DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 24.02.2015 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 - 20.00 Uhr United Nothing Niederländische Blauhelmsoldaten - 20 Jahre nach der Rückkehr aus Srebrenica Von Rainer Schwochow URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - O-Ton Hans Thijsen (Dutch)... Sprecher 1 Ich habe die ersten drei Wochen nicht gewagt, ins Bett zu gehen. Ich hatte solche Angst vor den Albträumen. Es war - wie soll ich sagen? Ich hatte das Gefühl, ich muss gegen die Wand laufen. Dann beginnst du erst zu verstehen, was da alles passiert ist und dann siehst du dich selbst... Nur wenn ich getrunken hatte, konnte ich eine Stunde schlafen und bin schreiend wieder aufgewacht. Ansage: United Nothing Niederländische Blauhelmsoldaten - 20 Jahre nach der Rückkehr aus Srebrenica Ein Feature von Rainer Schwochow O-Ton Hans Thijsen (Dutch)... Sprecher 1 Von der ganzen Welt wirst du beschimpft, das war unerträglich. Es trifft dich so stark, weil man ja dachte, sein Bestes getan zu haben. Natürlich weiß man, dass einem alles entglitten ist. Aber man hat niemanden absichtlich fallen lassen, man hat wirklich versucht zu retten, wen man retten konnte. Und hier in den Niederlanden sitzen die Menschen und rufen: "Das hast Du falsch gemacht! Das hast Du falsch gemacht! Das hast Du falsch gemacht." Irgendwann nimmt man es nicht mehr wahr, man denkt nur noch: Lass mich in Ruhe. Autor Ein Zeitungsartikel hatte mich nicht losgelassen. Er erzählte die Geschichte von holländischen Blauhelmsoldaten, 18 Jahre nach ihrem Einsatz in Srebrenica. Mehr als 8000 bosnische Moslems waren dort durch proserbische Militärs ermordet worden. Ein Völkermord unter den Augen von UN-Soldaten. Irgendetwas an dem Artikel hinterließ einen schalen Beigeschmack auf meiner Zunge. Fällte der Autor nicht Urteile über Beteiligte von damals - mit dem Wissen von heute? Er tat es subtil, zugegeben. Aber bin ich dadurch klüger als vorher? Ich will mehr wissen von denen, die es erlebt haben. Ihnen Fragen stellen, die ich jetzt habe, nach dem Lesen des Artikels. Ich will mehr erfahren über ihre Erlebnisse, Verletzungen, Gedanken.... O-Ton Anne Mulder (Dutch)... Sprecher 2 Als ich zurückgekommen bin, war ich wie ein Zombie. Total verstört, apathisch. Die Medien haben uns radikal kritisiert, ich konnte das nicht aushalten. Ich hab einfach keine Zeitung mehr gelesen, keinen Fernseher angemacht. O-Ton Ebel Dijkman (deutsch mit holländischem Akzent) Ich habe das nicht gehabt. Glücklicherweise ist das gut gegangen bis heute. Und ich weiß, wie das kommt. Ich kann viel darüber reden mit meinen Kollegen, auch zu Hause. Aber das Verständnis ist nur bei den Kollegen, die das selber haben mitgemacht. O-Ton Hans Thijsen: Ik was in beroepsmilitair... Sprecher 1 Ich war Berufssoldat. Meine Einheit ging nach Bosnien, da bin ich mitgegangen. Also irgendwie war es freiwillig, aber es gehörte zu meiner Arbeit. Damals war ich 32 Jahre alt. Zu der Zeit war ich schon 15 oder 16 Jahre beim Militär. Autor Im Frühjahr 2014 fuhr ich nach Holland. Hans Thijsen traf ich in seinem kleinen Haus in einem Dorf bei Amsterdam - O-Ton Hans Thijsen: Ik was in beroepsmilitair... Sprecher 1 Ich gehörte zum technischen Dienst. Meine Aufgabe in Bosnien bestand darin, die Stromversorgung und die Trinkwasseranlagen in Gang zu halten. O-Ton Anne Mulder (Dutch) Ik was 1994 een... Sprecher 2 Ich war 1994 Wehrpflichtiger. Ich hab mich freiwillig für den Einsatz in Bosnien gemeldet. Ich wollte einfach etwa Nützliches tun in meiner Armeezeit. Autor Anne Mulder erwartete mich in seinem Abgeordnetenbüro in Den Haag. O-Ton Anne Mulder (Dutch) Ik was 1994 een... Sprecher 2 Ich war für die Kommunikation zuständig, Fax, Telefon, Satellitenkommunikation. O-Ton Ebel Dijkman Ich bin seit acht Jahren pensioniert. Damals war ich war Berufssoldat. Und ich arbeitete als Betreuungsoffizier. Autor Ebel Dijkman hatte mich in das Erinnerungszentrum im Lager Westerbork bestellt. Dort habe er hin und wieder zu tun, in der Bibliothek wären wir ungestört. Die Gedenkstätte erinnert an das Schicksal der Juden, die von hier aus in die deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert wurden. O-Ton Ebel Dijkman Zwischen Pfarrer und Psychologe, das ist ein Betreuungsoffizier. Die niederländische Regierung ist 93 gefragt worden von der UN, haben sie - Holland - ein Bataillon für Einsatz in Bosnien? Autor Während der Gespräche mit Ebel, Anne und Hans wird mir schnell klar, dass es keine einfachen Antworten auf meine Fragen gibt. Natürlich hatte ich viel über den Bosnien-Krieg gelesen, über Vergewaltigungen, über Vertreibung und Kriegsverbrechen. Aber viele Einzelheiten gingen dabei unter. Sprecher 3: 12. März 1993, Srebrenica O-Ton Morillon: You are now under the