DEUTSCHLANDFUNK - Köln im Deutschlandradio Redaktion Hintergrund Kultur Essay & Diskurs Barbara Schäfer Essay & Diskurs "Sieh, das Böse liegt so nah" Neues von der Heldenfigur Von Barbara Sichtermann Sprecherin: Tanja Haller Sprecher: Philipp Schepmann Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Sonntag, 13. April 2014, 09:30 - 10:00 Uhr Musik: Collage aus den Titelmelodien/Trailern von House of Cards, Dexter, Breaking Bad, Six Feet under und Mad Men Ansage: "Sieh, das Böse liegt so nah" - Neues von der Heldenfigur. Ein Radio-Essay von Barbara Sichtermann. Musik Sprecher: Weil Fernsehen eine mächtige Werbetrommel ist, fehlt dieses Medium, wenn sich eine Gesellschaft ihrer schönen Künste vergewissert. Das Theater wird subventioniert, der Kunstmarkt spielt öfter mal verrückt, der Film feiert sich in glamourösen Festivals, der Musikmarkt kämpft mit dem Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, die Literatur stellt sich auf Messen dar und die Museen verzeichnen Besucherrekorde. Über die verschiedenen Kunstgattungen lässt sich manches sagen und viel spekulieren - es gibt Bewegung, es gibt Neuerungen, es gibt Krisen. Aber das Fernsehen? Sprecherin: Das gibt es vielleicht bald gar nicht mehr. Die Auguren meinen, es werde im Internet aufgehen. Und zu den schönen Künsten, so die herrschende Meinung, habe es eh nie gehört. Es sei ein Alltagsmedium wie die Zeitung, ohne Anspruch, ohne Weihe, ohne die Aussicht auf Klassizität und historische Größe. Sprecher: Wer für das Fernsehen arbeitet, ob nun als Regisseur, Darsteller, Kamerafrau oder Kritikerin, weiß, dass das nicht wahr ist. Jenseits der schnell vergessenen Routine von Soap-Operas und Doku-Soaps, jenseits auch vom journalistischen Tagesdienst hat sich das Fernsehen mit dem Fernsehspiel und der Serie eine eigene künstlerische Gattung geschaffen - inklusive Festivals, Preise und spezialisierter Presse. Auch Fernsehdokumentationen dürfen Kunstrang beanspruchen, sie liefern durch ihre Bildermacht mehr als bloße Information, und wer glaubt, sie in das Ressort Kino schieben zu können, geht fehl. Fernsehfilme, ob fiktional oder dokumentarisch, besitzen eine eigene Dramaturgie, Rhythmik und Optik, die sich von den Produktionen des Kinos unterscheidet. Seit einer Reihe von Jahren gibt es dafür einen unwiderleglichen und zugleich spektakulären Beleg: die so genannten "Qualitätsserien" aus Amerika. Musik: Six Feet under Sprecherin: Sie heißen Die Sopranos, Homeland, The Wire, Boardwalk Empire, Dexter, Mad Men und Breaking Bad, um nur einige der berühmtesten zu nennen. "Qualität" heißt hier zunächst mal, dass es sich um sündhaft teure Produktionen handelt: die besten Autoren, Kameraleute, Szenenbildnerinnen, Lichtdesigner und musical directors mussten her; bei der Darsteller-Riege verzichtete man bewusst auf Superstars, um mit Schauspielern, die bislang eher als Geheimtipps galten, Aufmerksamkeit zu gewinnen. In der Regie wechselten sich Stars und Routiniers ab, Hauptsache, die Stimmung, der "look" und das Drama blieben erhalten. Der entscheidende Punkt aber war dieser: Die Geschichte musste eine Zuschauergemeinde über Jahre faszinieren. Das ist das Gesetz der Serie. Sprecher: Sie geht weiter wie das Leben, generiert auf dem Rücken ihrer eigenen fiktiven Vergangenheit eine das Hier und Jetzt auf unnachahmliche Weise beleuchtende Gegenwart samt einer dunklen, sich langsam aufhellenden, mit Spannung erwarteten Zukunft. Kann so etwas das Kino? Nimmermehr. Die Serie ist ein legitimes, mit nichts zu vergleichendes Kind des Fernsehens. Sprecherin: Da kommt nun gleich ein Einwand. Im Februar 2013 ging erstmals eine von der Firma Netflix exklusiv für die