KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR 19.30 Titel der Sendung: Vor 50 Jahren ?Ein Fest der schlechten Laune" Internationale Literatur im Jahr 1960 Autor : Fritz-Jochen Kopka Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 23.2.2010 Besetzung : Sprecher A Sprecherin B Zitator Zitatorin spr. auch Zitator 2 Musik + o-Ton Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig Vor fünfzig Jahren Ein Fest der schlechten Laune Internationale Literatur im Jahr 1960 Von Fritz-Jochen Kopka Musik ? Luciano Berio: Circles; 50-02318 A: Albert Camus plant ein neues Theater, ein neues Leben, und ein neues Leben braucht einen neuen Rahmen. B: Darum kauften Albert und seine Frau Francine ein Haus in Lourmarin, einem Dorf mit wenigen hundert Einwohnern. Zitator ? Biograph Todd: Das schöne Gebäude, eine ehemalige Seidenraupenzucht, riecht angenehm nach Wachs und schwachem Moder? A: Camus begibt sich in Klausur mit seinem ehrgeizigen Romanprojekt ?Der erste Mensch?. Er schreibt unter Qualen, Hoffnungen und Zweifeln. Die Einsamkeit ist hart, aber der einzige Weg, seinem Anspruch nahezukommen. Camus spricht von einer Art blindem Marsch, den er fortsetzen will. B: Am 3. Januar gibt Camus den großen Hausschlüssel bei der befreundeten Familie Ginoux ab und steigt ins Auto seines Verlegers Michel Gallimard. A: Im Gepäck das Manuskript des Romans, 144 eng beschriebene Seiten. Michel sitzt am Steuer, Albert neben ihm, Janine und Anne Gallimard im Fonds. Vierundzwanzig Kilometer hinter Sens gerät der Facel-Véga auf der RN 5 ins Schleudern, prallt gegen eine Platane und zurück gegen einen anderen Baum, bricht auseinander. Camus ist sofort tot, Michel schwer verletzt. Janine und Anne sind unversehrt. Michel Gallimard stirbt wenige Tage später. B: Camus war nach Ruyard Kipling der jüngste Literaturnobelpreisträger aller Zeiten. Musik - Luciano Berio: Circles, ab 6:50; 50-02318 B: Ein seltsam unentschiedenes Jahr. Die Zeit liegt auf der Lauer. A: 1960. Woran erinnerst du dich? (Eine Art innere Stimme:) Es war das afrikanische Jahr? B: Siebzehn Kolonien erlangen die Unabhängigkeit. Ein Abenteuer auf staatlicher Ebene beginnt. Eine Blüte der afrikanischen Literatur ist damit noch nicht verbunden. Zitator 2: Westliche Ideale haben Einzug gehalten und bestimmen das Leben in den Städten. Es bildet sich die Opposition Stadt gegen Land heraus, die die nachkoloniale Literatur beherrscht. B: So in ?No longer at ease?, dem Roman des Nigerianers Chinua Achebe. A: Kennedys Stern geht auf. B: Senator John F. Kennedy, der Politiker mit dem menschlichen Anlitz, wird Präsident der USA. A: Chruschtschows Schuh? B: KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow fordert vor der UNO-Vollversammlung die totale Abrüstung und trommelt mit seinem Schuh aufs Rednerpult, um Ruhe im Plenarsaal zu schaffen. A: Eichmanns Entführung? B: Der israelische Geheimdienst Mossad ergreift Adolf Eichmann in Buenos Aires (angeblich haben die Entführer ihn gegenüber der argentinischen Flughafenpolizei als ?alten, kranken Juden? ausgegeben, der zurück in die Heimat wolle.) A: Literaturnobelpreis? Da müsste ich nachschauen? B: Saint-John Perse. ?Für den stolzen Schwung und den erfinderischen Reichtum seines poetischen Schaffens, das einen hellseherischen Widerschein der Gegenwart gibt?? A: ? begründet das Komitee. B: Franzose. In Guadeloupe geboren. Dichter, dann Diplomat, Emigrant in Amerika und wieder Dichter. Ohne