Manuskript: Länderreport ?Das Leben ist eine Baustelle"  Wie Wanfried gegen den Bevölkerungsschwund kämpft Von Michael Frantzen Wanfried liegt im Nordost-Zipfel Hessens an der Grenze zu Thüringen. In den vergangenen zwanzig Jahren hat der 4000-Seelen-Ort rund 700 Einwohner verloren. Der Bevölkerungsschwund konnte aber gestoppt werden: Denn Wanfried wirbt geschickt mit seinen leerstehenden Fachwerkhäusern ? und hat auf diese Weise Interessenten aus dem In- und Ausland angelockt.   A 01 (Verkehr von Marktstraße, Autor läuft auf den Hof der Pagels, sagt:  ?Guten Tag.?, (Maske-Pagel) ?Hallo!? (weitere Unterhaltung) Regie: Nach ?Hallo? Rest der Atmo unter Autor blenden   AUT Das ist Birgit Maske-Pagel. Die blonde Power-Frau trägt schwarz: Schwarze Hose, schwarzes XL-T-Shirt, mit ein paar weißen Farbflecken. Die Anfang-50jährige lacht. Kann schon mal passieren ? beim Renovieren.   O 01 (Maske-Pagel) ?Das war ne Bauchentscheidung, die wir nich bereut haben.?   AUT Es ist Dienstagmittag, kurz nach zwölf. Draußen, auf der Marktstraße, der Haupteinkaufsstraße von Wanfried, dem nordhessischen Flecken, flüchten  die Passanten angesichts von Hoch Gerd in den Schatten, drinnen, im Innenhof ihres Fachwerkhauses, schaut Birgit Maske-Pagel auf ihr Handy. Eigentlich müssten die Handwerker längst da sein.   O 02 (Maske-Pagel) ?Wir bringen was mit, was man bei so einem Objekt braucht: Wir haben Ausdauer, wir haben sehr fachkundige Leute an unserer Seite, gerade auch die Bürgergruppe in Wanfried, der Bürgermeister. Und das hat uns geholfen, diese Sache über drei Jahre auch zu realisieren. Aber: Man braucht Durchhalte-Vermögen. Und Spaß an dem Ganzen. Und eine Vision. Wir wollten kein Puppenhäuschen. Wir wollten auch moderne Elemente integrieren, aber so, dass das Haus seinen Charakter nicht verliert.?   AUT Das hat gut geklappt. Ziemlich gut sogar. Die Vorderseite des Fachwerkhauses aus dem 18. Jahrhundert erstrahlt in neuem Glanz. Das schwarze Gebälk, die Außenwände, die graue Eingangstür mit den Jugendstil-Elementen: Alles Tipp-top. Birgit Maske-Pagel strahlt. Langsam ist Land in Sicht. Das erste Jahr hätten sie nur entkernt. Erzählt die Wiesbadenerin. Über vierzig Tonnen Schutt.   A 02 (Geräusch von Marktstraße) Regie: Schon unter Ende des vorherigen Autors blenden, kurz frei und dann unter folgenden Autor blenden   AUT Nord-Hessen, landschaftlich schön, aber strukturschwach: So ganz kann es die Frau, die im hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst einen gutbezahlten Job hat, immer noch nicht fassen; dass sie ausgerechnet hier gelandet ist. Vorherzusehen war das nicht. Eher Zufall. Im Fernsehen hatte sie einen Bericht gesehen - über Wanfried und diese Gruppe, die irgendwelche Fachwerkhäuser retten wollte. Klang spannend.  Sie schickte der Gruppe eine Email. So nahm das Schicksal seinen Lauf.   O 03 (Maske-Pagel) ?Mein Mann sagt auf einmal: Hör mal, ein Bürgermeister hätte ihn angerufen. Und er wusste jetzt gar nicht wer. Und dann stellte sich eben heraus, dass das der Herr Gebhard gewesen ist, hier aus Wanfried. Und der dann gesagt hat: Kommt doch einfach mal her! Das fanden wir ne nette Geste. Und dann sind wir eben hier hergefahren. Dann sind wir freundlich empfangen worden, von der Bürgergruppe, Bürgermeister Gebhard war dabei. Dann haben wir uns gemeinsam das Haus angeschaut.?   