COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Die Reportage, vom 30. April 2017 Nicht vor, nicht zurück. Georgien zwischen Russland und Europa. Von Thomas Franke Musik & Anmoderation Atmo Kiwi Musik, Stimmen. Autor: Die Wände sind weiß getüncht, die Tische aus dunklem Holz. Fischgrätparkett. Eine weiße Katze mit einer verkrüppelten Vorderpfote humpelt um die Beine der Gäste. Sie trinken Bier und Wein, Tee und Brause. Das Café heißt Kiwi, ist im Zentrum von Tiflis, der Hauptstadt Georgiens, die Gerichte sind vegan. Atmo (mit Stimme Soroush) Autor: An einem Tisch sitzt Soroush und schaut zufrieden. Dunkle kurze Haare, braune Augen, ein schwarzes Oberhemd, Brille. O-Ton 1 (Soroush): Sprecher OV: Es gibt wahrscheinlich viele Leute, die nicht verstehen, was wir hier tun. Wir glauben an Gleichberechtigung, natürlich zwischen Mensch und Tier, aber auch zwischen den unterschiedlichen Typen von Menschen. Autor: Soroush gehört zu einem Kollektiv, das das Kiwi betreibt. Heute feiern sie Wiedereröffnung. O-Ton 2 (Soroush): Sprecher OV: Jeder, der mit uns kein Problem hat, ist willkommen. Autor: Das Cafe provoziert einige Leute. Vor ein paar Wochen gab es einen Überfall. Radikale Nationalisten haben die Veganer mit Würsten und Fleischbrocken beworfen. Und sie als drogensüchtig und schwul beschimpft. Neben Soroush sitzt Maryam. Geschwungene dunkle Augenbrauen, halblange Haare, ein Nasenring. Sie hat sich eine ausgewaschene zu große Jeansjacke über die Schultern gehängt. O-Ton 3 (Maryam): Sprecherin OV: Es geht niemanden etwas an, dass ich kein Fleisch esse. Die sollten besser den Leuten helfen, die auf der Straße sitzen und sich kein Fleisch oder Fisch leisten können, nur Brot. Warum gebt ihr Geld aus, um Würste auf jemanden zu werfen, der die nicht mag? Ihr könntet die den Obdachlosen geben. Ich weiß nicht genau, was ich angesichts dieser Gewalt fühle. Ich bin wütend. Als Veganerin möchte ich natürlich gern ruhig, hilfsbereit und friedlich gegenüber allem und allen sein. Aber wir haben es hier mit einer Art Feind zu tun. Autor: Mit Leuten, die andere Lebensweisen als Bedrohung empfinden. Die Kellnerin räumt ein paar Tassen ab. Ihr Mund ist mehrfach gepierct, ihre langen Haare sind dunkel gefärbt. Sie hat blonde Zöpfe hinein geflochten. Als Haarspange trägt sie eine Schweißerbrille. Auf ihrem schwarzen T-Shirt steht "Animal Liberation - Human Liberation", Freiheit für Tiere, Freiheit für Menschen. Soroush schüttelt den Kopf. O-Ton 4: (Soroush) Sprecher OV: Die Leute, die uns angegriffen haben, sind Ultranationalisten. Sie mögen nur die traditionelle Art von Georgiern, nur solche Leute, die ihren Werten und ihrem äußeren Erscheinungsbild entsprechen. Es ging ihnen nicht nur darum, dass wir uns vegan ernähren, es ging ihnen darum, dass Leute aus der LGBT-Szene zu uns kommen, Leute aus der Punkszene, Leute mit anderem Look, mit Piercings und gefärbten Haaren. Autor: LGBT steht für "lesbisch, schwul, bisexuell, transgender". O-Ton 5 (Soroush) Sprecher OV: Das mögen sie nicht, sie kennen es vielleicht nicht oder haben wie viele andere Leute einfach Angst vor allem Neuen. Autor: Georgien ist im Umbruch, die Gegensätze prallen aufeinander. Junge Leute lernen Fremdsprachen, haben Freunde in London, Paris und Berlin. Die Generation ihrer Eltern