Nachspiel COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Raufen mit Respekt Asiatische Kampfkünste in Deutschland von Nina West Sendetermin: Sonntag, 02. Dezember 2012, 17:30 Uhr Autorin "Bei unserer Geburt treten wir auf den Kampfplatz und verlassen ihn bei unserem Tode". So hat es der große Pädagoge und Philosoph der Aufklärung Jean-Jacques Rousseau einmal formuliert. Das Leben wäre demnach also ein Kampf. Fragt sich nur, gegen wen? Und wie sieht er aus, dieser Kampf? Asiatisch vielleicht? Und - ist das dann Sport oder Kunst? O-Ton-1 Stephan Steigmann: Schwierige Unterscheidung - Kampfsport, Kampfkunst! Ähm man kann es sich einfach machen und sagen, Kampfsport unterliegt Regeln. Kampfsport hat Regeln im Wettkampfbetrieb, Kampfkunst hat keine Regeln. O-Ton 2 Kenan Yilmaz: Wir haben ja keine sportlichen Aktivitäten, es gibt keine Wettkämpfe, es gibt keine Auseinandersetzungen, sondern es geht um die KampfKUNST. O-Ton 3 Gerhard Walter: Also wenn ich ganz ehrlich bin, ich WEISS nicht was der Unterschied ist. Kunst klingt besser irgendwie, ne? Also der Gedanke ist sicher, dass es im Sport einfach nur um Gewinnen geht und in der KampfKUNST geht das um wesentlich mehr, als ein Gewinnen über einen anderen über einen Partner oder einen Gegner, also da gibt es diese Gegnerschaft nicht. Musik 1 Kung Fu Fighting ("Everybody is Kung Fu-fighting") Autorin Kampfkunst oder Kampfsport - aus Asien stammende Kampfstile sind hierzulande derzeit sehr beliebt. Vor wenig mehr als einhundert Jahren erreichten sie den Westen. In den 1960iger und 70iger Jahren entstand in Amerika und Europa eine regelrechte Modewelle. Atmo 1 Randori Schule: "Randori-Atmo" dann "Werfen bzw. Fallen auf die Matte" Autorin Auch Judo stammt ursprünglich aus Japan. Es wird in seiner heutigen Form erst seit 1892 praktiziert. Damals galten die jahrhundertealten traditionellen Kampfkünste als altmodisch und drohten in Vergessenheit zu geraten. Sie waren von den Berufssoldaten der Feudalzeit, den Samurai, praktiziert und immer weiter verfeinert worden. Doch dieser Kriegerstand verlor mit der aufkommenden Industrialisierung an Bedeutung. Japan legte sich nach westlichem Vorbild eine moderne Armee zu. Der Literatur-Lehrer Jigoro Kano wollte das Jiu-Jitsu, eine von den Samurai entwickelte Kunst der Selbstverteidigung und Geistesschulung, bewahren und besonders junge Menschen wieder dafür begeistern. Zunächst entfernte er alle tödlichen Angriffstechniken sowie Schläge und Tritte. Er baute die Wurftechniken aus und ergänzte Falltechniken. So schuf er nach und nach ein modernes sportliches Trainings- und Wettkampfsystem und nannte es Judo, was "Sanfter Weg" bedeutet. Dabei ging es ihm neben der körperlichen Fitness und der Fähigkeit, im Zweikampf bestimmte Techniken anwenden zu können, vor allem um die Meisterschaft des Charakters. Inzwischen ist Judo ganz im Westen angekommen und seit 1964 auch olympische Disziplin. Atmo 2 "Teddy, Teddy!"-Rufe Autorin Februar 2011, Judo-Grand Slam Finale im Schwergewicht der Herren in Paris. Daiki Kamikawa, der amtierende Weltmeister in der offenen Gewichtsklasse, trifft erneut auf Teddy Riner. Der französische Judo-Star wird im voll besetzten Palais Omnisports von seinen begeisterten Fans mit "Teddy Teddy"-Rufen angefeuert. Riner will Revanche. Ein Jahr zuvor, 2010 in Tokio, hatte er sich gegen Kamikawa mit Silber begnügen müssen. Atmo 3 Applaus steigert sich, Klatschen A: Kamikawa gets scored on! B: xy and xz A: He needs to keep one foot in! Gong Autorin Tatsächlich gewinnt der Franzose diesen Kampf. Der über 2 m große Kraftprotz feiert seinen Erfolg spontan und provoziert dabei mit seinen Gesten. Mit weit ausholenden Schritten läuft er