jede Wirkung auf das Publikum. Nur Dichter schätzen diesen Dichter? B: ? der Langverse schreibt, Großgedichte, in denen man sich verlieren kann wie auf den Weltmeeren. Musik ? Luigi Nono: Sarà dolce tacere; ab 4:00; 5-13.582 A: Der Deutsche Erich Arendt sagt, Saint-John Perses Poesie bedürfe keiner Erläuterung. Entkleidet der Geschichte, des Sozialen wie alles Ideologischen entziehe sie sich dem Verstand. Saint-John Perse kritisiert die Schöpfung nicht, er feiert das von den Göttern Gegebene in Größe und Schwäche mit hymnischem Lob. Das gibt seinen Dichtungen den einmaligen Schwung. Zitator Perse: Mein Vorsatz A: Bekannte Perse Zitator Perse: ? war: in seiner ganzen Inbrunst, seiner Kühnheit das Drama des Menschen auf dieser Erde zu preisen, mehr noch, das Drama seines Ganges über diese Erde? B: Man ahnt mehr aus diesen Texten heraus, wenn man von Saint-John Perses Leidenschaften für das Fliegen und Reiten weiß, vom grenzenlosen Befahren der Meere, der Liebe zu den großen Flüssen. Zitator Perse: See-Marken Und ihr, Meere, die ihr in gewaltigeren Träumen last, werdet ihr eines Abends uns verlassen auf den Rostren der Stadt, unter steinernen Tafeln und dem Weinlaub aus Erz? Zitator 2: Breiter, o Menge, unsere Zuhörerschaft auf diesen Hängen eines Alters ohne Niedergang: das Meer, unermesslich und grün wie ein Frühlicht im Osten der Menschen, Zitator: Das Meer auf seinen Stufen, festlich wie eine Ode aus Stein: Vigil und Fest an unseren Grenzen Raunen und Fest in Höhe der Menschen ? das Meer selbst unsere Wacht, gleich einem göttlichen Erlass? A: Warum auch immer: ich muss anlässlich dieser Hymnen gleich an einen Literaturnobelpreisträger späterer Jahre denken, Eyvind Johnson, den Schweden ? B: Warum auch immer? Auch Johnson beginnt 1960 seinen Roman ?Eine große Zeit? mit einer kosmischen Anrufung: Zitator Johnson: Der Sturm auf dem Adriatischen Meer gegen Ende der Fastenzeit im Jahre 775 ist in mancherlei Hinsicht unvergesslich. Wie sich zeigen wird, waren seine Folgen keineswegs geringfügig. Man könnte sagen, dass er mit seiner Pflugschar tiefe und dauerhafte Furchen pflügte ? vielleicht nicht so sehr in das Wasserfeld, den neptunischen Acker, als vielmehr in die Seele und das Leben vieler Menschen. A: Man kann es nicht anders als souverän nennen, wie Johnson zwischen Pathos und Ironie balanciert und dabei die ferne Zeit in unsere Nähe rückt mit ihren überraschend modernen Gestalten: Romantiker, Zyniker, Trunkenbolde, Opportunisten, alternde Gelehrte im ewigen Halbschlaf. Musik ? Chubby Checker: The Twist; 93-06.805-010 B: Hier schon tritt eine junge Generation auf den Plan, die sich als Opfer der Vorgängergenerationen sieht und daraus alle Rechte für sich ableitet, auch das Recht, Recht zu brechen? Zitator Johnson: Sie selbst, diese jungen, berittenen Nachplünderer, seien mehr als alle anderen die eigentlichen Opfer des Krieges, ja, sie wären schwer geprüft durch die Schuld der Alten? Sie fühlten sich wirklich getäuscht, sagten sie, sie wären von den Älteren betrogen worden, und sie beteuerten wieder und wieder, dass Gott deutlich ihre Handlungen gutheißen und Missgriffe, die ihnen möglicherweise unterlaufen wären, bereits vergeben hätte? B: So lebten denn auch schon im Mittelalter die Menschen auf Kosten ihrer Enkel? Dann können wir beruhigt sein. A: Eyvind Johnson war das Kind verarmter Bauersleute. Ging mit vierzehn Jahren aus Bildungsdurst auf Wanderschaft, hungerte