HINTERGRUND KULTUR UND POLITIK Organisationseinheit 39 Reihe Zeitfragen Kostenträger P.3.1.25.0 Titel „Als wären sie nie gewesen“ Neue Literatur aus den Randgebieten Frankreichs Autor/in Sigrid Brinkmann Redakteurin Dorothea Westphal Sendetermin 12.07.2019, 19.30 Uhr Prod.termin 10.07.2019 Ton Hermann Leppich Studio DLF Kultur Regie Clarisse Cossais Besetzung Autorin (spricht selbst) Sprecher 1 Michael Evers (Zitate und VO Chalandon) Sprecher 2 Karim Cherif (Zitate und VO Mathieu) Sprecherin v.D. Barbara Becker für 3 kurze VO Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Take 1 (Chalandon): J’étais en colère pour ce qui se passait ... jamais été pareil. Darauf Sprecher 1: Ich war voller Zorn wegen dem, was in Vietnam geschah, doch eines Morgens wachte ich auf und begriff, dass man in Frankreich sterben konnte, wenn man nichts anderes tat, als seine Arbeit zu verrichten. Danach war für mich nichts mehr wie vorher. Autorin: Am 27. Dezember 1974 erstickten 42 Bergleute bei einem Grubenunglück in der Zeche Liévin im nordfranzösischen Département Pas de Calais. In dieser Region wurde seit mehr als 250 Jahren Kohle abgebaut. Take 2 (Chalandon): C’est ma première injustice ... et avec le poing j’ai – voilà. darauf Sprecher 1: Das ist das erste große Unrecht, an das ich mich erinnere. Ich habe es körperlich gespürt. Da war diese Schranktür. Die habe ich mit der Faust eingeschlagen. Autorin: Sorj Chalandon war damals 22 Jahre alt. Drei Jahrzehnte lang schrieb er für die Tageszeitung Libération Reportagen über ideologische Richtungskämpfe und Kriege in Irland, Afghanistan und Somalia, im Irak und im Libanon. 2005 betrat Sorj Chalandon die literarische Bühne. In seinem jüngsten Buch „Am Tag davor“ kehrt er zurück zu seinen Anfängen als Journalist und zu einer großen Wut. In Liévin starben 42 Kumpel, weil die vorgeschriebene Bewetterung der Grube während der Weihnachtstage nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden war. Take 3 (Chalandon): Le jour même on a su ce que disait la télé, la radio, les journaux (...) ce qui apparassait nous, à Libé, comme un crime. Darauf Sprecher 1: Noch am selben Tag, an dem das Unglück geschah, war uns Journalisten von der Libération klar, dass das, was im Fernsehen, im Radio und in Zeitungen darüber verbreitet wurde, nicht stimmte. In den Medien machten damals alle ein trauriges Gesicht und sagten: Oh là là, die Zeche, was für ein Schicksal! Wir haben schnell verstanden, dass das Grubenunglück hätte vermieden werden können. Anfang der siebziger Jahre hatte man längst damit begonnen, einen Schacht nach dem anderen zu schließen. Sicherheitsvorkehrungen wurden sträflich vernachlässigt. Weil die Bewetterung tagelang nicht kontrolliert worden war, kam es zu Explosionen im Stollen. Für uns von der Libération war diese Fahrlässigkeit ein Verbrechen. Atmo 1: Geräusche der Loren mischen mit „Chanson des mineurs“ Autorin : 1978 wurde das Bergwerk in Liévin geschlossen. Seit 2012 zählt es zum Unesco-Weltkulturerbe. Und noch im selben Jahr eröffnete der Louvre im benachbarten Lens eine Dépendance. So wird versucht, der strukturarmen Region mit hochkulturellen Angeboten aufzuhelfen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa zwölf Prozent. Nach dem unerwarteten Erfolg der Kinokomödie „Willkommen bei den Sh’tis“ erkundeten plötzlich auch Touristen den deindustrialisierten Norden. Die Neugier ließ aber bald wieder nach, und die in Grenznähe zu Belgien lebenden Franzosen bleiben weiter unter sich. Atmo 2: Rede von Manuel Vals Darauf Autorin: Als Sorj Chalandon 2014, am 40. Jahrestag der Grubenkatastrophe, im Fernsehen eine Rede von Premierminister Manuel Vals hörte, beschloss