Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 7. Januar 2017 - 11.05 - 12.00 Uhr KW 01 Begrenzte Solidarität - Polens Flüchtlings-Debatte Eine Sendung von Anja Schrum und Ernst-Ludwig v. Aster Redaktion: Marcus Heumann Musikauswahl: Anja Schrum, Ernst-Ludwig v. Aster Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Take (Lina) englisch O-Ton / Übersetzung Wir konnten kein Arabisch auf der Straße sprechen. Es gibt so viele radikale Menschen hier. Wir hatten Angst. Wenn du Arabisch sprichst, dann bist du für sie ein Terrorist. Und kein Christ. Obwohl wir die ganze Zeit das Kreuz tragen. Sprecher: Eine syrische Christin über ihr Leben in Polen nach der Flucht. Sprecher: Take (Rogala) polnischer O-Ton / Übersetzung Nicht jeden über unsere Grenze zu lassen, das ist, wie wir Solidarität mit Europa zeigen. Wenn wir Tausende über unsere Grenze lassen würden, würden sie nach Deutschland, in die Schweiz oder Frankreich reisen... Ich denke, dass sollte das Thema sein. Und nicht das Thema Flüchtlinge. Das ist nicht das Hauptthema. Sprecher: Und der Chef der Ausländerbehörde über die polnische Flüchtlingspolitik. MODERATION: "Begrenzte Solidarität. Polens Flüchtlingsdebatte." Eine Sendung von Anja Schrum und Ernst-Ludwig von Aster. MUSIK Atmo 1: Auto Innen Sprecher: Schnurgerade zieht sich die Landstraße durch die Wälder, Richtung Osten. Kiefern und Birken, links und rechts. Ab und zu einer kleiner Ort, dann wieder Wälder. Und Felder. Atmo hoch Sprecher: Wer in Polen Flüchtlinge treffen will, der braucht gute Landkarten. Und ein robustes Auto. Die meisten Unterkünfte liegen weitab der Städte. Im Osten des 39-Millionen-Einwohner-Landes. Zur Zeit leben rund 4.200 Asylbewerber in Polen. Atmo hoch Sprecher Wir wollen nach "Czerwony Bor", in ein Flüchtlingslager unweit der weißrussischen Grenze. "Czerwony Bor" heißt "roter Wald". Atmo hoch Sprecher: Irgendwann weiß auch das Navi nicht mehr weiter. Im Örtchen Glebocz Wielki wartet eine alte Frau an der Bushaltestelle, einen Plastikbeutel mit Champignons in der Hand: Take 1: Rentnerin / polnisch (ohne Übersetzung) Sprecher drüber: "Sie müssen noch ein paar Kilometer geradeaus und dann abbiegen, in den Wald. Und dann am besten nochmal fragen", sagt sie. Irgendwo dort seien die Flüchtlinge untergebracht. Bis heute hat sie noch keinen von ihnen gesehen. Atmo Sprecher: Eine schmale Straße führt in den Wald, ein großes plastikblumengeschmücktes Holzkreuz grüßt am Wegesrand. 70 Prozent der Polen, so die Umfragen, sind gegen die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen. Mitte 2015 waren es nur 50 Prozent.... Atmo Sprecher: Ein Stückchen weiter, auf einer Lichtung, parkt ein alter VW-Golf. Ein Pärchen beugt sich über den Kofferraum, Mann und Frau, beide um die 50. Als wir aussteigen, schließen sie schnell die Heckklappe. Take 2: polnisch / Frau (ohne Übersetzung) Sprecher drüber: "Wir leben hier in der Nähe", sagt die Frau lachend. "Wir machen einen Spaziergang. Vielleicht finden wir ein paar Pilze". Ihr Begleiter muss grinsen. Jeder weiß, dass die Pilzsaison schon lange vorbei ist. Take 3: Frau polnisch ( Übersetzung): Wir leben sechs Kilometer von hier entfernt. . In unserem Ort gibt es eine Schule. Da gehen die Flüchtlingskinder hin. Sie werden jeden Tag mit dem Bus gebracht. Mittlerweile sind dort mehr ausländische Kinder, als polnische. Die meisten Kinder kommen aus Tschetschenien. Sie gehen ein paar Monate zur Schule. Und dann verschwinden sie wieder. Und dann kommen neue Flüchtlinge. Sprecher: Der Mann verschränkt die Arme vor der Brust. In seinen Mundwinkeln funkeln zwei Goldzähne. Die Schneidezähne fehlen. "Ochrona" steht auf seiner schwarzen Jacke. "Sicherheit". Er arbeitet für einen Wachdienst. Take 4 polnisch Frau/Mann (ohne Übersetzung) Sprecher drüber: "Natürlich kennen wird das Flüchtlingslager", sagt seine Begleiterin. Wenn sie nach Czerwony Bor wollen, dann müssen sie am Ende des Waldes nach rechts, Richtung Badzce, dann sehen sie ein Hinweisschild. "Nein", sagt ihr Begleiter, "ihr müsst anders fahren". Nicht rechts rum, sondern links. Und dann geradeaus.. . Atmo Auto Sprecher: Weiter geht's. Raus aus dem Wald, rauf auf eine Asphaltstraße. Wir fahren rechts rum, nach 500 Metern informiert ein blaues Schild auf Polnisch, Russisch und Englisch: "Centre for Foreigners in Czerwony Bor "Zentrum für Ausländer" heißt das. Von Flüchtlingen kein Wort. Der Pfeil zeigt nach rechts. In den Wald. Gelb schimmern einige Gebäudesilhouetten durchs Unterholz. . Atmo hoch Sprecher: Alte Kasernengebäude. Dreistöckig. Modernisiert. Und gelb getüncht. Neuer Stacheldraht glänzt auf den Mauern. An einem hohen Mast flattert die rot- weiße polnische Fahne. Kameras überwachen die Straße, eine schwere Stahltür versperrt den Weg. Davor wartet ein Polizeiwagen. "Das hier ist das Gefängnis", sagt ein Polizist. Das Flüchtlingscamp liegt gleich nebenan. Auch dort weht die polnische Flagge am Mast, hängen Kameras an den alten Kasernengebäuden, trennt ein Zaun die Häuser von der