sich durch halb Europa und brachte es als einer, der offenbar immer groß von sich dachte, aus sich heraus zur literarischen Meisterschaft. Ein Leben, wie es so schnell nicht noch mal gelebt werden wird. B: Das verdammte Verhältnis der Generationen. Arme werden nur selten Reiche, Frauen werden in der Regel nicht Männer, aber Junge werden immer Alte und das ist unumkehrbar. Musik ? Sam Cooke: What a Wonderful World; 92-44.390-003 A: Wassili Axjonow ist 28, als er mit seinem Roman ?Drei trafen sich wieder? an die sowjetische Öffentlichkeit tritt. Er zeigt die andere Seite der Kiste. Wie unversehrte, romantische, auch prahlerische junge Männer von Kriegsveteranen zum Bekenntnis herausgefordert werden, laufende Meter. Zitator Axjonow: Ich wünsche Ihnen ein paar Fragen zu stellen? B: Sagt der Invalide auf offener Straße in Leningrad. Zitator Axjonow: Wes Geistes Kinder ihr seid, möcht ich wissen, ihr jungen Leute von heute. Wohin geht euer Kurs, was zeigt euer Lebensindex? In eurem Alter haben wir gewusst, was wir zu tun hatten. Wir haben auf Leben und Tod gekämpft und die Stellungen gehalten. A: Die Jungs, die antworten sollen, sind drei Absolventen der Medizinischen Fakultät, die ihre Aussichten im Leben prüfen. Wo geht man hin? Was lässt man zurück? Was bekommt man, was gibt man auf? Ergreift man die beste Chance oder landet man in der Sackgasse? Sie sehen sich als moderne junge Männer und Intellektuelle vom Scheitel bis zur Sohle. B: Den drei Kollegen ist vieles heilig. Die Liebe, die Frauen, das Land, der Sozialismus, die Verankerung in der Gesellschaft. Ihr aufrührerischer Geist wirkt unernst. Wie naiv und schwärmerisch sind sie doch. Aber auch wie unversehrt. Die Stärke der Russen rührt vielleicht von der seelischen Unversehrtheit her, dieser ahnungslosen Wolkigkeit. A: Während Maximow und Karpow Verträge als Schiffsärzte mit der Ostseereederei unterschreiben, verschlägt es den Idealisten Selenin in die Wildnis nach Kruglogorje, weil es dort schon seit zwei Jahren keinen Arzt mehr gibt. B: Ich erinnere mich, dass ich Axjonow in jener Zeit gern gelesen habe. Heute bin ich verwundert. Der forcierte Jugendton macht mich müde. Die Jugend kann schon eine strapaziöse Zeit sein. Die Jungs deklamieren Gedichte, klimpern auf der Gitarre und schmelzen dahin bei Skrjabins zwölfter Etüde. A: Auf der anderen Seite versteht es der junge Axjonow, die durchaus vorhandenen Schattenseiten des Sowjetmenschen vorzuführen: Karrierismus, Bequemlichkeit, Gewinnsucht, Bestechlichkeit, Unehrlichkeit, Liebesbetrug, hohles Pathos? B: Genug. Das reicht jetzt schon. A: John Updike an der anderen Front des Kalten Kriegs ist ebenfalls 28. Er schreibt den ersten Band seiner Romantetralogie. Hasenherz. Rabbit, Run und ist sofort ein fertiger Schriftsteller, der sich nicht ins Konzept pfuschen lässt. Musik ? The Everly Brothers: Cathy?s Clown; 93-08.836004 O-Ton Updike: Schon im ersten Buch Rabbit, run steckte mehr Sex, als es damals in amerikanischen Romanen üblich war. Es ging mir aber weniger darum, die Zensur vorzuführen. Vielmehr hatte ich das Gefühl, mein Held lebt so stark im Hier und Jetzt, dass für ihn, nachdem es mit dem Sport vorbei ist, Sex so ziemlich das Wichtigste im Leben ist und das habe ich versucht, dem Leser so klar wie möglich zu zeigen? Ich glaube, ich wusste sogar, dass ich mein Ansehen damit aufs Spiel setzen konnte. Aber andererseits kam ich gerade vom College, hatte das Beispiel des