zur Anzeigetafel, gestikuliert in Richtung Publikum und deutet für die Zuschauer und die Kameras auf die Null neben Kamikawas Namen. Erst dann kehrt er zu seinem Gegner zurück und verbeugt sich, wie es die Regel verlangt. Atmo 4 Musik tosender Applaus announcer in the background Autorin Der Franzose geht als Sieger vom Platz. Ein Weltmeister. Dennoch, der Kommentator ist unzufrieden. Er ist sich sicher, dass eine Rüge des Internationalen Judo Verbandes folgen wird. Riners Verstöße gegen die Etikette beim Wettkampf waren unübersehbar. O-Ton 4 Kommentator, ippon.tv For me he hasen't learned his lesson, yet. You need to respect your opponent - win or loose - and he has lost to him and he showed him disrespect, he has beaten him and he is showing him disrespect. He needs to learn a lesson. Übersetzer: Meiner Meinung nach hat er seine Lektion noch nicht gelernt: Du musst Deinen Gegner respektieren, ob du gewinnst oder verlierst. Und er hat gegen ihn verloren und sich respektlos verhalten, er hat gegen ihn gewonnen und verhält sich respektlos - er hat noch eine Lektion zu lernen! Autorin Wie kann man Weltmeister werden und dennoch seine Lektion nicht gelernt haben? Worum geht es im Judo? O-Ton 5 Stephan Steigmann: Ganz schwierige Frage, weil Judo ist mehr als Sport. Judo ist eigentlich ein komplettes Erziehungssystem. Autorin Stephan Steigmann ist selber sehr erfolgreicher Wettkämpfer und seit über 25 Jahren Judo-Trainer. Er unterrichtet an der Kampfsportschule Randori in Berlin Steglitz. Auf der Website der Schule heißt es: Zitator: "Mit den Tränen kämpfen bringt nichts. Wir kämpfen mit Hand und Fuß." "Kampfsport formt nicht nur den Körper, sondern auch die Persönlichkeit: Im Training leben wir jeden Tag Werte, die den zwischenmenschlichen Umgang auch außerhalb der Trainingsräume prägen: Geduld, Vertrauen, Fairness, Achtung, Disziplin und Respekt." O-Ton 6 Stephan Steigmann: Judo als ganzheitliches Erziehungssystem ist, denk ich, gerade für Kinder enorm wichtig, weil man von früh an wichtige Anlagen legen kann hinsichtlich Konzentration, Koordination, die Kinder verstehen auch dieses Miteinander, diesen Gedanken, dass man mit dem Partner gemeinsam etwas macht, denn wenn ich mich wehre und sozusagen das Technik-Üben schon verhindere im Anfangsstadium, - das ist langweilig. Und wenn man dann gemeinsam Techniken übt, sich erarbeitet, dann lernt man also ganz anders umgehen, das ist ein sehr soziales Element. Autorin Mit anderen Worten: das Geworfenwerden und Fallen, also die Rolle des Verlierers einzunehmen, ist auch eine wichtige Erfahrung für den Judoka. Hinzu kommen die ritualisierten Verneigungen vor der Matte, vor dem Lehrer und dem Partner und das Einhalten von Regeln wie z.B. dem "Abklatschen". Wenn der Partner signalisiert, dass die "Schmerz-Grenze" erreicht ist, wird die Übung abgebrochen. Ohne dass dies verbal Thema des Unterrichts ist, lernen die Judoka von Beginn an, den Partner und dessen Grenzen zu respektieren. So schult das Judo neben dem Körper auch den Charakter des Übenden. Musik 2 Kung Fu Fighting (Anfang) Autorin Neben dem Judo gibt es noch zahlreiche andere asiatische Kampfstile, die - oft in kleineren Verbänden oder Vereinen - in Deutschland praktiziert werden. Zusammengefasst werden sie wahlweise unter dem Begriff Kampfsport oder Kampfkunst. Was jedoch jeweils Sinn der Übung ist, da gehen die Meinungen und das Selbstverständnis oft weit auseinander: O-Ton 7 Kenan Yilmaz: Wir haben ja keine sportlichen Aktivitäten, es gibt keine Wettkämpfe, es gibt keine Auseinandersetzungen sondern es geht um die KampfKUNST, es geht in erster Linie besonders, wenn man gerade neu beginnt, um die Selbstbehauptung, um die