KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Titel : Kassandras Rufe in Israel. Christa Wolfs Erzählung in Welten mit "Schutzwall" AutorIn : Charlotte Misselwitz Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 25.11. 2012 Regie : Clarisse Cossais Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Atmo Torgeräusche Zitat CW CD Hier war es. Da stand sie. Diese steinernen Löwen, jetzt kopflos, haben sie angeblickt. Diese Festung, einst uneinnehmbar, war das letzte, was sie sah. Ein lange vergessener Feind und die Jahrhunderte, Sonne, Regen, Wind haben sie geschleift. Unverändert der Himmel, ein tiefblauer Block, hoch, weit. Nah die zyklopisch gefügten Mauern, heute wie gestern, die dem Weg die Richtung geben: zum Tor hin, unter dem kein Blut hervorquillt. Ins Finstere. Ins Schlachthaus. Und allein. Wolf, Christa: Kassandra. Frankfurt am Main. 1986 (Kurz: Kassandra). S. 5 Atmo MUSIK Autorin Hier stand sie. Am Löwentor, dem östlichen Eingang in die Altstadt Jerusalems. Sie wartete im Schatten der Mauer aus weißgrauem Felsstein, die bis heute unvergessene Feinde, Israelis und Palästinenser, umkämpfen. Über ihr der tiefblaue Himmel. Wahrscheinlich strich Ilana Hammermann den Pony aus der Stirn und setzte die Sonnenbrille auf. Dieses Tor verband für sie ebenfalls Anfang und Ende. Oder war es doch das Jaffa-Tor? Atmo Autorin Genauer gesagt, blicken vom Löwentor, trotz seines Namens, zwei Leoparden, in Stein geritzt, mit kindlich runden Gesichtern herab. Und Ilana Hammermann, die hebräische Übersetzerin der Erzählung Kassandra von Christa Wolf, hatte an dieser Stelle nicht den Untergang ihres Staates hinter sich. Sie wartete auch nicht wie Kassandra auf ihre Hinrichtung, sondern auf das Auto mit Sacha und ihren Töchtern. Sie wollte sie hier treffen, um den Palästinenserinnen, die gerade über die Grenze bei Bethlehem geschmuggelt wurden, kurz die Altstadt zu zeigen und dann gleich weiter zu fahren. Ans Meer. Dies ist nicht das griechische Löwentor. Dies ist eine andere Mauer, eine andere Sprache, eine andere Zeit, eine andere Konstellation... MUSIK Zitatorin Meteln, 21. Juli 1981 Empfinde die geschlossene Form der Kassandra- Erzählung als Widerspruch zu der fragmentarischen Struktur, aus der sie sich für mich eigentlich zusammensetzt. Wolf, Christa: Vorraussetzungen einer Erzählung. Frankfurt am Main. 1983. (Kurz: VE) S. 120 Autorin In den Vorträgen zu ihrer Erzählung Kassandra zitiert Christa Wolf unter anderem einen Tagebucheintrag von 1981. 1992 liest die ostdeutsche Autorin in einem westdeutschen Studio diese Geschichte einer Frau, die den Untergang ihres Stadtstaates Troja vorhersagte und nicht gehört wurde. Wolf verwebt schon am griechischen Löwentor verschiedene Orte: Eindrücke Trojas vermischen sich in ihrer Kassandra-Erzählung mit dem Anblick von Mykene. Atmo Autorin Unweit vom Löwentor, ein Vortrag an der Hebräischen Universität: Der israelische Literaturwissenschaftler Ofer Waldman hinterfragt Positionen westdeutscher Literaturkritiker. Oton Ofer Waldman Und Kassandra ist eigentlich so ein klassischer Fall von Ironie und Distanz. Weil Christa Wolf schreibt über Kassandra. Aber sie schreibt über eine Kassandra, die kurz vor ihrer Hinrichtung steht. Darin erzählt Kassandra über Kassandra, die während der Troja-Kriege gelebt hat. Also haben wir hier eine Kette von Distanz. Drei Frauen. Ich glaube, irgendwann ist diese Distanz bei Christa Wolf zu einer Entfremdung geworden. Irgendwann kann sich Kassandra nicht mehr mit ihrem Troja identifizieren und irgendwann kann sich auch Christa Wolf nicht mehr mit der DDR identifizieren. So hab ich das interpretiert. Da ist der Satz von Reich Ranicki, Christa Wolf sei überhaupt nicht ironisch. (...) Das ist ein schwerer Vorwurf. Das hat mich gereizt. Autorin Fehlende Ironie unterstelle einen Mangel an Distanz zum Thema, Distanz aber habe Christa Wolf. Dass ein Israeli eine ostdeutsche Autorin verteidigt, birgt zumindest historische Ironie: Christa Wolf war eine von wenigen DDR- Schriftstellerinnen die man ins Hebräische übersetzt hat - drei ihrer Bücher, Kassandra, Medea und Stadt der Engel, in drei verschiedenen Verlagshäusern. Bis auf jüdische Autoren wie Stephan Hermlin oder Jurek Becker gibt es kaum DDR-Literatur in israelischen Bibliotheken. Selbst Anna Seghers fehlt - obwohl sie Jüdin ist und in ihren Romanen die für Israel wichtigste Epoche, Europa in den 30er und 40er Jahren, beschreibt. Ihr Buch "Transit" kommt erst 2013 auf Hebräisch heraus. Der Ostblockstaat war nicht sehr beliebt. Er unterstützte die Palästinenser und lehnte Israel als Freund des imperialistischen Amerika ab. Ofer Waldman, der in den 80er Jahren zur Schule ging, erinnert sich: Oton Ofer Waldman 3043 Uns gegenüber wohnte eine Familie und die waren ganz streng. Ich hab mit ihrem Sohn gespielt. Und der durfte nie was,(..). Und eines Tages komm ich zurück nach Hause und sag meiner Mutter pass mal auf, die sind da drüben genauso wie in Ostdeutschland. Und die (...) fängt an zu lachen. Was weißt du schon über Ostdeutschland? Und ich sag, nein, die sind echte Kommunisten. Bei denen darf man gar nichts! Autorin Zwei Jahrzehnte später lebte Ofer fast 10 Jahre lang im ehemaligen Ost- Berlin, im Prenzlauer Berg. Braune Haare, helle Augen, die ruhige Lässigkeit der Berliner, war er einer der ersten von mittlerweile fast 10 000 Israelis in der Stadt. Und wie einige von ihnen stolperte er irgendwann über Kassandra von Christa Wolf. Mittlerweile tragen die Exilanten als Pendler oder Rückkehrer ihre Leseweise nach Israel. Ofer Waldman sitzt an einem Jerusalemer Springbrunnen, an