AUT Das hat sich gelohnt ? für alle Beteiligten.   O 04 (Maske-Pagel) ?Oh!? (läuft vom Hof ins Haus) Oh! Jetzt kommt gerade wieder... (Handwerker) Hallo. (M-P)...nen Handwerker. Ja, da steht auch unsere Heizung drin. Das is also alles neu. (Tür klackt) (Handwerker) Ich muss mal kurz... (M-P) So. Hier kommen wir in die Küche. Und hier sehen Sie auch dieses geschäumte Glas. So sieht das aus. (Glasbrocken knistern) Es fühlt sich an: Ganz leicht. Fühlt sich son bisschen an wie Lava.?   AUT Möglichst ökologisch, möglichst aus der Region ? wie das Dämm-Material:  Birgit Maske-Pagel ist das wichtig. Auch im Treppenhaus.   O 05 (Maske-Pagel) ?Die Treppe hier ist etwas jüngeren Datums. (Treppe knarrt) Ach so: Das ist mein Mann, wollte ich eben sagen. (beide lachen) (Pagel) Ich bin völlig verschwitzt. Guten Tag.? (lacht)    AUT Rainer Pagel kommt gerade vom Dachgeschoss ? vom Löcher-Stopfen.   O 06 (Pagel) ?Ich hab nicht ganz zwei linke Hände. Und von daher geht das.?   AUT Das mit dem Renovieren in Eigen-Regie.   A 03 (Pagel) ?Ich müsste was zurechtsägen. (Säge klackt) OK. Gut. (Säge kreischt) Regie: Kreischen der Säge kurz frei stehen lassen und dann unter Autor blenden   AUT Morgen Abend wollen die Pagels wieder nach Wiesbaden zurück. Macht: 230 Kilometer. Zum täglichen Pendeln: Zu stressig. Deshalb wollen sie unter der Woche weiter in der hessischen Landeshauptstadt bleiben. Schweren Herzens.   O 07 (Maske-Pagel) ?Unser Herz ist eigentlich eher auf dem Lande. Und wir mögen auf dem Land auch den Zusammenhalt. Dass die Menschen etwas näher beieinander sind. Gut: Sie wissen wahrscheinlich viel voneinander. Das ist schon in Ordnung. Aber man achtet auch aufeinander. Und in der Stadt hab ich nicht den Eindruck, dass das genauso is. Und da wir nen bisschen langfristiger denken, ist es uns wichtig, in einer Gemeinschaft zu leben, wo wir in Würde älter werden können.?   AUT Vor ein paar Tagen haben die Pagels Post bekommen. Vom Bürgermeister. Im Kuvert: Ein Willkommensgruß. Pagels haben jetzt ihren Erst-Wohnsitz in Wanfried. Wenn alles klappt, wollen sie Ende Oktober einziehen ? und Gebhard und die Bürgergruppe zu einem rauschenden Fest einladen.   O 08 (Maske-Pagel) ?Ohne die Bürgergruppe hätten wir uns, glaub ich, dieses Objektes nicht angenommen. Immer nen offenes Ohr. Immer auf der Baustelle. ?   O 09 (Wetzestein) ?Es is immer jemand zu erreichen. Auf jeden Fall.?   AUT Betont Diana Wetzestein von der Bürgergruppe.   O 10 (Wetzestein) ?Ich bin Zimmermeisters-Tochter. Meine Familie is hier schon seit nen paar hundert Jahren. Wir haben also viele dieser Häuser gebaut. Ich bin direkt auf dem Zimmerplatz aufgewachsen. Hab in der Hobelspäne und in der Sägespäne gesessen. Ich hab noch gesehen, wie die Altgesellen und Altmeister die Fachwerkhäuser per Hand verzimmert haben. Ich weiß genau, wie?s sich anfühlt.?   AUT Das Fachwerk. Die Frau mit dem schwarzen Haar und der Designer-Brille ist heute Morgen in das sogenannte ?Fachwerk-Musterhaus? gekommen. Ein Fachwerkhaus als Anschauungs-Objekt, für jeden zugänglich, in Privatinitiative entstanden: Es gab nicht wenige in Wanfried, die anfangs meinten, das sei ja wohl ein ziemliches Himmelsfahrtkommando. Wetzestein verzieht das Gesicht. Immer dieselbe Leier. Sie kennt das schon. War schon vor zehn Jahren so, als sie an den Start gingen.     