Außenwelt, allerdings ohne Stacheldraht. Atmo: Parkplatz/Autoschrauber.. Sprecher: Auf einem Parkplatz vor dem Gebäude, schrauben drei bärtige junge Männer an einem alten Golf. Der Kotflügel liegt auf dem Boden, zwei Räder sind abmontiert. "Wir kommen alle aus Tschetschenien", sagt einer. Seit einem knappen Jahr leben sie hier mit ihren Familien. Mehr wollen sie aber nicht erzählen. Atmo: Motor heult testweise auf Sprecher: Einer der Männer greift zum Mobiltelefon. "Wartet", ruft er uns hinterher, "gleich kommt ein Kollege". Atmo: Hinterherrufen "Kollega" Sprecher: Fünf Minuten später erscheint ein hochgewachsener Mann auf dem Parkplatz, den Mantelkragen hochgeschlagen, drum herum ein blaues Tuch. Nennt mich "Mahmut" sagt er. Und stellt gleich klar, dass dies nicht sein richtiger Name ist. Der junge Mann sieht müde aus. Sein Gesicht ist bleich, die Augen gerötet Take 5 Mahmut/Deutsch Ein Jahr in Deutschland, Saarbrücken, Zweibrücken... Sprecher: Ein Jahr hat er in Deutschland gelebt, erzählt er, an der deutsch- französischen Grenze. Dann musste er zurück nach Tschetschenien. Einige Monate später machte er sich wieder auf den Weg nach Westen. Mit seiner Frau und drei Töchtern. Mit dem Zug fuhren sie zum weißrussisch- polnischen Grenzübergang. Die Weißrussen ließen die Familie passieren. In Polen beantragten sie Asyl. Take 6 Mahmut polnisch/russisch (ohne Übersetzung) Sprecher drüber: Die Mentalität in Polen sei anders als in Deutschland, erzählt er, die Atmosphäre so ähnlich wie bei ihm zu Hause. Nur, dass in Polen nicht gefoltert wird. Seit gut einem Jahr lebt Mahmut in der alten Kaserne im Wald. Sein Sohn ist hier geboren. Die drei Töchter gehen zur Schule. Er arbeitet in einer nahegelegenen Elektrofabrik, wenn es etwa zu tun gibt. "Unsere kleine Wohnung hier ist in Ordnung", sagt er. Monatlich zahlt der Staat 340 Zloty, umgerechnet etwas mehr als 80 Euro. Take 7 Mahmut (ohne Übersetzung): Sprecher: "Wenn du in Not bist, hast du keine Wahl", sagt er. Und blickt auf den Kiefernwald. Mahmut will in Czerwony Bor den Ausgang seines Asylverfahrens abwarten. Der 30jährige weiß, dass er damit eine Ausnahme ist. 80 Prozent seiner Landsleute, die in Polen Asyl beantragen, verschwinden noch während des Verfahrens Richtung Westen. Denn die Anerkennungsquote in Polen tendiert für Tschetschenen in Richtung Null. Nicht anders als in Deutschland. Take 8 Mahmut (polnisch/russisch) Übersetzung Ich will nicht über die Zukunft nachdenken. Was passiert, passiert. Wir müssen einfach damit leben. Ich bin jetzt seit mehr als einem Jahr hier. Ich habe Polnisch gelernt. Aber ich würde ungern darüber sprechen, wie es weitergeht.. MUSIK LITERATURMUSIK LITERATUR 1 Literatur-Sprecher: Im September 1981 sollte uns ein Zug nach Deutschland bringen, nur wenige Wochen bevor in Polen der Kriegszustand ausgerufen und die Gewerkschaft Solidarnosc für Jahre zerschlagen wurde. Sprecherin: Adam Soboczynski verließ Polen 1981. Im Alter von sechs Jahren. Seine Familie siedelte nach Deutschland über. Wie hunderttausende Polen flüchtete sie vor dem drohenden Kriegsrecht und der Wirtschaftskrise. Seine Erinnerungen hat der Schriftsteller und Journalist in seinem Buch "Polski Tango" festgehalten. Literatur-Sprecher: Als meine Eltern den Aufbruch in den Westen beschlossen, saßen sie in der Küche. Rauchend. Vater wollte weg. Mutter sagte, während sie energisch eine Zigarette ausdrückte, so schlecht gehe es uns doch nicht. So schlecht nicht, dass ein neues Leben zu wagen sei. Selbst das Auto, ein Fiat Polski, sei in greifbarer Nähe, bereits bezahlt, auf einer Auslieferungswarteliste, nur noch wenige Jahre, dann sei es soweit. Dann blickte sie aus dem Fenster auf unsere Straße. Vater sagte: "Willst Du in den Schlangen stehen, ein Leben lang?" Mit Lebensmittelmarken in der Hand stand Mutter, die Schneiderin, vor Geschäften. 1,5 Kilogramm Fleisch gab es für jeden Erwachsenen pro Monat, ein wenig Wodka, ein wenig Gemüse und Obst. Die Wirtschaft Polens drohte zu kollabieren. Vater sagte, er habe Angst, schließlich sei er in der Solidarnosc, die Kommunisten würden bald wüten. Mutter erwiderte: "So viele in diesem Land sind in der Solidarnosc." Wir würden das aushalten. Vater: "Der Junge wartet auf eine Operation. Das Bein. Die Krankenhäuser in Deutschland sind besser." Am Abend kam Mutter an mein Bett, zog die Decke zurecht, sagte: "Wir werden bald nie mehr in Schlangen stehen" LITERATURMUSIK Geräusch-take 1 Straßenverkehr Warschau Sprecherin: Eine Straße im Zentrum vom Warschau. "Urzad do Spraw Cudzoziemcow" ist auf einem roten Schild an einem beigen Verwaltungsgebäude zu lesen. Die Rollgitter vor dem Eingang sind hochgezogen. Daneben steht in Englisch, Französisch und Russisch: "Amt für Ausländer". Geräusch-take 2: Pförtner/Empfang Sprecherin: Hinter einem abgenutzten Holztresen beugt sich die Mitarbeiterin eines Sicherheitsdienstes über einen Computer. Über ihr leuchten die riesigen, roten Ziffern einer alten Digitaluhr. Vor ihr steht ein elektronisches Drehkreuz