alten Odysseus vor Augen und war ganz sicher, dass es richtig war, auf derselben Ebene, demselben Niveau auch über Sex zu schreiben. Genauso detailliert, so sorgfältig und liebevoll, wie man über alles andere schreibt. A: Harry Angstrom, genannt Rabbit, hat mit 26 eine Karriere als Highschool-Sportheld hinter und das antiklimaktische ? wie Updike es nennt ? Leben als Familienvater vor sich. B: Was heißt das denn? Das kann man doch nicht voraussetzen. A: Antiklimaktisch. Vom Bedeutenden zum Unbedeutenden. Eine absteigende Bahn. B: Und das mit 26. A: Tragisch, nicht? B: Rabbit führt in den Warenhäusern von Brewer technische Küchengeräte vor, genau gesagt eines: den Zauberküchenschäler. Und er muss lernen, wie man das am besten hinbekommt, er lernt überall, selbst in Kindersendungen des TV: wie bringt man Leuten etwas nahe. Auch seine Frau, Janice, sieht er mit wertendem Blick. Wie gnadenlos er die Haut seiner Frau, die dünner werdenden Haare, die Form ihres Körpers betrachtet, das hat sachliche Kompetenz, es ist aber auch vernichtend. Wie soll jemand solche Blicke überleben? Janice trinkt, raucht, sieht fern, sie ist dumm, stellt er fest, aber nicht wehrlos: Zitatorin: Du trinkst nicht mehr. Jetzt rauchst du auch nicht mehr. Was hast du eigentlich vor ? ein Heiliger zu werden? Zitator: Rabbit steht wie erfroren da, starrt auf seinen fahlen gelben Schatten an der weißen Tür, die in den Flur führt, und denkt, dass er in der Falle steckt. Das scheint jetzt sicher. Voller Ekel geht er hinaus. B: Rabbit flieht, es ist eine Momentsache, er hat vorher nie daran gedacht. Weit weg will er, nach Süden, er hat das Vorgefühl, wie eine weichere Luft seine Haut trifft, auch eine verheißende Empfindung von südlichen Frauen. Aber er landet nach einer Odyssee im Altbekannten: in derselben Stadt bei einer anderen Frau. Ruth statt Janice, die davon überzeugt ist, dass sie fett ist, aber Rabbit findet gerade diesen erheblichen Körper schön und jeder Mühe wert nach den Jahren neben der trinkenden Zwergin Janice. A: Er geht den Sex an wie ein Basketballmatch, ist bereit, seinen begnadeten Körper voll einzusetzen und sich seiner ausgefeilten Technik zu bedienen, ebenso muss er die Frau einschätzen, ihren Körper, ihre Fähigkeiten, ihre Technik, die Frau, die hier zugleich Gegner, Mitspieler und Publikum ist. Es ist ein Match, an dessen Ende beide gewonnen oder beide verloren haben. Rabbits oder Updikes Vorstellungen von Sex haben mich seinerzeit ziemlich geprägt. B: Sie werden sich schon nichts dabei gedacht haben. Dieser Rabbit ist ziemlich arrogant für einen Typen, der nicht viel mehr zu tun hat, als ein Küchengerät vorzuführen und das Weite zu suchen, sobald er keine Antwort auf die ungestellten Fragen des Alltags findet. Und weil es keine Antworten gibt für einen Mann, dessen Leben mit 26 beendet ist und dessen Alltag nicht enden will, hat Updike ihm drei weitere Romane gewidmet, so dass Rabbit fast ein amerikanischer Nationalheld wurde. Musik ? The Drifters: Save the Last Dan ce for Me; 92-68.745-012 A: Wie es in einer unglückseligen Ehe läuft, wissen wir nun. Wie es zu einer unglückseligen Ehe kommt, lesen wir bei Stan Barstow. Ein Hauch Glückseligkeit. B: Ach ja. Der Film von John Schlesinger mit Alan Bates und June Ritchie! A: Ein simples Buch, wie das von Axjonow, aber Stan Barstow, der Bergarbeitersohn aus West Riding, der es zum technischen Zeichner bringt, wie Victor Brown, sein