spricht oft Russisch, ist geprägt durch die Sowjetunion und den Glauben, sowieso nichts verändern zu können. Viele Menschen hängen in den Dörfern fest, und da passiert nichts. Junge Leute in der Stadt hingegen suchen den Anschluss an Westeuropa und die USA, in vielen Dörfern leben die Menschen dagegen wie vor 100 Jahren, mit eigenem Brunnen, Kühen, Schafen, Gänsen. Georgien möchte Mitglied der EU werden. Und kommt voran. Unter den östlichen Nichtmitgliedern ist das Land der Musterkandidat mit einer florierenden Zivilgesellschaft und dem Streben, Menschenrechte einzuhalten und Männer und Frauen gleich zu behandeln. Seit kurzem können Georgier ohne Visum in die EU reisen. Das ist die eine Seite. Aber es gibt auch noch die Kehrseite der Medaille: Patriarchalische Strukturen, althergebrachte Denkweisen, Zulauf für Ultraorthodoxe und für Nationalisten. Maryam zieht die Stirn in Falten. O-Ton 6 (Maryam) Sprecherin OV: Als wir nach dem Überfall auf unser Restaurant in der Polizeiwache vernommen wurden, waren da auch die Typen, die uns angegriffen haben. Und da kam die Mutter von einem zu mir und hat mich gefragt: Warum könnt ihr nicht einfach normal sein und Fleisch essen? Ich weiß nicht, was daran unnormal ist, kein Fleisch zu essen. Ich glaube nicht, dass ich unnormal bin. (Soroush:) Sprecher OV: Ich glaube nicht, dass wir normal sein müssen. Ich mein, was heißt das überhaupt? (Maryam) Sprecherin OV: Die Typen, die uns angegriffen haben, denken, dass Georgien nur für Georgier ist. Ich denke, deshalb haben sie uns überfallen. Autor: Soroush nickt. Er kommt aus dem Iran, ist Hotelfachmann. Die Arbeit brachte ihn nach Georgien. Er fühlte sich wohl, blieb. Denn das Land ist freier als der Iran. O-Ton 7 (Soroush) Sprecher OV: Ich tue niemandem etwas, und ich versuche, ein besserer Mensch zu werden. Das ist hier tatsächlich unnormal. Denn die meisten Menschen hier bleiben so, wie sie sind. Sie wollen auch in 20, 30 Jahren noch die gleichen sein. So gesehen sind 90% unserer Leute hier im Kiwi, vielleicht sogar alle, unnormal. Autor: Soroush schaut auf einmal sehr ernst. O-Ton 8: (Soroush) Sprecher auf O-Ton: Diese Ultranationalisten sind eine Minderheit, eine Gruppe von Menschen, die denkt, dass alles, was anders ist, nicht georgisch aus ihrer Sicht, nicht traditionell, hier nicht existieren dürfte. Aber die Leute sollen wissen, dass nicht ganz Georgien so ist. Autor: Die Minderheit verschafft sich teils äußerst drastisch Gehör. 2013 überfiel ein Mob eine friedliche Kundgebung von Schwulen und Lesben und ihren Freunden. Etwa 150 Demonstranten standen 20.000 - 30.000 von der Kirche aufgehetzte Fanatiker gegenüber, angeführt von einer Reihe Priester: bärtig, in vollem schwarzen Ornat, auf der Brust dicke Kruzifixe. Sie marodierten durch das Zentrum von Tiflis auf der Suche nach Homosexuellen. Dutzende Menschen wurden verletzt, niemand wurde angeklagt. Der Großteil der Bevölkerung schweigt zu den Vorfällen. Dagegen ist der Überfall auf das Kiwi vergleichsweise glimpflich ausgegangen. Dennoch bleibt ein gewisses Unbehagen. Atmo Kiwi Stimmen Autor: Die kleine Eröffnungsparty ist fast vorbei, die meisten Plätze sind leer. Um einen Tisch sitzen die Betreiber und essen Kuchen aus der Hand, auch Soroush. Doch so richtig entspannt ist sie nicht. Der Schock