát gem„chlich die Drina vorbei. O-Ton 1 Suljo Anfang August 1992 sind sie ber die Drina gekommen, dann um diesen Hgel herum und von dort oben aus runter ins Tal. Und alles, was sie hier angetroffen haben und am Leben war, selbst Khe und Hhner, alles haben sie ermordet. Autor Suljo Fejzic hatte sich mit seinem Bruder im Nachbardorf versteckt. Am folgenden Tag, frh Morgens, schlich er sich durch die Bsche nach Barimo. Schon von weitem sah er die noch brennenden H„user. O-Ton 2 Suljo Die erste Person, die ich gefunden habe, war eine Frau, die auf der Flucht von hinten ermordet wurde. Die zweite Leiche habe ich dort drben auf dem Weg gefunden, mit einer Kugel im Kopf. Und unten an der Drina lagen zw”lf Menschen auf einem Haufen, auch alle mit Kopfschssen - alles Frauen und ein alter Mann. Autor Die brigen Toten lagen verstreut auf den umliegenden Wiesen. Das „lteste Opfer: Geburtsjahr 1900, also ber 90, das jngste ein 12 Jahre alter Junge. Vier Menschen sind nie gefunden worden. Atmo Kurze Zeit sp„ter sitzen die beiden Brder bei ihrem Vater Salem. Auch ein paar Nachbarn sind noch gekommen, es ist Vormittag, und wie jeden Freitag werden sie am Mittag zum Gebet in die Moschee von Visegrad fahren. Aber jetzt gibt es erst einmal trkischen Kaffee. Atmo Salem ist 82 Jahre alt. Auf ein langes Leben kann er also zurck blicken, ein gutes Leben, wie er betont. Atmo ?Doch dann kam der Krieg.? Die W„lder um Barimo herum fllten sich mit Flchtlingen. Und aus Visegrad drangen furchtbare Nachrichten zu ihnen. O-Ton 3 Salem Ich habe geh”rt, dass man die Leute dort abschlachtet und entfhrt - und von der Brcke ins Wasser wirft. Und dann habe hier fnf Leute aus der Drina gezogen. Teilweise kannte ich sie. Und gemeinsam haben wir sie begraben. Der Gestank war bestialisch. Autor Und doch sagt Salem Fejzic: O-Ton 4 Salem Sie sind nicht alle gleich. Es gibt auch Serben, die Muslime gerettet haben. Als ich hierher zurckgekommen bin, habe ich einen frheren Bekannten wiedergesehen. Du lebst, hat er gerufen. Er hat geweint wie ein Kind. Autor Suljo ist schon beim Zuh”ren sichtbar unruhig geworden. ?Ach was?, schimpft er. O-Ton 5 Suljo Ein Serbe rettet eine Frau, aber dafr ermordet er 50 andere. Sie sind alle gleich. Und morgen, h„tten sie nur die Gelegenheit dazu, wrden sie dasselbe wieder tun. Autor Sein Vater wiegt mit dem Kopf. Doch, doch, sagt Suljo. Denn gibt es vielleicht irgendein Bedauern, eine Entschuldigung? Oder irgendeine Mithilfe, um die Vermissten zu finden, die in anonymen Massengr„bern liegen - und die immer noch auf ein ordentliches Begr„bnis warten? Vier Jahre lang saá Suljo im Stadtparlament von Visegrad. O-Ton 6 Suljo Vier Jahre lang habe ich daran gearbeitet, und kein einziger, wollte mir sagen wo die Gr„ber sind. Das zeigt doch, dass sie alle gleich sind. Alle wissen, wo die Gr„ber sind! Sie wissen, wer was gemacht hat. Aber sie sagen nichts. Es gibt hier keine menschliche, normale Reaktion von irgendjemandem. Nichts. Autor Aufbruch. Atmo Suljos Vater Salem hat solche K„mpfe nie gefhrt. Er ist einfach nur froh, wieder zu Hause zu sein. Das Dorf lebt wieder. Manche sind Pendler, haben noch ein Haus in Sarajevo. Andere, wie die Fejzics sind immer hier. Atmo Nostalgie ist eine seltsame Sache, sagt Safet nachdenklich. O-Ton 8 Safet 26 Leute sind hier erschossen worden. Und wieder hat uns der Ort gerufen. Er zieht uns einfach an, ungeachtet dessen, was hier passiert ist. Und wir sind alle wieder zurck gekommen. Wir sind wieder da. Atmo vor der Moschee Autor Am Eingang der Moschee sitzen, auf einer Bank im Schatten, schon die ersten Gl„ubigen. Atmo Gesang von drauáen Das w”chentliche Gebet hat auch eine soziale Funktion: Die allermeisten hier leben in den umliegenden D”rfern. Atmo Gesang Gut 100 M„nner sind gekommen. Und fast alle sind Rentner. Atmo Ansprache Am Ende erinnert der Hodzha daran, dass am folgenden Samstag, die allj„hrliche Gedenkveranstaltung fr die Opfer von Visegrad stattfindet. Um 14 Uhr. Auf der Brcke. Atmo drauáen Nach der Moschee gehen die beiden Brder, wie die meisten anderen, noch in die Stadt. Freitag ist Visegrad-Tag: Einkaufen, ein bisschen durch die Straáen schlendern, einen Kaffee trinken. Atmo Alles hat sich hier ge„ndert, sagt ein Mann. Die Straáennamen, benannt nach Helden aus der serbischen Geschichte - oder gar des vergangenen Krieges. Die Gesch„fte, Kneipen, Restaurants Caf‚s: alle betrieben von Serben. O-Ton 9 Mann Wir hatten eine multikulturelle Politik und Kultur, alles war multikulturell vor dem Krieg. Jetzt sind wir zurck zum Mononationalismus, vor allem des serbischen. Die Serben verhalten sich als geschlossene Gesellschaft. Und was passiert? Unsere Leute kommen zurck, sie sehen, dass sie hier nichts machen k”nnen - und gehen wieder weg. Und so verschwinden wir langsam Autor Ja, sagt Suljo. Man spre einfach die Ablehnung. O-Ton 10 Suljo Zwar steht nirgendwo geschrieben, dass es verboten ist als Serbe in eine muslimische Kneipe zu gehen. Aber das wird kein Serbe machen. Ein Bekannter von mir hat einen Laden er”ffnet. Zwei Wochen sp„ter hat er wieder zugemacht. Er konnte nicht mehr. Autor Die beiden Brder gehen die Hauptstraáe entlang Richtung Brcke. O-Ton 11 Suljo Meine besten Freunde, mit denen ich gegessen und zusammen gesessen habe, sind ermordet und in die Drina geworfen worden. Es gibt hier kein Licht, wie es das frher einmal gab. Ich bin hier geboren und erkenne h”chsten 20 Prozent der Leute, die jetzt hier sind. Es sind nicht dieselben Menschen. Es sind Fremde. . Musik Literatur Wie sollte man das Wogen in den Menschen beschreiben, das von stummer tierischer Angst bis hin zu selbstm”rderischer Begeisterung, von den niedrigsten Trieben der Blutgier und des hinterh„ltigen Raubes bis hin zu den h”chsten Taten des M„rtyrertums reichte, in denen der Mensch ber sich selbst hinauswuchs und fr einen Augenblick die Sph„ren h”herer Welten berhrte, in denen andere Gesetze walten? Niemals wird das ausgedrckt werden k”nnen, denn wer es gesehen und berlebt hat, ist fr immer verstummt, und die Toten k”nnen ohnehin nicht sprechen. Reportage 5: Erinnerung am Fluss Atmo: Stimmen, Musik ? Autor Es ist zwei Uhr mittags, die Sonne brennt. Etwa 500 Menschen stehen auf der Mitte der Brcke, dicht an dicht. Auf den Mauern, links und rechts, liegen in einer langen Reihe Rosen. Genau 3000 Rosen, sagt Bakira Hasecic, die unruhig hin und her l„uft. O-Ton 1 Wir erinnern damit an die 3000 Zivilisten, die in Visegrad ermordet wurden, und die meisten von ihnen auf der Brcke Mehmed Pasic Sokolovic. Wir haben Zeugen, die den ganzen Krieg in Visegrad waren. Und die das Schlachten auf der Brcke gesehen haben. Autor Mit Bussen sind die Angeh”rigen und šberlebenden gekommen, aus ganz Bosnien-Herzegowina - und manche gar aus dem Ausland. Und natrlich sind auch die Muslime aus Visegrad da: der Hodzha, Camil Vatres, Suljo und Safet Fejzic. Atmo Die erste Rede beginnt. O-Ton 2 Auf dieser Brcke, die doch eigentlich Menschen und Kulturen verbinden sollte, wurden Verbrechen verbt. In Visegrad hat ein Genozid stattgefunden. Und dieser Genozid wird in Visegrad bis heute verschwiegen. Danke, dass sie die Kraft und Zeit gefunden haben, sich hier zu versammeln. Damit wir uns gemeinsam erinnern an alle hier unschuldig ermordeten Zivilisten. Autor Dann betritt Bakira Hasecic die Bhne: O-Ton 3 Ich werde von dieser blutigen Brcke