er, über das Unglück zu schreiben und über die Spuren, die es im Leben von Angehörigen hinterließ. Zitat 1 / Sprecher 1: Die Bergleute hegten fu?r diese dunklen Stollen eine ängstliche Zuneigung, die auf Widerwillen und Ehrfurcht gleichermaßen beruhte“, murmelte der Premierminister. Vierzig Jahre danach. Wahrhaftig eine Ewigkeit. Keine Baskenmu?tzen mehr auf den Köpfen, keine Schultertu?cher. Keine Mädchen im Minirock, keine Jungs in Schlaghosen. Auch keine Riesenmenge mehr, deren Zorn die Polizisten im Zaum halten mussten. Keine Zigaretten mehr zwischen bitter verzogenen Lippen. Keine Tränen auf eisigen Wangen. Die Journalisten machten ihren Job, und keiner zeigte ihnen die Faust. „Eine Wunde, die nie vernarben wird“, sagte der Bu?rgermeister von Liévin. Das war es. Eine offene Wunde. Und ein Schmerz, den Frankreich nie geteilt hatte. (aus: Sorj Chalandon: „Am Tag davor“, Roman. Aus dem Französischen von Brigitte Große. dtv, München 2019) Take 4 (Chalandon): En fait, c’est un livre sur la culpabilité (...) en inscrivant son drame dans le grand drame national. Darauf Sprecher 1: Es ist ein Buch, das von einer tiefen Schuld handelt und zugleich die Minenarbeiter würdigt. Natürlich ist da kein Platz für einen leninistischen Helden, der „Tata, das Bergwerk ist schön!“ schreit. Ich wollte einen zerbrechlichen Charakter schaffen. Jemanden, den das Gefühl zerfrisst, am Unfalltod seines Bruders schuld zu sein und der sich davon zu befreien versucht, indem er seine persönliche Tragödie in das große nationale Drama einschreibt. Autorin : Sorj Chalandons Roman „Am Tag davor“ beginnt am späten Abend des 26. Dezember 1974. Der Bergmann Joseph Flavent sitzt laut singend auf dem Rücksitz seines Mopeds und überlässt seinem minderjährigen Bruder Michel den Lenker. Die Straßen sind eisglatt. „So ist das Leben“ ruft der Ältere ausgelassen. Einen Augenblick später stürzen sie. Joseph stirbt an den Folgen seiner Verletzung. Dem Unfall folgt nur einen Tag später die große Katastrophe. Für viele Menschen im Bergbaugebiet von Liévin bricht eine Welt zusammen. Take 5 (Chalandon): Je suis un romancier mais je suis un journaliste ... tu as écrit sur nous? Darauf Sprecher 1: Ich bin Romanautor, aber auch Journalist. Da es eine historische Wahrheit gibt, ist es unmöglich, als Erzähler in die Haut eines Toten zu schlüpfen. Ich kann auch nicht der Freund des Kumpels eines Mannes sein, der beim Grubenunglück umkam und ebenso wenig kann ich Vater, Mutter oder ein Cousin sein. Ich konnte den getöteten Minenarbeitern nur nah kommen, indem ich mich mit dem Bruders eines Bergarbeiters identifizierte. Wenn man ein Buch über Liévin schreibt, weiß man, dass man eines Tages den Witwen und Waisen gegenüber steht, und sie werden fragen: Warum hast du das gemacht? Warum schreibst du über die Zeche? Wer gibt dir das Recht, über uns zu schreiben? Klangzäsur Autorin: Bergarbeiter zu sein, das war in Frankreich - wie auch in Deutschland und England - ein stolzer Beruf. Fast eine Mission. Man war bereit, Opfer zu bringen. Sorj Chalandon hat dem Vater des Protagonisten einen schmerzhaften Monolog geschrieben. Dessen älterer Sohn bzw. Bruder wurde angeworben. Zitat 2 / Sprecher 1: Ist es das, was du willst, Jojo? Sterben fu?r den Profit der staatlichen Kohleindustrie? Krepieren mit einundzwanzig, wie dein Onkel, dem von der Hitze die Brille im Gesicht zerlaufen ist und dem die Finger miteinander verschmolzen sind? In den Eingeweiden der Erde schwitzen, um die Faulpelze des Reviers zu mästen? Und was hast du davon, wenn es dich erwischt? Da kommen dann zwei Trikolorenschärpen aus der nächsten Stadt, und ein stellvertretender Minister aus Paris murmelt verschämt