des Überfalls wirkt nach. O-Ton 9: (Soroush) Sprecher OV: Hier an unserem neuen Standort wollen wir jetzt Überwachungskameras anbringen. Wir hatten zwar früher schon eine, die hat den Überfall auch aufgenommen, aber die Kamera gehörte den Nachbarn, und die wollten die Bilder nicht der Polizei übergeben. Sie sagten, es habe keine Aufzeichnungen gegeben, oder so etwas. Wir waren ziemlich überrascht, dass unsere Nachbarn sich so unfreundlich gezeigt haben, denn wir selbst waren ihnen gegenüber immer sehr freundlich. Wissen Sie, die Bars und Cafés hier in Tiflis sind in der Regel sehr laut, viele Betrunkene kommen und gehen, lärmen und machen Ärger in der Nachbarschaft. Unser Lokal dagegen ist ganz anders, die Leute sind sehr leise, die Musik ist ruhig und wir schließen meist um Mitternacht. Also dachten wir, dass uns die Nachbarn freundlich gesinnt wären, doch offensichtlich mochten sie manches an uns nicht. Autor: Vegane Cafés, gepiercte Nasen, schwule Treffpunkte - das ist das eine, das moderne Georgien. Und dann gibt es da noch ein anderes. Atmo Gewitter, Zikaden & Glocken & Atmo Pilgerpicknick Autor: Zwei Stunden mit dem Auto von Tiflis entfernt, im Dorf Alaverdi. Sie haben ein Schaf geschlachtet, nun liegt sein Fell unter einem Baum. Rosa die Innenseite, die Wolle blutverschmiert. Ein Opfertier. Atmo "We killed it here" Atmo Pilgerpicknick Autor: An einer langen Tafel am Feldrand die, die das Schaf verspeist haben, meist Frauen mit Kopftüchern, nicht mal eine Handvoll Männer. Pilger. O-Ton 10: (Irma) Sprecherin OV: Wir haben hier eine Tafel aufgebaut aus Anlass des Feiertags. Autor: Weit im Hintergrund die Berge des Nordkaukasus. Davor, wie ein mächtiger Klotz, das Kloster Alaverdi aus braunen Sandstein. Ummauert wie eine Burg. Ein hoher runder Turm ragt in den Himmel. Atmo Zikaden, Glocken O-Ton 11: (Irma) Sprecherin OV: Es gab da einen Mann namens Alaverdi, der kam nach Georgien, und er brachte das Christentum in unser Heimatland. Ein Engel hatte ihn geschickt. Als er nach Georgien kam, sprach er zunächst kein Georgisch. Doch sobald er die Grenze überquert hatte, konnte er es plötzlich. Autor: Die Frau heißt Irma, ist 30 Jahre alt, Englischlehrerin. Ihre braunen Augen blitzen beim Sprechen, schauen ihr Gegenüber warm an. O-Ton 12: (Irma) Sprecherin OV: Wenn wir nicht stark sind in unserem Glauben, wird sich unsere Lage nicht zum Besseren wenden. Unser Volk ist sehr religiös, mehr als früher, das ist wichtig. Autor: Wie in vielen Ländern der ehemaligen Sowjetunion ist auch in Georgien die Religion in den letzten Jahren immer wichtiger geworden. Religion sei der Schlüssel zur Zukunft, deshalb folge sie auch den Anweisungen des Patriarchen. Die Pilger bieten Wein aus 2-Liter-Kolaflaschen an. Atmo "It's from our home" O-Ton 13: (Irma) Sprecherin OV: Der Wein ist hausgemacht. Wir stammen nicht aus dieser Gegend, aber wir sind extra hierher gekommen, wir kommen jedes Jahr. Autor: In der Provinz macht fast jede Familie ihren eigenen Wein. Georgier sagen, sie hätten den Wein erfunden. Die Tafel ist reich gedeckt. Brot, Wein, Wasser. Schüsseln mit Obst, frische Gurken und Tomaten. Und natürlich das Fleisch des Schafes. Irma steht auf. Sie ist schwanger. Ihr zweites Kind. O-Ton 14: (Irma) Sprecherin OV: Familie ist für alle Menschen