Ausstrahlung im Internet konzipierte Serie an den Start. Sie heißt House of Cards, folgt einem britischen Vorbild, bietet mit dem renommierten Regisseur David Fincher sowie dem bekannten Schauspieler Kevin Spacey echte Könner auf und spielt auch noch in Washington rund ums Weiße Haus. Hat nicht damit das Fernsehen sein Alleinstellungsmerkmal als Anbieter von Serien eingebüßt? Sprecher: Wer so fragt, sollte sich von dem Begriff oder der Bezeichnung "das Fernsehen" verabschieden und anerkennen, dass in der Welt der Television eine Menge Leute unterwegs sind, die inzwischen auch mit Netzanbietern zusammenarbeiten. Die Ideengeber, Regisseurinnen, Buchautoren und Redakteure legen sich nicht mehr von vornherein fest. Da haben wir die Produktionsfirmen, die nicht immer mit einem Sender verbunden sind. Da haben wir die Sender, die ihre Produktionsfirmen wechseln. Und wir haben die Freibeuter unter den Filmemachern, die überraschend mit einer Idee oder gar einem fertigen Werk an die Tür einer Redaktion klopfen. Ob solche Anbieter sich eine Firma suchen, die ihren Film im Netz vorstellt oder ob sie sich an einen Fernsehsender wenden, spielt zwar für die Finanzierung eine Rolle, nicht aber für die Ästhetik, für den Film als Kunstwerk. Der bleibt, historisch gesehen, ein Kind des Fernsehens. Und da wir Konsumenten, die Couch Potatoes, ja ohnehin auf ein und dasselbe Endgerät zusteuern, ob wir nun surfen oder glotzen, ist der Unterschied nicht von Bedeutung. TV goes Internet und Internet goes TV. Serien bleiben Produkte von Köpfen und Firmen, die für beide arbeiten. Was sie eint, ist der Begriff "Home-Entertainment", der zugleich einen umkämpften Markt bezeichnet, auf dem sich neben verschiedenen Fernsehsendern und Netz-Anbietern auch noch die alten Videotheken tummeln. Sprecherin: Was aber qualifiziert die gefeierten amerikanischen Serien zum Hoffnungsträger in Bezug auf das Fernsehen - wie auch immer es ins Internet hineinwirkt oder vom Internet unterwandert wird? Dieses Etwas ist der Faktor "Zeit". Ein Kinofilm fängt an und hört auf, und nach allerhöchstens drei Stunden ist Schluss. Das Internet ist ein gewaltiges Archiv alter Wunder und neuer Aufreger, wer dort surft, verliert oft viel Zeit. Denn die Agenda des Tages könnte neue Blüten getrieben haben oder es könnten noch ältere, abseitigere Schätze aus den Tiefen des Netzes zu heben sein. Also: Im Kino ist nach einer mittleren Frist unwiderruflich Schluss und im Netz ist tendenziell bis in alle Ewigkeit was los. Sprecher: Die TV-Serie aber hat Zeit und gibt Zeit, und zwar nur ihre eigene. Sie ist das epische Format unserer Epoche. Sie erstreckt sich, als erzählte Zeit, über Wochen, Monate und Jahre, die gespielte Zeit entspricht der Zeit, in der die Zuschauer dabei sind, sie überholt diese Zeit selten, bleibt öfter hinter ihr zurück, indem sie synchrone Episoden nacheinander darbietet, und verschafft so den Zuschauern die Muße, sich in der fingierten Zeit der Serie immer neu zurecht zu finden. Die Serie begleitet das Leben der Leute und das Leben der Figuren in der Serie wirkt in das wirkliche Leben hinein, Fiktion und Wirklichkeit durchdringen einander. Diese Art Bindung eines Mediums an seine Nutzer leistet nur das Fernsehen bzw., als sein Ableger in Sachen Serien, das Internet. Und beide Medien stellen diese Bindung derzeit mit Werken besonderer Ausstrahlung, Stringenz und erzählerischer Überzeugungskraft her. Zum Beispiel: House of Cards. Musik: House of Cards Sprecherin: Was ist das Gebäude der Macht anderes als ein Kartenhaus, das jederzeit einstürzen kann? Der Abgeordnete Frank Underwood, ein Politprofi mit sicherem Instinkt für die Verschiebung von