frei im Raum. Daneben haben sich zwei Kollegen im Rentenalter aufgebaut. Geräusch-take 3 Pförtner/Empfang Sprecherin: Die Wächter scherzen mit einer Angestellten. An einer Pinnwand über einem vergilbten Heizkörper hängen zahlreiche Stellenanzeigen. Die Behörde sucht Fallbearbeiter mit Fremdsprachenkenntnissen, aber auch IT-Personal. Geräusch-take 4: Begrüßung Sprecherin: Pressesprecher Jakub Dudziak begrüßt uns. Und stellt sicher, dass wir über das Display am Drehkreuz eine Registrierungskarte ziehen. Dann geht es vorbei an ein paar Bauarbeitern Richtung Fahrstuhl. Geräusch-take 5: Fahrstuhl Sprecherin: Der betagte Aufzug ruckelt in den dritten Stock. In einem Besprechungszimmer wartet Behörden-Leiter Rafal Rogala. Ein durchtrainierter 40jähriger mit 3-Tage-Bart im grau-glänzenden Anzug. Geräusch-take 6: Begrüßung Sprecherin: Der Leiter des Ausländeramtes legt eine Broschüre auf den Tisch, beginnt zu blättern. Pressesprecher Dudziak setzt sich ihm gegenüber und platziert sein Tablet vor sich. Er ist seit April im Amt, kurz nach dem Regierungswechsel. Rafal Rogala schlägt eine stilisierte Polen-Karte auf - ein Land in Lila. Leuchtend orange Punkte symbolisieren die Flüchtlingslager. Take 1 (Rogala) Übersetzung Bei uns kommen die meisten Migranten aus dem Osten. Darum liegen unsere Flüchtlingszentren vor allem im östlichen Teil des Landes. Die Zentren sind dicht an der Ostgrenze und in Zentralpolen. Wir haben elf Zentren insgesamt Sprecherin: Der Jurist fährt mit dem Finger über die Karte. Deutet auf die Grenze zu Weißrussland und der Ukraine. Zwischen 8000 und 15.000 Flüchtlinge suchen jedes Jahr in dem 39-Millionen-Einwohner-Land Zuflucht. Take 2 (Rogala) Übersetzung Seit nunmehr 20 Jahren kommt die größte Gruppe aus der russischen Föderation, vor allem sind es Tschetschenen. Aber es kommen auch Flüchtlinge aus dem Nordkaukasus, aus Dagestan oder Inguschetien. Seit 2014, nach den Ereignissen in der Ukraine, kommen auch Ukrainer. Und in letzter Zeit kommen vermehrt Menschen aus Zentralasien, zum Beispiel aus Tadschikistan Sprecherin: Ihre Chancen als Flüchtling in Polen Asyl zu erhalten, seien allerdings sehr gering, räumt Rogala ein. Die Anerkennungsrate liegt derzeit bei etwa 10 Prozent. Seit gut zehn Jahren leitet der Jura-Absolvent der Katholischen Universität Lublin das Ausländeramt. Eingesetzt wurde er im Sommer 2007, noch von der ersten, national-konservativen PIS-Regierung, kurz bevor diese abgewählt wurde. Auch unter den darauf folgenden, liberalen Regierungen unter Führung der PO, zu Deutsch: Bürgerplattform, hatte das Thema "Migration" kaum Konjunktur. Take 3 (Rogala) Übersetzung In der Vergangenheit war das Thema Migration weder an erster, noch an zweiter, noch an dritter Stelle, es war wahrscheinlich noch nicht mal unter den Top-Ten-Themen der politischen Debatte. Seit 2015 aber ist das Thema mit Sicherheit unter den Top-3 -Themen, manchmal ist es vielleicht sogar das Spitzenthema... Sprecherin: Jahrzehntelang war Polen ein Auswanderungsland. In den 80ern flohen die Polen vor dem Kriegsrecht. Ab den 90ern dann suchten Millionen im Westen Arbeit. Doch seit dem Ukraine-Konflikt und der europäischen Flüchtlingskrise ist Polen plötzlich als Einwanderungsland gefragt. 7.000 Flüchtlinge hatte die alte PO-Regierung im Sommer 2015 versprochen aufzunehmen. Im Rahmen einer EU-weiten Umverteilung. Doch die neue, national-konservative PIS-Regierung widerrief die Zusage. Rogala erklärt, warum: Take 4 (Rogala) Übersetzung Wir waren nicht nur bereit, wir haben uns sogar beworben, einige Flüchtlinge zu übernehmen. Das war im Dezember 2015. Das waren nicht nur Worte, wir waren bereit. Und es war die neue Regierung, die versuchte das umzusetzen. Uns kamen aber einige Zweifel, der ganze Prozess schien uns merkwürdig. Und dann kamen die Vorfälle in Paris dazu, das Attentat im November, dann Brüssel im März 2016. Und dann entschied die neue Regierung, den Prozess zu beenden, aus Sicherheitsgründen. Sprecherin: Eine Begründung: Unter den Flüchtlingen könnten sich Terroristen befinden. Take 5 (Rogala) Übersetzung Man kann sagen, dass unter der PIS-Regierung die Sicherheit eine größere Rolle spielt. Es gibt mehr sozialen Druck aus der Gesellschaft. Und die Regierung reagiert auf die Stimmen der Gesellschaft, Sprecherin: So sieht es Rogala. Man kann aber auch sagen: Die PIS schürt die Ängste. So warnte Parteichef Jaroslaw Kaczynski im Wahlkampf etwa vor - Zitat - "Scharia-Gebieten in Großstädten". Und dass Ausländer Krankheiten übertragen könnten. Wie aufgeheizt die Stimmung mancherorts ist, zeigt ein Ereignis aus der Silvesternacht in der Stadt Elk in Masuren. Dort kam es vor einem Dönerlokal zu einem Handgemenge, dabei erstach offenbar der tunesische Koch einen jungen Polen, der zuvor versucht hatte, zwei Getränke-Flaschen zu stehlen. Nach der Tat kam es zu Protesten aus der Bevölkerung. Randalierer schlugen die Fenster des Lokals ein, die Polizei musste eingreifen, um weitere Ausschreitungen zu verhindern. Den genauen