etwas sehr Wichtiges. Jeder sollte daran denken, dass er ohne Familie im Alter allein ist. Man sollte Kinder haben, die einen respektieren und im Alter Gesellschaft leisten. Ich denke, das ist wichtig. Atmo Kloster reingehen Liturgie Autor: Der Raum ist hoch, schlicht, die Mauern grob verputzt. Kerzen spiegeln sich in goldenen Ikonen. Eine alte Frau kniet, ein junger Mann im Anorak kommt herein, bleibt ein wenig, bekreuzigt sich und geht. Atmo Parkplatz Autor: Auf dem Parkplatz warten Busse auf die Gläubigen. Vor einem zwei ältere Frauen. Sie möchten ihre Namen nicht sagen. Sie würden versuchen, den Veränderungen zu trotzen, sagt die eine. O-Ton 15 Sprecherin OV: Ich denke, wir werden an der Tradition festhalten. Wir sind orthodox, und ich denke, das wird auch so bleiben. Atmo vor Vorführung Autor: Auch junge Leute suchen ihr Heil in der Vergangenheit und wenden sich den nationalen Mythen Georgiens zu. Im Institut für Multimedia an der Kunsthochschule in Tiflis warten etwa 40 Leute auf Plastikstühlen. Vorn eine Leinwand, ein Projektor läuft. Im Institut für Multimedia präsentieren Studenten ihre Abschlussarbeiten. Atmo Fimausschnitt Autor: Schnörkelige georgische Buchstaben auf einer Art steinerner Oberfläche. Häuser mit Fensterreihen schimmern durch. Atmo hoch Autor: Shalva hat kurze blonde Haare, trägt Jeans und T-Shirt, ist 21 Jahre alt und ein Kommilitone des Prüflings. O-Ton 16 (Shalva) Sprecher OV: Ich weiß nicht, worum es geht, aber der Film ist grundsätzlich über Georgien. Und er ist sehr traditionell. Die meisten Filme haben Georgien zum Thema. Aber das wählt ja jeder selbst aus. Autor: Fünf Filme werden an diesem Nachmittag präsentiert, alle fünf Absolventen haben sich für traditionelle, teils religiöse Motive entschieden. Atmo Autor: Die Steine werden zur Landkarte, aus der Landkarte werden Landschaften, darin dann Figuren. Ein Bauer gießt Wein in eine Schale. Dann echte Bilder: Männer in historischer Kleidung an einer georgischen Festtafel, Weinernte, Klöster und Kirchen. Atmo mit Schaf O-Ton 17 (Shalva) Sprecher OV: Wir sind eben ein kleines Land. Die Leute sind hier sehr miteinander verbandelt. Georgier sind stolz. Wir sind stolz auf unsere Traditionen. Und auf alles, was typisch ist für uns. Autor: Bevor jemand anderes Georgien erklärt, sagt er später, und das Land dann schlecht dargestellt wird, macht er es lieber selbst. Atmo Dozentin redet Atmo Rustavelifilm DVD Autor: Besonders beliebt unter Studenten sind heroische Darstellungen des "Ritters im Tigerfell". Es ist das Epos des georgischen Nationaldichters Shota Rustaveli und entstand um das Jahr 1200. Es ist die große Zeit Georgiens. Darin suchen sie Halt. Atmo Marschrutka Autor: Aufbruch mit der Marschrutka hinaus aus Tiflis, nach Batumi am Schwarzen Meer. Marschrutka heißen die Minibusse auf Russisch. Marschrutka heißen sie auch in Georgien. Zu Hunderten brettern sie durchs Land, vollgestopft mit Passagieren und Gepäck. Atmo Autor: Der Weg von Tiflis nach Westen führt über eine erst vor wenigen Jahren gebaute Autobahn. Überall Kirchen, oft auf Anhöhen. Runde Türme mit spitzen Dächern und Kreuzen. Autor: An der Straße Siedlungen: Einfamilienhäuser in Reih und Glied, dicht an dicht gebaut aufs freie Feld. Hier leben Vertriebene aus dem Krieg 2008 mit Russland um das Separationsgebiet Südossetien. Rundherum unbestellte Landschaft, Bäume, dahinter Berge, der Nordkaukasus. Auf den Kuppen liegt Schnee. Bereits Anfang der 90er Jahre hat es in Georgien Kriege gegeben. Abchasien und Südossetien haben sich abgespalten. Das Land lag nach dem Ende der Sowjetunion am Boden und musste zusätzlich eine Viertelmillion Vertriebene versorgen. 