dem er als Kind spielte und meint, sein eigenes Verständnis beginne genau mit dem westdeutschen Vorwurf fehlender ironischer Distanz. Atmo Oton Ofer Waldman 517 Und wenn du mich fragst (...) Also in Israel hat man auch (...) eine ganze Generation von Menschen, die eine solche Distanz zu ihrer Heimat aufbauen. Zu ihrem Staat Israel. (...) eine Distanz zwischen sich selbst und dem Staat, die nicht mehr überbrückbar (..) ist. (..) Das ist keine ironische Distanz, die eine kritische Betrachtung ermöglicht, sondern das ist eine Entfremdung. Das ist eine Art Aussage, die den Spruch beinhaltet, (..) ich hab nicht mehr das Gefühl, dass ich die Macht besitze, die kritische Lage Israels zu ändern. Genauso bei Christa Wolf. Zitatorin: Die Frage nach dem Zeitpunkt, an dem das Heimatgefühl verlorenging. (Der Augenblick, der in Kassandras Leben die Einsicht bedeutet haben muß, daß ihre Warnungen sinnlos waren, weil es das Troja, das sie retten wollte, gar nicht gab. Ihr Pech. Was zum Teufel konnte Troja dafür?) VE, S.26 MUSIK Autorin In ihren Vorlesungen über Kassandra dokumentierte Christa Wolf den Prozess ihres Eintauchens in den Mythos. Dabei gewann sie über die Antike Erkenntnisse für die Gegenwart in den 1980er Jahren der damaligen DDR. Angesichts des Wettlaufs um die Stationierung von Mittelstreckenraketen mit Atomsprengköpfen auf beiden Seiten der damaligen Grenze zwischen Ost- und Westblockstaaten suchte sie nach Fakten über den ersten längeren Krieg in der Weltgeschichte, den um Troja. Sie fragte:"Wann und wodurch ist dieser selbstzerstörerische Zug in das abendländische Denken, in die abendländische Praxis gekommen?" Sie deckte Zusammenhänge auf, die bis in die Gegenwart fortbestehen: gesellschaftliche Verhärtungen, Sicherheitswahn, die Unterdrückung von Frauen. In Israel, zur Zeit des Todestages von Christa Wolf, am 1. Dezember 2011, entwickeln die von ihr literarisierten, gesellschaftlichen Symptome ein Eigenleben - nicht zuletzt durch Christa Wolfs, Kassandras, Worte nach der einleitenden Torbeschreibung: Zitat CW CD Mit der Erzählung geh ich in den Tod. Kassandra, S. 5 Atmo Autorin Ilana Hammerman verteidigt Günter Grass' Gedicht Was gesagt werden muss, das in israelischen wie in deutschen Medien attackiert worden ist. In der Kriegspropaganda gegen den Iran sieht sie, wie er, eine große Gefahr. Sie betätigt die Kaffeemaschine in ihrer Wohnung in Beit Hakerem, eine Gegend, in der viele Jerusalemer Intellektuelle wohnen. Sie, die 1986 Christa Wolfs Kassandra ins Hebräische übersetzt hat, die auch französische und hebräische Literatur in einem der größten israelischen Verlagshäuser "Am Oved" lektorierte, ihren zweiten Doktor an der Universität Bielefeld machte und deren verstorbener Mann ein Deutscher war, interessiert sich nur noch dann für Deutschland, wenn von dort Kritik an Israel kommt: Oton Ilana Hammerman 4100 Ich finde nicht, Israel geht den richtigen Weg. (...) die jetzige Regierung, davon bin ich überzeugt, will keinen Frieden. Das ist meine Heimat. Ich liebe sie. (..) Aber ich bin überzeugt, sie zerstören mein Land. Zitat CW CD ...Seit langem war mir so zumute, angstverzehrt. Ein Anfall, dachte ich noch nüchtern, hörte aber diese Stimme schon, wehe wehe wehe. Ich weiß nicht: Schrie ichs laut, oder hab ich es nur geflüstert: Wir sind verloren. Kassandra, S. 81 Autorin Groß und schlank, trägt die Mittsechzigerin den bequemen Hose- und Pulloverstil der Frauen der 1970er und -80er Jahre. Ohne Zierde und Umschweife kommt sie auch bald auf ihre jetzige Beschäftigung zu sprechen: Oton Ilana Hammerman Wir haben in der letzten Zeit eine Sache angefangen: Ziviler Ungehorsam, seit zwei Jahren. (..)die Palestinenser können nicht hierher, weder zu Krankenhäusern, zu Arbeit, zu Besuch. Ich habe sie oft mitgenommen. An einem Punkt in meinem Leben hab ich mich entschlossen, das publik zu machen. Ich war mit drei jungen Frauen von Westbank in Israel. Sie haben zum ersten Mal das Meer gesehen. Obwohl sie weniger als anderthalb Stunden entfernt wohnen. Und dann hab ich in der Zeitung darüber geschrieben. Und dann war eine Klage gegen mich gerichtet. Ich war untersucht von der Polizei. Dann ist das bekannter geworden. Hier in Israel und dann haben sich immer mehr Frauen angeschlossen. Nicht in Hunderten, Zehner eher. Autorin Ilana Hammermann umgeht aufwendige Sicherheitskontrollen. Damit protestiert sie gegen den "Schutzwall", der sieben Millionen Palästinenser in der Westbank und in Gaza von sieben Millionen Israelis abtrennt. ZITAT CW CD Das Tor in der Mauer. Der Ruf der Wachen, immer ein anderes törichtes Losungswort, dem die Wächter oben töricht Antwort gaben. Nieder mit dem Feind! - Ins Nichts mit ihm!, in dieser Art. Dann die Fixierung durch den Offizier der Wache. Das Zeichen, dass das Tor geöffnet wurde. Immer der gleiche langweilige Weg zum Palast.... So kamen wir nach Hause ans Skäische Tor. Da stellte uns die Wache. Man brachte uns im Torhaus in einen kleinen finsteren Raum. (...) Wo wir gewesen seien. So, beim Feind. Und zu welchem Zweck. Da glaubte ich zu träumen. Die Männer, auch meine Brüder... wurden durchsucht, Tasche um Tasche, Naht um Naht. Dem ersten, der mich anfaßte, hielt ich das blanke Messer auf die Brust, das ich, um dem Feind nicht ausgesetzt zu sein, für alle Fälle bei mir trug. Dort, sagte ich bitter, dort habe ich es nicht gebraucht. KASSANDRA 116, 98 Autorin Die Klage gegen Hammermann lautet: Verstoß gegen die Sicherheitsregeln Israels. Oton Ilana Hammerman Weil (..), wir nehmen Frauen und Kinder. Das ist symbolisch, nicht gewalttätig. Das heißt nicht dass