was von tragischem Schicksal, die Gewerkschaft bezahlt drei Blumen, und die Ehrenwache halten ein paar Kumpel, die sich nicht trauen, eurer armen Mutter ins Gesicht zu sehen. (...) Du wirst eine Staublunge kriegen, Joseph. Du bist dann vergiftet. Und weißt du was, Jojo? Niemand wird deine Krankheit anerkennen. (aus: Sorj Chalandon: „Am Tag davor“, Roman. Aus dem Französischen von Brigitte Große. dtv, München 2019) Autorin: Sorj Chalandon war stellvertretender Chefredakteur der Tageszeitung Libération. Seit 2009 arbeitet er für Le Canard Enchaîné. Die satirische Wochenzeitung hat immer wieder politische Skandale aufgedeckt. In seinem Roman „Am Tag davor“ führt Chalandon die Perfidie und den Zynismus der Industriemanager vor. Den am 27. Dezember in der Grube Saint-Amé Getöteten wurden drei Tage vom Monatslohn abgezogen – für „unentschuldigtes Fehlen“. Die zuletzt getragene Arbeitskleidung - die Bergleute starben im Blaumann, ihre Füße steckten in Stiefeln - stellte man den Witwen in Rechnung. Take 6 (Chalandon): Michel, ça le rend fou que la France (... ) on est en 1974 en France. Darauf Sprecher 1: Es macht meinen Romanhelden Michel verrückt, dass Frankreich nach dem Mai 1945 zwar Frieden hatte, aber diejenigen sterben ließ, die in die Erde hinabstiegen, damit das Land mit Heizung und Strom versorgt werden konnte. Sie waren wie eine Armee, die das Land beschützte und ihm Sicherheit gab. Sie hatten einen Auftrag zu erfüllen und wurden verraten und vergessen. Das waren ungeheure Vorgänge. Man lebte doch nicht mehr wie zu Zeiten von Émile Zola. Es war das Jahr 1974! Autorin: Man lebte auch nicht mehr zu Zeiten von Victor Hugo. Dessen 1862 veröffentlichter Weltklassiker „Die Elenden“ wird in Frankreich immer wieder neu interpretiert – genreübergreifend, zuletzt von Ladj Ly. Der 38 Jahre alte Regisseur schaffte es im Mai 2019 mit seinem Debütfilm „Les Misérables“ in den Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes und gewann den Preis der Jury. Atmo 3: Filmtrailer „Les Misérables“ Darauf Autorin: Der Filmregisseur Ladj Ly kommt aus Montfermeil. Die Kommune im Osten von Paris kennt in Frankreich jeder, denn dort spielt Hugos Epos „Die Elenden“. 2005 starben zwei Jungen auf der Flucht vor der Polizei in Montfermeil. Ihr Tod löste die bis heute schlimmsten Vorstadtunruhen aus. Über 8.000 Autos wurden angezündet. Ladj Ly war damals Zeuge der Gewalt. Nach der Rückkehr aus Cannes hat er Emmanuel Macron nach Montfermeil eingeladen. Atmo: Filmtrailer noch einmal aufblenden, unter Autorin abblenden Autorin: Genau hinschauen wie Hugo, und wie Zola, „jede neue Wunde und jeden unerwarteten Stoß“ vermerken, das begreift Sorj Chalandon als seine Aufgabe. Er hat ein sicheres Gespür für „die Ruinen der Welt“: die aufgegebenen, verfallenden Fabriken und Produktionsstätten, die für die Wirtschaft und den Wohlstand einer Nation wichtig waren. Packend schildert er die Obsession seines Romanhelden, den toten Bruder zu rächen. Sie entlädt sich in Selbstjustiz. Die Gerichtsverhandlung und die Verurteilung des Protagonisten bilden den Höhepunkt des einfühlsam geschriebenen Romans. Leïla Slimani, Schriftstellerin und ehrenamtliche Botschafterin der Frankophonie, beobachtet, dass das im 19. Jahrhundert in Frankreich entwickelte Ideal einer realistischen Literatur bis heute fortwirkt. Die Franzosen liebten Literatur, die vorgibt, das Leben genau zu spiegeln. Take 7 (Slimani): Cette idée que la littérature, c’est de la chair ... belle, poétique. Darauf Sprecherin: Dahinter steckt die Vorstellung, dass Literatur zum Anfassen nah sein muss. Wenn man ein Buch aufschlägt, muss man die Gerüche der Straße wahrnehmen können, Nuancen im