Deutschlandfunk Kultur Zeitfragen 13. Juni 2018 Göttlich inspiriert Die Welt der indischen Gurus (1/2) Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere erlagen die Beatles der Faszination des Maharishi Mahesh Yogi. Was ist das Geheimnis der Strahlkraft indischer Gurus? Von Antje Stiebitz Redaktion: Winfried Sträter ________________________________________________________________________ Anmoderation: Es waren der indische Pop-Guru Maharishi Mahesh Yogi und die Beatles, die gemeinsam dafür sorgten, dass indische Philosophie und Körpertechniken in den Westen schwappten und salonfähig wurden. Das Interesse für indisches Wissen ist seitdem nie abgebrochen und sickert etwa über den allgegenwärtigen Yoga-Unterricht in unseren Alltag. Indische Lehrer oder Gurus reisen nach Europa, halten Vorträge und sind Publikumsmagneten. Was ist das Geheimnis der Strahlkraft indischer Gurus? Antje Stiebitz hat sich auf eine Spurensuche gemacht: _______________________________________________________ Muik-01: "Om Guru Brahma", Rudraksha von Poumi unter O-Ton 01 legen O-Ton 01 (ARD_PAB:SB/London/MaharishiMaheshYogi im V-Speicher von 13:35-14:20): "The sun shines and it shines forever in fullness. It may be that the clouds are gathering, let them come and go. They go as they come. Take no notice of their coming. You go your way. Make your way through the clouds if they lay on the way. Do not try to dispell them, do not be held by them. They will go their way they have come, they are never found stationary but if you like to pause to see them go their way wait for a while the wind is blowing anyway. It is to clear the clouds from your way." Übersetzer: Die Sonne scheint immer in aller Fülle. Es kann geschehen, dass sich Wolken sammeln, lass sie kommen und gehen. Sie gehen genauso, wie sie gekommen sind, schenke ihnen keine Beachtung. Gehe Deinen Weg weiter. Wenn sie auf Deinem Weg liegen, gehe Deinen Weg durch die Wolken hindurch. Versuche nicht, sie zu vertreiben, lass Dich nicht von ihnen zurückhalten. Genauso wie sie gekommen sind, werden sie auch wieder gehen. Wolken stehen nie still. Wenn Du gerne eine Pause machen möchtest, damit Du zusehen kannst, wie sie sich wieder auf den Weg machen, dann warte, solange der Wind sie fortbläst. Es geschieht, um Deinen Weg freizumachen. Erzählerin: Mit solchen Überlegungen und mit den Techniken der Transzendentalen Meditation beeindruckte Maharishi Mahesh Yogi die Beatles so nachhaltig, dass sie sich gemeinsam aufmachten und den Guru am Fuße des Himalaya in der indischen Pilgerstadt Rishikesh besuchten. Fotografien zeigen den "kichernden Guru" im Schneidersitz auf einem Podest sitzend. Zu seinen Füssen die Blumenkinder, wortwörtlich, denn alle tragen sie Blumengirlanden um den Hals. Nicht nur die Beatles scharten sich um die Ikone des Hippie- Mystizismus der 60er-Jahre, auch weitere Pop- und Filmgrößen, wie die Beach Boys, Donovan, Clint Eastwood, Mia Farrow. Musik-02: "Cosmically Conscious", Off The Ground von Paul McCartney unter das Ende des vorherigen Absatzes und den Anfang des nächsten Absatzes legen Erzählerin: Mit Meditation, dem Singen von Mantren und dem Hören spiritueller Vorträge ergründeten seine Jünger den Sinn des Lebens neu und wollten kosmisches Bewusstsein erfahren. In Europa gilt Maharishi Mahesh Yogi als Wegbereiter für hinduistische Philosophie und spirituelle Praktiken im Westen. Auch wenn vor ihm bereits Swami Vivekananda oder Paramhansa Yogananda in den USA lehrten: erst der Pop-Guru Maharishi Mahesh Yogi erreichte mit Hilfe der Beatles ein