protection of the UN-Forces... darüber blenden Musik und Geräusch vom Ticker: Sprecher 3: Ohne Zustimmung der zuständigen Gremien verkündet der französische General Philippe Morillon, Oberkommandierender der UN-Schutztruppen in Bosnien-Herzegowina, vor tausenden Muslimen: "Sie stehen jetzt unter dem Schutz der Vereinten Nationen." O-Ton Ebel Dijkman Wir hatten in den Jahren eine neue Sorte von Brigade, eine Luftmobile Brigade, ein Paratypus. Atmosphäre: holländisches Werbevideo Luchtmobiele Brigade: flotte Musik, Schießen, Hubschrauber.... O-Ton Ebel Dijkman Das war ein neues Spielchen für den Militär überhaupt. Und unsere Verteidigungsminister hat gesagt, die drei Bataillons von der Brigade können eingesetzt werden in Bosnien. Sprecher 3 Das Mandat der Schutztruppe der Vereinten Nationen - UNPROFOR - verpflichtete die Blauhelmsoldaten zur Neutralität im Kampf zwischen den Streitkräften der bosnischen Serben und der Armee der Republik Bosnien Herzegowina. Ihre Aufgabe bestand in der Überwachung des Waffenstillstands, der jedoch ständig gebrochen wurde. In den UN-Schutzzonen, den sogenannten Save Areas, sollte UNPROFOR die Entwaffnung der Kriegsparteien durchsetzen, die Zivilbevölkerung schützen und deren Versorgung sichern. Musik O-Ton Ebel Dijkman Okay, wir müssen da als UN-Soldaten dafür sorgen, dass die beide Parteien nicht miteinander anfangen zu stritten, und nach sechs Monate kommt ein andere Bataillon und können wir gehen nach Hause. Musik Sprecher 3 4. Januar 1995: Die ersten Soldaten von Dutchbat 3 treffen in Srebrenica ein. O-Ton Hans Thijsen (Dutch) De Enclave... Sprecher 1 Die Enklave war ein Gebiet von ungefähr 20 mal 20 Kilometern. Da stand kein Zaun. Eigentlich war es ein Tal mit Bergen drum herum. Ein paar Straßen führten hinein und ein paar Bergpässe. Auf der einen Seite waren bosnische Stellungen und auf der gegenüberliegenden Seite vom Berg waren die Serben mit ihren Stellungen. O-Ton Anne Mulder (Dutch): Heteerste wat ik dacht.... Sprecher 2 Das erste, was ich dachte: Die UN sind hier nicht der Boss. Ein unheimliches Gefühl. O-Ton Hans Thijsen ... Sprecher 1 Wir hatten unsere Observationspunkte dort errichtet, wo ein Zugangsweg oder ein Pfad war. Da standen dann 10 oder 5 Dutchbatters mit einem Fahrzeug und einem notdürftigen Unterstand, umgeben von Sandsäcken, um einfach zu beobachten und zu gucken, wer kommt da lang. O-Ton Anne Mulder (Dutch): De tweede... Sprecher 2 Das zweite war: Die Enklave war umzingelt. Und ich merkte am ersten Tag, dass die bosnischen Serben in den Bergen rundherum mit Artillerie standen. Die konnten uns in der Enklave jeden Tag unter Feuer nehmen. Und das dritte war, gleich am ersten Wochenende nach unserer Ankunft ist ein Dutchbat auf eine Landmine getreten und die hat ihm beide Beine abgerissen. Autor Ich sollte nach Srebrenica fahren. Vielleicht könnte einer der drei Dutchbatter mich begleiten, mir die Orte zeigen, wo alles geschah? Sie lehnten meine Bitte ab. Immerhin gab Ebel mir einen Tipp: "Rob Zomer lebt dort, einer von uns. Ich habe keine Adresse, aber über Facebook können Sie ihn erreichen." Doch Rob Zomer antwortet mir nicht. Musik Autor Am 8. Juli 2014 komme ich in Bosnien an. Ich werde Rob Zomer suchen. O-Ton Ebel Dijkman Hier habe ich eine Karte. Hier die ist Stadt Bratunac im bosnisch-serbischen Gebiet. Ist etwa die Grenze von Save-Area. Hier ist die Stadt Srebrenica. Das ist der Ort Potocari, hier. Potocari war das Hauptquartier Dutchbat. In alte Fabriksgebäude, zerstört in den Jahren davor im Krieg zwischen den Moslems und den Serben. Musik Autor Verlassen liegt das Fabrikgelände in der Mittagssonne: Marode Hallen, zerborstene Fenster, verrostete Tore. Auf einem Betonklotz an der Zufahrt der Schriftzug: HQ Dutchbat. HQ für Headquarter, Dutchbat für Dutch Bataillon. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen, den ich nach Rob Zomer fragen könnte. O-Ton Hans Thijsen (Dutch) Sprecher 1 Es war alles sehr verworren in dem Land und schwer zu verstehen, was dort passierte. Ich wusste schon vorher, dass uns eine schwierige Aufgabe erwartete. Wir sollten die Bosnier in der Enklave eigentlich entwaffnen. Aber wie soll man das ohne Gewalt tun, wenn sie die Waffen nicht freiwillig abgeben? Andererseits hieß es: Mischt Euch nicht ein. Unsere Vorschriften waren völlig ungenau und wir lavierten ständig herum. Eigentlich konnten wir nicht viel tun. Das war ein Scheißgefühl. O-Ton Ebel Dijkman Anfang April war eine Gruppe von 80, 90 Mann auf Urlaub gegangen. Und nach einer Woche mussten die zurückkommen. Aber die Serben haben gefordert, dass die 80 Leute in Zagreb bleiben mussten. Und eine neue Gruppe von 80 Mann konnte in Urlaub gehen, und danach sollten die ersten 80 aus Zagreb zurückkommen nach Srebrenica. Das ging nicht