aus, dem gr”áten Schlachthof des bosniakischen Volks, nicht zu Toleranz und Zusammenleben aufrufen. Ich sage nur: Es ist endlich an der Zeit, Zeugnis abzulegen und zu reden. Das heiát denjenigen, die berlebt haben, die Wahrheit zu sagen. Viele haben gesehen, was hier passiert ist. Etwa 50 Verbrechen werden zurzeit am bosnischen Tribunal fr Kriegsverbrechen untersucht. Autor Von den umliegenden Bergen zurckgeworfen dringt ihre Stimme durch das ganze Tal. Und deshalb wendet sie nun direkt an die Bev”lkerung von Visegrad: O-Ton 4 Ich bitte sie: Gehen sie zum Tribunal, brechen sie ihr Schweigen und machen sie ihre Aussage. Nur auf diese Weise k”nnen wir das Schlechte besiegen in unserem blutigen Visegrad. Atmo: Applaus Autor Bakira Hasecic ist 64 Jahre alt. Ihr blond gef„rbtes Haar tr„gt sie kurz, ihre Gesichtszge haben etwa hartes. Was sich durch ihre Geschichte leicht erkl„rt: Es war am 21. April 1992, als der lokale Polizeichef mit 15 anderen M„nnern ihr Haus umstellte. O-Ton 5 Mein Mann und ich haben gerade Kaffee getrunken. Veljko Planincic, mein n„chster Nachbar, der von allen nur ?Spaávogel? genannt wurde, auf einmal war er an der Tr: Bumm. Er kam in die erste Etage: Veljko! Autor Noch war Bakira nicht bange. O-Ton 6 Wenn ein Polizist in dein Haus kommt, und dann auch noch ein Nachbar, dann denkst du doch, dass er gekommen ist, um dir zu helfen. Er ist jemand, der fr Ordnung sorgt. Aber Veljko Planincic, mein Nachbar, hat sich wie eine Bestie verhalten. Er hat mich gepackt. Ich wurde hysterisch. Auf keinen Fall wollte ich mitgehen. Er hat mir sein Gewehr in die Brust gerammt. Und dann fing die ganz Qual an. Pause O-Ton 7 Ich m”chte hier auslassen, was mir und meiner Familie im Haus passiert ist. Autor Ihre 18-j„hrige Tochter wurde von den M„nnern vergewaltigt. Vor ihren Augen. Atmo: Gesang Hodzha Drei Monate stand die Familie Hasecic unter Hausarrest. Drei Mal wurde sie w„hrend dieser Zeit selbst vergewaltigt, das erste Mal auf der lokalen Polizeistation. In diesen drei Monaten wird Bakira Hasecic auch Zeugin der grauenhaften Szenen, die sich auf der Brcke abspielten. O-Ton 9 In der Nacht h”rt man nur die Schreie und dann den Aufprall. Sie haben die Leute lebend von der Brcke in die Drina geworfen. Und weiter flussabw„rts wurden sie dann von einer anderen Gruppe erwartet und ermordet. Wie Ameisen trieben die Leichen auf dem Wasser. Autor Jetzt, zum Abschluss der Gedenkveranstaltung, wird ein Kranz nach unten geworfen. Dann folgen die Rosen, so dass die Drina, die heute besonders grn scheint, bald mit 3000 roten Punkten bers„t ist. Atmo Nach drei Monaten ist Bakira Hasecic mit ihrem Mann und den Kindern die Flucht gelungen. Die H”lle hat sie berlebt, sagt sie. Atmo Die Menge setzt sich in Bewegung. Es folgt der Gang durch die Stadt zum muslimischen Friedhof. Fnf Jahre nach Kriegsende war Bakira Hasecic zum ersten Mal wieder nach Visegrad zurck gekehrt. Es war ein Schock. Die M”rder, die Vergewaltiger liefen frei auf der Straáe herum! Einige von ihnen trugen sogar regul„re Polizeiuniformen der Republika Srpska. O-Ton 10 Die Frauen und Mtter sind in Ohnmacht gefallen, als sie diese Leute gesehen haben. Und dann habe ich langsam begriffen, dass wir uns organisieren mssen, wir, die vergewaltigen Frauen. Denn sie lachen ja ber uns. Ich komme nach Visegrad, und sie sagen: Beenden wir, was wir angefangen haben! Autor Drei Jahre sp„ter hat sie die Initiative ?Frauen - Opfer des Krieges? gegrndet. Die Frauen sammeln Beweise, dokumentieren den Aufenthaltsort der T„ter und leiten die Informationen an die Beh”rden weiter. Atmo Auf dem Friedhof sitzen die Angeh”rigen in Gruppen unter den wenigen B„umen, die Schatten