breites Publikum. Musik-03: Osho Dynamische Mediation, schnelle rhythmische Musik Erzählerin: Intensives Atmen- Katharsis - Hüpfen - Stopp - Tanzen: In den 70ern und 80ern machten sich die Anhänger des Inders Bhagwan Shree Rajneesh mit Hilfe der dynamischen Meditation auf die Suche nach der Wahrheit. Die schnelle und schweißtreibende Meditation soll alte Verkrustungen aufbrechen, Körper, Geist und Emotionen von alten Verhaltens- und Denkmustern befreien. Doch Bhagwans freizügiger Umgang mit der Sexualität brachte ihm den Ruf eines Skandal-Gurus ein. Im deutschsprachigen Raum sorgte der "Stern"-Reporter Jörg Andres Elten mit seinem Buch "Ganz entspannt im Hier und Jetzt. Tagebuch über mein Leben mit Bhagwan in Poona" für hitzige Diskussionen. Musik-04: Osho Dynamische Meditation - Gong! Erzählerin: Indische Gurus mit langen Haaren und Bärten sind auch im heutigen "Hier und Jetzt" gegenwärtig: Auf Plakaten lädt uns Sri Sri Ravi Shankar lächelnd zur "Meditation 4.0" ins Berliner Maritim Hotel ein. In der Buchhandlung ermuntert uns Sadhguru auf einem Buch-Cover zu "Inner Engineering" und im Velodrom, einer der größten Veranstaltungshallen Berlins, können wir uns von dem weiblichen Guru Amma umarmen lassen. Atmo-01 (131026_00.WAV von 00:10 bis 01:09): Stimmengewirr und Musik im Velodrom Erzählerin: In der großen Arena sitzt Mata Amritanandamayi, kurz Amma genannt, in einem weißen Sari auf einer Sesselbank. Amma stammt aus dem südindischen Bundesstaat Kerala, ist klein, rundlich, doch ihr Strahlen ist groß. Ihr Name bedeutet Mutter, ihre Anhänger betrachten sie als einen Avatar-Guru. Das heißt, sie verkörpert einen spirituellen Aspekt und gilt als Lehrerin. Als Ausdruck von Liebe und Mitgefühl umarmt sie Menschen. Das ist ihr Markenzeichen. Männer, Frauen und Kinder gehen vor ihr auf die Knie und sie nimmt einen nach dem anderen in den Arm, hält jeden für einen Moment fest. In zwei Tagen drückt die "göttliche Mutter" 15.000 Menschen an ihre Brust. Zwei der Umarmten schwärmen: O-Ton 02 (WAV-26_04 von 06:17 bis 07:03): "Das ist einfach Freude. Total viel Freude. Ja, eigentlich Freude. Das Herz springt. Man verliert das so im Alltag, dass das Herz vor Freude springt. Und hier sind die Gedanken für einen Moment stillgelegt. Das schafft sie." O-Ton 03 (WAV-26_04 von 16:41 bis 17:07): "Ja, wie die Amma sagt, wenn man sich öffnet, wenn man Liebe gibt, dann wird das Leben einfach schöner und entspannter und lockerer und freier. Man hat weniger Ängste, weniger Stolz, weniger Wut." Erzählerin: Auf den Gesichtern der Umarmten spiegeln sich vielfältige Gefühle. Manche weinen, andere schmunzeln oder strahlen von einem Ohr zum anderen. Musik-05: "Flight IC408", Visual Audio von State of Bengal Erzählerin: Was macht einen Guru aus? Was steckt hinter dem Phänomen der indischen Gurus? Auf dem Flug von Frankfurt in die südindische Stadt Chennai werfe ich einen Blick in die Times of India und lese auf dem Titelblatt eine Ankündigung: Sadhguru, weißer Rauschebart und beigefarbener Turban, ruft zur einer Rally for Rivers auf. Die Idee ist, mit Hilfe von Massenkundgebungen und dem Pflanzen von Bäumen das Bewusstsein für Indiens Flüsse zu steigern. In einem Monat hält Sadhguru in 20 indischen Städten seine Kundgebungen ab. Die Zeitung hat ein Zitat des Gurus abgedruckt: Regie-Hinweis: Vielleicht kann man die englische Version unter die Übersetzung blenden - jedenfalls sollte es in diesen übersetzten Zitaten keine eigene Übersetzerstimme geben. Zitator/ Übersetzer: "For millenia our rivers have nourished us. In one generation