Männer alle gewalttätig sind, bei weitem nicht. Aber Frauen und Kinder, Frauen zusammen mit Frauen, das ist symbolisch. (..) Atmo Autorin Die Übersetzerin kniet sich auf den Boden, um aus dem untersten Regal ein kleines Buch herauszuziehen. Atmo Sie blättert, draußen wird es ruhig. Freitagabend beginnt der Schabbat und sie versucht, Bedrohungspropaganda, Schutzwall, Sicherheitskontrollen, all das, was aggressiv Angst verbreitet, am jüdischen Wochenende zu vergessen. Morgen geht es früh raus. Sie wird dann pünktlich am Löwentor stehen. Sie wird der palästinensischen Freundin die Altstadt zeigen, als ob es keine Mauer gäbe. Aber nur kurz, dann kommt das viel Wichtigere: Das Meer. Zitat CW CD ... und nichts, nichts was ich hätte tun oder lassen, wollen oder denken können, hätte mich an ein andres Ziel geführt. Kassandra, S. 5 Atmo Oton Michal Ben-Horin 1100... Hammermann, in her Nachwort, she speaks about the political context (...) ...between the allies. Sprecherin Hammermann spricht in ihrem Nachwort zur Übersetzung über politische Hintergründe, wie man diese Allegorie im ostdeutschen Kontext, im Kalten Krieg, den Spannungen der Alliierten, lokalisiert. Atmo Autorin Michal Ben-Horin unterrichtet schon länger Christa Wolf. Sie arbeitet an der Hebräischen Universität in Jerusalem und an der Universität in Tel Aviv. Oton Michael Ben-Horin 3300 in my class i stress other perspectives ... ... within different frameworks, historical, mythological... Sprecherin In meinem Seminar bearbeite ich andere Aspekte. Mich interessiert die Art, wie Christa Wolf über Ingeborg Bachmann schreibt. Die Vorträge werfen ein Licht auf die Geschichte des Mythos selbst. Sie betont die spezielle Stimme, die Rolle der Frau. Sie will einen Weg finden, um das Objekt Frau in ein Subjekt zu verwandeln, um es herauszunehmen aus den fetischisierten Repräsentationen, den historischen, den mythologischen... Atmo Zitatorin Was hilft es uns zu wissen, dass die Griechen allmählich "Mutterrecht" mit "Vaterrecht" ersetzten; was beweist die anscheinend verbürgte Tatsache, daß den frühen, Ackerbau treibenden Clans Frauen vorgestanden haben; daß die Kinder, die sie zur Welt brachten, ihnen gehörten, daß sie auch in späteren hochorganisierten Königreichen noch die Erbfolge bestimmten, daß aller ursprüngliche Kult, daß Tabu und Fetisch, Tanz, Gesang und viele frühe Handwerke von ihnen ausgingen? VE, S. 56 Atmo Autorin Viel jünger als eine Femistin der 1980er Jahre, Anfang 40, zart, rothaarig, sportlich, bezieht sich die Literaturwissenschaftlerin auf damalige Theorien der weiblichen Subjektwerdung. Jahrhunderte und Jahrtausende verschmelzen zu einer Geschichte der Unterdrückung der Frau, sowie der männlichen Gewalt; selbst der Nahe Osten kommt ins Spiel. Zitatorin Wie sollte man den Mythos vom Raub der phönikischen Prinzessin Europa durch den kretischen Minos, in einen Stier verwandelt, verstehen; hatte man nicht zu realisieren, daß in dieser mythologischen Darstellung Europa auf den Namen einer von Kretern geraubten und vergewaltigten Prinzessin aus dem Vorderen Orient getauft wurde, ein Name, der übrigens "die Düstere" bedeutete? VE, S. 59 Oton Michael Ben-Horin 700 i found it interesting ... ... she takes in order to tell her own story. Her voice Sprecherin Ich fand es interessant, dass Kassandra am Ende nicht die Gemeinschaft wählt. Dass sie auch nicht mit Enaias geht, sondern mit den Siegern, um jedoch die Geschichte der Verlierer zu erzählen. Ein starker Aspekt dieser Erzählung ist die Entscheidung, die sie trifft, um ihre eigene Geschichte zu erzählen. Ihre Stimme. Autorin Die Idee einer Frauenstimme, literarisch, phonetisch, körperlich, sozial, beschäftigt nicht nur Michal Ben-Horin. Sie lebt in einem Land, in dem seit seiner Gründung nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948 kein Mann Politiker werden kann, der nicht vorher General in der Armee war. Dies kritisieren viele Frauenorganisationen. Sie heißen "Machsom Watch", Frauen die die Checkpoints der Armee observieren, "Vier Mütter", Mütter von Soldaten, die im Krieg starben, "Women in Black", die gegen die Besatzung der palästinensischen Gebiete demonstrieren, und "Isha le Isha", Frau für Frau, eine Gruppe, die sich um missbrauchte oder überforderte Frauen innerhalb Israels kümmert. Sie organisieren und verstärken die Stimmen, die sich gegen die männlich dominierte Gesellschaft richten. Sie helfen die Geschichten der sogenannten Sieger oder Helden zu hinterfragen, auch wenn es die nächsten Verwandten oder Liebsten sind: Zitat CW CD Aineias. Lieber. Du hast mich verstanden, lange eh du's zugabst. Es war ja klar: Allen, die überlebten, würden die neuen Herren ihr Gesetz diktieren. Die Erde war nicht groß genug, um ihnen zu entgehen. Du, Aineias, hattest keine Wahl: Ein paar hundert Leute mußtest Du dem Tod entreißen. Du warst ihr Anführer. Bald, sehr bald wirst du ein Held sein müssen. Kassandra, S. 160 Atmo Oton Maya Benbenishti 3900 when i was a child... ... being enthusiastic that i wanna be a boy. Sprecherin Als ich Kind war, schrieb ich ein Stück darüber, dass ich ein Junge sein will. Ich verstand, dass man als Mann weiter kommt, als Doktor, als Wissenschaftler... Ich erinnere mich, wie es alle toll fanden, dass ich ein Junge sein wollte. Autorin Die 25jährige Maya Benbenishti, Literaturstudentin, erinnert sich an ihren ersten Schreibversuch im Seminar von Michal Ben-Horin, an der Stelle, wo Kassandra den Zwillingsbruder den eigen Job machen sieht... Zitat CW CD Wie ich ihm gierig zusah, wenn er sich die Frauenkleider anzog, um am Opferstein des Tieres