O 11 (Wetzestein) ?Die Bürgergruppe selber is natürlich auch belächelt worden. Weil: Wir sind keine Handwerker. Sind zwar vier Architekten in der Gruppe. Und Leute, die Fachwerkhäuser besitzen und auch viel umgebaut haben. Aber die Handwerker haben uns sehr belächelt und gesagt: Was wollen die? Die können das gar nich. Und hier kommt eh keiner her.?     AUT Von wegen! Mehr als 50 Fachwerkhäuser hat die Bürgergruppe in den letzten zehn Jahren vermittelt. Anfangs hauptsächlich an Niederländer, die davon Wind bekommen hatten, dass man in der deutschen Provinz schon für 10, 15.000 Euro ein Fachwerkhaus bekommen kann. Es folgten Leute aus den deutschen Ballungszentren: Aus München, Freiburg, dem Rhein-Main-Gebiet. Profitiert davon haben: Nicht zuletzt die ach so skeptischen Handwerker. Die Frau von der Bürgerinitiative zieht die Augenbrauen hoch: Eine goldene Nase hätten die sich verdient. Rund drei Millionen Euro ? hat sie überschlagen. Wenn jetzt einer lächelt ? dann sie. Zusammen mit dem Bürgermeister reist Wetzestein bald nach Niedersachsen, in die Fachwerkstadt Bad Gandersheim, um einen Vortrag zu halten über die Bürgergruppe; ihr Erfolgs-Rezept.   O 12 (Wetzestein) ?Wir haben noch 2,4 Millionen Fachwerk-Bauten in ganz Deutschland, zweihundert aus der Zeit vom 13. Und 14. Jahrhundert. Also Fachwerk steht überall. Und überall ist das Thema Fachwerk heute positiv besetzter, als es noch in den 70er-Jahren war. Weil die Leute gemerkt haben: Das Dach über dem Kopf, das Haus in der Familie, ist ein sehr wertvolles Gut.?   A 03 A (Geerk steigt Treppen hoch, sagt: ?So. Hier haben wir gestern noch geputzt. Das is noch nich trocken. (Dielen knarzen) Unsere Werkstatt ? das sieht man.? (lacht)   AUT Dass das eigene Dach über dem Kopf ein wertvolles Gut ist, muss man Peter Geerk nicht zwei Mal sagen. Der pensionierte Architekt gehört zu den Gründervätern der Bürgergruppe. Von ihm stammt auch die Idee mit dem Musterhaus.   O 13 (Geerk) ?Wir haben in jedem Raum ein anderes Innendämm-System angewendet. Das zeigen wir an dieser Wand. Deshalb haben wir auch hier diese Öffnungen. Hier is also mit Kork. Dämmschüttung. Hier haben wa...(Klacken)...Multipor, das is auf Kalk-Basis.?   O 14 (Rödiger) ?Wir haben das Haus auch so gestaltet, dass man sich vorstellen kann, dass eine Familie hier drin wohnen kann.?   AUT Ergänzt Jürgen Rödiger, der Sprecher der Bürgergruppe.   O 15 (Rödiger) ?So zum Beispiel: Das könnte man sich vorstellen als nen Küchenbereich. Der kleine Raum hier rechts: Das könnte dann son Hauswirtschaftsraum sein.?   AUT Rödiger ist Ur-Wanfrieder. Hier geboren und aufgewachsen, zwischendurch war er zwar am Niederrhein, wegen des Jobs bei einem Energieversorger, doch als er in Rente ging, kehrte er schnurstracks zurück in die alte Heimat. In Wanfried sind seine Wurzeln. Und sein Elternhaus. Es steht unweit der Werra, in der Nähe des alten Schlosses, das von Zeiten kündet, als Wanfried dank seines Binnenhafens noch ein wichtiger Handelsplatz war ? und dementsprechend wohlhabend.     A 04 (Schlüsselbund klackt), (Rödiger) ?Ich muss noch abschließen.? (schließt Tür zu, geht raus auf Straße) Regie: Frei stehen lassen und nach paar Sekunden Straßengeräuschen Rest Atmo unter Autor blenden   AUT Keine fünf Minuten sind es bis zu Rödigers Elternhaus, einmal quer durch die Altstadt: Dicht an dicht stehen die Häuser, fast alles Fachwerk, mal schief, mal halbwegs gerade. Anders als Kassel oder Gießen blieb Wanfried im Zweiten Weltkrieg von den Bombern der Alliierten verschont.   