Tathergang ermittelt noch die Staatsanwaltschaft. Der Bischof rief zur Besonnenheit auf. - Er sei kein Soziologe, sagt Ausländeramtsleiter Rogala, aber die polnische Gesellschaft sei nun mal sehr homogen, der Ausländer- Anteil liege unter einem Prozent. Polen wird auf absehbare Zeit keine muslimischen Flüchtlinge aus dem Nahen Osten aufnehmen. Den Vorwurf mangelnder Solidarität mit Europa weist Rogala allerdings zurück. Polen leiste sehr wohl seinen Beitrag - an der Außengrenze. Zehntausenden - die meisten vermutlich Tschetschenen - wurden 2016 die Einreise verweigert: Take 6 (Rogala) Übersetzung: Seit 2009 haben wir die größte Zahl von Zurückweisungen ausgesprochen, wir haben die längste Landgrenze, nur Finnlands mit Russland ist länger. Wir hören so viel über Solidarität. Nicht jeden über unsere Grenze zu lassen, das ist, wie wir Solidarität mit Europa zeigen. Wenn wir die Tausenden einfach über unsere Grenze lassen würden, würden sie nach Deutschland, in die Schweiz oder Frankreich reisen... Ich denke, das sollte das Thema sein, Und nicht das Thema Flüchtlinge. Das ist nicht das Hauptthema. MUSIK Sprecher: Arnold Drechsler holt erst einmal tief Luft. Dann schaut er auf den kleinen Zettel in seiner Hand. Take 1 Drechsler arabisch/deutsch Salam, das ist das wichtigste, schalom, hebräisch syrisch, salam, salam rabe, salam lakom Sprecher: Fragend blickt der grauhaarige Endfünziger hinüber zu Lina. Die sitzt auf der anderen Tischseite. Die kleine Frau im bunt geringelten Pullover lächelt aufmunternd. take 2 Lina (englisch) Very good. At english and arabic, arabic the pronounciation is very good Sprecher: Auch ihr Mann Nidal nickt. Das syrische Ehepaar ist zufrieden. Drechsler blickt noch einmal auf seinen Spickzettel. Take 3 Drechlser Salam rabe, salam lakom Sprecher: Wenn er nicht gerade Vokabeln büffelt, leitet Prälat Drechsler die Arbeit der Caritas in Opole. Er ist Linas erster und einziger Arabisch-Schüler: Take 4 Lina (englisch) ohne Übersetzung I hope to teach more arabic then englisch Sprecher: In Damaskus hat Lina Englisch-Stunden gegeben. Jetzt würde sie gerne Arabisch unterrichten. Vor einem Jahr flüchtete si mit Mann und erwachsenem Sohn nach Polen. Eine private Stiftung kümmerte sich um die Formalitäten, versprach ein Jahr Unterstützung. Die einzige Bedingung: Die Familie musste christlichen Glaubens sein. Take 5 Lina (ohne Übersetzung) Sprecher: Wir haben in Syrien mit Muslimen und Juden immer gut zusammengelebt, erzählt Lina. Dann kam der Krieg. Und änderte alles. Die IS-Truppen machten Jagd auf Christen und Juden, die Assad-Regierung befahl junge Männer zum Militäreinsatz. Da war das Angebot, nach Polen zu flüchten, ein Hoffnungsschimmer: Take 6 Lina (englisch/Übersetzung) Übersetzung: In Polen gab es doch auch schon einmal Krieg. Die Menschen waren in einer ähnlichen Situation wie wir. Uns hat man gesagt, die Polen würden unsere Situation verstehen. Weil sie selbst schon einmal so gelitten haben. Sprecher: Lina nimmt ein Schluck Kaffee. Blickt kurz nach links. Da hängt ein großes Porträt von Johannes Paul II an der Wand. Mild lächelt der polnische Pontifex. Gleich daneben blickt ungleich ernster Mutter Theresa aus dem Rahmen. Die letzten Monate in Polen waren nicht einfach für die syrische Familie. Take 7: Lina (englisch) / Übersetzung Übersetzung Wir konnten kein Arabisch auf der Straße sprechen. Es gibt so viele radikale Menschen hier. Wir hatten Angst. Wenn du Arabisch sprichst, dann bist du für die ein Terrorist. Und kein Christ. Obwohl wir die ganze Zeit das Kreuz tragen. Sprecher: Silbern funkelt ein kleines Kreuz an der Kette über dem Pullover. Das christliche Symbol gibt ihr Kraft, sagt Lina. Die braucht sie im Alltag immer wieder: Take 8 Lina (Englisch) / Übersetzung: Übersetzung: Unser Freund wurde in Poznan auf der Straße zusammengeschlagen. Auf Polnisch rief er "Ich bin Christ". Aber das half nichts. Er ist nicht blond, man sieht ihm an, dass er Araber ist. Und da haben sie ihn verprügelt. Als unser Sohn neulich abends von der Arbeit kam, rief er mich an. Wir sprachen Arabisch miteinander. Und plötzlich hat ihn jemand geschubst. Er konnte sich nicht wehren. Sprecher: Lina wirkt gequält, als sie dies erzählt. Sie möchte ihre Gastgeber nicht verärgern, sie will nicht klagen, nicht undankbar erscheinen. Die meisten syrischen Familien, die mit ihnen nach Polen kamen, haben mittlerweile das Land wieder verlassen. Richtung Westen. Take 9 Lina (ohne Übersetzung) Sprecher: "Vielleicht sind wir die Letzten, die noch hier sind", sagt Lina. Und blickt hinüber zu Arnold Drechsler. Mit gefalteten Händen hört der Priester zu. Er versteht kein Englisch. Drechsler hat Lina und ihrem Mann Arbeit bei der Caritas in Opole besorgt. Unterstützt sie, wo er kann. Der Prälat weiß, dass viele seiner Glaubensbrüder muslimischen Flüchtlingen kritisch gegenüberstehen. Manche haben sogar zur Verteidigung des Christentums aufgerufen. Drechslers Diözese aber wollte 50 Flüchtlings-Familien aufnehmen. So wie es der