mehr. Musik Sprecher 3: April 1995: Bosnische Serben blockieren die Nachschubwege für die Schutztruppe der Vereinten Nationen. Benzin und Nahrung werden knapp. Durch die Blockade verringert sich die Truppenstärke von Dutchbat 3 von 650 auf 450 Mann. Musik Autor Direkt hinter der Fabrik in Potocari erheben sich die Berge. Dichte Wälder, ein paar Felder. Waren für diesen Einsatz die besonderen Fähigkeiten der Luftlandeeinheit von Vorteil? Oder kannte der holländische Verteidigungsminister womöglich die örtlichen Gegebenheiten gar nicht, als er den Einsatz anordnete? Wie hatte Ebel es genannt? "Ein neues Spielchen für das Militär!" Musik Sprecher: 24. Mai 1995: Der französische General Bernard Janvier, seit zwei Monaten Oberbefehlshaber der UNO-Truppen in Ex-Jugoslawien, schlägt dem Sicherheitsrat vor, die Schutzzonen aufzugeben. O-Ton Hans Thijsen (Dutch) Sprecher 1 Im Mai und Juni eskalierte die Situation. Es wurde immer häufiger geschossen. Das war wie eine Spirale. Im Juni wurden Soldaten von uns als Geiseln genommen und irgendwann kamen zwei serbischen Panzer, die fuhren immer hin und her. O-Ton Ebel Dijkman Die Serben schossen jeden Tag, jede Nacht nach unsere Leute. Aber auch jede Nacht waren Moslems, Bosniaks, die in der Umgebung von der Enklave auch morden in den serbischen Dörfern. Das ist wahrscheinlich auch die Erklärung nach dem Kriege, als unsere Kommandeur hat gesagt: Das sind keine good Guys und keine bad Guys. Jeden Tag wurde geschossen, jede Nacht wurde geschossen. Musik Sprecher 3: 6. Juli 1995: UN-Beobachtungsposten "Foxtrott", südöstlich von Srebrenica, meldet: Beschuss durch serbische Panzer. Oberstleutnant Tom Karremans, Dutchbat-Kommandeur im Hauptquartier Potocari, fordert NATO-Luftunterstützung an. General Nikolai vom UN-Oberkommando Sarajevo lehnt die Unterstützung ab. Begründung: keine Störung der Friedensverhandlungen riskieren. O-Ton Ebel Dijkman In jener Nacht vom 6. auf 7. Juli fingen die Serben an, das Gebiet zu bombardieren und die Soldaten kamen an. Die meisten Observationsposten von uns sind überrascht worden von den Serben, und die Leute sind gefangen genommen und die holländischen Soldaten waren nach die Stadt Bratunac gebracht. Sprecher 3: 8. Juli 1995: Beim Rückzug von einem Beobachtungsposten stirbt der Dutchbat-Soldat Raviv van Renssen durch die Handgranate eines Bosniaken. Atmosphäre Rob Zomer am Erinnerungsstein Autor Filmbilder zeigen Rob Zomer, wie er Unkraut am Gedenkstein für Raviv entfernt; wie er erschüttert über diese Tage spricht, als die niederländischen Soldaten sich zwischen den Fronten der Serben und der Bosniaken wiederfanden. Die einen nahmen die Dutchbatter nicht ernst, die anderen hielten sie für feige, weil sie nicht kämpften. Vielleicht deshalb nahmen auch Moslems Blauhelmsoldaten als Geiseln. Wir waren wütend und verzweifelt, erzählt Rob im Film. Atmosphäre Ebel Dijkman, er blättert in seinem Notizbuch: Meine Notizen von damals, ja, jeden Tag. Erwacht vom Granatfeuer. 18 Minuten nach drei mitten in der Nacht. Da fing das - wir nennen das den Krieg, fing an... Sprecher 3 9. Juli 1995, 8 Uhr: UN-Beobachtungsposten "Sierra" südwestlich von Srebrenica fällt. Flüchtende UN-Soldaten melden an das Hauptquartier in Potocari: Schwere Artillerie auf allen Hügeln der Umgebung. 17.30 Uhr: Serbische Einheiten stehen einen Kilometer vor Srebrenica. 18.15 Uhr: Beobachtungsposten "Delta" im Südwesten der Schutzzone fällt. Musik Autor Am nächsten Tag, es ist der 9. Juli 2014, fahre ich auf der Suche nach Rob Zomer in die Berge rund um Srebrenica. Die Spuren des Krieges sind immer noch zu sehen: Ausgebrannte Häuser, von Einschüssen zernarbte Fassaden, abgesperrte, minenverseuchte Wälder. Die Suche nach Rob ist schwierig. Ob auf abgelegenen Gehöften oder in Srebrenica, ich treffe keinen Menschen, der Englisch oder Deutsch spricht. Ich fahre weiter nach Potocari. Atmosphäre Potocari Autor Heute ist es nicht still in Potocari. Im Schatten einer grauen Betonhalle lagern einige Dutzend Menschen. Noch ehe ich jemanden ansprechen kann, kommt Bewegung in die Gruppe. Ein gewaltiger Truck biegt auf das Gelände der alten Fabrik. An den Türen, an der Motorhaube, am Dach, überall stecken Blumensträuße. Der Anhänger ist bedeckt mit einer riesigen bosnischen Fahne. Frauen und Männer umringen das Fahrzeug, laufen nebenher, bis es vor dem Tor der leeren Halle zum Stillstand kommt. Ein Imam tritt heran und spricht den Segen, dann öffnet der Fahrer die Türen: Särge, übereinander gestapelt bis unters Dach, eingeschlagen in grünes Seidentuch. Wortlos heben vier Männer einen Sarg nach dem anderen vom Stapel, reichen ihn hinaus, wo sich unzählige Hände zur Übernahme der Fracht entgegenstrecken. Männer bilden eine Kette hinein in die Halle, sie reichen die Särge