O 16 (Rödiger) ?So! Das hier vorne rechts ist das Haus. Meine Eltern haben dann diesen Bereich bewohnt. Die rechte Seite. Und die linke Seite ist von meinem Onkel und meiner Tante gewesen. (geht näher zum Haus) Da hinten: Dieser Anbau ? das war die Bäckerei. (Kindergeschrei im Hintergrund) Na ja, das is halt unschön. Das müsste mal abgenommen werden. Das hat man auch so in den 60er, 70er-Jahren gemacht.?   AUT Das mit den Klinkern an der Wand. Rödiger zuckt die Schultern. Schon ein komisches Gefühl, hier zu stehen. Er wohnt inzwischen in einer anderen Ecke der Stadt. Jahrelang stand das Haus leer, bis ihn eines Tages eine alte Schulfreundin, die mit einem Italiener verheiratet ist, ansprach und meinte: Sie kenne da eine junge Familie aus Florenz, die nach einer passenden Immobilie in Deutschland suche. Ob er eine Idee habe? Hatte er. Seit Juni letztens Jahres wohnt Maurizio Rizzo in Rödigers Elternhaus. Zurück nach Florenz kriegen ihn keine zehn Pferde.   O 17 (Rizzo) ?Für die Leben ist viel teurer. Auch die Wohnungen. Miete. Für eine Wohnung: Große circa 80 Meter Quadrate ich bezahle 800 Euro pro Monat. Kalt-Miete.?   AUT Hessisches Fachwerk statt Renaissance-Paläste: Wanfried mag zwar architektonisch der Stadt am Arno nicht unbedingt das Wasser reichen, doch zumindest stimmen hier die Rahmenbedingungen. Findet Maurizio.   O 18 (Rizzo) ?Andere Problem ist in Florenze in diese Moment: Die Arbeit ist weniger. Und wann du haben Arbeite, die Firma bezahle weniger.?   AUT Dann lieber Germania. Seit kurzem arbeitet Maurizio in Eschwege, der Kreisstadt, bei einem Handelsunternehmen. Er schaut zu Rödiger rüber. Ja, ja, das mit den hässlichen Klinkern. Kümmert er sich noch drum - wenn er genug gespart hat. Schließlich will er das Haus komplett sanieren ? und in drei Wohnungen aufteilen. Rödiger nickt. Ihm gefällt das. Dass jemand einen Plan hat; eine Vision. Da ist er nicht der einzige.   A 05 (Autor steigt Rathaus-Treppen hoch, geht ins Vorzimmer, sagt: ?Guten Tag. (Sekretärin) Guten Tag. Kleinen Moment bitte.? (Kopierer druckt) Regie: Bis Kopierer frei stehen lassen und dann unter Autor blenden   AUT Es hat sich einiges angesammelt bei Wilhelm Gebhard, dem Bürgermeister. Der CDU-Mann ist erst vor ein paar Tagen aus dem Urlaub zurückgekommen. Fünf Tage Österreich, die Tiroler Alpen: Reicht vollkommen aus, meint der Vierzigjährige in seinem nicht gerade klein bemessenen Amtszimmer im ersten Stock. Weil: Zu Hause ist es eh am schönsten. Das kommt nicht von ungefähr.       O 19 (Gebhard) ?Is ganz kurios. Bei der 400-Jahre-Stadtrechte-Feier, die wir im Jahre 2008 gefeiert haben, haben wir festgestellt, dass der erste Bürgermeister, der die Stadtrechte-Urkunde in Empfang genommen hat, schon ein direkter Vorfahre von mir war. Ein Dieterich Gebhard.?   AUT So etwas prägt. Der Niedergang der Wanfrieder Industrie seit dem Fall der Mauer auch. Das Schmirgelwerk, die Großdruckerei, die zwei Möbelproduzenten: Haben alle dicht gemacht. Genau wie der Bahnhof. Da ist jetzt ein Altersheim drin. 5000 Einwohner hatte Wanfried Ende der 80er, heute kann der Bürgermeister schon froh sein, dass sich die Bevölkerungszahl bei rund 4200 eingependelt hat. Gebhard verzieht das Gesicht. Natürlich kennt er die Fakten. Doch er will nicht jammern. Bringt ja nichts. Eigeninitiative umso mehr.   