Tonfall der Stimmen hören. Was den Realismus angeht, so hat sich das Verhältnis zur Sprache am stärksten verändert. Die Sprache von Autoren wie Virginie Despentes, Faïza Guène oder des Slampoeten und Sängers Abd al Malik, die aus der Vorstadt kommen, ist vom Rap beeinflusst. Sie mischen das Französische mit arabischen Worten und derben Slangausdrücken. Ihre Sprache ist sehr lebendig, schön und poetisch. Atmo 4: „Les autres“ d’Abd al Malik (youtube) darauf Autorin: Unter den französischen Gegenartsautoren hat Virginie Despentes die mit Abstand schillerndste Imagekarriere durchlaufen. Die Zeit, in der sie in Peepshows auftrat, einen Massagesalon betrieb und Platten verkaufte, sind vorbei. Ihre Romantrilogie „Das Leben des Vernon Subutex“ ist ein internationaler Bestseller. Den Einwand, ihre Figuren seien nur Zyniker und gleichgültige Verlierer, lässt Virginie Despentes nicht gelten. Take 8 (Despentes / Quelle: INA Culture, 8.4.19): (...) des gens qui ont du chagrin, qui ont de la peine. .. Ils sont à la recherche de la vérité, du plaisir, d’une sincérité. darauf Sprecherin: Es sind Leute, die Kummer haben, die leiden. Der Schmerz verbindet sie alle - egal, was der Grund für ihre Wut ist, egal, wo sie leben. Sie wollen nicht das Leben ihrer Eltern führen, nicht die vorgezeichneten Wege gehen. Und sie haben gute Gründe, denn sie verlangen Wahrheit, Lust und Aufrichtigkeit. Autorin: Das Feuilleton stilisiert Virginie Despentes inzwischen zum „weiblichen Balzac des 21. Jahrhunderts“. Ihr gefällt das Label durchaus, und ihren Sitz in der Académie Goncourt nutzt die 50jährige, um sich stark zu machen für Gesellschaftschronisten wie Nicolas Mathieu. Den 1978 in Épinal, im Nordosten Frankreichs geborenen Erzähler kannte man bis zur Verleihung des Prix Goncourt im November 2018 kaum. Sein Roman „Leurs enfants après eux“ erschien aber zur richtigen Zeit, denn nur zehn Tage nach der Ehrung begannen die landesweiten Proteste der „Gelbwesten“. Und plötzlich sprachen alle über die Lebensbedingungen von Leuten in den Randregionen Frankreichs, fern von urbanen Zentren. Take 9 (Mathieu): On est toujours quelque part dans un milieu ... d’arrachement possible. Darauf Sprecher 2: Man befindet sich immer irgendwo, in einem sozialen Umfeld. Zum Milieu gehört auch die Geographie. Die Landschaft prägt uns. Sie hinterlässt Abdrücke. Sie ist der sichere Hafen und zugleich Träger von etwas Unheilvollem. Jeder spürt das auf seine Weise. Man kommt unmöglich von ihr los. Autorin: Nicolas Mathieus Roman spielt in Lothringen, wo in den achtziger Jahren der Zusammenbruch der Schwerindustrie begann. Der fiktive Ort Heillange gleicht der real existierenden Gemeinde Hayange. Zitat 3 / Sprecher 2: Der unersättliche Schlund der Fabrik hatte verschlungen, was er bekam, genährt durch ein Netz aus Straßen (...), durch ein System aus metallenen Röhren, die, als sie zurückgebaut und zu Kilopreisen verschleudert worden waren, die Stadt ausgeblutet zurückgelassen hatten. (...) Am Ende blieben nur rostige Umrisse, eine Mauer, ein Tor mit einem kleinen Vorhängeschloss. Ein Politiker hatte im Wahlkampf vorgeschlagen, das Gelände zu einem Themenpark umzugestalten. Und die Kinder zerschossen die Öfen mit ihren Steinschleudern. (aus: Nicolas Mathieu: „Wie später ihre Kinder“. Roman. Aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen. Hanser Berlin, Juli 2019) Autorin: Die Symbole des ehemaligen Reichtums einer Region, zerschossen von Kindern, die das Gefühl haben, vor Langeweile umzukommen. Nichts zu tun zu haben, ist ein Elend. Im Juli 2019 erscheint Nicolas Mathieus Roman in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Wie später ihre Kinder“. Musik