if we kill them is a clear statement that we do not care for the future of our children." "Seit Jahrtausenden haben uns unsere Flüsse genährt. Wenn wir sie jetzt innerhalb von einer Generation umbringen, ist das ein klares Statement, dass uns die Zukunft unserer Kinder egal ist." Erzählerin: Gurus hatte ich mit Yoga und spirituellen oder religiösen Inhalten gleichgesetzt. In Chennai erlebe ich einen Guru, der sich scheinbar im größeren Stil für die Umwelt engagiert. Musik-06: : "Om Guru Brahma", Rudraksha von Poumi Sprecherin: Guru - das Wort stammt aus dem Sanskrit und bedeutet Lehrer. Der Guru verleiht Wissen und führt seine Schüler aus der Dunkelheit ins Licht. Das Adjektiv guru wird als gewichtig oder schwer übersetzt. Während wir den Begriff Guru in Europa oft für jemanden verwenden, der eine besondere Fähigkeit hat, ist seine Bedeutung im südasiatischen Kontext umfassender. Der Guru gilt als Lehrer, Berater, er übernimmt die Elternschaft für seine Schüler und zwar auf den Ebenen des Intellekts sowie des seelisch-emotionalen und körperlichen Erlebens. Der Schüler wird als Shishya bezeichnet, was man ungefähr so übersetzen kann: "einer der zu züchtigen ist oder unterwiesen werden soll". In einem populären Mantra, das zu Ehren des Gurus gesungen wird, heißt es: Regie: "Guru Mantra" wieder hochkommen lassen Zitator/ Übersetzer ("Om Guru Brahma",Rudraksha, Sacred Incantations, Mantras & Chants from India &Tibet, Poumi): "Master Creator of the unity of the universe, Master Vishnu, Divine Master Shiva, Master of the Ultimate Truth, Supreme God, I bow down before you, Absolute Master." "Schöpfer der Einheit des Universums, Gott Vishnu, göttlicher Meister Shiva, Meister der absoluten Wahrheit, allwaltender Gott, ich verneige mich vor Dir, unumschränkter Meister." Erzählerin: Sadhguru heißt eigentlich Jaggi Vasudev. Er wurde 1957 in Mysore, einer Stadt im Südwesten Indiens, geboren. Mit 13 Jahren begann er Yoga zu lernen und studierte später englische Literatur. Er interessierte sich für Reisen und Motorräder und machte eine Geflügelfarm auf. Sein Erleuchtungs-Erlebnis hatte er mit 25 Jahren. Die indische Journalistin Bhavedeep Kang hat mit ihm über dieses Erlebnis gesprochen und beschreibt es in ihrem Buch "Gurus. Stories of India´s Leading Babas": Zitatorin: "Plötzlich, ohne Vorwarnung, fühlte er eine unbeschreibliche Einheit mit dem Universum. Es fühlte sich ekstatisch, glückselig, jenseits von jeder Logik an. Er würde es auf verschiedene Art und Weise beschreiben als "ein völliges nach Hause kommen", "ein ständiges betrunken sein", "wilde Leere", als "die schönste Sache, die passieren kann" oder als "Leben ist dort alles ... ein reines Pulsieren einer Masse von Energie". Musik-07: "Shree Shiv Sankirtan" von Suresh Wadkar Erzählerin: Jaggi Vasudev - Sadhguru - begann Yoga-Kurse zu geben, gründete 1994 die Isha Foundation und eröffnete in der Nähe der südindischen Stadt Coimbatore seinen Ashram, das Isha Yoga-Zentrum. Dort leben heute über tausend Männer, Frauen und Kinder. Weltweit hat die Isha Foundation 150 Zentren. Die dort angebotenen Yoga-Programme sollen inzwischen rund zwei Millionen Menschen absolviert haben. Sadhguru ist Mystiker, Yogi, Ehemann, Vater, Geschäftsmann, Autor und Entertainer. Außerdem erwarb er sich den Ruf eines "grünen Gurus", weil er durch groß angelegte Aufforstungsprojekte Millionen Bäume pflanzen ließ. Mit der Rally for Rivers und dem Pflanzen weiterer Bäume wollen er und seine freiwilligen Helfer der Verschmutzung und Austrocknung der Flüsse entgegenwirken. Atmo-01 (RallyforRivers.WAV von 05:57 bis 06:54): die Sängerin Usha Uthup begrüßt das Publikum in verschiedenen Sprachen auf der Rally for Rivers und es wird dazu flotte Musik gespielt, unter den nächsten Absatz legen Erzählerin: Die Menschen strömen aus allen Himmelsrichtungen auf dem YMCA Ground in Chennai zur Rally for Rivers zusammen. Die Times of India spricht am nächsten Tag von 15.000 Menschen. Viele halten Pappschilder in den Händen: Rally for Rivers. Ordner lenken den Ansturm der Menschen. Das Publikum nimmt auf unzähligen Stühlen Platz. Dutzende Journalisten werden durch Gänge von Stellgittern geführt. In einem Karree direkt vor der Bühne stellen sie ihre Kameras und Mikrophone auf - vom Rest des Publikums abgetrennt. Links und rechts neben der geräumigen Tribüne stehen zwei große Leinwände, die das Geschehen live übertragen. Die Nachmittagssonne brennt. O-Ton 04 (RallyforRivers.WAV von 00:00 bis 01:55): "O.k., are we read to save the rivers? Are we ready?" Übersetzerin: Ok, seid ihr fertig, die Flüsse zu retten? Seid ihr fertig? Atmo-02: Usha Uthup singt Erzählerin: Auf der Tribüne nehmen nach und nach neun Personen Platz. Bevor die Gäste die Tribüne besteigen, winken sie ins Publikum und stellen sich dem Blitzgewitter der Presse. In einen weißen Turban und eine weiße Robe gehüllt zelebriert Sadhguru die Begrüßung. Die Hände zusammengelegt, verneigt er sich wieder und wieder in alle Richtungen. Er steht auf der Bühne mitten zwischen den Größen aus Politik und Wirtschaft. Das Unterhaltungsprogramm ist so abwechslungsreich wie ohrenbetäubend: Religiöse Bhajans, klassische Musik und Pop. Klassischer indischer Tanz, Kampfsport und Comedy. Zwischendurch ein paar Worte ans Publikum. Vier Stunden. Danach spricht Sadhguru die abschließenden Worte und erklärt, warum die Flüsse für Indien so bedeutsam sind: O-Ton 04 (RallyforRivers-Sadhguru.WAV von 04:36 bis 05:12): "Because the River speaks the language of life. The river does not speak Tamil or Kannada. The river speaks the language of life and that is the fundamental language which is beating in our hearts." Übersetzer: Der Fluss spricht die Sprache des Lebens. Der Fluss spricht nicht die südindischen Sprachen Tamil oder Kannada. Der Fluss spricht die Sprache des Lebens und das ist die elementare Sprache, die in unseren Herzen schlägt. Erzählerin: Schätzungen zufolge sollen 2030 nur noch 50 Prozent des Wassers zur Verfügung stehen, das zum Überleben auf dem Subkontinent nötig ist. Flüsse wie der Kaveri, Krishna oder die Narmada waren bislang ganzjährige Flüsse. Seit rund zehn Jahren trocknen sie aus und haben sich zu saisonalen Flüssen entwickelt. Hier in Tamil Nadu, erklärt Sadhguru, sei die Wasserversorgung besonders gefährdet: O-Ton 05 (RallyforRivers-Sadhguru.WAV von 08:00 bis 08:41): "Chennai needs approximately 110 Million litres of water per day but you have only 55. Once in how many days you shower I want to know (lacht). Because this is a culture where you never stepped out without a bath in the morning. But the time is coming where you have to ask people are you a Sunday person or a Monday person. When do you shower? Because this is going to be a much more serious problem than you understand. Because the water resources a drying up so rapidly." Übersetzer: Chennai braucht circa 110 Millionen Liter Wasser täglich, aber Ihr habt nur 55 Liter zur Verfügung. Ich möchte gerne wissen, wie oft Ihr duscht. Denn wir leben in einer Kultur, in der wir morgens niemals vor die Tür treten, ohne uns gewaschen zu haben. Aber es wird die Zeit kommen, in