Machtpotenzialen, sei es innerhalb der Parteien, der Administration, der Klüngel und Cliquen und selbst einzelner Funktionsträger, ist ein Strippenzieher, ein Manipulateur, eine Art Geheimagent im Auftrag des eigenen Ehrgeizes. Er wendet sich gern durch die vierte Wand des Bildschirms hindurch an das Publikum und erläutert seine Schachzüge - nicht ohne Selbstironie, nicht ohne Selbstverachtung. Er macht es wie so manche Protagonisten aus Shakespeares Königsdramen, die an die Rampe treten und die Zuschauer im Theater einweihen in das, was sie jetzt tun werden - zum Beispiel den Bruder des amtierenden Königs ermorden, um selbst der Prätendent zu werden. Die Macher von House of Cards haben sich auf Richard III berufen, einen besonders skrupellosen Herrscher im England des 15. Jahrhunderts. Sprecher (zitiert Shakespeares Richard III): "Ich tu das Böse und schrei selbst zuerst, Das Unheil, das ich heimlich angestiftet, Leg ich den andern dann zur schweren Last." Musik Sprecherin: Dieser Richard ist sozusagen Underwoods Vorbild und zwar charakterlich ebenso wie dramaturgisch. Er macht uns Zuschauer durch sein Beiseite-Räumen der vierten Wand und durch sein Zuzwinkern: "Ich erzähl Euch mal, was ich vorhabe, Leute, und dann schau'n wir mal, ob's klappt", zu Komplizen. Was er da jeweils vor hat und durchsetzt, ist oft nicht nur illoyal, sondern fallweise kriminell. Und wir Zuschauer sitzen da und hoffen, dass der unglaubliche Intrigant Underwood mit seiner Masche durchkommt. Wir hoffen, dass niemand den Mord aufdeckt, den er an seinem alkoholsüchtigen Protegé verübt. Hoffen wir das wirklich? Sprecher: Ja, gewisse Impulse in unserer Rezeptionshaltung vor dem Fernseher sind stetig darauf aus, den Helden gewinnen zu sehen, zugleich aber registriert unser moralisches Ich, dass da ein "Held" am Werk ist, der nicht mehr zur Identifikation taugt. Neu ist das nicht; wie wir eben hörten, hat schon Shakespeare mit zwiespältigen und schurkischen Protagonisten gearbeitet. Er wollte, wie heute die Macher von House of Cards, dem Publikum just auf dem Theater das politische Geschehen ungeschminkt vor Augen führen, die Abgründe aufzeigen, die sich beim Kampf um die Vorherrschaft öffnen und eine Identifikation mit einem irgendwie gearteten "Guten" von vornherein vereiteln. Das ist einer der Gründe für Shakespeares Aktualität nach nahezu vier Jahrhunderten und für den Erfolg von House of Cards. Sprecherin: Underwood fasziniert uns, und ein Rest von Zuneigung, die sich in uns regt und uns um ihn und sein Schicksal bangen lässt, ist nicht ganz tot zu kriegen. Auch das Elisabethanische Theater empfand Richard als Helden, wenn auch zugleich als Ungeheuer. Die Szene, in der er um Lady Ann wirbt, die Witwe eines Edelmannes, den er mit eigener Hand getötet hat, gilt zurecht als eine der großartigsten des Welttheaters. Denn es geschieht das Unfassbare: Die Lady, schön und verzweifelt und gerade dabei, den Sarg mit ihrem Mann darin zum Friedhof zu geleiten, reicht Richard nach kurzem Sträuben ihre Hand. Sprecher (zitiert Shakespeares Richard III): "Ward je ein derart leidend Weib umworben? Ward je ein Weib, das derart litt, gewonnen?" Sprecherin: Und man glaubt das alles. Was nichts anderes bedeutet, als dass es mit unserer Moral nicht zum Besten steht, sobald tiefe Ambivalenzen, sobald die Reize des Ungeheuerlichen und die Faszination des Bösen ins Spiel kommen. Die neuen amerikanischen Qualitätsserien begeben sich konsequent auf die Spur dieser Ambivalenzen, sie erziehen uns gleichsam dazu, in unserem Rezeptionsverhalten aus dem gutgläubigen Kind herauszuwachsen und der Wahrheit über die conditio humana ins Auge zu sehen. In den