Eingeweide zu beschaun. Wie er seinen Ekel herunterwürgte vor dem Blutgeruch, vor den dampfenden Innereien, an die ich, von früh auf gehalten, kleinere Tiere in der Küche auszunehmen, ganz und gar gewöhnt war. Wäre ich er. Könnt ich mein Geschlecht gegen das seine tauschen. Könnt ich es verleugnen, verbergen. Ja wirklich, so empfand ich. Kassandra, S. 35 Atmo MUSIK Atmo Autorin Von der Schnellstraße geht es 8 Minuten östlich vor Jerusalem ab nach Mozza. Atmo Autorin Das Haus von Nurit Peled-Elhanan steht nicht weit von dem Ehud Olmerts, dem ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten. Es hat eine Terasse, ausladend im schweizer Stil, jedoch mit Blick auf die Berge des heiligen Landes. Atmo Ähnlich wie Michal Ben-Horin oder Ilana Hammermann stammt sie aus einer der Gründerfamilien Israels. Übertragen auf Troja, sind sie alle Töchter einer Königsfamilie... Nur dass bei Peled-Elhanan schon die Großelterngeneration Sozialisten waren und schlicht von "der Partei" sprachen, wie einst die ehemaligen DDR-Bürger von der SED. MUSIK Oton Nurit Peled-Elhanan My grandparents were pioneers ... (...) the socialist aristocracy. (...) elite, builders, founders. Sprecherin Meine Großeltern waren Pioniere. Meine Großmutter baute Straßen und lebte in einem Kibutz. Sie war in einem sogenannten Arbeitsregiment. Ein Regiment, das von einem Ort zum nächsten zog und Straßen und Häuser baute. Und die Großeltern mütterlicherseits waren auch überzeugte Zionisten. Mein Großvater war Mitglied in der Partei. Er war der Chef des Gesundheitsministeriums. Also sozialistische Aristokratie. Gründungs- und Aufbauelite... Autorin Als einer der höchsten Generäle eroberte ihr Vater, Matityahu Peled, 1967 die palästinensischen, bis heute besetzten, Territorien. Und Nurit, jung und patriotisch, bestand damals darauf, in der Armee zu dienen, obwohl sie Asthma hatte. 1968 zog sich ihr Vater jedoch aus der Armee zurück. Er wurde Professor für arabische Literatur. Oton Nurit Peled-Elhanan He was the first notable to go to tunis, disguised as a woman... Sprecherin Er war der erste, der nach Tunesien ging, als Frau verkleidet, um Arafat zu treffen und den Prozess der Friedensverhandlungen zu beginnen. MUSIK Zitatorin Kassandra aber, vornehm geboren, hat das Privileg des Sprechens, des Gehört- und Genanntwerdens, selbst ihr Tod bleibt nicht namenlos. VE, S. 38 Autorin Namenlos blieb auch nicht der Tod von Nurit Peled-Elhanans Tochter. Als die heute Mittsechzigerin 1997 eines ihrer vier Kinder bei einem Bombenattentat in einem Jerusalemer Bus verlor, da war sie die Tochter des Generals... Oton Nurit Peled-Elhanan Just people became interested in me. That's all... Sprecherin Die Leute interessierten sich auf einmal für mich. Sie kamen mit Mikrophonen. Aber meine Ansichten änderten sich nicht. Atmo Autorin Mittlerweile hat die Generalstochter in viele Mikrophone gesprochen. Hier kritisiert sie auf einer Demonstration, dass die Gegner Israels nicht unter den Palästinensern, sondern in der eigenen Regierung zu finden seien. Rede Autorin Im ovalen Gesicht der Professorin für Erziehungswissenschaften verkleinern sich die schwarzen Augen fast spöttisch, sobald das Thema auf das Familiendrama kommt. Sie hat schon so oft darüber geredet. Öffentlich zeigt sie weder Schmerz, noch Tränen. Zur Beerdigung ihrer Tochter kam auch Benjamin Netanyahu. Er war damals schon einmal Ministerpräsident. Bibi... bei seinem Spitznamen senkt sie den Blick und nickt langsam... Oton Nurit Peled-Elhanan we were friends when we were kids... ... going to destroy the whole world. I know all that. Sprecherin Wir waren Freunde als Kinder. Sehr gute Freunde. Sehr eng. Er hat bei uns übernachtet wenn er am Wochenende von der Armee kam und seine Familie nicht im Lande war. Wir redeten viel miteinander. Aber damals war es anders. Ich hab dir erzählt, wir waren patriotisch. Es war immer er gegen meinen Vater. Mir schienen beide gleichermaßen überzeugend. Heute ist er wie ein Bruder, der verlorenging. Ich kann sagen, er ist ein Idiot, ein Faschist, er wird die ganze Welt zerstören. Ich weiß all das... Atmo Zitat CW CD Paris, ein anderer, überbrachte vom König von Ägypten raffinierte Gastgeschenke, erzählte Wunderdinge. Er redete und redete, ausschweifend, arabesk, mit Schlenkern, die er wohl für witzig hielt. Er hatte viele Lacher, er war ein Mann geworden. Ich mußt ihn immer ansehn. Seine Augen kriegt ich nicht zu fassen. Woher kam der schiefe Zug in sein schönes Gesicht, welche Schärfe hatte seine einst weichen Züge geätzt. Kassandra, S. 79 Oton Nurit Peled-Elhanan 1956 you had the suez canal... ... you cursed my mother. They burn the whole city. Sprecherin 1956 ging es um den Suez-Kanal. Dann, 1967, war da der Tyrann am Golf. Es gibt immer einen Vorwand. Und jeder weiß, es ist ein Vorwand. In mythischen Zeiten war es eine Frau. Aber der Grund ist immer: Ein Land will sich mehr Land verschaffen. Sie sehen, die andere Seite ist schwach. Also gehen sie rüber. Sie finden einen Vorwand: Du hast meine Mutter beschimpft und schon verbrennen sie die ganze Stadt. Zitat CW CD Red keinen Unsinn, sagte Priamos. Die wollen unser Gold. Und freien Zugang zu den Dardanellen. - So verhandle drum! Schlug ich ihm vor. - Das hätte noch gefehlt. Verhandeln um unser unveräußerliches Eigentum und Recht! - Ich fing an zu spüren, daß der König gegen alle Gründe, die dem Krieg entgegenstanden, schon erblindet war... Vater, bat ich ihn, nimm ihnen wenigstens den Vorwand, Helena. Sie ist, hier oder in Ägypten, nicht einen einzigen erschlagenen Trojaner wert. Kassandra, S. 83 Oton