der wir uns gegenseitig fragen, ob wir eine Sonntags- oder Montagsperson sind. Wann hast Du geduscht? Das wird bald ein größeres Problem sein, als Ihr jetzt glaubt, weil die Wasserressourcen so schnell austrocknen. Erzählerin: Die Fakten seien deprimierend, fährt Sadhguru fort, aber die Menschen in Chennai müssten jetzt die Kraft aufbringen, die Situation umzugestalten. O-Ton 06 (RallyforRivers-Sadhguru.WAV von 13:13 bis 13:45): (Applaus) "When crisis arises, whenever crisis arises in the world you will see that is when many great men and women arise too. Because a crisis is an opportunity and human being will arise to the peak of their performance, to the peak of their humanity, to the peak of doing things beyond themselves." Übersetzer: Immer wenn eine Krise in der Welt auftritt, dann kann man beobachten, dass sie auch viele große Männer und Frauen hervorbringt. Eine Krise ist eine Chance, und führt den Menschen zum Gipfel seiner Leistungsfähigkeit und seines Menschseins. Den Gipfel, Dinge zu tun, die er vorher nie getan hat. Erzählerin: Sadhguru will der Krise dadurch begegnen, dass er an den Ufern der Flüsse und Nebenflüsse, einen Kilometer breit, Bäume pflanzt. Ihm sei bewusst, erklärt er, dass auch diese Maßnahme nicht ausreiche, um die Gewässer zu retten, aber es sei immerhin ein Anfang. Dann beschwört er sein Publikum: O-Ton 07 (RallyforRivers-Sadhguru.WAV von 13:45 bis 14:04): "This is your time! Tamil Nadu, this is you time that there is a crisis. This is the time to rise beyond cast, creed, religion and party allegiance and to do what is needed and show the world that we are not a disastrous generation." Übersetzung: Das ist Eure Zeit! Tamil Nadu, das ist Eure Zeit in der Krise. Es ist an der Zeit, sich über Kasten, Gier, Religion und Partei-Zugehörigkeit hinwegzusetzen und das zu tun, was getan werden muss. Zeigt der Welt, dass wir keine unselige Generation sind! Atmo-03 (RallyforRivers-Sadhguru.WAV von 22:44 bis 25:25): das Publikum klatscht und dann stimmt Sadhguru den "Rally for Rivers Chant" an und das Publikum stimmt ein Erzählerin: Über dem YMCA Ground ist es dunkel geworden. Sadhguru steigt in Zeitlupe von der Tribüne und wird sofort von einer gewaltigen Traube von Menschen verschluckt. Atmo-04: Gurgaon, Over Bridge at DLF, Cyber Hub, Straßenlärm Erzählerin: Ortswechsel. Saptak Chatterjee lebt in Gurgaon, einer Satellitenstadt von Delhi, 32 Kilometer südwestlich von der Hauptstadt entfernt. Der Name Gurgaon ist eine sprachlich abgeschliffene Form von Gurugram - "Village of the Gurus". Atmo-05: DLF Cyperhub Gurugram, Geräusche in der Mall Erzählerin: Im DLF Cyper Hub, einem modernen Zentrum für Essen und Unterhaltung, finden wir zwischen Glas und Beton ein Café. Saptak Chatterjee ist 28 Jahre alt und trägt eine gelb-schwarz gemusterte Kapuzenjacke. Der aufgeweckte junge Mann ist Sänger und lernt klassische indische Musik bei seinem Vater. Klassische indische Musik wird traditionell in der Familie weitergegeben. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis in der klassischen Musik gilt als außerordentlich intensiv, denn das komplexe Musiksystem erfordert viel Konzentration: O-Ton 08 (SaptakChatterjee.WAV von 02:35 bis 03:00): "Even if I am not able to understand what my Guru is telling me my focus has to be intact . ( ... ) If I am not focussed it does not matter how good or bad I am I will not be able to pick it up in the right way. Which is why a lot of Gurus they will tell you doing something along with classical Music is very difficult, you can´t do