Begriff des "Entertainment" schleicht sich ein leises Grauen ein. Sprecher: Beau Willimon, Erfinder des House of Cards, erklärt im Interview: "Das Publikum sollte immer gemischte Gefühle haben, was Frank Underwood angeht. Eine Menge Leute sagten mir, sie würden den Spuren dieses Mannes fasziniert folgen, auch wenn sie es nicht wollen. Genau an dieser Art von Spannung bin ich interessiert. Verbrecher, Antihelden, diese Protagonisten-Art zwingt uns die Frage auf, wie wir zu Vorgängen, Personen, Haltungen stehen. Wir befinden uns in einer unangenehmen Komplizenschaft, was weitaus interessanter ist, als Figuren nur zu mögen. Zur Figur hin, weg von ihr, hin zu ihr, weg von ihr." Musik: Dexter Sprecherin: Dexter zum Beispiel, Protagonist der Serie gleichen Namens nach Romanen von Jeff Lindsay, ist ein Mann mit Doppelleben. Tagsüber tut der gut aussehende Mr. Morgan seinen Dienst als Forensiker beim Miami-Police-Department, er analysiert Blutspuren. Nachts schwingt er sich zum Richter und Henker über Menschen auf, die üble Verbrechen begangen haben, damit aber durchgekommen sind. Michael C. Hall spielt die gespaltene Persönlichkeit mit großem Charme; der Zuschauer kann kaum anders, als diesen smarten Kerl zu mögen, zumal auch dieser zwiespältige Held seine Stimme aus dem Off erhebt und sich der Zuschauer von ihm ins Vertrauen gezogen fühlt. Sprecher: Dexters abnorme Veranlagung, sein Hang zum Töten, wird psychoanalytisch erklärt: Der Junge erlebte als Dreijähriger den Mord an seiner Mutter mit und saß drei Tage lang in ihrem Blut. Seitdem braucht er Blut, um weiter leben zu können - tagsüber analysiert er es im Labor, nachts vergießt er es mit sichtlicher Freude. Musik Sprecherin: Die Serie leistet sich einen frivolen Humor; der moralische Schraubstock, in den das Publikum gerät, wird immer wieder gelockert, weil es vor dem Bildschirm auch lachen kann. Und natürlich, weil das Hauptproblem gelöst ist: Die Menschen, die Dexter auf einer Operationsbank mit sauberen Skalpellen schlachtet, sind ihrerseits Ausgeburten des Bösen - ihre Schuld, dafür steht Dexter grade, ist immer zweifelsfrei erwiesen. Dennoch lässt die Leichtigkeit, mit der Mr. Morgan zur Selbstjustiz schreitet, die frohe Laune der Sofakartoffel nach und nach gefrieren. Sind wir Menschen denn Bestien? Der Fernsehkritiker Torsten Körner wittert hinter dem Extrem eine zeittypische Sehnsucht nach den ganz großen Fragen von Gut und Böse. Sprecher: "Dexter ist ein postheroischer Held, der eben kein Held mehr sein kann, weil das klassische Heldenzeitalter vorbei ist. Er ist ein Heldendienstverweigerer, in dessen fiktionaler Identität viele Aporien und Dilemmata modernen Lebens abgehandelt werden. So wie Dexter seine Identität stets befragt und ausdeutet, so müssen wir, wenn wir ihn sympathisierend durch die Nacht begleiten, über unsere Zuneigung für ihn nachdenken. Plädiere ich insgeheim für Selbstjustiz? Fehlt es mir an Empathie mit Dexters Opfern? Habe ich kein Vertrauen in die Judikative?" Sprecherin: Die großen Ambivalenzen, denen uns die neuen Serien aussetzen und die sich bei Dexter zur Spaltung auswachsen, zum Bild vom mit sich selbst ringenden mörderischen Wüterich, - sie lassen uns alle Fragen nach Gut und Böse, nach Erlaubt und Verboten, nach Verbrechen und Vergebung, nach Himmel und Hölle neu und brennend stellen. Die Gemütlichkeit auf dem Sofa vor dem Fernseher wird brutal gestört. Und trotzdem gucken wir die nächste Folge. Noch einmal Torsten Körner: Sprecher: "Hin- und her gerissen wird der Zuschauer auch, weil er einerseits hofft, dass Dexter unentdeckt bleibt, damit die Serie weiterläuft, andererseits wünscht er insgeheim, dass Dexter in