Papst im Sommer bei seinem Besuch von den polnischen Gläubigen gefordert hatte. Doch die Regierung stellte sich quer take 10 Drechsler (deutsch) Kirche hat eine eigene Rolle. Wir müssen kämpfen ein bisschen gegen diese schlechte Politik von Medien in Polen, die Medien, Presse, Radio, Fernsehen die bilden meiner Meinung nach ein nicht richtiges Bild von Flüchtlinge, Das ist ein falsches Bild; Flüchtlinge als Gefahr, als Bedrohung, so sehe ich das nicht... Sprecher: Mittlerweile sammelt die Caritas Geld, um in Syrien Flüchtlings-Familien zu unterstützen. Nicht nur Christen, auch Muslime, die ihre Heimatorte verlassen mussten. Nächstenliebe in der Ferne, die zuhause nicht erwünscht ist. Weil die Regierung sie nicht zulässt: Take 11 Drechsler / deutsch Das ist ein Ausnahmezustand. Und mit Bedauern muss ich sagen, dass die Kirche, auch hier bei uns in Oppeln, muss den Flüchtlingen helfen in dieser Art, wie vor der Wende internierten Politikern geholfen wurde. Sprecher: Damals, in den 80ern. Als die Jaruzelski-Regierung gegen die Solidarnosc- Bewegung vorging. Und die Kirche die Verfolgten unterstützte... Take 12 Drechsler/deutsch Das heißt wir müssen viel tun und wenig sprechen darüber, um diese negativen Gefühle nicht zu erhitzen in der Gesellschaft. Also viel tun und wenig sprechen. Aber doch effektiv handeln... Sprecher: Lina und ihr Mann hören zu. Aber sie verstehen kaum etwas. Arnold Drechsler greift noch einmal zu seinem kleinen Zettel. Und holt tief Luft Take: 13 Drechsler /arabisch/deutsch Auf diese zwei Worten, salam lakom, das ist unsere Zukunft. Und so bleiben wir.. heute... und auch für morgen... LITERATUR-MUSIK LITERATUR 2 Der Zug brachte uns zunächst nach Friedland, ein deutsches Auffanglager an der Grenze. Es war überfüllt. Wir schliefen in einem Achtbettzimmer zusammen mit anderen Aussiedlern aus dem Ostblock. Es wurde gestempelt, es wurden deutsche Pässe ausgegeben und Begrüßungsgelder ausgehändigt. Große, bunte Scheine. Wir standen in einer Schlange, warteten auf die Essensausgabe. Mutter sagte, halb scherzend, wir würden bald nie mehr in Schlangen stehen. Vater mochte den Rhein, er hatte ihn auf Bildern gesehen. Wir zogen nach nur einer Woche an den westlichen Rand der Republik, nach Koblenz. Nur wenige Monate nach unserer Ankunft wurde ich operiert. Es gibt Tage, da sind sie mir wieder erinnerlich, die Bilder karger Krankenhausgänge, die fremde Sprache der Schwestern nur ein Geräusch, der beißende Geruch von Putzmitteln, mein kindlicher Blick aus dem Krankenbett, aus dem Fenster hinaus auf einen satten Rasen, auf blühende Bäume im Park, der das Klinikum wie ein Speckgürtel umgab. Meine Eltern brachten Schokolade. Vater sagte, bald wird alles besser. Auch das Gehen.. Vorsetzer-Geräusch Verkehr in Warschau, Geräusch-take 1: Begrüßung Sprecherin: Miriam Shaded eilt die Ulica Piekna im Zentrum von Warschau entlang. Sie überquert die Straße und bleibt vor dem "Cube Center" stehen, einem Büro- Neubau aus Glas und Beton. Die stark geschminkte 30jährige schiebt die Kapuze ihres kamel-farbenen Ponchos zurück. In einer Hand hält sie eine Designer-Handtasche, mit der anderen drückt sie die gläserne Eingangstür auf. Geräusch-take 2: Schritte/Treppe Sprecherin: Auf hohen Keilabsätzen steigt Shaded hinauf in den ersten Stock. Eine zierliche Frau mit großen, dunklen Augen, einem ebenmäßigen Gesicht und hohen Wangenknochen. Die 30jährige weiß um ihre fast madonnenhafte Schönheit. Und sie weiß sie zu nutzen. 2015 meldete sie sich zur "Miss Egzotica"-Wahl an, einem polnischen Schönheitswettbewerb für Frauen mit Migrationshintergrund. Shadeds Vater ist Syrer, die Mutter Polin. Take 1 (Shaded) Übersetzung Damit wollte ich die Medien für meine Sache gewinnen. Sie sollten über mein Vorhaben berichten, verfolgte syrische Christen nach Polen zu bringen. (...) Man hatte mir versprochen: Wenn ich an dem Schönheitswettbewerb teilnehmen würde, dann gäbe es Interviews, Auftritte im Frühstückfernsehen usw. Ich wollte das nutzen. Aber schnell war klar, dass es ein ganz gewöhnlicher Schönheitswettbewerb ist. Da habe ich meine Bewerbung zurückgezogen. Moralisch ging das gar nicht. Geräusch-take 3 Sprecherin: Am Empfangstresen im 1. Stock fragt Shaded nach dem reservierten Raum, den sie für das kurze Treffen zwischen zwei Veranstaltungen gebucht hat. Das hier sei nicht das Büro ihrer Stiftung, betont die 30jährige im hochgeschlossenen, schwarz-weißen Kleid: Take 2 (Shaded) Übersetzung Wir sind hier in einem angemieteten Konferenzraum. Die Estera-Stiftung musste ihr Büro schließen, weil wir viele Drohungen erhalten haben. Ich darf mich nicht an einer festen Adresse sehen lassen, ich muss meinen Aufenthaltsort ständig ändern... Sprecherin: Miriam Shaded bittet in einen Besprechungsraum mit weißen Stühlen und Tischen. Die gläserne Stirnwand bietet einen freien Blick auf die Ulica Piekna. Shaded hatte ein Kamerateam erwartet, deshalb die schöne Aussicht und die dick aufgetragene Schminke. Geräusch-take 4: Stühle rücken Sprecherin: 