Protagonist, weiß genau, was er kann. Wir erleben schräge Familienfeiern mit eingeschnappten Tanten, den Lärm der Starkbierkneipen, die unselige Mischung von Schweiß und Parfüm getränkter Luft in den Tanzsälen, die britischen Originale in Bussen und Firmenkantinen, schüchterne Positionsgespräche zwischen Vätern und Söhnen am Ende der Kindheit, und bei all dem lässt es sich nicht leugnen, dass Vic Browns Leben ein zentraler Inhalt fehlt. Ohne es selbst recht zu merken, redet er sich ein, in Ingrid Rothwell verliebt zu sein. Sie hat schöne Beine, glänzendes Haar, ist bestens gepflegt und arbeitet ebenfalls bei Dawson Whittaker & Söhne. B: Gelegenheit macht Liebe, wie sie Diebe macht, aber auch Langeweile macht Liebe, die Monotonie einer kleinen Stadt. Ingrid wird rot, und Arthur schmilzt dahin vor Liebe. Letztlich erfahren wir, wie das gewöhnliche Leben in allen Städten der Welt funktioniert. Man verdient seine Brötchen, man ärgert sich mit seiner Familie rum, könnte aber ohne die Geborgenheit, die sie bietet, schwerlich leben, man schaut in den Spiegel, man raucht zuviel, man baut ein gewaltiges Sehnsuchtspotential auf? A: ? man verklärt ein Mädchen, man fühlt sich minderwertig, man kommt ins Gespräch, man sieht, dass man nicht chancenlos ist, man sieht aber auch, dass Liebe blind gemacht hat, man heiratet, man geht Kompromisse ein, man wird alt. B: Lange Strecken wirkt das Buch jugendlich, reell, witzig und harmlos. A: Bis Vic Brown, mit seiner Freundin unter Bäumen auf einem Regenmantel liegend, plötzlich offenbar wird, dass er seine Ingrid, die er zwei Jahre lang aus der Distanz angebetet hat, nicht liebt. B: Und das ist eine furchtbare Wahrheit für ihn. A: Das Drama ereignet sich blitzartig auf Seite 163 und danach ist alles, alles anders, aber die Beziehung hat ihre Eigendynamik entwickelt. Man rennt in sein Unglück. Die Kleinstadt, die familiären Verpflichtungen, die Anstandsregeln, die sexuelle Hörigkeit, es ist unausweichlich, die Unglücksehe wird geschlossen. B: Peinlich sowas zu sagen. Bei aller Schlichtheit ist Ein Hauch Glückseligkeit ein unglaublich wertvolles, beinah unverzichtbares Buch. Die Fallgeschichte eines Naiven, so genau beobachtet und zurückhaltend kommentiert, dass man am Ende sein eigenes Leben besser kennengelernt hat. Musik ? Brenda Lee: Sweet Nuthin?; 93-49.619-123 Zitator ? Ribeyro: Meine Lieblingsbeschäftigung war, an den Wänden und Mauern herumzulehnen, mich in Sessel fallen zu lassen, alle viere von mir zu strecken und mir unsinnige Dinge vorzustellen... Da ich vor kurzem erst die Realschule absolviert hatte, glaubte ich, mir das Recht erworben zu haben, fürderhin zu faulenzen. B: So denkt Lucho? A: Im Tal von San Gabriel, der Roman des Peruaners Julio Ramon Ribeyro. B: Wieder ein junger Held, jünger als alle anderen. Lucho, fünfzehn, ist ein Waisenjunge, aber keineswegs untertänig oder verstört. Von Lima, wo er glaubte faulenzen zu können, geht die Reise seines Lebens mit dem Bus die Küste entlang, dann mit dem Lastwagen in endlosen Serpentinen die Anden hinauf, zuletzt zu Pferde über das steinige, raue Hochland bis zur Hacienda seines Onkels Leonardo, wo bizarre Gelage gefeiert und Hirsche gejagt werden. Es herrschen noch Glanz und Reichtum von einst, es kommt aber auch zu Mord, Überfall, Arbeitsverweigerung der Peonen, Konkurrenzkampf der Landbesitzer und Feindseligkeiten. Lucho, der sich in seine rätselhafte Cousine Leticia verliebt, erlebt den