die Gesellschaft zurückkehren kann und Gnade findet. Aber wie? Dexter ist keine nihilistische Figur, die Werte zerstört oder ablehnt, sondern eine Erzählinstanz, mit der Wertesysteme verhandelt und reflektiert werden." Sprecherin: Eine vergleichbare Leistung bietet die in New Mexiko spielende Serie Breaking Bad von Vince Gilligan. Von August 2013 an wurden die finalen acht Folgen der insgesamt fünfteiligen Staffel ausgestrahlt. Jetzt wissen alle, wie es mit dem Antihelden von Breaking Bad zu Ende ging. Dieser Walter White, gespielt von Bryan Cranston, ist zu Beginn der Serie ein unauffälliger Jedermann, ein etwas mürrischer, aber doch sympathischer Chemielehrer mit Frau und Sohn und Bungalow in der Vorstadt von Albuquerque. Und eines Tages erfährt Walter, dass er Lungenkrebs im Endstadium hat. Er kann zunächst mit niemand darüber sprechen. Er erstarrt förmlich. Aber dann... Sprecher: ... geschieht es, kurz nach einer Party zu seinem 50. Geburtstag. Schwager Hank, der bei der Drogenfahndung arbeitet, fragt Walter, ob er nicht Lust hätte, dabei zu sein, wenn ein paar Dealer hochgenommen werden, damit auch in seinem ödem Leben mal was Spannendes geschieht. Mr. White lässt sich darauf ein - und erkennt in einem der verfolgten Kriminellen seinen Ex-Schüler Jesse Pinkman. Er verhilft ihm zur Flucht. Im Gespräch über die Droge Methamphetamin, die der Junge vertickt, erleben wir Walter als einen Chemiker, der nicht nur was vom Fach versteht, sondern lange schon den Ehrgeiz spürt, sein Wissen und Können anders unter Beweis zu stellen als vor einer Schulklasse. Wir erfahren in Rückblenden, dass er als junger Mann glänzende Ideen hatte, mit deren Umsetzung aber nicht er selbst, sondern seine Teilhaber reich wurden. Es wird klar: Walter White ist der Typus des verkannten Genies... Sprecherin: ...der jetzt nichts mehr zu verlieren hat. Er wird das beste Methamphetamin herstellen, das die Welt je geraucht oder geschnupft hat. Man wird es später seiner Färbung wegen "das blaue Zeug" nennen. Und dieses "Zeug" wird ein Hit. Walter - dessen Name bereits an den des Dichters Walt Whitman erinnern soll - legt sich den Decknamen "Heisenberg" zu. Jesse bringt das Produkt unter die Leute. Die Kasse klingelt. Walter, der seiner Frau vormacht, er habe im Casino gewonnen, kann sich eine kostspielige Behandlung leisten. Und er kann ein Vermögen beiseite legen, um im Falle seines Ablebens die Familie versorgt zu wissen. Das ist zunächst mal sein Ausgangspunkt, seine Rechtfertigung für den Schritt vom Wege. Musik: Breaking Bad Sprecher: Es entwickelt sich eine atemberaubende Geschichte, in der Walter zum Meth kochenden König des Kartells aufsteigt. Warum bloß macht "Heisenberg" immer weiter? Sprecherin: Walters Motiv ist nicht nur Geld. Es ist die Sehnsucht, seiner Begabung durch die Kreation eines Spitzenprodukts endlich gerecht zu werden und damit sein Schicksal als Genie zu erfüllen. Das bleibt ihm in seinen bewussten Absichten zunächst verborgen. Dazu ist sein Mantra "Die Familie muss versorgt werden" zu stark. Die Sehnsucht nach Anerkennung aber ist sein eigentlicher Antrieb. Sie ist die hidden agenda der ganzen Geschichte. Sprecher: Von daher ist Breaking Bad eine Faust-Version. Der sich im Erkenntnisstreben verzehrende Geist, der genug studiert hat, um für den wissenschaftlichen Betrieb nur noch Seufzer übrig zu haben, steht an einem Wendepunkt. Eigentlich gibt es für ihn nur noch Resignation oder Tod. Doch da erscheint unverhofft die Chance für einen Pakt mit dem Teufel. Ein Feigling oder Idiot, wer da nicht einschlägt. Musik: Breaking Bad Sprecherin: Faust steigt in die Unterwelt herab. Ob er da so brutal mit den Schrecknissen