aufblenden Nirvana: „Smells Like Teen Spirit“ Darauf Autorin: Mathieus Geschichten spielen zwischen 1992 und 1998. Der Autor schildert vier Sommer im Leben von Jugendlichen, die für Reisen kein Geld haben. Sie hören „Smells like Teen Spirit“ von Nirvana - so laut wie möglich. Musik unter Take langsam ausblenden Take 10 (Mathieu): Oui, ce désir de depart, d’échappée belle (...) le plus vite et le plus loin possible, quoi. Darauf Sprecher 2: Dieses Verlangen wegzugehen, sich aus dem Staub zu machen, das gehört zur Jugend, überall auf der Welt. Man findet, dass das Leben einfach zu eng ist und die Eltern nichts zu bieten haben, dass das Leben sein Versprechen nicht hält und man seinen Horizont anderswo erweitern sollte. Und die Handvoll Jugendlicher in meinem Roman drängt es umso mehr, weil sie in einer untergehenden Welt leben. Sie haben keine Lust, darin zu versacken und wollen so schnell und so weit wie möglich weg. Autorin: Stundenlang hocken die Jugendlichen auf Mauern, sie fahren mit dem Rad oder dem Moped durch die Gegend, sie kiffen am See, sie malen sich erotische Abenteuer aus, sie haben zum ersten Mal Sex. Mathieu verbindet eine Coming of age-Geschichte mit Sozialkritik. An der Langeweile ersticken alle. Es passieren tödliche Unfälle und Gewalt entlädt sich epidemisch. Der Nationalfeiertag ruft keine brüderlichen Gefühle mehr wach. Zitat 4 / Sprecher 2: Anthony starrte mit seinem schiefen Blick aufs Wasser. (...) Vor einem Jahr war der junge Colin ertrunken. Am 14. Juli, das konnte man sich gut merken. Sie hatten Lagerfeuer gemacht und gegrillt. Wie jedes Jahr gab es kurz nach Mitternacht eine Schlägerei. Die Soldaten aus der Kaserne gingen auf die Araber aus dem Plattenbauviertel los, und dann mischten sich die Breitschädel aus Hennicourt ein. Schließlich machten auch die Dauercamper mit, vor allem die jungen, aber auch ein paar Familienväter, Belgier mit dicken Bäuchen und Sonnenbrand. Am nächsten Tag fand man leere Verpackungen, blutige Holzstücke, zerschlagene Flaschen und sogar eine Optimisten-Jolle des Segelclubs, die im Baum gelandet war. Das sah man nicht jeden Tag. Den jungen Colin fand man nicht. (aus: Nicolas Mathieu: „Wie später ihre Kinder“. Roman. Aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen. Hanser Berlin, Juli 2019) Klangzäsur Autorin: 2016 stand Didier Eribons autobiographisches Buch „Rückkehr nach Reims“ wochenlang auf der Bestsellerliste. Der französische Soziologe versuchte zu verstehen, warum das kommunistische, homosexuellenfeindliche Arbeitermilieu, in dem er aufgewachsen war, seit vielen Jahren den Front National wählt, und warum er, der arrivierte Intellektuelle, Jahrzehnte brauchte, die Scham für seine Herkunft abzulegen. Frankreich ist ein Land der scharfen Klassenunterschiede. Der erst 26 Jahre alte Eribon-Schüler Edouard Louis floh aus der Picardie nach Paris. Er litt unter der Verachtung von sexuellen Minderheiten, unter Mobbing und Gewalt. Inzwischen ist er in seiner autobiographischen Prosa dazu übergegangen, politische Entscheidungsträger namentlich zu attackieren. Literatur ist für ihn ein Kampfmittel. Ulrike Schneider, Romanistikprofessorin an der Freien Universität Berlin, beschreibt den Unterschied zur Erzählhaltung des Goncourt-Preisträgers Nicolas Mathieu. Take 11 (Schneider) : Ich habe mir gedacht, es ist vielleicht auch eine große Erleichterung, dass - nachdem Eribon und Louis so in doch, wie ich finde, in fast schon diffamierender Art und Weise ihre Herkunftsmilieus darstellen und damit ja auch die französische Provinz -, dass nun einer, zudem nicht aus Ich-Perspektive, eintaucht in das Leben in der Provinz und vor allem der strukturschwachen