Nurit Peled-Elhanan the strongest thing about people is wanting not to know... ... they want to cover their eyes. Sprecherin Es steckt tief drin in Menschen, nicht wissen zu wollen. Hier wissen sie nicht, was zwei Kilometer von ihrem Haus entfernt passiert. Sie schaffen es, nichts zu wissen. Das steckt sehr tief. Menschen wollen geführt werden. Sie wollen ihre Augen verschließen. Zitat CW CD Wann Krieg beginnt, das kann man wissen. Aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe, müßte man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da. Da stünde unter andern Sätzen: Laßt euch nicht von den Eignen täuschen. Kassandra, S. 78, Autorin Das Licht im Arbeitszimmer der Generalstochter schwärzt die Dunkelheit hinter dem Fenster. Sie, die über alle Medien erreichbar ist, hat ein Telefon mit Schnur auf dem Schreibtisch stehen und kommt plötzlich auf die Überwachung durch den israelischen Geheimdienst Schaback zu sprechen. Oton Nurit Peled-Elhanan They are exactly like the stasi... ... We are all. What do you think? Sprecherin Sie sind genau wie die Stasi. Sie überwachen jedoch vor allem Palästinenser, Siedler auch ein bisschen. Sie haben Folterkeller. Alles. Sie verkleiden sich als Araber um in die Territorien reinzukommen, um Kinder zu vergewaltigen und den Vater als Kollaborateur zu verplichten. Sie machen alles. Natürlich, mein Telephon. Seit Jahren. Schon meinen Vater. Er hörte es am Telefon, wenn sie die Kassette gewechselt haben. Wir werden alle überwacht. Was denkst Du? Autorin Und doch kann sie im Fernsehen auftreten, sagen, was sie denkt. Oton Nurit Peled-Elhanan We have freedom here... ... how he is going to finish me up. Sprecherin Wir leben in Freiheit hier. Jeder kann sagen, was er will. Wen kümmert es? Es gibt einen Journalisten, der mich auslöschen oder deportieren will. Jemand erzählte mir, dass er im Radio detailliert beschrieben hat, wie er mich zur Seite schaffen will. Autorin Der DDR-Vergleich wird allmählich unheimlich. Nurit Peled-Elhanan ist nicht mehr zu bremsen. Sie, Ilana Hammermann, selbst Maya, hinterfragen, kritisieren, prophezeihen und sie haben ihre eigenen Stimmen, können sie öffentlich machen. Sie kennen allerdings auch heftige Reaktionen des Nicht- Hörenwollens. Zitat CW CD Was kommen mußte, kannt ich schon, den festen Achselgriff, die Männerhände, die mich packten, das Klirren von Metall auf Metall, der Geruch von Schweiß und Leder. (...) dann dickere Mauern, kaum noch Menschen, als wir uns dem Palast näherten. Wie hier. Ich erfuhr, wie eine Gefangene die Zitadelle von Troja sieht, befahl mir, es nicht zu vergessen... ... Unter den Geschwistern habe sich in Windeseile das Gerücht verbreitet, ich sei wahnsinnig. Kassandra, S. 81 MUSIK OTON Günter Grass Rede ... Besonders hat der auf ihr literarisches Werk und das vieler Autoren der Nachkriegsliteratur gemünzte Begriff "Gesinnungsästhetik" bis heutzutage all jene Kleingeister beflügelt, die die Literatur und deren Produzenten in eine Immobilie namens Elfenbeinturm sperren wollten. Bald danach kam die personenbezogene Ableitung "Gutmensch" in Umlauf. (..) Vergeblich ist die Erwartung, es könnten sich die Wortführer der Kampagne von einst spätestens jetzt nach Christa Wolfs Tod nachlesbar entschuldigen, und sei es auch nur, indem sie die verletzende Wirkung ihrer Infamie erkennen... Autorin Am Tag von Christa Wolfs Beerdigung, am 13. Dezember 2011, nennt der Schriftsteller Günter Grass die Pressekampagne von 1990 gegen die DDR- Schriftstellerin eine "Hinrichtung" im neuen System: ideologisch und literarisch. Alles begann mit einem Vorwurf. Ihr Text "Was bleibt?", der eine Bewachung der Autorin durch die Staatssicherheit beschreibt, hätte schon zum Zeitpunkt seiner Entstehung 10 Jahre zuvor herauskommen sollen. Sie, die oft der Zensur unterlag, die eben aus Angst vor der Zensur den Text erst 1990 veröffentlichte, wurde als "Staatsdichterin der DDR" denunziert. Ihr Ironiemangel würde ihre Systemverbundenheit beweisen. Westdeutsche Journalisten krallten sich an überzogenen Vorwürfen fest - gleich den von Wolf beschriebenen Männerhänden, die die Geschichte der Helden fortschreiben. Atmo Autorin Berlin, Pankow, nicht weit vom Flughafen Tegel, hier war der ehemalige Sitz der DDR-Regierung, aber auch der Sitz des oppositionellen Friedenskreises. Hier hat Christa Wolf gewohnt, zusammen mit ihrem Mann Gerhard Wolf. Über den medialen Rufmord im vereinigten Deutschland erlebte sie von diesem Ort aus, wie ihre Erzählung Kassandra autobiografisch wurde. Sie erfuhr zwar keine Pathologisierung als wahnsinnig, aber eine Diskriminierung als "Gutmensch". Der Mythos schien wiedergekehrt. Eine solche Interpretation der ort- und zeitlosen Wiederkehr von Mythen hieße jedoch wenig Gutes für die Frauenstimmen in Israel. Sie erleben ebenfalls Drohungen und Klagen. Schlimmer noch: Troja ging unter, auch die DDR... Durch eine Gartentür ... ATMO ... führt der Weg zum Eingang eines villenähnlichen Mehrfamilienhauses der Jahrhundertwende, in dessen dunkle Holztür eisenverzierte Fenster gesetzt sind. Atmo Oton Gerhard Wolf Kassandra. Der Modellcharakter wirkt weiter. Diese Oper die jetzt in Paris und Zürich stattfindet. Es laufen drei, vier Theaterfassungen. (...) Und dass da der Mythos wiederbelebt wurde ist wichtig. Man liest das als einen Klartext, ist ja interessanterweise auch in einer Ich-Form geschrieben. Eine Identifizierung, die natürlich in Wirklichkeit nie stattfand. Dass da ein Ich auftritt, dass das nicht Christa ist, ist ganz klar. Das hat damit nichts zu tun. Autorin Gerhard Wolf, der Mann der verstorbenen