it." Übersetzer: Sogar wenn ich nicht verstehe, was mein Guru mir sagt, muss mein Fokus intakt sein. Wenn ich nicht fokussiert bin, egal wie gut oder schlecht ich bin, dann werde ich nicht in der Lage sein, den Lerninhalt auf die richtige Weise aufzunehmen. Deshalb sagen viele Gurus, dass es sehr schwierig ist, neben der klassischen indischen Musik noch etwas anderes zu tun. Man kann es nicht. Erzählerin: Saptak Chatterjee lernt seit fast zwei Jahrzehnten bei seinem Vater. Sein ganzes Leben ist von Musik durchdrungen: O-Ton 09 (SaptakChatterjee.WAV von 07:40 bis 08:15): "So you see, somewhere down the road a performing art becomes a way of life for you. And you will see this across a lot of performing arts even for sport person. For a sports person the way he trains or she trains, the way they to build their body, they train their mind become a way of life for them. It is exactly the same for us musicians. The way we make music the way we approach a piece of music the way we try to understand the emotions that a piece of music brings out, it becomes a way of life for us." Übersetzer: Irgendwann wird die darstellende Kunst eine Lebensform. Das lässt sich bei vielen darstellenden Künsten beobachten, auch bei Sportlern. Wie Sportler ihren Körper trainieren und aufbauen, wie sie ihren Geist trainieren - das wird zu ihrer Lebensweise. Für uns Musiker ist das genauso. Die Art und Weise, wie wir Musik machen, wie wir an ein Stück herangehen, wie wir versuchen, die Emotionen zu verstehen, die ein Stück weckt: das wird zu unserer Haltung gegenüber dem Leben. Erzählerin: Singen ist sein Leben. Als ich ihn bitte, etwas vorzutragen, nickt er, erklärt kurz, dass er ein Musikstück namens Raga Kedar singen werde, und dass es sich dabei um ein Liebeslied handele. Er setzt sich aufrecht hin, hält einen Moment inne und singt: Atmo-06 (SaptakChatterjee-Gesang.WAV von 04:12 bis 05:06): Saptak Chatterjee singt, unter die nächsten Zeilen legen Erzählerin: Das Verhältnis von Schüler und Lehrer hat zentrale Bedeutung in der Welt der indischen Gurus. O-Ton 10 (SaptakChatterjee-Interview von 12:37 bis 12:47): "The first and foremost trade that any disciple should have for his or her Guru is that of respect." Übersetzer: Das erste und herausragendste Merkmal, das ein Schüler seinem Guru entgegenbringen sollte, ist Respekt. Erzählerin: Die Hindu-Mythologie lehre, dass der Guru immer an erster Stelle steht, nach dem Guru kommen die Eltern, danach die Götter. Diese Reihenfolge hat der Sänger bereits als Kind gelernt. O-Ton 11 (SaptakChatterjee-Interview von 13:49 bis 14:13): "So if there is somebody who is telling you, is showing you a way of living or a way of life, there is somebody who is imparting wisdom, who is sharing his knowledge with you, then that person deserves your respect. Because how many people in this world do you know who are willing to share everything they have?" Übersetzer: Wenn es jemanden gibt, der einem eine Lebensweise zeigt oder lehrt, jemand, der Dir seine Weisheit vermittelt, der sein Wissen mit Dir teilt, dann verdient diese Person Deinen Respekt. Denn wie viele Menschen kennst du in dieser Welt, die bereit sind, alles mit Dir zu teilen, was sie haben? Erzählerin: Natürlich stelle er immer wieder Dinge in Frage und es gebe Meinungsverschiedenheiten, antwortet der Sänger. Aber in einer gesunden Beziehung sei es möglich, seine Zweifel auszudrücken, und er artikuliere sie seinem Vater gegenüber. Dieser wiederum nehme sich in einem solchen Fall Zeit und spreche mit ihm: O-Ton 12 (SaptakChatterjee-Interview von 19:05 bis 19:45): "Just because he is my Guru I don´t have to accept what he is offering. ( ... ) It is my decision weather I want to accept it or not and that is a sign of a good Guru. ( ... ) A good guru will never force you to accept something.