2008 eskalierte der Krieg um Südossetien erneut. Die immer wieder aufflammenden Kämpfe sorgen für Stress und blockieren die Gesellschaft. Je weiter man sich von Tiflis entfernt, desto schlechter wird die Straße. sIn einem Ort verfallene Fabriken, dicke Rohre mit Löchern, löchrige Dächer. Magere Kühe fressen trockenes Gras. Atmo Anhalten, Aussteigen Die Marschrutka erreicht Kutaisi, die zweitgrößte Stadt Georgiens. Atmo Streit Autor: Auf dem Busbahnhof streiten ein Fahrgast und ein Busfahrer. Atmo Schlägerei Autor: Einer der beiden heißt offensichtlich Lascha und droht dem anderen, ihm die Nase mit dem Mund zu vereinigen. Eine Frau versucht, ihn zu besänftigen: Was tust du, ich werde sterben, wenn du das tust. Es gibt Obst, fettige Backwaren, Wasser, Salzstangen. Souvenirs: Krumme Säbel und altertümliche Patronengürtel, Schaftstiefel, Stalinfiguren. Es riecht nach Urin und Tabak, Schweiß und Alkohol, Erdbeeren und Pfirsichen, Schaschlik und verbranntem Fleisch. Lascha macht ernst. Der andere blutet aus Mund und Nase. Es ist das Kontrastprogramm zu den friedliebenden Veganern in Tiflis. Atmo kurz hoch Autor: Niemand kümmert sich um die Schlägerei. Atmo Aussteigen Batumi Autor: Am späten Nachmittag erreicht die Marschrutka Batumi, eine Hafenstadt am Schwarzen Meer, knapp 200.000 Einwohner, nicht weit entfernt von der Grenze zur Türkei. Auch hier Kontraste: Das Hafenviertel ist schmuck renoviert: Bunte Fassaden, Veranden und Balkone, dazu, direkt an der Promenade, Hochhäuser mit Glasfassaden. Eines gehört dem US- Präsidenten Trump und heißt Trump-Tower. Im Rest der Stadt bröckeln die Fassaden. Der Asphalt hat Löcher. Atmo Reingehen Autor: Ortstermin im Antigewaltzentrum. Das Treppenhaus ist dreckig, Putz blättert von den Wänden. Es riecht nach Katzenkot. Die Fenster sind kaputt, die Zugluft lindert den Gestank. Atmo mit Tür Autor: Die Metalltür ist schwer. Der Flur vollgestellt mit Stühlen. In der Küche glänzen Einbauschränke in holzbraunem Schleiflack. Eine Mikrowelle, ein Fernseher. Atmo Küche Autor: Die Bretter des Parketts liegen lose auf dem Betonboden. Rosa Plastiktüten sind prall gefüllt mit Broten. Auf dem Tisch steht eine große Schüssel mit kalten Nudeln. O-Ton 18: (Nasi) Sprecherin OV: Das sind Spenden, die wir verteilen. Atmo Fortsetzung Autor: Nazibrola Rekhviashvili trägt die Haare vorn halbkurz und hinten halblang. Unter einer blonden Schicht sind die Haare dunkel. Im Hauptberuf ist sie Journalisten bei einem Online- Portal. In ihrer Freizeit hilft sie Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt wurden, und deren Kindern. Frauensolidarität, sagt sie. Sie ist selbst alleinerziehend. O-Ton 19: (Nasi) Sprecherin OV: Vor allem geht es uns um die Frauen und ihre Kinder, die einen Platz in der Gesellschaft finden sollen. Das sind ja alles auch potentielle Opfer. Indem sie das alles miterleben. Wir wollen ihnen einfach einen Ausweg zeigen aus dieser Situation. Wir