O 20 (Gebhard) ?Das war nen Prozess ? auch in den letzten 25 Jahren. Denn Sie dürfen ja nicht vergessen, dass wir auch fast vierzig Jahre mit der innerdeutschen Grenze gelebt haben. Und wir dann dort schon unser Dasein hier am Rand der Bundesrepublik gefristet haben. Das hat sich gewandelt ? mit der Grenzöffnung. Dass wir jetzt eben auch in der Mitte Deutschlands liegen.?   AUT Zu- und Weg-Züge halten sich in Wanfried wieder die Waage. Gebhard strahlt. Positive Nachrichten ? das ist schon eher nach seinem Geschmack. Gibt ja auch Lichtblicke: Wieder 700 versicherungspflichtige Arbeitsplätze; der boomende Tourismus; das BAP-Konzert unten an der Werra diesen Sommer: Gebhard rattert die Eckdaten von Wanfrieds Wiedergeburt förmlich runter. Andere mögen nur reagieren, er aber will agieren.    O 22 (Gebhard) ?Die ganze Region Mitteldeutschland, die vom Fachwerk geprägt ist: Süd-Niedersachsen; das östliche Nordrhein-Westfalen; das nördliche Hessen; das westliche Thüringen: Die haben ja alle das gleiche Problem: Demographischer Wandel. Auch Leerstände zu beklagen bei Fachwerk-Immobilien. Und wir haben uns dort in den letzten Jahren auch ein Alleinstellungsmerkmal erarbeitet ? durch unsere Initiative der aktiven Vermarktung dieser Objekte.?   A 06 (Gebhard geht zur Tür, sagt: ?Ich geh mal ins Musterhaus.? Läuft weiter) Regie: Zweites Laufen unter Autor blenden   AUT Ab und zu schaut Gebhard im Musterhaus vorbei. Um sich einen Überblick zu verschaffen. Und seine Schäflein bei Laune zu halten.    A 07 (Gebhard klopft ans Fenster) (lacht) ?Wollen wa ihn reinlassen? (Franke) Wir lassen keinen rein heute. (Staubsauger von innen zu hören) (Franke) Die letzten Arbeitsgriffe ? kommt ihr gerade richtig. (Gebhard läuft zum Regal) Ganz toll. (Klacken) (G) Dieter! Ich wusste gar nich, dass du auch noch Möbeltischler bist. Versteckte Talente in dieser Bürgergruppe noch. (Klacken) Regie: Zweites Klacken unter Autor blenden   AUT Das kann man wohl laut sagen. Innen-Designer hätten ihre helle Freude an dem eleganten Holzschrank, den Dieter Franke getischlert hat. Der knorrige Mann hebt die Hände. Gut fünfzig Stunden hat er daran gesessen. Das ist abgehakt. Anderes noch nicht ganz.   O 22 (Franke) ?Wir haben oben den Flur noch nicht fertig. Da müssen noch Wände gestrichen werden. Der Fußboden muss gemacht werden. Und, und, und.?   AUT Franke hat sein ganzes Leben in Wanfried verbracht. Weggehen kam für ihn nie in Frage. Er schaut entgeistert: Warum auch? Ok, das mit der innerdeutschen Grenze, dem Stacheldraht, den Schüssen, die manchmal zu hören waren: Unschön. Ansonsten aber: Ließ es sich aushalten. Er hatte seine Familie; sein Eigenheim; den Job beim Katasteramt.      O 23 (Franke) ?80er: Da war von Vereinigung noch keine Rede, da haben die Katasterämter von drüben und wir die Grenze exakt festgelegt. Das hat horrende Summen an Geld gekostet. Und da haben die sich über Jahre hinweg geeinigt: Der Stein wird so gerichtet, der so. Dann war das alles fertig und dann ist die Grenze gefallen.? (lacht)   AUT Die innerdeutsche. Wo früher Stacheldraht und Selbstschussanlagen standen, hat sich längst die Natur das hügelige Terrain zurückerobert. Manchmal nimmt Gebhard offiziellen Besuch dort mit hoch. Der Bürgermeister schaut auf seine Uhr. Er muss los.   