(...) You cannot force somebody to live the same life like you live it." Übersetzer: Nur weil er mein Guru ist, muss ich nicht akzeptieren, was er anbietet. Es ist meine Entscheidung, ob ich es akzeptiere oder nicht. Das ist ein Zeichen für einen guten Guru. Ein guter Guru wird Dich niemals zwingen, etwas zu akzeptieren. Ein Guru kann niemanden zwingen, auf die gleiche Weise zu leben, wie er es tut. Erzählerin: Was ist ein guter Guru? O-Ton 13 (SaptakChatterjee-Interview.WAV ): (20:11 bis 20:13) "The Guru has to be very open minded. - (20:20 bis 20:30) You know a lot of purists have the attitude that Hindustani classical is the toughest art form in the world. It is the only genuine art form, that every other art form is inferiour to it. That is a very wrong approach.( ... ) A good Guru is always very open to all other kind of artists and art forms.- (21:37 bis 22:02) A good Guru is very patient. A good Guru understands that you have your limitations, a disciple has his or her limitations, that the Guru himself or herself has limitations and the two need to work in harmony within those limitations. You can´t force a student or disciple to do what he or she does not want to do or is physically, emotionally or psychologically incapable of doing. ( ... ) You can´t break a disciple." Übersetzerin: Ein Guru muss unvoreingenommen sein. - Viele Puristen bezeichnen die klassische indische Musik gerne als die schwierigste Kunstform in der Welt und behaupten, dass sie die wahre Kunstform sei und alle anderen Kunstformen minderwertig seien. Das ist eine falsche Herangehensweise. Ein guter Guru ist offen für alle anderen Künstler und Kunstformen. - Ein guter Guru ist sehr geduldig. Er versteht, dass Schüler ihre Grenzen haben, dass der Guru selbst seine oder ihre Grenzen hat. Und dass beide innerhalb dieser Grenzen in Harmonie arbeiten müssen. Man darf einen Schüler nie zwingen, etwas zu tun, wozu er physisch, emotional oder psychologisch nicht in der Lage ist. - Man darf einen Schüler nicht brechen. Atmo-07: Straßenverkehr am Connaught Place in Neu Delhi Erzählerin: In der Jantar Mantar Road, unweit des hektischen Connaught Place, eines der wichtigsten Wirtschafts- und Finanzzentren in Neu Delhi, treffe ich Swami Agnivesh. Der 78-Jährige sitzt in einem nüchternen Raum an einem Besprechungstisch, diskutiert mit zwei Mitarbeitern, telefoniert. Der Turban, den er trägt, ist orange, ebenso sein Gewand. Der Swami gehört zum Arya Samaj, einer hinduistischen Reformbewegung, die sich vor allem auf die Veden als religiöse Autorität beziehen. Sein Name Agnivesh, was so viel wie "Verkörperung von Feuer" bedeutet, wurde ihm nach seiner Initiation zum Sannyasin gegeben. Damals legte er den Schwur ab, dass er der materiellen Welt entsagt und sein Leben spirituellen Zielen widmet. O-Ton 14 (Agnivesh.WAV von 00:29 bis 00:55): "As a matter of fact the entire education system in ancient India and even now in some parts are being imparted or being given throught what they call gurukul. Gurukul means the family of the guru. And here the Guru is the central pivot. Übersetzer: Tatsächlich wurde Bildung im alten Indien und auch heute noch teilweise durch eine Institution vermittelt, die wir als Gurukul bezeichnen. Gurukul wird als die Familie des Gurus übersetzt. In dieser Familie