Selbstverteidigung und das ist das Hauptmerkmal, was wir halt am Wing Tsun haben. Autorin Kenan Yilmaz unterrichtet Wing Tsun in Berlin. Dieser Selbstverteidigungsstil geht auf das chinesische Shaolin Kung Fu zurück. Der Legende nach floh die Nonne und Shaolin-Meisterin Ng Mui nach der Zerstörung ihres Klosters in ein Versteck. Dort entwickelte sie einen eigenen Stil, der es auch körperlich Schwächeren erlauben sollte, sich mittels der Techniken erfolgreich zur Wehr zu setzen. Sie benannte den Stil nach ihrer ersten Schülerin, dem Mädchen Wing Tsun, was soviel heißt wie "Ode an den Frühling". O-Ton 8 Kenan Yilmaz: Der Legende nach ist es so, dass damals die Zivilbevölkerung unterdrückt wurde. Also hat man einen Stil, eine Kampfkunst, eine geheime Kampfkunst entwickelt, um der Bevölkerung zu helfen. In der heutigen Zeit, wir sind jetzt hier in Europa, nicht in China, sind wir darauf bedacht, dass die Leute - in Anführungszeichen - auch nicht mehr unterdrückt werden und zwar im Sinne von Mobbing. Autorin Seit 1996 übt Kenan Yilmaz Wing Tsun, seit dem Jahr 2000 betreibt er seine eigene Schule. Der 39-Jährige ist in Berlin Neukölln aufgewachsen und hat früher selbst regelmäßig sehr direkte Erfahrungen mit körperlicher Gewalt unter Kindern und Jugendlichen gesammelt. Atmo 5 - Konflikt auf offener Straße Wie ist er damals damit umgegangen? O-Ton 9 Kenan Yilmaz: Äh, man hat das Gleiche gemacht. Also man durfte kein Opfer sein. Das geht nicht. Also, wenn jemand gekommen ist und man hat versucht zu reden, ging nicht, kann ich jetzt so von meiner Erfahrung her sagen. Also ich hab dann z.B. angefangen mit Bodybuilding ja? Man hat sich irgendwie äußerlich auch geändert, man hat äußerlich sich anders angezogen, man hat sich äußerlich anders verhalten und das wurde dann mit der Kampfkunst Wing Tsun alles ganz anders, weil man wurde immer selbstbewusster. Also ich bin mir ganz sicher, dass das Selbstbewusstsein eine große Rolle spielt. Atmo 6 WT-Training, Schlagen auf Pratzen Autorin 13 "Effektive Selbstverteidigung" so wirbt Yilmaz für seine Kurse. Auch wenn die Atmosphäre in der Schule geradezu familiär und herzlich wirkt: viele seiner Schüler lernen Wing Tsun, weil sie es anwenden wollen. Gewalttätige Situationen sind hier für überraschend viele Schüler Teil ihrer alltäglichen Realität. Vor allem für Frauen und Kinder werden Kurse zur Selbstverteidigung und Selbstbehauptung angeboten. Auch Stefanie Römers Motivation, Wing Tsun zu lernen, war sehr konkret. Die zurückhaltend wirkende 31 Jährige hat in ihrem privaten Umfeld selbst Gewalt erlebt. O-Ton 10 Stefanie Römer: Persönliche Dinge haben mich hierher gebracht, dass ich mich von meinem Typ Wesen, von meiner Persönlichkeit tatsächlich selbst verteidigen musste. Hab mir was gesucht, hatte meine Kinder angemeldet und hab dann selber auch gesehen, dass es leicht zu erlernen ist und mich hier auch mit angemeldet und das hat funktioniert. Autorin Worauf kommt es an, wenn eine Situation zu eskalieren droht? O-Ton 11 Kenan Yilmaz: Die Körpersprache muss stimmen, Mimik, Gestik, verbal, visuell - alle diese fünf Punkte dienen zur Selbstbehauptung. Wenn all dieses natürlich nicht fruchtet, wenn man merkt, man kommt nicht damit weiter, man sucht sich vielleicht sogar einen Zeugen, der einem hilft, oder der vielleicht auch sieht, was da gerade passiert, dann kommt es zur körperlichen Auseinandersetzung. Und da ist es so, dass wir spezielle Übungsmethodiken haben, wie wir den Gegner in Anführungsstrichen "erfühlen". Autorin Wer so trainiert, nimmt die Absicht eines Angreifers wahr und reagiert, ehe der seinen Schlag ausführen kann. Ein Block mit dem Ellenbogen etwa lenkt eine angreifende Faust ab. Mit einem