Verfall einer brüchigen feudalen Ordnung. Zitator: Was ich für unbesorgte Schlemmerei und Schlamperei gehalten hatte, waren in Wirklichkeit die Anzeichen einer heimlichen und ständig sich erneuernden Spannung. Die Beziehungen der Haciendabewohner untereinander wurden von tausend kleinen, flüchtigen Einzelheiten beeinflusst. Manchmal genügte es schon, in das Lachen des einen einzustimmen, um das Vertrauen eines anderen zu verlieren? Nach kurzer Zeit war auch ich in dieses Fest der schlechten Laune verwickelt. B: Lucho rettet aus diesem Sumpf gerade das Talent des Einzelgängers, seine Gabe, das befremdliche Verhalten der Onkel, Tanten und Cousinen, die weder mit Menschen noch mit Geld oder Arbeit umgehen können, mit gelassener Distanz zu sehen. Er macht seine Erfahrungen mit den Augen und der Seele. Sucht seinen Ort im Leben, ohne auf einen Helfer zu hoffen, aber immer begierig, etwas vom Leben der anderen zu durchschauen. A: Es ist ein für uns ungewohnter Ton, den Ribeyro anschlägt. Man mag seinen Schlüssen kaum folgen. Und dennoch ist es glaubwürdig, dass Lucho durch seine fatalistische Anschauung der Welt Stärke zuwächst. Er lebt ein so akausales Leben, dass man nicht aufhören kann, sich zu wundern. Dass das Individuum sich seine Existenz mit Milliarden anderer Geschöpfe teilt und dass es andererseits nur sein Leben wirklich lebt, nur dieses eine in der Hand hat! Diese Melange aus Demut und Stolz bestimmt den Ton des Romans, Frustration sieht anders aus, ganz anders. Musik ? Krzystof Penderecki: 1. Streichquarett, ab 2:30; 50-03202 A: In Frankreich führt der Nouveau Roman sein Gefecht um eine andere Literatur fort. B: Man sagt, es sei eine virtuose, aber verlorene Schlacht für den Nouveau Roman, die Claude Simon mit ?Die Straße in Flandern? führt. Sie erinnern sich: Zitator: Jeder, der so hart arbeitet wie ich, wird etwas Interessantes zustande bringen. A: Das sagt Simon? B: Das sagt Simon. A: Solche Meinungen sind mir nicht sympathisch. B: Klammer auf: Sie möchten etwas Interessantes zustande bringen, ohne hart zu arbeiten. A: Klammer zu. Was sagt er denn noch? B: Claude Simon war ein Mann mit einem ehrenhaften Leben, beispielhaft, aber nicht nachahmenswert. Auf Madagaskar geboren, Sohn eines Kolonialoffiziers, der in den ersten Tagen des ersten Weltkriegs fiel. Aufgewachsen auf dem Weingut der Familie in Perpignan. Studium der Malerei. Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg. Kavallerist im 2. Weltkrieg. Deutsche Gefangenschaft. Flucht nach Südfrankreich, Schreibversuche im Versteck. Europareisen nach dem Krieg. Simon gehört zur klassischen Moderne der europäischen Literatur. Ihn bewegt die Irreversibilität der Zeit, die Geschichte, die sich der Einflussnahme des Menschen entzieht. A: Es klingt fast so, als wäre 1960 das UNO-Jahr des Fatalismus. Überall Schicksalsdunst, Abhängigkeit, Ohnmacht? Liegt das an den guten Zeiten? Macht Prosperität depressiv? B: Wer soll das wissen. Diese Autoren sind als Autoren äußerst vital. Das fatalistische Konzept hindert sie keinesfalls, produktiv zu sein. Für Claude Simon geht aus seiner Grundstimmung nicht hervor, sich zu unterwerfen, sondern vielmehr auszuhalten. Darum erzählt in seinem Roman nicht der Rittmeister de Reixach die Recherche, sondern der Dragoner Georges, der Augenzeuge wird, wie der Rittmeister sich sinnlos in das Schussfeld deutscher Maschinengewehre wirft und noch im Niederstürzen grotesk den Degen hebt. Für