gilt der Guru als Dreh-und Angelpunkt. Erzählerin: Das Gurukul-System sieht vor, dass Guru und Schüler in einer Art Seminar oder einem Ashram zusammenleben. Mädchen und Jungen leben getrennt. O-Ton 15 (Agnivesh.WAV von 01:38 bis 01:52): "These gurukuls are there to teach not only by word of mouth what a normal teacher does but also through his behaviour, through his conduct." Übersetzer: Die Gurukuls gibt es, damit der Lehrer nicht nur mündlich unterrichtet, sondern auch durch sein Verhalten und Benehmen. Erzählerin: Jeder Guru kreiere an seiner Schule eine individuelle Atmosphäre, woran seine "Familie" erkennbar sei. Mit sechs oder sieben Jahren werden die Kinder in den neuen Kreis aufgenommen. Ein Ritual markiert die Bindung an den Guru. Während dieser Zeremonie sitzen die Eltern des Kindes auf der einen Seite des Ritualplatzes, erklärt Swami Agnivesh, der Lehrer auf der anderen Seite. Die Mutter hält das Kind auf ihrem Schoß: O-Ton 16 (Agnivesh.WAV von 04:42 bis 05:54): "And then when the time comes to tie the threat around the neck then she transfers the little child into the lap of the teacher. And at that time she says and the teacher also says that I kept the child for nine months in my womb now you take it and take it in your womb. And the teacher also responds that now I take your child into my womb." Übersetzer: Wenn die Zeit gekommen ist, den Faden um den Hals des Kindes zu binden, dann übergibt die Mutter das Kind in den Schoß des Gurus. Dazu spricht sie Folgendes: Ich habe das Kind für neun Monate in meinem Leib getragen, nimm du es jetzt in deinem Leib auf. Und der Lehrer antwortet: Jetzt nehme ich das Kind in meinen Leib auf. Erzählerin: Ab jetzt übernimmt der Guru die geistige Vaterschaft für das Kind. Von den Eltern wird erwartet, dass sie sich von ihrem Kind trennen. Für die nächsten 15 oder 16 Jahre, erklärt der Swami, bleibt der Schüler bei seiner neuen Familie. O-Ton 17 (Agnivesh.WAV von 07:07 bis 07:37): "The idea is that the student has to equipe completely himself or herself with all the ideas, thoughts, intellectual growth but also in that mission because it is not just enough that you impart education and make the intellect sharp. You have to adress the emotions, the heart also." Übersetzer: Die Idee besteht darin, dass sich der Schüler selbst mit Ideen, Gedanken und intellektuellem Wachstum ausrüstet, aber auch mit einer Mission. Es ist nicht genug, Bildung zu vermitteln und den Intellekt zu schärfen. Man muss immer auch die Emotionen und das Herz erreichen. Erzählerin: Wenn Swami Agnivesh von Mission spricht, meint er damit den ständigen Kampf gegen Unwissenheit, Ungerechtigkeit und Armut. Zusätzlich stehe jeder Schüler in der Pflicht, eine Entscheidung zu treffen: O-Ton 18 (Agnivesh.WAV von 18:22 bis 18:35): "That is something like a cause for which you live, a mission, a cause. Something you are ready to transcend your bodily, physical comforts of life." Übersetzer: Etwas, dass Dir einen Grund gibt zu leben. Etwas, wofür Du bereit bist, den körperlichen und physischen Komfort Deines Lebens zu überschreiten. Erzählerin: Swami Agnivesh hat seine Bestimmung im gesellschaftlichen Engagement gefunden. Er gründete 1981 die "Bonded Labour Liberation Front", eine Nichtregierungsorganisation, die sich für Menschen einsetzt, die in Schuldknechtschaft geraten sind. Außerdem wurde er 2004 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet, weil er sich intensiv für die Toleranz zwischen den Religionen Asiens einsetzt. Musik-08: : "Om Guru Brahma", Rudraksha von Poumi