gezielten Griff ans Handgelenk oder einem geschickten Hebel wird die Kraft des Gegners umgelenkt. Und durch die so geöffnete Lücke in der Deckung des Angreifers wird dann gezielt gekontert: Mit Stichen ins Auge, Faustschlägen zum Hals oder gezielten Schlägen der offenen Hand auf sein Ohr. Geschlagen wird zur Übung auf eine Pratze, einen dick gepolsterten Lederhandschuh, oder es wird an einer Holzpuppe geübt. O-Ton 12 Kenan Yilmaz: Also es ist so, dass wir tatsächlich den Gegner mitnehmen, seine Kraft ihm nehmen und ihn dann zur Strecke bringen, sozusagen. Ja? Und da kann man halt sich aussuchen, inwieweit man da geht. Autorin Und wie weit darf das gehen? O-Ton 13 Kenan Yilmaz: Wenn's um meine Gesundheit geht? Keine Frage! Mehr sage ich dazu nicht. Es ist so, man sollte natürlich aufhören, wenn man den Gegner am Boden hat, aber wenn ich um meinen Tod fürchten muss, dann würde ich auch bis zum Äußersten gehen müssen. Es ist so. Atmo 7 WT-Training, Holzpuppe Autorin An der Wand gleich am Eingang hängen, wie zu einem Familienstammbaum arrangiert, Fotos von seinem Lehrer und den Lehrern seines Lehrers. Während Kenan Yilmaz ihre Namen aufzählt, betont er, dass ihm Tradition sehr wichtig sei. Seine Schule hat zwei Standorte. In Berlin-Köpenick und in Treptow, einem Bezirk, der sich gerade wachsender Beliebtheit erfreut. Hier sind die hohen Räume des Altbaus geschmackvoll und in Trendfarben renoviert. Wer von der belebten Straße aus das ehemalige Ladengeschäft betritt, den lächelt vom anderen Ende des Raumes her mit geschlossenen Augen das Bild eines großen goldenen Buddhakopfs an. Dass in letzter Konsequenz "das Äußerste" als Möglichkeit des Wing Tsun- Kampfes gedacht werden kann, erinnert an den Ursprung des Ganzen, an den Kampf auf Leben und Tod, für den diese Techniken ursprünglich in China entwickelt wurden. O-Ton 14 Kenan Yilmaz: Aber im Grunde genommen kommt man gar nicht so weit, wenn man wirklich sich vernünftig verhält, kommt man nicht in die Situation. Autorin Auch wenn Yilmaz seinen Schülern beibringt, wie sie in einer gewalttätigen Auseinandersetzung einen Angreifer ausschalten können, sein Hauptaugenmerk liegt auf der Gewaltprävention. O-Ton 15 Kenan Yilmaz: Wenn man Selbstbewusstsein ausstrahlt, kommt man nicht in so eine Situation, das ist ja immer das Gleiche. Also wenn man wirklich selbstbewusst durch die Straßen geht, ich meine, ich bin jetzt auch nicht anders als damals und ich werd jetzt nicht mehr angemacht. Autorin Stephanie Römer, die seit vier Jahren bei Yilmaz trainiert, unterrichtet mittlerweile selbst. Das Wing Tsun habe ihr Leben positiv verändert, sagt sie. O-Ton 16 Stefanie Römer: Gewalt an sich begegnet mir, für mich persönlich nicht mehr, sondern tatsächlich eher äh äh, dass es in die Selbstbehauptung geht, dass ich also praktisch alles vorher schon beenden kann, es kommt gar nicht mehr zu Übergriffen oder sonstiges. Also mir ist bisher nichts mehr passiert. Autorin Diesen Effekt kennen auch die Judoka. Angelika ist 22 Jahre alt, studiert Archäologie und ist, seit sie neun Jahre alt ist, im Judoverein. Sie erinnert sich an eine für sie bedrohliche Situation, die sie dank ihres Trainings meistern konnte. O-Ton 17 Angelika: Das war äh eine Situation am U-Bahnhof mit einem sehr angetrunkenen Mann und da ist es dann schon, glaub ich, sehr sinnvoll, wenn man eine gewisse Körperhaltung zeigt, die nicht so viel Angst ausstrahlt, sondern eher Sicherheit, dass man sich seiner körperlichen Fähigkeiten in dem Moment bewusst ist und dass man vielleicht auch mal einen Angriff abwehren könnte. Autorin Angelika sitzt in einer Übungspause auf dem Boden und dehnt sich. Der niedrige Trainingsraum im ersten Stock eines