2014 hatten syrische Kirchenvertreter ihre Familie gebeten, bedrohte Christen nach Polen zu holen, erzählt Shaded. Ihr Vater ist evangelischer Pastor in Warschau. Sie gründete die Stiftung "Fundacija Estera". Take 3 (Shaded) Übersetzung Ich wusste, wenn ich nicht meinen Beruf im Management aufgeben würde, wenn ich mich nicht persönlich um die Dinge kümmern würde, würde das nicht funktionieren. Deshalb habe ich die Stiftung gegründet, um Spenden zu sammeln, um den Transport, die Unterbringung und die Lebenshaltungskosten der Flüchtlinge in Polen finanzieren zu können. Und als ich die Zusagen für das alles hatte, habe ich mit der polnischen Regierung verhandelt und eine positive Entscheidung erhalten, sodass 52 Familien nach Polen gebracht werden konnten. Sprecherin: Was sich im Nachhinein ganz einfach anhört, war ein langer, zäher Prozess. Ein Ringen mit polnischen Behörden und Politikern. Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising, in einem Land, das sich nicht sonderlich für Flüchtlinge interessiert. Bis ins Detail musste alles geplant werden. Take 4 (Shaded) Übersetzung Es war eine komplizierte Prozedur, die sehr stressig war für mich. Sonst hätten die Syrer das Land nicht legal verlassen dürfen und nach Polen fliehen, wenn sie sich im Nachbarland nicht legal aufgehalten hätten. Die ganze Prozedur hat 21 Tage gedauert. Aber am Ende hatten wir Erfolg. Pro Person mussten wir 60 Dokumente ausfüllen, um alles formal richtig zu machen. Sprecherin: Am 12. Juli 2015 durften die christlichen Flüchtlinge nach Polen einreisen. "Meine Syrer", nennt Shaded sie immer wieder, obwohl sie kaum noch Kontakt zu ihnen hat. Dreiviertel haben im Laufe des ersten Jahres Polen wieder verlassen. Entmutigt hat das Miriam Shaded nicht. Auch wenn die Spendengelder jetzt deutlich spärlicher fließen. Sie will weitermachen. Allerdings - auch das erklärt die junge Frau ohne Umschweife - die Hilfe ihrer Stiftung erhalten ausschließlich Christen. Take 5 (Shaded) Übersetzung Ich möchte betonen, dass wir vor allem den Opfern des Islam helfen. Christen, Jesiden, Waisen. Ein Teil unserer Arbeit ist, den Leuten klar zu machen, was die Ideologie des Islam ausmacht. Weil das Image, das die Medien präsentieren, so nicht stimmt, leider. Der Islam ist eine gefährliche Ideologie, die die Menschen dazu bringt sehr radikal zu agieren. Sprecherin: Das ist das andere Gesicht der Miriam Shaded. Das unbarmherzige. Der Islam - für Shaded ist das keine Religion, sondern eine gefährliche Ideologie. Und sie meint damit keineswegs nur den IS. Take 7 (Shaded) Übersetzung Der Islam als Ganzes. Im Koran gibt es 164 Verse, Suren, die zum Kampf, zum Dschihad aufrufen. Z.B. Sure 5.3.3. sagt explizit, was mit Ungläubigen geschehen soll: Sie sollen Arme oder Beine abgehackt bekommen, gekreuzigt oder anders ermordet werden. Oder Sure 4.3.4. zur Gewalt gegen Frauen. Und das betrifft alle Muslime. Der Koran ist voller Hass und alle Muslime werden zum Hass erzogen. Sprecherin Miriam Shaded war noch nie in Syrien und nur einmal in Ägypten. Trotzdem stellt sie alle Muslime unter Generalverdacht. In Polen ist die 30jährige inzwischen bekannter für ihre antiislamischen Parolen als für ihre Rettungsaktion. Zuletzt hat sie gefordert, den Islam per Gesetz zu verbieten. Take 8 (Shaded) Übersetzung Ich sagte, ich kümmere mich um die Sicherheit von Frauen, ich möchte verfolgten Christen helfen, ich möchte gegen die Ideologie des Islam kämpfen und eine weitere Sache, die ich wichtig finde: Ich unterstütze das Recht, Waffen zu tragen, zur eigenen Sicherheit. Sprecherin: Ihre islamophoben Äußerungen sichern Miriam Shadedpermanente mediale Aufmerksamkeit. Kaum eine Migrationsdebatte im Fernsehen findet ohne sie statt. Shaded betreibt eine Facebook-Seite und einen Youtube-Kanal. Sie provoziert und einige lassen sich provozieren: Geräusch-take 5 Sprecherin: Die 30 jährige greift zu ihrem Smartphone, öffnet einen Ordner. Zu sehen sind lauter Screenshots von üblen Beschimpfungen, einige auf Polnisch, einige in Arabisch. Die hat sie übersetzen lassen... Take 9 (Shaded) polnisch (ohne Übersetzung) Sprecherin: Es sind fürchterliche Drohungen darunter, es geht um Vergewaltigungs- und Tötungsphantasien. Take 10 (Shaded) Übersetzung Ich habe diese Meldungen kopiert und auf meinem Facebook-Auftritt veröffentlicht. Ich habe geschrieben: Was soll ich diesem friedlichen Muslim antworten? Und dann wurde mein Facebook-Profil für 30 Tage geschlossen. Und es gab einen großen Aufschrei hier in Polen. Ich habe mich bei allen denkbaren Diensten beschwert und jetzt kümmern sie sich um diesen "Herren". Sprecherin: Miram Shaded blickt kurz auf die Uhr. Es ist Zeit - sie muss zum nächsten Termin... MUSIK Geräusch-take 1: Kneipe Sprecherin: Ein Brauereikeller in Krakau. Hunderte Gäste drängen sich an rustikalen Tischen. Take 1 (Andrej) ohne Übersetzung Sprecherin drüber: In holperigem Polnisch ordert Andrej Strudel und schwarzen Tee für seine Frau Olga. Er selbst wählt Schnitzel und ein großes, dunkles