Schriftstellerin, Verleger, Herausgeber, Lektor und nun Verwalter ihres Nachlasses, fährt sich kopfschüttelnd über das weiße Haar. Offenbar hört er die Gleichsetzung Kassandras mit Christa Wolf zum 151. mal. Er sitzt im Erker des Arbeitszimmers, sein Stuhl quietscht bei jeder seiner Bewegungen auf dem Parkett. An der Wand hängen Skizzen von Malerfreunden, Günther Uecker, Martin Hoffmann. Ob er Kassandra unter feministischer Literatur einordnen würde - er sagt sichtbar ungern zu der Tochter von Freunden: "Das ist eine dumme Frage." Erst beim Thema Zensur in der DDR lockern sich seine Züge, die schmalen, fast immer lächelnden, Lippen verziehen sich zu einem Grinsen. Oton Gerhard Wolf Na, ich mein, man hat immer so falsche Vorstellungen. Man weiß immer gar nicht, dass Kassandra ja in der BRD zuerst erschienen ist. (...)Lacht - weil in den Vorlesungen zum Teil Dinge standen, die man hier nicht genehmigen wollte. Es dauerte ein Jahr, bis beides in einem Band erschien. (...) Mit dem Zusatz, dass man 63 Zeilen (...) gestrichen hat. (...) Die ausgelassenen Zeilen wurden durch Pünktchen markiert. (...) lacht... und wir haben dann auch Bücher bekommen, DDR-Bücher, wo Leute die Seiten reingeklebt haben, die sie jetzt mit der Maschine geschrieben haben, die da fehlten. Autorin Literaturzensur, Redeverbot, Gerhard Wolf nickt. Er sieht in Christa Wolfs Ausgrenzungserfahrungen keine Wiederkehr des Mythos. Aber Motive aus Kassandra, die kann er sich für Israel vorstellen. Oton Gerhard Wolf Ich glaube,(..) so einen Satz wie ich hervorgehoben habe, "Lasst euch nicht von den Eignen täuschen" nicht, (...) Es gibt ja heute warnende Stimmen, die (...)die Gesellschaft auch in Frage stellen, die in Israel existiert. (...) Und man nimmt sich da ein Modell heraus, was man braucht. Die Figur der Kassandra oder bestimmte Gleichnisse, die in einzelnden Szenen sind. "Ein Land, das Helden braucht, brauch ich nicht mehr". Nicht. Deswegen geh ich nicht mit Eneas. Der hat ja noch später Karriere gemacht in Rom. Autorin Wolf nennt es Literaturmodelle. In den 1970er und -80er Jahren entdeckten ostdeutsche Schriftsteller den Mythos als literarische Analogie. In dem 1995 veröffentlichten Briefwechsel "Monsieur - wir finden uns wieder" tauschen sich Christa Wolf und Franz Fühmann unter anderem über ihre Verwendung des Mythos aus. ATMO Fühmann entwickelte schon 1975 in seinem Essay "Das mythische Element in der Literatur" eine Theorie über Märchen als gesunkene Mythen, in denen die Widersprüche des Lebens in Gut und Böse aufgetrennt werden. Zitator Das, was man die Urform eines Mythos nennen möchte, das ist weder zu entdecken noch zu rekonstruieren, man kann nur aus den verschiedenen Fassungen die übereinstimmenden Elemente herauspräparieren, (...) eine Bündelung, die durchaus verschiedene Ausdeutungen zuläßt (...) Franz Fühmann. Das mythische Element. In: Marsyas. Mythos und Traum. 1993, S. 412 Autorin Sobald man jedoch allgemeingültige Konstellationen eines Mythos festlegt auf konkrete Zeitpunkte und Orte, landet man beim anderen Extrem. Mit der Herleitung ganzer Ahnenketten aus geografischen oder räumlichen Details lassen sich Gebietsansprüche oder kulturelle Vormachtstellungen begründen. So missbrauchten etwa die Nationalsozialisten germanische Mythen für ihre Blut und Boden Ideologie. Ähnlich verfahren die Israelis mit den biblischen Geschichten. Sogar Christa Wolfs Troja-Analogie arbeitet mit konkreten Ort- und Zeitbezügen. Sie und Gerhard Wolf gehörten zur Gründergeneration der DDR Oton Gerhard Wolf Für uns waren ja die großen Autoren, die nach Deutschland zurückkamen, ganz wichtig. Das waren meist Autoren, die sich nach links orientiert haben. Nicht unbedingt kommunistisch, weil Arnold Zweig kommunistisch zu nennen, wäre völlig verfehlt. Und für die die BRD mit Adenauer und den Hintergründen, man hat immer Globke gesagt, nicht anziehend war. Kein Zufall, dass Thomas Mann in die Schweiz gegangen ist. (...) Musik Hintergrund Du hast ja ein Ziel... Zitatorin Das Troja, das mir vor Augen steht, ist - viel eher als eine rückgewandte Beschreibung - ein Modell für eine Art von Utopie. VE, S. 83 Autorin Linke Intellektuelle wie Bertolt Brecht oder Anna Seghers kamen in den Osten Deutschlands, die damalige Sowjetzone, überzeugt, 1949 einen antifaschistischen, sozialistischen Staat aufzubauen. Die DDR schien ihnen ideologisch konsequenter als der Westen Deutschlands. Um dieselbe Zeit, 1948, begann auch in Israel Ben Gurion, der Kopf der Arbeiterpartei, ein antifaschistisches, sozialistisches Projekt. Aus den Anfangszeiten beider Staaten erinnert sich Gerhard Wolf sogar an Überschneidungen, jüdische Schriftsteller, die, ohne Sinn für Blut und Boden, hin und her pendelten. Oton 23 Gerhard 4730 (...) Ich hab in meiner Examensarbeit über Fürnberg geschrieben, das war 1956, hab ihn kennengelernt und stieß dann automatisch, wo kam er her, aus Palestina. (...) 4926 Arnold Zweig und Fürnberg (...) 5029 sie haben sich in Israel kennengelernt. Der Zweig lebte auf dem Carmel in Haifa. Fürnberg in Jerusalem im griechischen Viertel. Sie lernten sich kennen und gaben damals was einmalig war eine deutschsprachige Zeitschrift heraus, die linksorientiert war. Die hieß Orient. Die war inspiriert von der Weltbühne. Die Hefte waren so ähnlich aufgemacht. So ne Klappe. Die sammelten nun so linke Autoren für die deutschsprachige Zeitschrift und der Reflex darauf, so anti-Isralisch, damals war ja noch Palästina, die wurden ausgebombt. Die Druckerei ausgebombt, die Redaktion zweimal zerstört von Hagana-Leuten... MUSIK du hast ja ein ziel Oton 24 Gerhard 52Und die besten Lieder, die entstanden in der Anti-Nazibeweung im Sudetenland. 