großen Gewerbeneubaus ist mit Matten ausgelegt. Bei Randori wirkt die Atmosphäre lässig. Hier scheint sich niemand auf einen realen Kampf auf der Straße vorzubereiten. Es wird geplaudert und viel gelacht. Es geht um's Gewinnen, ganz sportlich. In zwei großen Übungsräumen können verschiedene Kurse parallel stattfinden. Vom geräumigen Flur aus kann man jeweils durch ein Fenster zuschauen. Doch die Türen bleiben bei Stephan Steigmann während des Trainings ohnehin offen. Davor stehen Schüler anderer Kurse, auf dem Boden balgen sich - wie Katzenkinder - zwei etwa sechsjährige Jungs. Sie kichern mit erhitzten roten Gesichtern. Atmo 8a/b Judo, Kinder Kichern und Balgen und Gemurmel der Großen Im Büro nebenan gibt es einen Getränkeautomaten und eine Gefriertruhe mit Speiseeis. Ein Tresen teilt den Raum. Auch hier tummeln sich Schüler und verwandeln das Büro in ein Vereinslokal. Auf den Regalen rundherum sind dicht gedrängt Pokale aufgereiht. Marcel Jamais ist Weltmeister im Judo. Im Jahr 2011 hat er mit seinen gerade einmal 30 Jahren bei den Senioren den Titel geholt, im Schwergewicht der Männer. Er ist groß, hat breite Schultern und sehr muskulöse Arme. Doch wirkt er besonnen, beinahe schüchtern. Körperliche Gewalt begegnet ihm regelmäßig in seinem Beruf als Polizist. Auf Demonstrationen oder bei Sportveranstaltungen mit aggressiven Fans. Hier kommen jedoch keineswegs seine Fähigkeiten als Kämpfer zum Einsatz, im Gegenteil. O-Ton 18 Marcel: Ich bin aufgrund dessen, dass ich so ausgelastet bin jetzt durch meinen Sport an sich irgendwie auch so eine Art deeskalierender Beamter. Wird auch immer gerne beschmunzelt, weil ich ja mit meinen 1,90 cm und äh 100 kg ein bisschen gefährlicher aussehe, sage ich mal, ne? Das erwartet man nicht immer. Aber ich bin eigentlich so der kommunikative Typ und äh probiere eigentlich so Situationen durch Gespräche oder einfach präventives Handeln einfach flach zu halten. Autorin Weltmeister Marcel begegnet seinem Gegenüber also zunächst einmal mit Respekt und wahrt damit sogar fern der Judomatte die Regeln seines Sports. Er scheint seine Lektion gelernt zu haben. Atmo 9 Aikido-Gong Zitator: "Denken Sie immer daran: Es ist besser, in einer brenzligen Situation Gelassenheit zu zeigen, als zu kämpfen. Wenn Sie aber gezwungen sind, einer Kraft zu begegnen, dann benutzen Sie diese, damit Sie sich verteidigen können." - Bruce Lee Autorin Der Kraft des Gegners auszuweichen, sie aufzunehmen und seinen Angriff gegen ihn zurückzulenken, dieses Prinzip findet sich im Wing Tsun ebenso wie im Judo und vielen anderen Stilen. Besonders bekannt dafür ist das Aikido. Der Japaner Morihei Ueshiba, Händler von Beruf, hat es um 1930 entwickelt - ebenfalls aus den traditionellen Kampfkünsten der Samurai. Erklärtes Ziel der Aikidoka ist es jedoch, dem "Gegner" möglichst kein Haar zu krümmen. Auch im Aikido trifft ein Angreifer auf einen Verteidiger. Zur Abwehr eines Angriffs gibt es Wurf- und Haltetechniken, meistens landet der Angreifer auf dem Boden. Doch nach dem Aikido-Lehrer Gerhard Walter geht es nicht so sehr um die Techniken. Vielmehr besteht die eigentliche Übung darin, den Körper das tun zu lassen, was er ohnehin tun will, solange er lebendig ist: der Schwerkraft entgegenwirken. Denn lässt man das Zusammenspiel aus Knochen, Bändern, Sehnen und Muskeln frei wirken, so wird sich der Körper aufrichten. Kommt nun eine Kraft von außen auf ihn zu, weiß der Organismus ganz natürlich darauf zu antworten. O-Ton 19 Gerhard Walter: Natur, Leben balanciert die Schwerkraft aus. Und und mit dieser Leichtigkeit und und wenn man sich als Ganzes wahrnimmt, existieren keine Arme mehr, keine Beine mehr, wir benutzen die Worte