weiter, setzen sie ab, reihen sie auf. Ein Totenfeld auf Beton. O-Ton Hans Thijsen: .... Sprecher 1 Am 11. Juli fiel die Enklave, aber eigentlich war das schon die Tage davor abzusehen. Zum Beispiel am 9. Juli war das, da hab ich ein Panzerfahrzeug von uns repariert, das ausgefallen war. Als ich fertig war, sagte ich: "Leute, er fährt wieder. Ihr könnt weiter". Keine fünf Minuten später wurden sie gefangen genommen. Atmosphäre Ebel Dijkman, liest aus seinem Notizbuch: 6 Uhr morgens früh Bunkeralarm. Ich würde jetzt in Holländisch .... Musik Sprecher 3: 10. Juli 1995, Null Uhr: Dutchbat Hauptquartier Potocari fordert erneut NATO-Luftunterstützung und übermittelt eine Liste mit Zielen für Luftangriff der Nato-Flugzeuge: 15 Panzer- und Artilleriestellungen der Serben sind verzeichnet. 5.30 Uhr: Etwa 40 000 Menschen aus den Dörfern der Schutzzone fliehen in die Stadt Srebrenica. 8.30 Uhr: UN-Leitstelle in Srebrenica meldet Granaten-Beschuss der Stadt durch bosnisch-serbische Einheiten. O-Ton Anne Mulder: Sprecher 2 Ich habe gerade mit meiner Mutter telefoniert. In dem Moment begann der Beschuss. Stalinorgeln. 24 Granaten, tick, tick, tick. Dann zwei Minuten Pause, weil sie nachladen müssen. Dann wieder 24 Granaten. Ich hab gesagt: Mama, ich muss jetzt auflegen, ich brauch das Telefon für dringende Dienstgespräche. Sprecher 3: 10 Juli 1995, 9.30 Uhr: Das UN-Hauptquartier in Sarajevo lehnt Luftunterstützung ab. Atmo Potocari 2014 Autor 175 Särge liegen in der Halle, an jedem ein kleines Schild: Name, Wohnort, Todestag. Muslimische Männer, gestorben im Juli 1995. Erst jetzt, 19 Jahre später, konnten sie identifiziert werden. Imame stimmen eine Totenklage an. O-Ton Hans Thijsen .... Sprecher 1 Viele unserer Soldaten hatte große Angst. Ich habe ihnen sehr oft zugehört, und dann muss man ihnen erklären: "Ja, ich kann es verstehen, das stimmt, es ist hier nicht sicher, pass gut auf dich auf". Aber ich darf nicht sagen: "Ja, ich habe auch Angst". Ich war ja Supervisor für alle Unteroffiziere. Da musste ich aufpassen, was ich sage. Denn natürlich beeinflusst das die ganze Gruppe. Ich fand das wirklich sehr schwer. Musik Sprecher 3: 11. Juli 1995, 6 Uhr: 30 holländische Blauhelmsoldaten befinden sich in der Gewalt bosnischer Serben. Um 8.00 Uhr fordert Major Franken, stellvertretender Dutchbat-Kommandeur in Potocari, erneut Luftunterstützung an. 11.00 Uhr: 40 NATO-Flugzeuge kreisen über der Adria und warten auf den Einsatzbefehl. 12.00 Uhr: Sämtliche UN-Beobachtungsposten im Süden der Enklave sind von bosnischen Serben eingenommen. 17.05 Uhr: Telegramm aus Srebrenica an den Hohen Flüchtlingskommissar der UN: Dringend, dringend, dringend! Die Hälfte der Schutzzone ist eingenommen. Bitte helfen Sie mit allen Mitteln! O-Ton Hans Thijsen .... Sprecher 1 Am 11. Juli war ich noch damit beschäftigt, das Krankenhaus von Srebrenica zu evakuieren. Das ist komplett missglückt, weil ich in eine Schießerei kam. Ich bin zurückgeblieben in der Kommandozentrale in Srebrenica, und mit dem letzten Fahrzeug, mit Evakuierten aus dem Krankenhaus zum Stützpunkt nach Potocari gefahren. Ich bin selbst gefahren und überall sind Granaten eingeschlagen. Eine Granate schlug vielleicht 10 Meter von mir entfernt ein. Da hatte ich Angst, ja. Sprecher 3: 11. Juli 1995, 19.32 Uhr, Zagreb. UN-General Janvier verweigert seine Unterschrift für den Einsatz der NATO-Flugzeuge. Musikakzent O-Ton Hans Thijsen: Het was oorlog. Het was echt moord en doodslag... Sprecher 1 Es war Krieg. Es war wirklich Mord und Totschlag! Aber gut, wir sind heil aus Srebrenica rausgekommen und dann waren wir in Potocari, wo alle anderen Dutchbatters waren. Und da kamen die Flüchtlinge alle hin. Ein Irrenhaus. Sehr, sehr viele Menschen in einem Irrenhaus, und ich stand mittendrin. O-Ton Anne Mulder Sprecher 2 Wir haben ein Loch gemacht im Zaun, wo die Serben keinen Einblick hatten. Frauen und Kinder mit ihren Sachen, mit Fotoalben unter den Armen, alte Mütterchen, die Beutel mit Kräutern dabei hatten, die sind zu uns reingekommen. Und wir haben so viele reingelassen, wie es möglich war, denn bei uns waren sie sicher. Atmosphäre Potocari Autor Ein weiterer Tag vergeblicher Suche nach Rob Zomer liegt hinter mir. Am 11. Juli wieder in Potocari. Der Erinnerungsfriedhof gegenüber dem ehemaligen Dutchbat-Hauptquartier ist voller Menschen. Am Rand der Gedenkstätte sind die Särge jener Toten aufgereiht, die heute beigesetzt werden. O-Ton Anne Mulder (Dutch) .... Sprecher 2 In unserem Camp war es unerträglich. Tausende Menschen waren zusammengedrängt in dieser kleinen Halle. Sie hatten nichts zu essen. Das war der reine Wahnsinn. Was sollten wir tun? Wir dachten: Wenn jetzt hier eine Epidemie ausbricht, das ist die Hölle. Für uns ging es ja noch irgendwie, aber für die