spenden. Kurz hinter dem Eingang steht ein Denkmal, das an die Ermordeten erinnert. Das Wort "Genozid" hat die Stadtverwaltung aus dem Stein heraus schleifen lassen. Das Wort sei beleidigend, es g„be keine Beweise fr einen Genozid in Visegrad. Irgendjemand hat es wieder drauf gemalt, es wurde abgewischt, wieder drauf gemalt. Ein Kampf sei es, sagt Bakira. Ein nicht enden wollender Kampf. O-Ton 12 Sie haben mir mein Leben ruiniert, aber glauben sie mir: Ich bin stolz auf mich. Ich bin von Natur aus trotzig und dickk”pfig. Ich will, dass sie nicht ruhig schlafen. Ich, Bakira, werde sie verfolgen so gut ich kann. Denn jede Festnahme, die ich erlebe, ist eine pers”nliche Genugtuung fr mich. Atmo Autor Auch dieses Jahr findet wieder eine Beisetzung statt. Die Leiche war erst vor kurzem gefunden worden. Atmo M„nner lassen einen bescheidenen Sarg in das Grab. Rundherum stehen, in mehreren Reihen, die Angeh”rigen. Dann gehen sie in die Hocke. Atmo: Gesang Imame Das Vergangene l„sst sich nicht verdr„ngen. Immer wieder kommt es an die Oberfl„che. Im Sommer 2010 gab es eine Panne im Wasserkraftwerk, der Wasserspiegel des Stausees musste fr zweieinhalb Monate abgesenkt werden. 2000 Freiwillige suchten im Matsch nach Vermissten. Die šberreste von 400 Menschen wurden gefunden. Atmo: Gesang Imam Bakira Hasecic lebt heute zwischen zwei Welten, pendelt zwischen Sarajevo und Visegrad. Das Haus im Zentrum der Stadt hat sie verkauft, doch sie besitzt noch ein weiteres am Stadtrand. Von Visegrad kann sie nicht lassen, sagt sie. O-Ton 13 Vor dem Krieg war Visegrad einer der sch”nsten St„dte der Welt. 90% meiner Freunde waren Serben. Ich war in ihren H„usern zu Gast, wir haben zusammen gefeiert und waren wie eine Familie. Ein wunderbares Leben hatten wir. Pause Und auf einmal kam ein Bagger und hat dieses Leben zerst”rt. Atmo Gesang O-Ton 14 Aber ich sehe die Sch”nheit des Landes meiner V„ter. Wenn ich hierher komme und auf meinem Grundstck arbeite, das ist fr mich die gr”áte Erholung. Atmo Gesang O-Ton 15 In meinem Garten habe ich versucht Rosen anzupflanzen, Kirschb„ume und Blumen, die mich an mein altes Haus an der Drina erinnern sollen. Ich sehe mein Feld, ich sehe auch das Feld meines Nachbarn Fiko. Er hilft mir, ich gieáe bei ihm. Mein ganze Nachbarschaft ? O-Ton 16 Das bin ich! Aber in Sarajevo, das bin nicht ich. Atmo O-Ton 17 Ich lebe in Sarajevo nur, weil ich dort wohnen muss. Glauben Sie mir, dass mich Sarajevo berhaupt nicht interessiert. Ich nutze jeden Moment, um zu meinem Visegrad zu gehen. Autor Am Abend leert sich die Stadt wieder. Die Rckkehrer fahren in ihre D”rfer zurck, Bakira wird zu Hause noch ein paar Freunde bewirten. Und die šberlebenden und Angeh”rigen der Toten, Besucher fr einen Tag, werden sich wieder in alle Himmelsrichtungen verstreuen. Die Busse warten unten in der Stadt, auf einem Parkplatz, auf der anderen Seite des Flusses. Noch einmal laufen sie ber die Brcke ber die Drina, die stille Zeugin. Musik Literatur: Und schnell und leicht fanden sie sich mit dem Gedanken ab, dass der Weg ber die Brcke nicht mehr in die Welt fhrte und die Brcke nicht mehr war, was sie frher gewesen war: die Verbindung des Ostens mit dem Westen. Genauer gesagt, die meisten Leute dachten gar nicht daran. Musik Absage: ?Die Brcke ber die Drina: 25 Jahre nach den Massakern im bosnischen Visegrad?. Das waren die Gesichter Europas an diesem Samstag. Dirk Auer war der Autor dieser Sendung. Die Literaturauszge stammen aus dem Roman ?Die Brcke ber die Drina? von Ivo Andric. Babette Michel w„hlte die Musik aus und fhrte Regie. Gunther Rose und Kiwi Eddy bernahmen die Endproduktion. Redakteur dieser Sendung war Gerwald Herter 2