Bier. Take 2 (Andrej) ohne Übersetzung Sprecherin: Andrej und Olga leben seit knapp einem Jahr in Krakau. Sie stammen aus der Ostukraine. Andrej aus einem Dorf in der Nähe von Luhansk, einer Region, die derzeit von Separatisten beherrscht wird. Deshalb hätten seine Eltern Wohnung und Geschäft zurückgelassen und seien nach Charkiw geflohen, erzählt der 29jährige IT-Experte. Take 3 (Andrej/Olga) ohne Übersetzung Sprecherin drüber: Viele Ostukrainer sind nach Russland gegangen, erzählen Andrej und Olga. Das Leben in der Ukraine sei mühselig. Korruption und Vetternwirtschaft bestimmen den Alltag. Ständig sei sie in Unruhe gewesen, sagt Olga. Und so stand auch für das junge Paar fest: Wir gehen. Eigentlich wollten sie nach Schweden oder nach Kanada. Doch dann kam den beiden ein Zufall zur Hilfe: Ihr Arbeitgeber, ein IT-Unternehmen, beschloss ein Büro in Krakau zu eröffnen. Die beiden zogen mit. Geräusch-take: Kneipe Sprecherin: Kürzlich hat Olga mit ihren Kollegen - fast alles Ukrainer - das Interview einer polnischen Politikerin im Internet gesehen. Sie sagte, Polen habe sehr viele ukrainische Flüchtlinge aufgenommen. Take 4 (Olga) ohne Übersetzung Sprecherin drüber: "Unser ganzes Büro hat darüber gelacht. Es war der Witz der Woche", sagt Olga. "Hier arbeiten also Flüchtlinge, haben wir gesagt." Rund eine Million Ukrainer hätten in Polen Zuflucht gesucht, heißt es immer wieder. Olga schüttelt energisch den Kopf: Take 5 (Andrej) Übersetzung Um es höflich zu formulieren: Das stimmt so nicht. Soweit ich weiß, sind laut Statistik im Jahr 2015 20 Ukrainer offiziell als Flüchtlinge anerkannt worden. Mehr nicht. Alle anderen sind so eine Art Wirtschaftsflüchtlinge. Ich betrachte uns nicht einmal als Migranten, sondern als Experten im Auslandseinsatz. Sprecherin: Für solche - in Anführungsstrichen - "Flüchtlinge" wie sie gäbe es keinerlei staatliche Unterstützung, sagt Olga. Man müsse eine Arbeit haben und Steuern zahlen, nur dann dürfe man bleiben. Take 6 (Olga) Übersetzung Die Polen wollen einfach keine Flüchtlinge aufnehmen. Egal, ob es Ukrainer oder Iraner sind. Sie möchten nicht, dass Ausländer ihre Arbeitsplätze besetzen. Sie möchten Ordnung auf den Straßen haben, ihre Kultur bewahren usw. Und wir, ich meine wir Ukrainer, wir sind nur eine trickreiche Entschuldigung, um nicht mehr Flüchtlinge aufnehmen zu müssen. In Wirklichkeit gibt es so gut wie keine ukrainischen Flüchtlinge in Polen. Sprecherin: Dafür jede Menge Arbeitsmigranten, die das Land dringend braucht, weil viele Polen ihr Geld in anderen EU-Staaten verdienen. Olga und Andrej fühlen sich auf jeden Fall wohl in Krakau. Olga lächelt und deutet auf ihren Bauch, über dem sich ein geringeltes T-Shirt spannt. Sie ist im siebenten Monat schwanger. Mitte Februar ist der errechnete Geburtstermin. Es wird ein Junge, so viel weiß das Paar. Für einen Namen haben sie sich noch nicht entschieden. Fest steht aber, es wird ein kleiner Ukrainer. take 7 (Olga/Andrej) Übersetzung Olga: Nach polnischem Recht wird unser Kind die ukrainische Staatsbürgerschaft erhalten, weil seine Eltern Ukrainer sind. Andrej: Nicht nur Flüchtlinge, sondern auch für Migranten wie uns hat Polen sehr strenge Gesetze. Wenn du nicht einen polnischen Elternteil hast, dauert es ca. zehn, zwölf Jahre, um die polnische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Sprecherin: Auf Besuch in die Ukraine zu fahren, das können sich die beiden gut vorstellen. Aber ganz zurückzuziehen? Andrej kreuzt abwehrend die Arme vor dem Oberkörper: take 8 (Andrej) Übersetzung: Nein, nein! Nicht in die Ukraine zurück. Dort müsste noch so viel passieren, damit wir überhaupt darüber nachdenken, zurückzukehren. Also, sicher nicht in die Ukraine. Vielleicht ziehen wir weiter nach Westen, aber nicht nach Osten. MUSIK LITERATUR-MUSIK LITERATUR 3 Wir legten die schäbigen Klamotten ab, von jetzt auf gleich, wir wollten uns in der Masse einrichten: indem wir Levi´s-Jeans trugen, Geburtstage statt Namenstage feierten, uns an Karneval verkleideten wie die Deutschen. Doch standen wir etwas verloren in der Koblenzer Altstadt, als Kamellen auf uns niederregneten. Es galt, die rheinische Theatralität nachzuahmen. Das war eine doppelte Inszenierungsanstrengung, da wir die Inszenierung der anderen zu kopieren suchten. Doch Vater rief den grell geschmückten Wagen und Funkenmariechen nur sehr verhalten ein Koblenzer "Helau" entgegen. Wie die meisten Immigranten aus Polen waren wir damit beschäftigt, nicht aufzufallen. Schließlich hatten wir kommen dürfen, wie all die Hunderttausenden anderer polnischen Aussiedler, da wir, so die Doktrin, deutscher Volksabstammung waren. Zu Hause sah es anders aus, zu Haus besuchten uns andere Aussiedler oder polnische Asylbewerber, kein deutsches Wort kam über ihre Lippen, und bis heute hat kaum ein Deutscher, der in diesem Land auch aufgewachsen ist, die Türschwelle meiner Eltern übertreten... MUSIK Atmo: Film/Kino/Arabisch Sprecher: Unbarmherzig brennt die Sonne. Zwei afghanische Frauen sitzen