Bosnier? Eine Frau hat zwischen all den Menschen ihr Baby zur Welt gebracht. Inmitten all des Drecks und Gestanks. Du musst dir das vorstellen: Tausende Menschen ohne Toiletten, ohne Wasser. O-Ton Hans Thijsen (Dutch)... Sprecher 1 Wir waren völlig machtlos. Die ersten Serben kamen einfach zu uns aufs Gelände und du merkst: Du bist ohnmächtig. Wir saßen in einem Tal, um uns herum serbische Stellungen, überall waren schwere Waffen auf uns gerichtet, und wir hatten dem nichts entgegenzusetzen. Stell dir vor, wir hätten zurückgeschossen: Bei uns waren 40 000 Menschen! Wenn da irgendwas falsch läuft, dann kommt es zu sehr, sehr vielen Opfern. Eigentlich kann man überhaupt nichts tun. Man ist eine Geisel der Situation. Atmosphäre: Karremans bei Mladic Sprecher 3: 12. Juli 1995, Bratunac: Serbengeneral Mladic fordert Oberstleutnant Karremans zur Übergabe aller Muslime auf. Karremans ergibt sich der Situation. 13. bis 15. Juli: Bosnische Serben trennen Männer und Frauen voneinander. Die Deportation beginnt. Musikakzent O-Ton Anne Mulder (Dutch) ... Sprecher 2 Auch für die Bosnier war es unerträglich. Sie wollten auch weg, denn natürlich merkten sie, das geht hier alles nicht. Aber ob das wirklich freiwillig war, als sie abtransportiert wurden? Das glaub ich nicht. Jedenfalls kamen dann die Busse, die Menschen sind eingestiegen. Unser Plan war, dass wir die Konvois begleiten würden, bis sie in sicherem bosnischem Gebiet wären. Aber sobald die Busse außerhalb der Reichweite unseres Camps waren, wurden unseren Soldaten die Waffen abgenommen, Blauhelme und alles. Und die bosnischen Männer sind alle erschossen worden. Atmosphäre: auf dem Friedhof, ein wunderschöner Gesang Autor Auf dem Friedhof ein Gedenkstein mit der Zahl: 8372. Bosnische Männer aus Srebrenica, aus den Dörfern der Umgebung. Umgekommen im Kampf die einen, ermordet die anderen. Unendliche Reihen von weißen Grabstelen auf grünem Rasen. Am Rand des Feldes, die frisch ausgehobenen Gruben. Auf dem Festplatz in der Mitte der Gedenkstätte sammeln sich muslimische Geistliche, Minister, Ehrengäste. Abgesandte aus Österreich, der Türkei, aus Saudi-Arabien, Montenegro und Kroatien werden begrüßt. Sogar Vertreter aus Serbien sind angereist. Vielleicht sind in der Menschenmenge auch einige Holländer. Offizielle Gäste aus den Niederlanden sind nicht erschienen. Atmospähre aufblenden Autor Feierliche Worte, Gesang, Gebete. Die Menschen knien nieder. Es wird still: Kein Wort, kein Lachen, kein Handyton. Tausende Menschen. Außer den Geräuschen der Natur ist nichts zu hören. O-Ton Ebel Dijkman Wir kamen nach Hause am 23. Juli. Eine Woche später fing ich an mit meinem Urlaub. Und nach drei Wochen kamen wir wieder nach Hause, und da stand in den Zeitungen, was passiert war. Das war das erste Mal, dass ich davon hörte. O-Ton Hans Thijsen (Dutch) ... Sprecher 1 Dass es Opfer gab, das wusste ich eigentlich schon - ich habe am 10. Juli selber gesehen, wie ein ganzes Dorf ermordet wurde. Ich stand da mit einem Fernglas und sah, wie es passierte. Aber als ich von den Massenhinrichtungen hörte, das begann ich erst zu begreifen, als wir in Zagreb waren, auf dem Heimweg. Da bekam ich erst eine Ahnung davon, was wirklich passiert war. Davor wusste ich das wirklich nicht. Das war ein totaler Schock. O-Ton Ebel Dijkman Als man das hörte, dachte man, das kann nicht wahr sein. Und in einigen Tagen, dann ist es wahr. Dann sind da die Fakten, da weiß man, dass das echt passiert ist. Atmosphäre Friedhof Autor Abrupt endet die Stille auf dem Friedhof. Namen werden verlesen: die Namen jener 175 Männer, die heute zu Grabe getragen werden. Unzählige Hände greifen nach den Särgen, heben sie an, tragen sie zu den Gruben, senken sie hinab. Mit Schaufeln und bloßen Händen werfen sie Erde auf die Särge. Keiner will abseits stehen. Schon nach wenigen Minuten erheben sich kleine Erdhügel, wo eben noch Löcher waren. Dann knien sie nieder, Männer und Frauen, umringen die Gräber, beten für ihre Verstorbenen. O-Ton Ebel Dijkman Ja, dann wird man böse auf den- ja, eigentlich noch nicht auf die Serben. Auf die UN. Wir hatten ein neues Wort für die UN. UN ist United Nations, wir nennen das United Nothing. Das vereinigte Nichts. Das war unser neues Stichwort für die UN. Sprecher 3: 5. Juli 2010, Berlin. Podiumsdiskussion der Heinrich-Böll-Stifung zum Thema: Die UNO und der Völkermord von Srebrenica. Axel Hagedorn vertritt als Anwalt die "Mütter von Srebrenica" bei ihrer Klage gegen die Niederlande: O-Ton Hagedorn: Diese Klage soll erreichen, dass festgestellt wird durch das Gericht, dass die Vereinten Nationen und der niederländische Staat mitverantwortlich sind für den Völkermord in Srebrenica und für die massenhaften Menschenrechtsverletzungen, die da statt gefunden haben. O-Ton Anne Mulder (Dutch) ... Sprecher 2 Die Kritik ging sehr schnell nach unserer Rückkehr los. O-Ton Hans Thijsen (Dutch) ... Sprecher 1 Die erste Woche waren wir eine Art Helden. Und plötzlich waren wir die Bösen. Es ging mir dreckig. O-Ton Anne Mulder (Dutch) ... Sprecher 2 Ich hatte ja noch meine Uniform von den Dutchbatters, damit bin ich einmal in der Stadt gewesen. Da bin ich sofort beschimpft worden. Das war so furchtbar, ich dachte, nur noch weg hier. Ich hab 10 000 Dollar genommen, mir ein Ticket nach Mexiko gekauft und bin sechs Monate dort geblieben. Das war im November 95. Atmosphäre vor dem Friedhof Autor: Der Friedhof leert sich schnell, die Menschen drängen zum Ausgang. Auf der Straße ein dichtes Gewimmel. Kein Durchkommen für Autos und Busse. Das Geschiebe nimmt zu. Was ist los? Dann sehe ich den Grund: Im Schritttempo rollt ein roter Hummer durch die Menge: ein überdimensionierter Geländewagen, ein Monster auf Rädern. Dieses Auto hatte ich im Film über Rob Zomer gesehen: Das muss er sein! Ich drängele, schiebe mich durch die Massen. Doch wie ein Panzer rollt das Fahrzeug weiter, bahnt sich eine Gasse, wird schneller, und noch ehe ich es erreichen kann, verschwindet Rob Zomer in seinem Jeep Richtung Srebrenica. O-Ton Hans Thijsen (Dutch) ... Sprecher 1 Irgendwann bin ich dann wieder arbeiten gegangen, also beim Militär. Dann hatten wir vom Verteidigungsministerium ein Debriefing, eine Nachbesprechung, um unsere Traumata zu verarbeiten. Aber das war nicht irgendwie therapeutisch, in Wirklichkeit wurde ich vier oder fünf Tage verhört. Das war wirklich ein Kreuzverhör, wie gegen einen Verdächtigen. O-Ton Anne Mulder (Dutch) ... Sprecher 2 Erst viel später kam das, da konnte ich nicht mehr schlafen, ich hatte Schweißausbrüche, Zittern. Ich dachte, das passiert dir nie. Aber dann war es plötzlich da, und es ging nichts mehr. Da hab ich mir dann einen Psychologen gesucht, das war 2002. O-Ton Hans Thijsen (Dutch) .... Sprecher 1 Besonders 1998, da tauchte die Geschichte von überfahrenen Menschen in Srebrenica und Potocari auf. Konkret ging es darum: Einmal hätte ich den Auftrag gegeben, ein anderes Mal mein Kommandant. Das wurde geschrieben. Kein Mensch fragte uns, was genau passiert war. Ja, ich bin weitergefahren, als irgendjemand von unserem überfüllten Fahrzeug runtergefallen ist. Wir waren alle auf der Flucht und anders wären noch mehr Leute gestorben. Dann gab es natürlich Untersuchungen, Verhöre, du kommst vors Gericht, erst bist du Zeuge, später aber auch Verdächtiger. Und schließlich stand ich im Jahr 2000 dann in Arnheim vor Gericht. Es war wirklich ... ich weiß es nicht. Können wir ganz kurz eine Pause machen? Ich bin zu aufgewühlt jetzt... Letztendlich wurde ich freigesprochen. Aber sie sagten: "Du könntest es getan haben." Aber glaubt wirklich jemand, ich hätte absichtlich gemanden getötet? Wie geht man damit um? Man schweigt, sagt niemanden, wo man gewesen ist. Atmosphäre in der Halle, später Stimmen Autor Noch einmal gehe ich hinüber zum ehemaligen Dutchbat-Hauptquartier. In einer halbverfallenen Halle finde ich Spuren der Holländer: Die Eisentür mit der Aufschrift "Wapenkammer"; Aufkleber der Eliteeinheit "Luchtmobile Brigade". In diesem Moment kommen zwei Männer und eine Frau in die Halle. Reden sie holländisch miteinander? Ich spreche sie an. Nein, sie kennen Rob Zomer nicht. Aber in ihrer Begleitung ist ein Bosniake. Er hat von ihm gehört. Mit der Hand zeigt er auf die Berge hinter uns. Etwa einen Kilometer in Richtung Srebrenica, da geht ein Weg hoch. Ein paar Kilometer durch den Wald und über Felder. Ein gelbes Haus, dort wohne ein Holländer. O-Ton Hans Thijsen (Dutch) .... Sprecher 1 2005 bin ich zurück nach Bosnien gegangen und war zwei Wochen dort. Ich kam unter anderem in Kontakt mit einer Frau, die sich 1995 erhängen wollte, die ich losgeschnitten habe, also die hab ich eigentlich von ihrer Selbstmordaktion zurückgehalten. Und die habe ich dort zufällig gesprochen und die erzählte: "Ich bin auf der Suche nach einem Dutchbatter, der das und das und das gemacht hat." Sie erzählte mir, was passiert war. Ich habe sie angeguckt und gesagt: Ja, das war dort und dort. So haben wir uns erkannt. Das war unglaublich. Es machte viel wieder gut, dass merkte ich bei mir selbst dann. Leider ist sie ein Jahr später an Krebs gestorben. Atmosphäre aussteigen aus dem Auto... Autor Auf einer Lichtung finde ich das gelbe Haus. Daneben steht der rote Hummer. Rob Zomer kommt direkt auf mich zu. Als er mein Mikrofon sieht, macht er eine eindeutige Geste: Abschalten! Erst als ich das Gerät in der Tasche verschwinden lasse, kommt er heran. Nein, er wird nicht mit mir reden. Kein öffentliches Wort wird er mehr sagen. Weshalb? Die Menschen hier hassen ihn. Warum hassen sie ihn? Weil er