O 24 (Gebhard) ?Ich hab schon in so ner Kleinstadt viel um die Ohren. Und die Bürger kommen natürlich in so einem kleinen Ort auch sehr gerne und sehr häufig (lacht) direkt auf den Bürgermeister zu und bitten um Abhilfe, auch bei den kleinsten Kleinigkeiten. Und dafür (lacht) bin ich leider bekannt: Dass ich mich dann auch kümmere.?   AUT Andere lassen es da ruhiger angehen.   O 25 (Banholzer) ?Muss ich mal gucken. Der hat seinen Mittagsschlaf gemacht. Hast du?s Bett gemacht? (Schorsch) Ja, klar.?   AUT Das sind Friedhilde und Schorsch. Friedhilde und Schorsch Banholzer, ihres Zeichens: Stolze Neubesitzer eines Fachwerkhauses.     O 26 (Banholzer steigt Treppe hoch, läuft über Diele) ?Na! Sein Bett hat er nich gemacht. Unerhört! (schüttelt Bett aus) Regie: Bettschütteln kurz frei und Rest unter Autor blenden   AUT Sachen gibt?s. Die pensionierte Grundschullehrerin schüttelt den Kopf ? ehe sie sich einen Ruck gibt. Jetzt bloß nicht unnötig aufregen. Das hat sie von ihren buddhistischen Lehrmeistern gelernt. Haut nur nicht immer hin. In Freiburg, wo sie herkommt, hatte sie häufiger Stress mit den Nachbarn. Irgendwann reichte es ihr. Zusammen mit ihrem Schorsch setzte sie sich ins Auto und kurvte durch die halbe Republik ? auf der Suche nach einem Alterssitz. In Wanfried wurde sie fündig.   O 27 (Banholzer) ?Der Zimmermann, der hier reinkam und gesagt hat: Ich muss wissen, ob die Balken in Ordnung sind, der kam zur Haustür rein (atmet tief durch) Und hat erscht mal geatmet. Und er sagt: Es is wunderbar. Is nichts hier.?   AUT 70.000 Euro haben Banholzers für ihr Fachwerkhaus bezahlt, in Freiburg hätten sie dafür noch nicht einmal eine Ein-Zimmer-Wohnung bekommen. Kein Stress mehr, dafür gute Luft und viel Platz: Für ihre ganzen Buddha-Figuren - und ihre Ahnengalerie im Flur: Perfekt.   O 28 (Banholzer) ?Das is meine Psycho-Ecke. (lacht) Das hat mir mal ne Psychologin geraten.?   AUT Das mit den Familien-Fotos.    O 29 (Banholzer) ?Das bin ich hier. Das is mein Vater und das is meine Mutter. Er war halt so, wie früher die Väter so waren. Mit 18 bin ich ausgezogen. (lacht) Hab ich gesagt: Näh, das wird nix mehr.?   AUT Ängstlich war die Badenerin noch nie. Der Umzug von Freiburg nach Wanfried: Alles halb so wild. Haben es ihr ja auch leicht gemacht ? die Wanfrieder. Freundlich seien sie hier; offen und hilfsbereit.   O 30 (Banholzer) ?Es fängt an mit dem Garten. Wir haben hinten nen Garten. Und da hatte ich jetzt unheimlich viel Salat. Und Gurken. Und dann hab ich mal rundgefragt: Da hat der andere gesagt: Ja, wir haben Äpfel. Und Pflaumen. Dann krieg ich den Salat und ihr kriegt die Pflaumen. Oder irgendwelche Handwerkssachen. Die Handwerksmaschinen werden dauernd verliehen untereinander.?   AUT In Wanfried, der Stadt der kurzen und bisweilen schiefen Wege.   A 08 (Banholzer) ?So. Jetzt müssen sie aufpassen. (Treppe knarzt) Beim Runtergehen. (Knarren) Ich geh immer so, dann geht?s eigentlich besser.? (Banholzer und Autor steigen Treppe runter) Regie: Treppensteigen per Kreuzblende mit folgenden Atmo verblenden   A 09 (Telefon klingelt, Computerstimme sagt Nummer an, Dahmer nimmt ab: ?Wanfrieder Handarbeiten. Dahmer. Guten Tag.? (leises Gemurmel aus Telefon) (Dahmer lacht) Grüß dich? (weitere Unterhaltung) Regie: Nach ?Grüß dich? Rest Atmo unter Autor blenden   AUT Ein neuer Tag, eine andere Ecke von Wanfried ? und auch hier: Eine Zugezogene.   