'Du hast ein Ziel vor den Augen', (...)Die hatten ja nischt hier, die Freie Deutsche Jugend. Fürnberg wurde gesungen. Weil er durch Zufall den Slansky-Prozessen entkommen ist, er weiß nicht warum. (...) Wir haben die alle kennengelernt. Autorin Das Ehepaar Wolf sah auch die Schattenseiten: In Israel die Hagana, eine zionistische Militäreinheit, die gegen jüdische, linke, pro-palästinensische Medien vorging, in Osteuropa die Slansky-Prozesse gegen sogenannte jüdische Imperialisten. Diese Schatten waren Vorboten einer sich verhärtenden Angst, vor der "kapitalistischen, westlichen" Welt hier, vor "Arabern" dort, die beide Staaten später für dieselben Dinge berühmt machte: für ihre Sicherheitskontrollen, Geheimdienste und den Bau einer Mauer als "Schutzwall". Die Erfahrung der Wolfs findet sich daher weder im Blut und Boden Mythos, noch in dessen ort- und zeitloser Wiederkehr, sondern in der Vermischung der Gegensätze. Er sieht variierende mythische Motive, je nach Ort und Zeit. Christa Wolf beschreibt ihre Identifikation mit der DDR sowie ihre Entfremdung von ihr. Der Witwer schwingt die Hand in der Luft, wie um auch Überkreuzungsprozesse zu markieren: In Ostdeutschland wurde die Kriegsmetaphorik rezipiert, in Westdeutschland dominierte die feministische Lesart... Oton Gerhard Wolf Es ist ganz eigenartig, dass der Feminismus nicht in der BRD sondern in der DDR stattfand. Durch Imtraut Morgner, durch Brigitte Reimann, durch Maxi Wanders Protokolle. Das waren alles Bücher, die sofort im Westen erschienen. Selbst Alice Schwarzer war natürlich begeistert von Irmtraut Morgner.(..) Wenn man von Literatur aus den USA absah, gab es schwache literarische Erzeugnisse aus dem Feminismus selbst. Das war mehr eine erkenntnistheoretische, aktive, gegen Abtreibung, die in die Demonstrationen reinging. Aber (..)bestimmte Dinge, Gleichberechtigung am Arbeitsplatz, gleicher Lohn, das war ja in der DDR seltsamerweise verwirklicht.... Atmo Zitator O menschlich Tun und Wandeln! Was da lebt im Glück, Ein Schatten kann es wenden. Doch wo Unglück ist, ein Schwamm, nur leicht befeuchtet, löscht das Schriftbild aus. Weit mehr beklag ich dies Geschick als meinen Tod. Aischylos: Die Orestie. Stuttgart. 1987 MUSIK Autorin Aischylos' Kassandra steht erneut vor dem griechischen Tor. Sie schmerzt, dass ihr eigentliches Unglück im Schatten bleibt, verdunkelt und undefinierbar. ATMO Oton Ofer Waldman Ich lese Kassandra nicht als feministische Geschichte. (...) Das weibliche symbolisiert das Außenstehende. (..)Es gibt den König Priamos und es gibt die Alternative dazu. Die andere Stimme. Sie hätte genausogut Jüdin sein können oder schwul. (...) es geht um Außenseitersein. Atmo Autorin Ofer Waldmann, zwei Sommerwochen in Berlin, stattet den Pflichtbesuch in seinem ehemaligen Lieblingscafe ab. Hier, mitten unter Ost-Berlinern im Prenzlauer Berg, hat er gewohnt, bevor es den Bioladen nebenan gab, wie er betont. Die Holzbänke kennt er noch. Oton Ofer Waldman Wie ich schnell festgestellt hab, ist die Mentalitität derer die aus der DDR kommen, also sind in meinem Alter und haben die letzten 10 Jahre mitbekommen und die Wende, die ist der israelischen ziemlich ähnlich. Ich meine als Israeli kennt man auch das Gefühl, dass man ein bisschen abgeschottet ist von der Welt. Wir hatten bis Oslo 1993 ja auch kein Mcdonalds, keine japanischen Autos, wurden auch von 90 Prozent der Welt boykottiert. (...) Und die Westdeutschen sind (...)ein bisschen selbstbewusster (...) Da hab ich so das Gefühl, ok das ist die große westliche Welt, davor hab ich Angst. Mit den Ossis war alles so war in meiner Größe. Autorin Er könnte jetzt von den Kibutzim reden, den sozialistischen Siedlungen in Israel. Er erwähnt kurz seine Kindheit, die Pfadfinder, ähnlich den Pionieren, die ,Tekes', das heißt die Appelle an den Schulen. Seit den 90er Jahren löst sich die Solidargemeinschaft auf, die Bildung, Gesundheit oder Wohnungen für jeden zugänglich machte. Aber was soll er dem ostdeutschen Gegenüber die Gemeinsamkeiten ihrer Welten erklären ... Oton Ofer Waldman Viele Israelis aus meiner Generation, meiner politischen Richtung, die (...) versuchen, den Staat zu kritisieren. Sie fliegen weg. (..) Autorin Ofer Waldman hält den Widerspruch gegenüber der eigenen Gesellschaft, den Mitmenschen, schwer aus. In Aischylos' Kassandra-Figur wird er vertieft: Zitator Sieh! Wie Apollon selber mich beraubt des Kleids Der Seherin. Und hat doch auch in diesem Schmuck Mich schon gesehen, unzweideutigem Gespött Von Freunden, die mir Feinde waren, ausgesetzt. Ein fahrend Weib, Landstörzlerin hieß ich da und trug's In meinem Elend - Hungerleiderin, Bettlerin. Aischylos: Orestie. Stuttgart. 