Provinz, und ja auch - wie der Autor gesagt hat – das nochmal retten wollte, bevor es verschwindet. Dass das ein epischer Wurf ist, das kann ich nachvollziehen. Autorin: Nicolas Mathieu schlüpft all seinen Figuren unter die Haut. Er fühlt sich in das Leben einer vierzigjährigen Buchhalterin ein, deren Mann zu viel trinkt und dem Sohn ständig Schläge androht; er empfindet den Stolz eines Autohändlers, der genug Geld hat, um seiner Tochter ein Studium in Paris zu finanzieren; er sitzt im Dreizimmerhäuschen eines Paares, das im Katasteramt arbeitet und sich über „die Gefahren aus dem Fernsehen“ aufregt. Vor allem aber steht Mathieu an der Seite der Jugendlichen, die die „vorgekauten Phrasen“ der Eltern satt haben. Zitat 5 / Sprecher 2: Vanessa erschienen sie klein, kriecherisch, dauermüde, bitter, einengend, übellaunig, wie sie da saßen mit ihren Fernsehzeitschriften und Rubbellosen, der Vater in Hemd und Krawatte, die Mutter, die alle vier Monate ihre Haarfarbe auffrischen ließ und Wahrsagerinnen konsultierte, gleichzeitig aber meinte, alle Psychologen seien Betrüger. (aus: Nicolas Mathieu: „Wie später ihre Kinder“. Roman. Aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen. Hanser Berlin, Juli 2019) Take 12 (Mathieu): Le projet de départ (...) d’une intelligence du monde. Darauf Sprecher 2: Am Anfang hatte ich tatsächlich vor, einen Bildungsroman zu schreiben, in dem Illusionen zerbrechen und ein tieferes Verständnis der Welt gewonnen wird. Autorin: Die Jugendlichen heißen Steph, Clem, Vanessa, Alex, Anthony und Hacine. Anthony steht im Mittelpunkt. Zu Beginn des Romans „Wie später ihre Kinder“ ist er vierzehn. Früher hatte sein Vater im Stahlwerk gearbeitet. Jetzt schneidet er Hecken und mäht Rasen, um den Kredit für das Häuschen zu tilgen. Die Ehe der Eltern ist unglücklich. Auch das ist im Tal nichts Besonderes. Zitat 6 / Sprecher 2: Seine Leute kamen ihm ziemlich klein vor, wegen ihrer Körpergröße, aber auch wegen der bescheidenen Jobs, wegen ihrer mickrigen Hoffnungen, sogar ihr Unglück war erbärmlich, das allgemeine wie das konjunkturbedingte. Sie wurden entlassen, geschieden, betrogen und bekamen Krebs. Sie waren ganz schön normal, und alles andere kam sowieso nicht infrage. So wuchsen die Familien wie Pflanzen auf einem Boden aus Wut, und das jahrelang angehäufte Leid konnte bei jeder Familienfeier, wenn der Pastis seine Wirkung zeigte, unvermittelt aus seinem unterirdischen Versteck hervorbrechen. (aus: Nicolas Mathieu: „Wie später ihre Kinder“. Roman. Aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen. Hanser Berlin, Juli 2019) Autorin: Die Jugendlichen hoffen auf ein besseres Los. Wer keine ausreichenden Anstrengungen unternimmt, einen guten Schulabschluss zu machen, für den ist es in Frankreich schwer, gesellschaftlich aufzusteigen. Nicolas Mathieu hat – und darin gleich er Sorj Chalandon, der ebenfalls in der Provinz aufwuchs und sich Bildung erkämpfen musste - ein ausgeprägtes Gespür für oft winzige Details, die die Unterschiede zwischen den Gesellschaftsschichten klar markieren. Take 13: Je viens d’un milieu relativement populaire ... elle influence mon écriture. Darauf Sprecher 2: Ich komme aus einem eher kleinbürgerlichen Milieu, aber zur Schule gegangen bin ich in einer bürgerlichen Gegend, in der es Privatschulen gab. Den Abstand zwischen mir und meinen Altersgenossen habe ich damals zwar deutlich gespürt, aber erst viel später verstanden – als ich anfing, soziologische Bücher zu lesen. Für soziale Merkmale und Unterschiede empfänglich zu sein, sie wahrzunehmen und zu empfinden, das beeinflusst mein Schreiben. Autorin: Nicolas Mathieu ist so klug, die Geschichte der Deindustrialisierung