reden viel mit den Mädchen, darüber, dass Frauen in der Gesellschaft Rechte haben, ein Recht auf einen Beruf, ein Recht auf selbständiges Leben, auf Ausbildung. Atmo Jungs mit Smartphone Autor: Im Nachbarraum spielen zwei Jungs auf einem Smartphone. Ein Mädchen mit dunklen glatten Haaren bügelt mit einem Kinderbügeleisen sehr ernsthaft Puppenkleider. Die weißen Wände sind bemalt mit Blumen und bunten Buchstaben. Wochentags kümmern sich Lehrer und Psychologen um die Kinder. Ein Junge kommt. Nasi packt ihm Brote in eine Tüte, ein paar Kellen kalte Nudeln in eine Plastikbox. O-Ton 20: (Nasi) Sprecherin OV: In der Schule wird jetzt ein neues Fach unterrichtet, Bürgerrechte. Das gibt es seit zwei bis drei Jahren. Aber natürlich muss man noch mehr darüber reden und den Kindern Beispiele nennen. In der Stadt ist es leichter, seine eigenen Rechte durchzusetzen. Sehr viel mehr müsste darüber in den Dörfern geredet werden. In den Schulen. Da fallen aber noch ganz andere Fächer aus. In den Dorfschulen gibt es viel zu wenig Lehrer. Es gibt da keine Infrastruktur. Die Löhne sind gering, wurden zwar kürzlich angehoben. Aber trotzdem geht niemand in die Dörfer, um dort Lehrer zu werden. Und dann gibt es einen Ort, der heißt ironischerweise "Stadt der Träume". Aber die Bedingungen dort sind wahrscheinlich schlimmer als in der Hölle. Atmo Auto mit Musik Autor: Die Stadt der Träume liegt am Rand von Batumi und ist eher eine Stadt der Alpträume: Wellblechhütten, Bretterverschläge mit Plastikplanen oder Pappe, räudige Hunde. Nasi kommt regelmässig, versucht Opfern von Gewalt, meist Frauen und Kindern, zu helfen. Marina ist eine ihrer zuverlässigsten Ansprechpartnerinnen. Atmo Nasi sucht Marina Autor: Zwischen den Baracken blühen Blumen, die Bewohner haben Beete angelegt. Ein Minibus macht große Bögen um die tiefen Pfützen in den grauen Schotterwegen. Eine Frau winkt aus dem Bus. 2.600 Familien leben hier. Einige sind Großfamilien, denen ihre Wohnungen zu klein wurden. Andere haben nach einem Erdrutsch ihr Dorf in den Bergen verlassen müssen. Nasi geht zu Fuß weiter. Tüten voller Müll liegen am Weg. Wäsche hängt. Obwohl sie oft hier ist, verläuft sie sich doch immer wieder in dem Gewirr aus Baracken. O-Ton 21: (Nasi) Sprecherin OV: Wenn Sie jetzt hier in ein Haus gehen und mit einer Frau, einem Gewalt-Opfer, reden möchten - Sie wird Ihnen nichts sagen, um keinen Preis. Dabei wissen wir, dass sie Opfer von Gewalt wurde. Aber sie wird Ihnen nichts darüber sagen. Atmo Marschrutka fährt vorbei Autor: Alles, was schlechtes Licht auf die Familie werfen könnte, wird verborgen. Nasi sieht in diesen Konventionen eines der Hauptprobleme Georgiens auf dem Weg zu einer friedlichen und fortschrittlichen Gesellschaft. O-Ton 22: (Nasi) Sprecherin OV: Bei uns in Georgien herrscht trotz allem die Auffassung, dass man seine Familienmitglieder schützen muss - vor Gerüchten, vor fremden Blicken, und natürlich auch vor dem Gesetz. Atmo Nasi hat Marina gefunden Autor: Sie hat Marina gefunden. Ihr Haus ist eines der besten in der Siedlung, mit festen Wänden aus grauen Steinen und richtigen Fenstern. Autor: Marina Beridze hat eine graue Fellweste über ihren blauen Pullover gezogen. Sie ist 35 Jahre alt. Ihre Haare sind leicht rötlich getönt. Sie ist schlank, hager