1987. S. 46 Oton Ofer Waldman Deine israelischen Freunde hier in Berlin sind nicht in Israel. Das ist ein großer Unterschied zu Kassandra. Auch ein großer Unterschied zu Christa Wolf. ...Weil (..) wenn mein Ministerpräsident morgen die Entscheidung trifft, in den Krieg gegen den Iran zu ziehen, dann verlasse ich Israel. (...) im Gegensatz zu Christa Wolf oder Kassandra, ich werde nicht als letzter bleiben, um das Licht auszumachen. Sicher nicht. Autorin Irgendwann wird aus der inneren Entfremdung eine geografische, so drückt es der Sohn von Aufbauzionisten aus. Allein in dem Jahr, bevor die ostdeutsche Mauer im November 1989 fiel, sind zehntausende DDR-Bürger über osteuropäische Grenzen geflohen. Diese Ausreisewelle hätte Christa Wolf unterstützen sollen, meinte der westdeutsche Journalist Frank Schirrmacher in dem 1990 folgenden Literaturstreit um ihre Novelle "Was bleibt". Am Jerusalemer Springbrunnen, bezeichnenderweise daheim, meinte Ofer Waldman dazu: Atmo Oton Ofer Waldman 1649 (..) Für mich sind die Texte von Christa Wolf eine wahre Chance, eine deutsche Diskussion weiterzuführen, die 1989, 1990 abrupt zu Ende gekommen ist. Das ist kein Ostrevanchismus, keine Ostalgie, gar nicht. Aber eine innere deutsche Diskussion, die nicht weitergeführt wurde, ab dem Moment als Helmut Kohl seine Reden in Ostdeutschland gehalten hat, als die D-Mark eingeführt wurde. Dass Christa Wolf gegen die Wiedervereinigung war, ist eine Sache, damit muss man sich nicht identifizieren, aber mit ihren Argumentationen muss man sich auseinandersetzen. Und das tat man nicht mehr. Schade. Bwz die Chance besteht immer noch. Ihre Rede einen Tag vor dem Mauerfall, die ist gedruckt. Autorin Es geht nicht um Christa Wolf. Ofer Waldman findet diesen Titel von Thomas Anz, der all die Artikel des Literaturstreits 1990 als Sammlung herausgegeben hat, genial. Aber worum ging es dann? Womöglich um die Tatsache, dass sie in ihrer Rede am Alexanderplatz 1989 nicht die anderen Deutschen, Griechen, mit offenen Armen empfing. Sie warnte vor dem trojanischen Pferd und wollte die Eigenen zu einem dritten Weg überreden... Oton Ofer Waldman Weil es ist eine Alternative die wir heutzutage nicht mehr haben. Und im Laufe der Wirtschaftskrise jetzt werden einige Stimmen laut, die sagen, nicht alles, was in der DDR war, ist falsch. Natürlich ist damit nicht die Unterdrückung gemeint, oder die Demokratielosigkeit. (...) Atmo Zitator In Troja aber, das glaube ich sicher, waren die Leute nicht anders als wir es sind. Ihre Götter sind unsere Götter, die falschen. VE, S. 95 MUSIK Oton Nurit Peled-Elhanan I think the main thing about Troy and Israel is... ... We still live and die for that. Sprecherin Ich denke, die Parallele zwischen Israel und Troja besteht darin, dass es keinen Beweis für die Existenz Trojas gibt. Und auch keinen dafür, dass König David jemals existiert hat; dass, überhaupt, die Mythen, für die die Menschen hier leben und sterben, jemals geschahen. Nur was die Griechen angeht, egal... WIR SIND in Troja. Das eine ist Mythos und das hier Realität. Wir leben und sterben immer noch dafür... Autorin So sagt es Nurit Peled-Elhanan, Ofer Waldmann sagt es anders: Im Austausch über Troja, Israel und der DDR beschreiben sie ähnliche Erfahrungen: Ihre Kritik an der eigenen Gesellschaft, am Krieg, am Sozialismus, am Zionismus, an der Männergesellschaft wird nicht gehört. Mal als Entfremdung, mal als Ohnmacht kehren die Gefühlserfahrungen an unterschiedlichen Orten und Zeiten wieder und benötigen nach dem Psycholanalytiker Sigmund Freud den Mythos, oder die Religion, um reflektiert zu werden. Allerdings ergibt die Reflexion der Kassandra-Geschichte eine sehr traurige Erfahrung. Ihre Figur und einige ostdeutsche Oppositionelle erlebten nach dem Nichtgehörtwerden in Troja, der DDR, in der griechischen, westdeutschen Gesellschaft die Hinrichtung dafür, dass sie auch die Anderen kritisierten, vor dem trojanischen Pferd warnten, nie Kapitalismusfreunde waren. Und möglicherweise erwartet die kritischen Stimmen in Israel ein ähnliches Schicksal, sollten sie eines Tages nicht immer schon self-hating Jews oder Anti-Zionisten gewesen sein. Sprich: Kassandra wird hinter dem Löwentor genau für den Schmerz bestraft, den sie in Troja empfand: ihre Ironielosigkeit, ihre Angst um die Eigenen. Und all das ohne happy End: Kritische Ossis, Israelis oder Frauen leben in endloser Schwere. MUSIK FLUGZEUG Atmo Autorin Nurit Peled-Elhanan, die Generalstochter, lacht. Und das auch noch am Telefon, durch das schon der Vater überwacht wurde. Atmo Oton Sacha 753 At the checkpoint they do not stop... 846 yeah, the children were scared... Sprecherin Am Checkpoint haben sie uns nicht angehalten. Weil wir mit einem israelischen Auto kamen. Ich hatte das Kopftuch abgenommen. Aber die Kinder hatten Angst.. Autorin Diese Frau, Sacha, hat Ilana Hammermann am Löwentor getroffen. Sie redet zwar von der Angst, die sie am Checkpoint hatten, aber das Lächeln auf ihrem Gesicht und dem ihrer Töchter kann breiter kaum sein. Atmo Oton Ilana Hammerman Andererseits das gibt unheimlich viel Freude, (...) das Leben von der anderen Seite und die Gruppen zusammen, das Tanzen zusammen, israelische Frauen mit palästinensischen Frauen, wir machen sehr viele Sachen, auch Sängerinnen, auch Theater, das ist keine traurige Aktion, das ist lebendig und Lebensfreude Atmo Autorin Die Hälfte der ca. 20 Frauen, Israelis und Palästinenserinnen, steht schon im Badeanzug im Wasser. Die anderen genießen den Schatten. Zitat CW CD Doch unsere Heiterkeit, die niemals ihren dunklen Untergrund verlor, war nicht erzwungen. (...) Wir waren gebrechlich. Da unsere Zeit begrenzt war, konnten wir sie nicht vergeuden mit Nebensachen. Also gingen wir, spielerisch, als wär uns alle Zeit der Welt gegeben, auf die Hauptsache zu, auf uns. Kassandra, S. 154 Atmo Autorin Sie haben alle vor dem Löwentor gestanden. Sie haben es hinter sich gelassen. Jetzt sind sie am Meer. Autorin Als Tochter von Freunden von Christa Wolf konnte ich die Eltern befragen. Ja, sie war entspannter während der letzten zehn Jahre. Jedes Essen im gemeinsamen Sommerhaus hielt sie bis spät in die Nacht durch. Sie erzählte, sie lachte, sie trank. Sie war offen. Und sog sogar fasziniert auf, was die israelischen Freunde der Tochter von Freunden am Sommerhaustisch zu erzählen hatten... Atmo ENDE Christa Wolf: Hierzulande. Andernorts. München. 1999, S. 160 1