sagt, was er denkt. Und was denkt er? Keine Antwort. Warum er hier lebt? "Es ist doch schön hier. Eine wunderbare Natur, Einsamkeit, das Wetter. Ich will einfach in Frieden leben." O-Ton Hans Thijsen (Dutch) .... Sprecher 1 Ich habe dort mit vielen gesprochen. Die meisten verstanden sehr gut, was wir getan haben, und es war schon ein Stück Dankbarkeit, ein bisschen Verständnis. Eigentlich mehr, als es hier gibt. Ein paar Frauen aus Bosnien, die ich hier in den Niederlanden getroffen habe, die sagten: "Natürlich habt Ihr Fehler gemacht. Aber ihr habt das ausgeführt, was Euch befohlen wurde. Wir machen Euch nicht verantwortlich." Hier aber sind wir noch für viele die Schuldigen. Ich denke, die Menschen in Bosnien haben ein realeres Bild. Daran halte ich mich fest. Ich finde es wichtiger, was die Menschen dort über mich denken. Atmosphäre Filmbericht Rob Zomer Autor Was mir Rob Zomer nicht erzählte, hatte ich im Film gesehen. Wie er Besucher zu den Stätten seiner Erinnerung führte: Zu jener Stelle, wo Raviv van Rensen von den Bosniaken erschossen wurde, zu der Unterkunft in der alten Fabrik, nach Srebrenica. Er kam hierher, weil er helfen wollte, etwas aufbauen, den Tourismus in Gang bringen. Heute führt er niemanden mehr herum, meidet den Kontakt mit Einheimischen. In seinem Haus beherbergt er hin und wieder holländische Besucher. "Ich muss wieder an die Arbeit", sagt er, dreht sich um und geht. Ob er es sich noch einmal überlegen wolle, ich würde wiederkommen. "Es gibt nichts zu überlegen", antwortet er und lässt mich stehen. O-Ton Hans Thijsen (Dutch)... Sprecher 1 Ich denke, dass sehr viele Menschen nicht wissen, wie falsch alles gelaufen ist. Es gab eine Berechnung: Wenn man die Enklave militärisch hätte verteidigen wollen, wären 50 000 Soldaten nötig gewesen, gut ausgerüstet. Für die minimalste Option waren 5000 nötig. Wir kamen mit 700 hin. O-Ton Ebel Dijkman Haben wir von Anfang an gewusst, dass das nicht gehen wird. Wenn im holländische Parlament in 93 die Entscheidung fiel, dass wir ein Bataillon nach Srebrenica sollen schicken, hat auch unserer oberster Militärkommandeur gesagt, das ist nicht möglich. Und der hat - gekündigt. Aber nicht die Militärischen sind der Boss, die Politik ist der Boss. Wenn die Politik sagt: Gehen! Dann gehen wir. Sprecher 3: 5. Juli 2010, Heinrich-Böll-Stiftung. Rechtsanwalt Axel Hagedorn: O-Ton Hagedorn Die große Frage ist so, dass die UNO natürlich grundsätzlich eine Immunität hat, und die sollte auch respektiert werden. Das bedeutet, man kann die UNO nicht verklagen. Aber darum geht's hier nicht. Hier geht´s darum, ob man sozusagen jemanden vor den Kadi ziehen kann, der eine Aktion gemacht hat, eine Friedensaktion, und danach die Frage im Raum steht: Habt Ihr das alles richtig gemacht? Und seitdem tritt nur der niederländische Staat auf. In einer Doppelfunktion. Einmal als Partei, sozusagen für sich selbst: Wir sind nicht verantwortlich. Und gleichzeitig auch als Sprachrohr der Vereinten Nationen, und sagt halt: Die UNO kann nicht verklagt werden in den Niederlanden, weil das würde dem Immunitätsprinzip zuwiderlaufen. O-Ton Anne Mulder (Dutch) ... Sprecher 2 Also die ganze Politik, die gut gemeint ist, ohne dass man konkret überlegt, wie die Lösung ist - das hat mein politisches Bild total verändert. Das ist auch einer der Gründe, warum ich hier sitze, warum ich in die Politik gegangen bin: Ich will nie mehr, dass man so naiv in einem Krieg mitmacht. O-Ton Hagedorn bei der Böll-Stiftung Ich hab im ersten Studienjahr als Jurist gelernt an der Universität Göttingen, dass Demokratien beherrscht werden durch die Gewaltenteilung. Man hat eine Legislative, das Parlament, man hat eine Exekutive, die führt das aus, das ist dann die Polizei. Und man hat die Rechtsprechung, die Judikative, und die kontrollieren sich dann gegenseitig, und dann hat man auch ein demokratisches Prinzip. Und wenn man das nicht hat, dann hat man diktatorische Systeme. O-Ton Anne Mulder Sprecher 2 Ich arbeite jetzt dafür, dass sich die Dinge nicht wiederholen. Zum Beispiel bei der Mission in Mali. Ich bekam mit, da kommt ein französischer General zu uns ins Parlament. Ich habe mich vorbereitet und ihn dort gefragt: Können die niederländischen Soldaten sicher sein, dass Sie als französischer General ihnen helfen werden?" Er sagte: "Äh...