in Lothringen, Elsass und den Ardennen außerdem mit der nicht geglückten Integration nordafrikanischer Arbeiter zu verbinden. Er zeigt dies am Beispiel eines Marokkaners, der vierzig Jahre bis zur Berufsunfähigkeit im Stahlwerk schuftete. Sein Sohn Hacine lebt vom Drogenverkauf auf Parkplätzen. Er wird nie etwas anderes machen. Die Einwandererfamilien leben mit anderen sozial Deklassierten in Mietskasernen am Stadtrand. Die Hochhäuser sind Miniaturausgaben von Plattenbausiedlungen, wie sie seit den 70er Jahren rings um französische Großstädte gebaut wurden. Nach 2005, als in den Pariser Vorstädten Autos abgefackelt wurden, erschienen Romane über die Zustände in der Banlieue. Nicht mehr die Vorstadt mit ihren Parallelgesellschaften und Bewohnern, die sich von religiösen Fundamentalisten agitieren lassen, erzwingt heute alle Aufmerksamkeit, sondern die weiße Landbevölkerung, mit und ohne Arbeit. Die Literatur von Nicolas Mathieu und Sorj Chalandon spiegelt diese Verschiebung. Leïla Slimani: Take 14 (Slimani): On n’est plus à l’époque de Balzac .... ça l’intéresse. Darauf Sprecherin: Wir leben nicht mehr zu Zeiten von Balzac und Guy de Maupassant, als man sich noch sehr stark mit den kleinen Provinzstädtchen identifizierte und mit der besonderen Stimmung dort, aber Nicolas Mathieu hat den Goncourt-Preis auch erhalten, weil er die Provinz erkundet und das Publikum interessiert sich dafür. Klangzäsur Take 15 (Mathieu): Ce titre avait plusieurs vocations (....) Darauf Sprecher 2: Der Titel hatte mehrere Bedeutungen. Er gibt dem Roman von Anfang an etwas Schicksalhaftes. Er wirkt wie eine Schlaufe. Etwas wird von Generation zu Generation weiter gegeben, und diese Fatalität hat etwas Tragisches. Die Jugendlichen stellen sich ihrem sozialen Schicksal, so wie das die Helden antiker Tragödien taten. Zitat 7 / Sprecher 2: „An andere aber denkt niemand mehr / es ist, als hätten sie nie gelebt. / Sie sind gestorben und vergessen / genauso wie später ihre Kinder. (Jesus Sirach, 44.9) Autorin: Diese Worte des jüdischen Lehrers Jesus Sirach gibt Nicolas Mathieu seinem Roman als Motto bei. Aus der dunklen Prophezeiung formt er den Buchtitel: „Wie später ihre Kinder“. Take 16 (Mathieu): Le titre, il est tire (....) Darauf Sprecher 2: Die Zeile „Wie später ihre Kinder“ stammt aus dem Kapitel 44 der Prophetien des Jesus Sirach. In diesem Abschnitt findet sich auch der Satz „Preisen will ich die großen Männer“. Und mit diesen Worten verbinde ich ein anderes, für mich sehr wichtiges Buch: Es heißt „Let Us Now Praise Famous Men“. Der amerikanische Schriftsteller James Agee und der Fotograf Walker Evans reisten Ende der zwanziger Jahre in die Südstaaten, um eine Reportage über all die Landpächter und die Lebensbedingungen weißer Landarbeiter zu machen. Ich wollte etwas Ähnliches schaffen; etwas, dass das wenig beachtete Leben der kleinen Leute wiedergibt. Autorin: Nicolas Mathieu und Sorj Chalandon geben den entlassenen Stahlwerkern und selbstständigen Handwerkern, den Angestellten und Tagelöhnern eine Stimme. Take 17 (Chalandon): Je n’invente presque rien – je veux tout sentir, je veux que tout ça soit vrai. Autorin: Er erfände so gut wie nichts, sagt Sorj Chalandon, und dass er fühlen will, was er beschreibt. Es geht um die Wahrhaftigkeit des Erzählens. Sorj Chalandon wie Nicolas Mathieu lassen einen spüren, wie es sich anfühlt, jung zu sein und es trotzdem nicht zu wagen, sich eine gute Zukunft zu erträumen. Die breiten, ehemals prosperierenden Landstriche, die an Belgien, Luxemburg und Deutschland grenzen, haben einen tiefen Abdruck auf den Körpern der jungen wie alten Bewohner hinterlassen. Woher sie kommen, das vergisst keiner. 1