fast. Atmo Reingehen ins Haus Autor: Tücher verhüllen die abgewetzten Polstermöbel. Statt Türen trennen Teppiche und dicke Decken die Räume voneinander. Atmo im Haus (Marina und Nasi) Autor: 60 Lari Sozialhilfe bekommen sie, umgerechnet knapp 30 Euro. Davon kann man nicht mal sterben, ein Brot kostet bereits etwa einen Lari. Die Menschen in der "Stadt der Träume" hoffen auf den georgischen Staat: Dass er ihnen Wohnungen zur Verfügung stellt. Doch als sie das einmal einem Politiker gegenüber forderte, habe der mit Sondereinheiten der Polizei gedroht, erzählt Marina Beridze. Freiwillig ist Marina nicht in der Stadt der Träume. Sie gehört zu den Opfern des Erdrutsches, der sie aus ihrem Dorf in den Bergen vertrieben hat. Jetzt ist sie froh, in der Stadt der Träume zu leben. O-Ton 23: (Marina & Nasi) Sprecherin OV: (Marina) Am Anfang war es sehr schwer. Sprecherin OV: (Nasi) Spielt Stress eine Rolle? Sprecherin OV: (Marina) Nein, jetzt nicht mehr. Das Leben ist leichter geworden, auch Geld zu verdienen geht besser. Die Frauen putzen, es gibt mehr Freiheit und die Kinder können eine Ausbildung bekommen. O-Ton 24: (Nasi) Sprecherin OV: Die Kinder können hier zur Schule gehen. Oben in den Bergen gab es nur eine einzige Schule, und die war viel zu weit weg, und es war schwer, dorthin zu kommen. Ärztliche Versorgung ist hier auch besser. In den Bergen waren die Wege manchmal so, dass die Ambulanz gar nicht durchgekommen ist. Autor: Marina Beridze faltet die Hände vor dem Bauch und schaut auf den Boden. Das Lächeln ist aus ihrem Gesicht verschwunden. Sie ist Krankenschwester, hat den Beruf aber nie ausgeübt. So geht es vielen Menschen in Georgien. O-Ton 25: (Nasi) Sprecherin OV: Die meisten Leute hier arbeiten in der Türkei, entweder als Putzfrauen oder als Saisonarbeiterinnen bei der Tee- oder der Nussernte. Sie unterhalten damit ihre Familien. Autor: Dass Georgierinnen auch als Prostituierte in Batumi und an der Grenze zur Türkei arbeiten, um die Familien durchzubringen, ist ein Tabu. Atmo Rausgehen Marina (deutsch): Ich heiße Marina. Was machst du? Autor: Nazibrola Rekhviashvili bricht auf. Aus einem Bretterverschlag mit Plastikplane schaut neugierig ein schmutziger Junge. Sie winkt ihm zu, der Junge schaut weg. O-Ton 26: (Nasi) Sprecherin OV: Die Kinder in diesen Familien hier sie sind natürlich jeden Tag Gewalt ausgesetzt. Nicht nur körperlicher. Das ist psychische Gewalt, es ist soziale Gewalt, und natürlich wirkt sich das auf die Kinder aus. Der Psychologe bei uns im Zentrum sagt, dass alle Kinder, mit denen er arbeitet, Probleme haben. Autor: Am Rand, als sie die Hütten hinter sich hat, bleibt sie noch mal stehen. Vieles in Georgien dürfe nicht länger tabu sein, meint Nasi, sonst komme die Gesellschaft nicht voran. Und je weiter weg von der Stadt, desto verbreiteter sind diese traditionellen Muster. O-Ton 27: (Nasi) Sprecherin OV Zumindest bei uns hier gibt es viele Menschenrechtsorganisationen, die sich damit beschäftigen, und die Zivilisation kommt schon so ein bisschen näher an diese Regionen heran. Autor: Sie schaut hinauf in die Berge. Schneebedeckt. Trotz aller Spannungen und Gegensätze - anders, als die nur wenige Kilometer entfernte Türkei, scheint Georgien auf dem Weg nach Europa voranzukommen. Musik & Abmoderation --- ENDE --- 1