Arme, Beine, Füße, Knie, Kopf, Bauch, Rücken, aber im Wahrnehmen existiert das Ganze. Und wenn man sich als Ganzes wahrnimmt, und wenn (.) dann bewegt man sich auch als Ganzes. Wenn man sich als Ganzes bewegt, ist eine ungeheure Leichtigkeit da. Und wenn man sich mit dieser Leichtigkeit bewegt, dann ist man so schnell und so unmittelbar und so einfühlungsfähig, dass man einfach die die Kraft eines Angreifers einfach aufnimmt und weiterführt. Im Grunde genommen ist das einfach nur, die Schwerkraft auszubalancieren unter Einbeziehung eines anderen Menschen. Autorin Gerhard Walter hat die Anfänge der Kampfkunstbegeisterung in den 1970er Jahren in Deutschland miterlebt. Als er mit zwanzig Jahren zum Aikido kam, gab es zunächst kaum Lehrer. So hat er von Anfang an selbst unterrichtet. Seit nunmehr fast fünfzig Jahren. Atmo 10 Aikido-Training - lautes auf die Matten fallen, Rascheln der Gewänder Autorin Sein Dojo liegt in Berlin-Kreuzberg in einer alten Fabriketage. Dojo ist der japanische Name für den Übungsraum und heißt "Ort des Weges". Für den Begriff des Weges steht im Japanischen die Silbe "Do". Die Verbindung von Kampfkünsten und geistiger Schulung durch Meditation geht angeblich auf Bodidharma zurück. Der indische Mönch soll um 500 nach Christus in China auf einen Meister der Kampfkunst getroffen sein und festgestellt haben, dass es ihnen beiden um dasselbe ginge. Gerhard Walter hält sich jedoch nicht lange mit fernöstlicher Philosophie auf. Feste Bilder oder Vorstellungen darüber, was Kampfkunst ist, interessieren ihn nicht. O-Ton 20 Gerhard Walter: Es geht darum, dass der Mensch oder dass das Bewusstsein sich überwiegend über Gedankeninhalte definiert. Und wenn ein Bewusstsein entsteht, dass durch die Gedankeninhalte hindurch auf die Welt schaut, dann ist das Agieren im Realen immer routiniert, also dass heißt die Menschen bewegen und handeln in einem - ich nenn das mal - Routinemodus. Und dieser Routinemodus macht Unkörperlichkeit, macht einen Mangel an Präsenz, macht schlechte Bewegungen; daraus kommt, daß dann gesagt wird, in der Kampfkunst geht's eigentlich um natürliche Bewegung. Autorin Und natürliche Bewegung zeichnet sich durch große Leichtigkeit aus. Diese sei uns eigentlich allen gegeben, sagt Walter. Ein verspannter Mensch sei nur ein entspannter Mensch, der sich verspannt, schreibt er auf seiner Website. O-Ton 21 Gerhard Walter: Der Weg wäre dann der, von diesem Routinemodus hinzukommen zu diesem unmittelbaren und ursprünglichen wahrnehmensgesteuerten Modus. Also so kann man den Weg erstmal von von Asien erstmal trennen, weil sonst denkt man immer Japan, Japan, China, aber das hat mit Japan und mit China nichts zu tun, wir sind hier in Europa. Autorin Konkret bedeutet das für ihn, O-Ton 22 Gerhard Walter: (...) direkt durch die Augen, durch die Sinnesorgane die Welt wahrzunehmen. Das heißt aber, dazu muss man nicht in Gedankeninhalten zuhause sein, sondern zuerst im Wahrnehmen, weil das Wahrnehmen bildet diesen Augenblick ab. Das Wahrnehmen durchdringt diesen Organismus und steuert diesen Organismus, der wir sind. Und als Weg bezeichnet man eigentlich das, diesen Routinemodus zu verlassen und hinzukommen zu einem "Wahrnehmensmodus". Autorin Da es im Leben keine Wiederholung gibt, man also nie zweimal in denselben Fluss steigt, ist folglich jedes "Besser-werden-wollen" eine Illusion. Jedes Vergleichen einer Bewegung mit einer anderen führt lediglich weg vom gegenwärtigen Augenblick. O-Ton 23 Gerhard Walter: Es gibt ja von dem T.S. Eliot diesen schönen Satz, dass der moderne Mensch an einer Abgelenktheit leidet. Er ist abgelenkt von der Ablenkung durch Ablenkung. Er ist abgelenkt davon, dass er abgelenkt ist und er ist