der Hölle konfrontiert wird wie Walter mit den Usancen des kriminellen Milieus, lassen wir offen. Mr. White jedenfalls wird genötigt, sehr schnell zu lernen, was es heißt, im Untergrund zu überleben. Man muss seinerseits bereit sein zu töten. So sehr er leidet, während er seine erste Tötung aus Notwehr, die zweite durch Unterlassung und später seine Morde im Milieu begeht, so tief befriedigt es ihn, der Beste zu sein und über wachsende Macht zu verfügen. Sprecher: Es gibt noch mehr zu sehen in Breaking Bad. Das Motiv des typisch amerikanischen Vater-Sohn-Konfliktes, in dem der Sohn vergeblich um die Anerkennung des Vaters buhlt, wird hier um eine herzzerreißende Variante erweitert - es geht dabei nicht um Walter und seinen Junior zu Hause in der Villa, sondern um Heisenberg und seinen Schüler Jesse im Untergrund. Ferner wird die ganze Verlogenheit und Kleingeistigkeit der Familien- und Therapie-Ideologien ebenso offen gelegt wie der Zynismus des amerikanischen Gesundheitssystems mit seiner Geschäftemacherei im Angesicht des Todes. Sprecherin: Die schärfste Pointe hierzu ist diese: Je mehr sich Walter der steigenden Spannung stellt, die in sein Leben nach der Tauchfahrt ins kriminelle Abseits eingezogen ist, desto gesünder wird er. Während der dritten Staffel scheint es, als sei der Krebs besiegt. Und es ist auch nicht die Krankheit, die ihn am Ende umbringt. In einer der letzten Szenen geht er noch mal zu seiner Frau, die er immer noch liebt. Sie beschwört ihn, sich nicht wieder damit zu entschuldigen, dass er mit dem Erlös seines verbrecherischen Tuns doch nur die Familie versorgen wolle. Er schweigt und sieht sie an. Dann sagt er diese Worte: Sprecher: "Nein. Ich tat es für mich. Und ich mochte es." Musik: Six Feet Under Sprecher: Bei Goethe streiten Gott und der Teufel, wem die Seele des gelehrten Sonderlings Dr. Faust am Ende zufallen wird. Gott fragt Mephisto: "Kennst du den Faust?" Sprecherin (als Mephisto): "Den Doktor?" Sprecher (als Gott): " - meinen Knecht!" Sprecherin (als Mephisto): "Fürwahr! Er dient Euch auf besondre Weise. Nicht irdisch ist des Toren Trank noch Speise. Ihn treibt die Gärung in die Ferne; Er ist sich seiner Tollheit halb bewusst: Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne Und von der Erde jede höchste Lust, Und alle Näh und alle Ferne Befriedigt nicht die tief bewegte Brust." Sprecher (als Gott): "Wenn er mir jetzt auch nur verworren dient, So werd ich ihn bald in die Klarheit führen." Sprecherin (als Mephisto): "Was wettet Ihr? Den sollt Ihr noch verlieren! Wenn Ihr mir die Erlaubnis gebt, Ihn meine Straße sacht zu führen." Sprecher (als Gott): "Solang er auf der Erde lebt, Solange sei Dir's nicht verboten. Es irrt der Mensch, solang er strebt. Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange Ist sich des rechten Weges wohl bewusst." Sprecherin (als Mephisto): "Schon gut! Nur dauert es nicht lange. Mir ist für meine Wette gar nicht bange." Sprecher: Bei Breaking Bad gewinnt, wie schon der Titel andeutet, Satan. Aber es ist ein zähes Ringen - und das Zuschauen ein hoher Genuss. Der speist sich aus der Ahnung, dass in dieser Serie eine harte Wahrheit über das Menschenwesen ausgesprochen wird: Die lässt sich zusammenfassen in der Kategorie des Thymós, ein griechischer Begriff, der so viel wie Wille, Ehrgeiz, Mut, Kraft und Streben nach Anerkennung bedeutet. Hegel hat mit ihm gearbeitet, auch Nietzsche, und der zeitgenössische Philosoph Peter Sloterdijk hat ihn jüngst mit "Zorn" übersetzt und versucht, ihm seinen Rang für das So-Sein des Menschen zurückzugeben, den er, seit Freud den Eros ins Zentrum rückte, verloren hatte. Walter White ist