O 31 (Dahmer) ?Es gibt von uns ja T-Shirts und so Polo-Shirts, wo drauf steht: Wanfrieder. Und da hab ich mir eins machen lassen. Da steht Wanfrieder drauf: Fischkopp. Weil: Das sind halt diese zwei Seelen, die in meiner Brust schlagen.?   AUT Der von Susanne Dahmer. Seit den frühen 80ern lebt die gebürtige Schleswig-Holsteinerin in Wanfried. Ihr Handarbeitsladen ist eine Institution. Die burschikose Endfünfzigerin auch. Alle schauen sie vorbei: Der Bürgermeister ? selbstverständlich; Fahrradtouristen, die vom Weg abgekommen sind; und ihr Hauptklientel: Die Häkelbegeisterten.   O 32 (Dahmer) ?Es waren jetzt zwei, drei Jahre Häkelmützen ganz groß in. Weil da son paar junge Männer angefangen haben zu häkeln. Das fanden die Frauen ganz toll. (lacht) Das können wir dann auch. Da haben se alle gehäkelt wie die Großen. Das hat aber jetzt nachgelassen. Aber ich sag mal: Solange ich meine Miete bezahlen kann und meine Kosten decken kann, bleibe ich. Wenn?s runter geht, is der Laden vorher zu, bevor ich in Rente gehe.?   AUT Dahmer lässt sich auf den Stuhl hinten im Kabuff fallen. Links das Strickzeug, rechts Wolle in allen möglichen und unmöglichen Farben: Sie bekommt den Tag schon rum. Vor sechs macht sie selten zu. Nur zu Hause rum sitzen ? das war noch nie ihr Ding ? auch wenn sie auf das Elternhaus ihres Mannes nicht kommen lässt. Natürlich Fachwerk.   O 33 (Dahmer) ?Schön schief. (lacht) Ich wohn gerne da drin. Unser Sohn, der is so knapp 1,90 ? der is immer am Schimpfen, weil er immer den Kopf  einziehen muss. Die ersten zwei Etagen sind schon sehr urig. Die Zimmer klein. Schief. Wir haben ne Heizung einbauen lassen vor zwanzig Jahren, wo wir eingezogen sind. Und wollten von einem Zimmer kerzen-gerade runter in die Küche ? und sind nebenan im Wohnzimmer ausgekommen. Is so. Aber, mein Gott: Da macht man nen Winkel rein und fertig.?   AUT Wenn alles nur so einfach wäre. Ist nämlich so eine Sache mit den Zugezogenen. Nicht alle haben in Wanfried ihr Glück gefunden wie der Fischkopp oder die Banholzers. Fachwerk ist zwar schön, aber auf Dauer manchmal auch schön teuer. Pro Quadratmeter können bis zu 2500 Euro beim Renovieren anfallen. Susanne Dahmer steht auf und geht zum Schaufenster. Sie kennt mehrere Fälle von Leuten, die sich verkalkuliert haben ? darunter auch eine niederländische Familie.     O 34 (Dahmer) ?Gerade runter is das. Das sind eigentlich drei Gebäude. Da haben die 10.000 Euro für bezahlt. Das war spottbillig. Haben aber nicht bedacht, wie viel sie da noch reinstecken müssen. Mit den 10.000 Euro war?s nich getan. Da müssen se mindestens noch (seufzt) 150.00, 180.000 in die Hand nehmen, um da was Bewohnbares raus zu machen. Da waren die schon relativ enttäuscht. Obwohl die Bürgergruppe und der Bürgermeister ihnen vorher von abgeraten haben das zu kaufen. Das wäre zu groß. Die sind voll auf die Nase gefallen.?   AUT Das niederländische Pärchen. Zwei ihrer Landsleute hatten da ein glücklicheres Händchen.   A 10 (Ellen spricht mit John auf Niederländisch, sagt: ?Twee Schnitzel? (Jon) Ja.   AUT Nach norddeutschen Tönen nun also niederländische ? und damit zu Ellen Holland.   O 35 (Ellen) ?Die Leute, wenn ich sage: Ja, Ellen Holland. Wie? Holland? Ich so: Ja, so wie?s Land.?   