abgelenkt durch Ablenkung. Und d.h. er ist abgelenkt davon, diesen Augenblick in seinem Wahrnehmen auftauchen zu lassen. Und das Spannende ist daran(.) im Zen sagt man 'dieser Augenblick ist Medizin'. Und das meint, dass dieser Augenblick das ganze Universum ist ein einziges Angebot, in unserem Wahrnehmen aufzutauchen. Autorin Daher zielt die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs Sport - sich zerstreuen oder fortbringen - für Walter in eine falsche Richtung. Ist doch, gerade wer Höchstleistungen vollbringt - egal in welchem Bereich, alles andere als zerstreut. O-Ton 24 Gerhard Walter: Wenn man im Sport guckt, alle großen Sportler sprechen von Präsenz oder von Gegenwärtigkeit, oder jetzt äh vor Kurzem war ein Interview mit dem Thomas Müller vom Bayern München, der hat ein großartiges Tor geschossen, und dann sagt er, ja, "ich bin ein Raumdenker". Aber er ist natürlich kein Raumdenker, den Raum denkt man nicht, sondern den Raum nimmt man wahr, weil in einem gedachten Raum kann man sich nicht bewegen, so wie ein gedachtes Getränk den Durst nicht löscht. Atmo 11 Aikido Training Autorin 29 Der große Übungsraum mit den hohen Decken ist hell und wirkt schlicht und klar. Der Boden ist mit weichen Matten ausgelegt. Es gibt Holzschiebetüren am Eingang und zum Nebenraum und eine Kalligraphie mit kunstvoll getuschten japanischen Schriftzeichen an der Wand. Zen-Meditation ist Teil der Übung. Der Unterricht erfolgt in respektvoller, fast ehrfürchtiger Konzentration. Absprachen und kleine Scherze unter den Schülern werden nicht lauter als ein leises Murmeln. Immer zwei Schüler tun sich zusammen, um eine bestimmte Sequenz zu üben. Dabei übernimmt einer die Rolle des Angreifers und wird vom Partner zu Boden gebracht. Dann wird getauscht, immer im Wechsel. Die Bewegungen haben beinahe etwas Tänzerisches. Gerhard Walter sieht den Sinn seines Unterrichts nicht darin, Museumsverwalter zu sein für alte ehrwürdige japanische Kampfkunst-Techniken. Wer lediglich Technik übt, landet in einer Sackgasse. O-Ton 25 Gerhard Walter: Der Rudi Völler wurde mal gefragt, der war ja mal unser Nationaltrainer, und der wurde mal gefragt, also als der Zinedine Zidane eben der große Star war, was denn jetzt das Geheimnis von dem Zinedine Zidane sei, wie man sich so bewegen könnte wie der, wie man so eine Übersicht haben kann wie der. Und der hat dann gesagt: 'Bei dem sind Ball und Fuß eins'. D.h. auch da wird nicht von Technik gesprochen, sondern davon, dass bei dem Ball und Fuß eins sind. Und diese Fragen gehören ins Zentrum und und und nicht irgendwelche ja, alles andere ist eigentlich ziemlich Kappes irgendwie. Autorin So empfiehlt er auch nicht unbedingt, Aikido-Techniken anzuwenden, wenn es auf der Straße einmal brenzlig wird. Wohl aber, gegenwärtig zu sein und sich dadurch in jedweder Situation natürlich bewegen zu können. Das sei effektiv! Irina ist 37 Jahre alt und arbeitet als Mathematikerin an der Uni. Sie übt seit acht Jahren Aikido bei Gerhard Walter und trägt den ersten Dan, was einem schwarzen Gürtel, also einem ersten Meistergrad entspricht. Nach dem Training sitzen und stehen die Schüler noch eine Weile zusammen und plaudern oder trinken etwas in der kleinen Teeküche neben dem Übungsraum. Atmo 12 Nach dem Aikido Training, Plaudern Irina erzählt, dass schon der Lehrer ihres Lehrers geraten habe: O-Ton 26 Irina: ,Wenn man in eine Situation kommt, wo man sich verteidigen muss, soll man bloß kein Aikido machen!' Ich würde keine Aikido-Techniken anwenden, wenn ich mich jetzt selbst verteidigen müsste, also nicht in dem Sinne als Technik, ne? Also ich sehe den Verteidigungs-Aspekt im Aikido eher darin, dass man eben eine ganz andere Wahrnehmung