durchglüht vom Thymós. Als er längst genug Geld hat, will er nur weiter machen, um der Beste zu bleiben, und es ist ihm egal, ob das Spitzenprodukt, das er herstellt, nützlich oder tödlich ist. Hauptsache Spitze, und er allein weiß, wie es geht. Musik: Mad Men Sprecher: Als deutscher Fan der Serie fragt man: Warum gibt Walter sich den Decknamen "Heisenberg" - wo doch dieser berühmte Wissenschaftler gar kein Chemiker, sondern ein Physiker war? Im Internet gibt es einen regen Austausch über genau diese Frage. Die Antwort könnte lauten: Heisenberg klingt deutsch, und deutsch ist für das große amerikanische Publikum in der Pop-Version "böse". Die Serie bestätigt diese Deutung in mehreren Episoden. So gibt es deutsche Hintermänner im weltweiten Vertriebssystem der Droge, eine Folge spielt sogar in Deutschland. Ferner: Der Name Heisenberg ist mit der so genannten Unschärfe-Relation verbunden, die man gut auf Breaking Bad projizieren kann. Sprecherin: Und so argumentiert auf der Web-Site der Bochumer Philosoph Niklas Hebing: "Im Englischen heißt ,Unschärferelation' interessanterweise ,uncertainty principle', also ,Prinzip der Ungewissheit'. Wann genau Walter vom rechtschaffenen Familienvater zum rücksichtslosen Kriminellen mutiert, das heißt, wann genau das Breaking Bad erfolgt, ist völlig ungewiss und nur ganz unscharf zu bestimmen. Diese Schwierigkeit zieht sich durch die gesamte Serie mit ihren fünf Staffeln. Zudem: Werner Heisenberg meinte, es sei der Beobachter, der das beobachtete Objekt stets so verändere, dass gar keine vom Beobachter unabhängige Position eingenommen werden könne. Für ihn galt das bezogen auf seine physikalische Forschung, doch die Macher von Breaking Bad könnten den Gedanken für die Hauptfigur adaptiert haben: Ist Walter überhaupt in der Lage, sich im Strudel der äußeren und inneren Turbulenzen zu reflektieren, aus sich heraus und hinter sich zurück zu treten? Und wenn alles in Bewegung und somit alles immer relativ ist, ist dann nicht die Gefahr, aus der Bahn geworfen zu werden, notwendig und ständig präsent?" Sprecher: Zum "schleichenden Grauen" und zum "moralischen Schraubstock" treten jetzt also noch die großen Fragen der Existenz. Hält der Fernsehgucker, der ja doch bloß Home-Entertainment sucht, das alles aus? Sprecherin: Oh ja, er liebt es. Alle hier erwähnten und analysierten Serien sind weltweit erfolgreich. Die amerikanischen "Qualitätsserien" sind ein Begriff, ein Phänomen, ein Exportschlager. Und sie beglaubigen den Kunstrang von Produktionen für ein so ordinäres Medium wie das Fernsehen. Musik Sprecherin: Die Frage, die sich uns hier zu Lande aufdrängt, heißt allerdings: Warum machen wir so was nicht? Sprecher: Man sagt, es fehle an Mut. Aber auch die Macher von Breaking Bad fanden lange keinen Sender, sie gingen Klinken putzen, bis der kleine Sony-Ableger AMC zugriff. Dexter bekam nicht nur gute Kritiken, und House of Cards geht jetzt erst in die dritte Staffel, weitere sollen folgen, d.h. die Chancen für einen Absturz sind vorderhand noch da. Wie jede Kunst greift auch die Fernsehserie ethische Fragen ihrer Zeit auf und gibt ihnen eine neue erzählerische Struktur und eine neue ästhetische Valenz. Das Publikum ist stets unberechenbar; es fällt auf Mist herein, aber es hat auch einen Instinkt für Klasse. Wir hier werden unsere Qualitätsserien schon noch entwickeln, denn die Zuschauer haben jetzt bei den amerikanischen Vorbildern gesehen, was möglich ist, und sie werden ihre Ansprüche an die heimische Fernsehkunst erhöhen. Wetten wir? Sprecherin (als Mephisto, mit leicht abgewandeltem Text): "Schon gut. Es dauert halt noch lange. Mir ist für diese Wette gar nicht bange." 14