im Schatten vor ihrem Zelt, hinter Stacheldraht. "Warum hast Du das Geld gestohlen", schimpft die eine. Die andere keift zurück. Film-Aufnahmen aus einem Frauengefängnis in Afghanistan. Die meisten Frauen sind nicht hier, weil sie kriminell wurden. Sondern weil sie ihre Männer verlassen haben. Und dafür verurteilt wurden... Atmo hoch Sprecher Bogna Czalczynska steht mit einer Freundin im Halbdunkel an der Tür, lässt den Blick durch den kleinen Kinosaal schweifen. Gut 50 Studenten sitzen auf den alten Klappsesseln. Take 1 Bogna (ohne Übersetzung) Sprecher drüber: Die Studenten kommen aus Deutschland, Polen, der Ukraine, Mazedonien, Griechenland, Albanien und Georgien, sagt Czalczynska. Eine Woche verbringen sie in Stettin, diskutieren über Frauen-Rechte, Flüchtlings- Fragen. Hier, im Inkubator Kultury, einer alten Villa, dem Treffpunkt der Kultur- und Bürgerinitiativen.. Geräusch-take Film, Sprecher: Bei Minute 35 beginnt der Film zu ruckeln, 50 Sekunden später geht gar nichts mehr. Die Internetverbindung ist zu langsam. Atmo Sprecher: Bogna Czalczynska zuckt mit den Schultern. Dann eben erst mal eine kurze Pause. Die stämmige Mittvierzigerin eilt in einen Nebenraum. Dort warten schon einige DIN-A 3 große Bilder auf ihren Einsatz. Take 2 Bogna Englisch/Übersetzung Ich habe viele Freunde aus der Türkei, aus Palästina, aus Jordanien, Ich habe in der Türkei gearbeitet und Ägypten. Diese Menschen sind für mich Freunde, wir sind wie eine Familie. Und es war wirklich hart für mich all diese Beschimpfungen über Flüchtlinge zu hören. Ich schäme mich einfach, dass Menschen in Polen so reden... Sprecher: Bogna, wie sie hier alle nennen, wollte dagegenhalten. Ein Zeichen setzen. Solidarität zeigen. Bloß wie? Ohne Flüchtlinge... Take 3 Bogna (englisch/Übersetzung) Es war eine harte Situation, für mich und viele meiner Freunde. Es war klar, dass wir etwas machen mussten, um zu zeigen, dass Flüchtlinge Menschen wie du und ich sind. Und es normal und menschlich ist zu helfen... Sprecher: Bogna greift ein paar der großen Bildtafeln, ihre silbernen Armreifen klirren. Zusammen mit einer Studentin schleppt sie große Fotos auf die Bühne, stellt sie nebeneinander: Lachende Flüchtlinge auf einem kopfsteingepflasterten Marktplatz: Take 4 Bogna/Studentin (englisch/polnisch) ohne Übersetzung Sprecher drüber: "Die beiden hier sind Palästinenser", sagt Bogna, "der hier ist Kurde, der daneben kommt aus Syrien. Den nennen alle nur George Clooney" Take 5 Studentin/Bogna (ohne Übersetzung) Sprecher: "Das sieht aus wie in Stettin", sagt die Studentin. Bogna schüttelt den Kopf. Nein, das ist Pasewalk. Eine Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern, gut 40 Kilometer entfernt. Jede Woche fährt sie dorthin, um Flüchtlingen zu helfen. Zum Beispiel Hassan, einem Syrer Ende 20. Mit Wollmütze und modischem Hipster-Bart lächelt er von den Bildern: Take 6 Bogna (Englisch) - ohne Übersetzung Sprecher: "Warum halten mich hier so viele für einen Terroristen?" wollte Hassan beim ersten Treffen von ihr wissen. "Sorry", antwortet Bogna, "aber du siehst aus wie einer". Darüber konnten sie beide lachen. Nach einigen Monaten bekamen Hassan und seine Freunde die offizielle Anerkennung als Flüchtlinge. Nun konnten sie reisen. Auch nach Polen. Take 7: Bogna (Englisch/Übersetzung) Wir sind mit Hassan und anderen syrischen Flüchtlingen an die Ostsee gefahren. Sie haben bei mir gewohnt, wie ganz normale Besucher. Hassan ist dann noch zwei Mal nach Polen gekommen, wir haben eine Tour über die Dörfer gemacht. Mittlerweile aber lebt er in Düsseldorf... Sprecher: Wenn keine Flüchtlinge nach Polen kommen - dann können Polen zu Flüchtlingen kommen, das ist Bognas Botschaft für die Studenten. Grenzen überwinden, um Leute zusammenzubringen. Bogna tritt einige Schritte zurück und mustert noch einmal die Bilder auf der Bühne. Gleich wird sie den Studenten die Geschichte zu den Fotos erzählen. Am Rand lehnt noch ein weißes Plakat: "One billion rising" steht darauf in knallroten Lettern. Und "Revolucja". Jedes Jahr an einem Februarwochenende gehen weltweit Millionen Menschen auf die Straße. Sie tanzen und trommeln gegen Ausbeutung und Unterdrückung von Frauen. Im letzten Jahr zum ersten Mal auch in Pasewalk. Bogna organisierte die Veranstaltung mit den Flüchtlingen. Und ihren Unterstützern. Dieses Jahr soll erstmals auch in Stettin getanzt werden. Take 8 Bogna (englisch/Übersetzung) Im Februar organisieren wir die Aktion in Pasewalk und Stettin. Wir tanzen zusammen mit Syrern, Kurden und Palästinensern. Das ist eine Premiere für Stettin. Denn im letzten Jahr fehlten den Flüchtlingen noch die Dokumente, um zu uns zu reisen. SCHLUSSMUSIK ABMODERATION: Sie hörten: "Gesichter Europas": "Begrenzte Solidarität - Polens Flüchtlingsdebatte". Eine Sendung von Anja Schrum und Ernst-Ludwig von Aster Die Literaturzitate, gesprochen von Adam Nümm, entstammen dem Buch: "Polski-Tango"- erschienen im Gustav Kiepenheuer Verlag. Musikauswahl: Die Autoren, Redaktion: Marcus Heumann. 2