und dementsprechend auch eine ganz andere Ausstrahlung hat. Also das merke ich auch an mir selber in diesen Jahren, die ich übe. Und ich glaube, dass diese Haltung, die sich auch irgendwie körperlich oder sonst irgendwie ausdrückt, dass es einfach weniger wahrscheinlich macht, dass man angegriffen wird, das glaube ich. [Und sonst hätte man vielleicht bestimmten Vorteil, dass man ausweichen könnte oder sonstwie, ne? Aber so Kämpfen mit Aikido würde ich nicht machen, ne?] Autorin So unterschiedlich Judo, Wing Tsun und Aikido auch sein mögen, eines verbindet sie: Es geht darum, sich und seine Grenzen, sowie die Grenzen des Gegners oder Partners kennen zu lernen und zu respektieren. Seinen Körper ebenso zu trainieren wie seinen Geist und darüber ein Selbst-Bewusstsein zu erlangen. Das Ziel ist Gegenwärtigkeit, die einen befähigt, angemessen zu reagieren. Egal, ob man im Grand Slam Finale steht oder sich gegen Rowdies auf der Straße zur Wehr setzt. Auf diesem Weg steht jeder an einem anderen Punkt. Die ganz kleinen Kinder lernen beim spielerischen Judotraining erst einmal die Kräfte und Fähigkeiten ihres Körpers kennen. Für Blinde oder Hörgeschädigte, die bei vielen anderen Sportarten von vornherein ausgeschlossen bleiben, bietet Steigmann speziell ausgerichtete Judo-Kurse an. Selbst körperlich Behinderte profitieren von seinem Unterricht. O-Ton 27 Stephan Steigmann Wenn ich einen Rollstuhlfahrer habe, der unter Umständen noch Tetraspastiker ist, oder so, der nur in der Lage ist, einen Arm mehr oder minder zu bewegen, nur den Kopf in eine Richtung zu drehen, dann muss ich dem irgendwas sozusagen an Technik anbieten, was er nachstellen kann. Er kann am Boden ein bisschen was machen, der kann Falltechniken üben - ganz wichtig - das sind auch Kinder, die fallen mal aus dem Rollstuhl und bevor sie auf den Kopf fallen, rollen sie lieber! Das sind ganz lange mühsame Prozesse, aber auch diese Kinder nehmen davon eine ganze Menge mit und bekommen eine Sporterfahrung, die ihnen sonst verwehrt wäre. Autorin Auch mit zum Teil höchst aggressiven Kindern und Jugendlichen arbeiten der Judo-Lehrer Steigmann und der Wing Tsun-Lehrer Yilmaz. Sie unterrichten im Bereich der Gewaltprävention jeweils an verschiedenen öffentlichen Schulen. Gewaltbereite Kinder lernen über die körperliche Erfahrung ihre Grenzen besser kennen. Und im besten Fall gewinnen sie die Erkenntnis, dass das, was ihnen weh tut, auch dem anderen weh tut. Auch so entsteht Selbst-Bewusstsein. Jeder Stil hat seine Berechtigung. Für jeden Übenden ist ein anderer Weg der richtige. Ganz im Sinne der ursprünglichen Bedeutung von Kung Fu, der Mutter aller Asiatischen Kampfkünste. Denn der Begriff "Kung Fu" bedeutet wörtlich lediglich "etwas durch harte, geduldige und beharrliche Arbeit Erworbenes". Er bezog sich auf den Grad der Kunstfertigkeit bzw. Meisterschaft in jedweder Disziplin, sei es das Kämpfen oder die Kunst des Blumenarrangierens. Und der eigentliche Kampf ist ohnehin der gegen sich selbst. O-Ton 28 Stefanie Römer: Ich hab das tatsächlich trainieren müssen. Ich hab von ganz klein angefangen bis hin (.) hab viele Tränen vergossen und bis ich das wirklich verstanden habe, aber der Kampf (.) also ich hab gekämpft einfach, für mich selber. Es ist ein innerer Kampf, meine innere Stärke, das habe ich alles gefunden, das habe ich auch hier gefunden und ich glaube auch, dass ich das in keiner anderen Schule als hier hätte finden können. Atmo 13 Aikido Gong Gema Liste: Titel: "Kung Fu Fighting" Interpret: Carl Douglas Autor/Komponist: Carl Douglas LC-Nr.: 06350 erschienen: 2005 ZYX Music (mit freundlicher Genehmigung von sanctuary records group ltd/ 1974 sanctuary copyright ltd) 1