AUT Ellen Holland hat nicht nur einen lautmalerischen Namen, sondern auch Phantasie.   O 36 (Ellen) ?In unsere holländische Augen gibt?s hier Berge. Sind zwar Hügel, aber für uns sind das schon mal Berge. (lacht) Es gibt Wasser. Es gibt Natur. Und es ist nicht zu weit. Wenn man mal eben wieder zurück will...man is in vier Stunden, viereinhalb Stunden, is man wieder in Holland.?   AUT Seit vier Jahren lebt die Frau mit der Kurzhaar-Frisur nun schon in Wanfried. Außerplan-mäßig. Eigentlich wollten sie und John, ihr Partner, nur ein Ferienhaus kaufen. Haben sie auch getan, 2011 ? bis sie feststellten, dass es ihnen in Wanfried besser gefiel als in den Niederlanden. Nicht nur wegen der Berge, sondern auch, weil sie in Duitsland jeden Cent nicht zwei Mal umdrehen müssen.   O 37 (Ellen) ?Die Preise, wo man hier nen Haus mit nem Grundstück kauft: Dafür kriegt man in Holland noch nich mal ne Garagen-Box. Ich hatte zum Beispiel in Holland ein Einfamilienhaus. Nix Besonderes. Kein großer Garten, nur ne kleine Terrasse. Und tja: Platz für ein Auto. Das war ja fast 280.000 Euro. Und wenn man das Haus hier zum Beispiel in ner Zwangsversteigerung für 10.000 Euro kauft ? dann denkt man: Äh?! Da kommt man aus dem Staunen nidd mehr raus.?   AUT Das Haus: Das ist bereits ihre fünfte Immobilie, die sie in Wanfried gekauft haben. Natürlich auch Fachwerk. In dem verwinkelten Häuschen im Ortsteil Altenburschla betreibt Ellen seit kurzem ihre Gaststätte.   A 11 (Ellen geht in Küche, sagt Jon etwas auf Niederländisch, Tür geht zu, Ellen: ?Das is unsere Küche. Die is zwar nicht so groß, aber alles is drin, was man braucht. (Fett brutzelt) Das sind die breite, holländische Pommes. Und natürlich darf hier in Nord-Hessen der Schnitzel nicht fehlen.? (Fett brutzelt) Regie: Zweites Brutzeln unter Autor blenden   AUT Schnitzel auf Nord-hessische Art: Das ist ein Fall für John, Ellens Partner.   O 38 (Ellen) ?Wie man sehen kann: Er kriegt das dann sehr gut hin.?   AUT John lacht. Hat zwar etwas gedauert, aber inzwischen macht ihm niemand mehr etwas vor ? in Punkto Schnitzel ? Wanfrieds Chefkoch. Von Hause aus ist der Anfang-50jährige Autolackierer, lange Zeit hatte er seine eigene Werkstatt mit zwölf Angestellten. Immer Voll-Gas; immer am Limit: Irgendwann hatte John genug davon.   O 39 (Jon) ?Da hab ich meine ganze Leben von geträumt ? natürlich: Keine Hektik und Stress zu haben. Aber wenn du das hast, dann fehlt da etwas. Da habe ich drei Jahre dran gebraucht, um daran umzugewöhnen.?   AUT An die Ruhe; dass das Leben in Wanfried manchmal so träge dahinfließt wie die Werra bei Niedrigwasser.   A 12 (John geht aus Küche raus in Hinterhof, bleibt stehen, Jon: ?Hier is de neue Baustelle. Hier sind wir im Abrissphase. Nix is gerade in ne Fachwerkhaus.?   AUT Vorsichtig läuft John über den Hof. Überall liegen Steine und Bauschutt. Nächstes Jahr soll hier ein Wintergarten stehen. Noch ganz schön viel Arbeit. Aber wird schon. Schließlich ist das Leben zuweilen so wie Fachwerk: Eine Baustelle.   O 40 (Jon) ?Nen Fachwerkhaus is immer ne Baustelle natürlich. Wenn du an der Vorderseite fertig bist, kannst du an der Hinterseite wieder anfangen. Is viel Arbeit.? (lacht)   AUT In Wanfried, dem nord-hessischen Fachwerk-Paradies.   O 41 (Ellen) ?Das war?s? (Autor) Ja. (Ellen erleichtert) Ok.?   -Ende Beitrag-