äh. Ja." Und da wurde ich dann aktiv. Ich habe unseren Fraktionschef angesprochen, bevor der definitive Beschluss in die Kammer ging. Ich habe gesagt. Das! Das! Das und das muss klar sein, ansonsten stimme ich dagegen. Dann ging das hinter den Kulissen weiter. Unser Mann hat vor der Sitzung gesagt: Leute, lieber Herr Timmermans, wir haben Leute in unseren Reihen, die haben schlechte Erfahrungen gemacht in Srebrenica. Also passt bei den Vereinbarungen auf das und das und das auf, sonst kriegen wir kein Ja für einen Einsatz von der VVD. O-Ton Hagedorn (bei der Böll-Stiftung) Bei der UNO ist es so, dass sie selbst die Resolutionen machen, sie setzen ihre Truppen ein und senden sie hin und jegliche, jegliche richterliche Kontrolle ist obsolet. Das ist in diesem Bereich von Friedensmissionen ein diktatoriales System. Und deshalb glaub ich, dass dieser Prozess weit über das hinausgeht, was Srebrenica bedeutet. Es geht um die Zukunft. Es geht darum, können wir uns eine Organisation erlauben, die als Vorfechterin für Menschenrechte steht, aber gleichzeitig ein unkontrolliertes System ist mit absoluter Macht? Autor Noch einmal laufe ich durch Srebrenica, sehe das Fenster im Rathaus, von dem aus General Morillon die Schutzzone ausrief. Fahre weiter nach Potocari zum ehemaligen Dutchbat-Hauptquartier. Schade, dass Rob Zomer nicht mit mir reden will. Was mag er gesagt haben, was die Bosnier ihm verübelten? Dass es keine good Guys und keine bad Guys gab? Dass die Niederländer keine Schuld hatten an dem, was geschah? Stieß sie sein Hummer-Jeep ab, der an die Panzerfahrzeuge jener Militärs erinnert, die ihnen nicht geholfen haben? Mir bleibt nur mein Eindruck: Hier lebt ein Holländer, der glaubte, etwas wieder gutmachen zu können. Den Frau und Tochter nach kurzer Zeit in Bosnien verließen und zurück in die Heimat gingen. Ein ehemaliger Dutchbat-Soldat, der verbittert ist, ein zweites Mal gescheitert an seiner Mission. O-Ton Ebel Dijkman Wenn man militärisch eingreift, dann muss man da 20, 25 Jahre bleiben. Da muss mindestens eine Generation muss da vorübergehen, bevor man überhaupt denken kann an zurückziehen. Wir Menschen aus der westlichen Welt wollen in 2, 3, 4 Jahre transportieren eine Situation wie bei uns im Westen. Das dauerte bei uns Hunderte von Jahren. Und das dauert auch in Afghanistan und wo auch in der Welt dauert das Jahre. Sprecher 3: 16. Juli 2014, Den Haag O-Ton Tagesschau Die Niederlande tragen nach einem Gerichtsurteil Mitschuld am Massaker von Srebrenica 1995 während des Bosnienkrieges. In dem Fall geht es um die Ermordung von mehr als 300 Muslimen durch bosnisch-serbische Truppen. Die damals in der Region von den Niederlanden geführte UN-Schutztruppe hätte wissen müssen, dass die Betroffenen deportiert und hingerichtet würden, so ein Zivilgericht in Den Haag. Musik Autor Das Urteil wird wenige Tage nach meiner Rückkehr aus Srebrenica verkündet. Wer ist das, der niederländische Staat, frage ich mich. Wen meint das Urteil? Die Politiker von damals, die heute nicht mehr im Amt sind? Die verantwortlichen Politiker von heute? Als Warnung vor leichtfertigen Entscheidungen gewissermaßen? Oder die Soldaten von Dutchbat 3, also jene 450 Männer, die im Juli 1995 vor Ort waren? Hans Thijsen, Anne Mulder, Ebel Dijkman? O-Ton Ebel Dijkman Ich arbeite für Westerbork. Westerbork hat ein Projekt, das nennt man Gespräche für Schulklassen. Früher waren das Überlebende Juden, Zigeuner, Kriegsgefangene aus dem 2. Weltkrieg. Und in den letzten 15 Jahren hat man hier angefangen, mit jungen Veteranen, um eine Geschichte über ihre eigene Friedensmission zu erzählen für Schulklassen. Ich mache das jetzt 15 Jahre. Hier im früheren Camp Westerbork, ich erzähle über meine Erfahrungen in Srebrenica. Musik Autor Warum muss ich gerade jetzt daran denken, wie ich mich von meinen drei Gesprächspartnern trennte? Vielleicht, weil es keinen befriedigenden Abschluss dieser Geschichte gibt. Hans brachte mich zur Tür. Durch das gardinenlose Fenster konnte ich sehen, wie er sich wieder an den großen Küchentisch setzte. Allein. Den Kopf in die Hände gestützt. Anne hatte es eilig, seine Fraktionssitzung hatte bereits begonnen. Ebel hatte mich zu einem Rundgang durch das ehemalige Konzentrationslager Westerbork eingeladen. Es ist der Ort, von dem aus Anne Frank und Tausende Juden in die deutschen Vernichtungslager fuhren, nach Ausschwitz, Treblinka, Theresienstadt, Bergen Belsen. In den sicheren Tod. Wie die Moslems aus der "Save Area"... Kurz vor meinem Aufbruch hatten wir über das zu dieser Zeit noch laufende Verfahren gegen die Niederlande gesprochen. "Wissen Sie, wer damals im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen war?", hatte er mich gefragt. Ich schüttelte den Kopf. O-Ton Ebel Dijkman Ich meine noch immer, einer ist schuldig, und das ist die UN: In der UN in den Tagen war Frankreich, Deutschland, England und Amerika. Musik Absage: United Nothing Niederländische Blauhelmsoldaten - 20 Jahre nach der Rückkehr aus Srebrenica Ein Feature von Rainer Schwochow Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2015 Es sprachen: Robert Glatzeder, Stephan Baumecker, Maximilian Held und Joachim Schönfeld Produktion: der Autor Redaktion: Karin Beindorff 22 22