Georges ist dieses eingebrannte Bild Anlass zu immer neuen Deutungsversuchen des sinnlosen Todes. Bei seiner Recherche erfährt er die Geschichte von Reixachs verführerischer Frau Corinne Zitator: das junge pralle freche Fleisch? B: ? wegen ihrer Capricen ergreift der an sich klaglose Reixach im Krieg ?diskret und bequem? die Gelegenheit, sein Leben zu beenden. Der Selbstmord tarnt sich als Soldatentod. So kompliziert Simons Theorie zu sein scheint, so fremd und weitgehend interpunktionslos seine Texte auch sind, so plausibel ist die Überlegung, die dahinter steht. O-Ton Simon: Sie wissen ja, mein ganzes Werk besteht aus einem Vortasten, einem Erforschen. Natürlich hatte ich, als ich mit dem Schreiben von Romanen Begann, nicht sonderlich viele Ideen über den Roman. Ich schrieb Romane in einem eher traditionellen Stil, und dann dachte ich, es müsste eine Geschichte erzählt werden, die mehr oder weniger einen Sinn enthält ? Von jener Art von Geschichte bin ich übergegangen zu einer weitaus weniger kommentierten Geschichte, sogar bis zum Verzicht auf eine Geschichte hin zu Bildern. Bilder, von denen die einen die anderen hervorbringen, die sich aufeinander beziehen, ein Zusammenspiel, einer Fuge ähnlich? Was ich zu erzählen habe, ist das, was in meinem Gedächtnis, meinem Geist meinem Gefühl vorgeht. Alles vermischt sich, und es gilt, all dem eine Ordnung zu verleihen, es zu gestalten, auf dass sich darin ein Aufbau abzeichnet. B: Simons Form des Romans ist die Suche nach dem hinter der oberflächlichen Realität verborgenen Rätsel. Dem Leser macht es der Autor nicht viel leichter als sich selbst. Auch der Leser muss hart arbeiten, dann wird er bei seiner Lektüre etwas Interessantes zustande bringen. Zitator Simon: ? und plötzlich fiel Regen, ein ebenfalls monotoner, endloser, finsterer Regen, der nicht herabrauschte sondern wie die Nacht Männer und Pferde miteinander verschmolz und sein unmerkliches Rieseln dem fürchterlichen anhaltenden gefährlichen Lärm hinzufügte beimischte den Tausende von Pferden bei ihrem Marsch über die Straße machten und das dem Knabbern von Tausenden die Welt zernagenden Insekten glich?, ein Lärm der in Georges Kopf allmählich eins mit dem Begriff Krieg geworden war, das monotone Trappeln das die Nacht erfüllte wie ein Klappern von Knochen; und auf den Gesichtern die schwarze metallharte Luft, so dass er (in Gedanken an die Berichte von Polarexpeditionen in denen es heißt dass die Haut am durchfrorenen Eisen haften bleibt) zu fühlen glaubte wie die kalte Finsternis fest an seinem Fleisch klebte, als ob die Luft, ja selbst die Zeit eine einzige stählerne Masse wäre (wie die abgestorbenen seit Jahrmilliarden erloschenen und mit Eis bedeckten Welten) in deren Dichte sie gefangen, für immer immobilisiert wären, sie, ihre alten makabren Mähren, ihre Sporen, ihre Säbel, ihre stählernen Waffen: alle aufrecht und unversehrt, so dass der Tag wenn er anbräche sie durch die transparente meergrüne Masse wie eine auf dem Marsch von einer Sintflut überraschte Armee vorfände die der träge sich unmerklich voranschiebende Gletscher wieder hergeben, hundert- oder zweihunderttausend Jahre später als ein buntes Durcheinander zusammen mit alten Landsknechten, Reitern und Kürassieren von einst erbrechen würde, und sie hinunterpurzelnd leise klirrend zersplittern würden? A: In einer Stimmung wie in diesem Augenblick kann ich nichts anderes behaupten als dass das einfach großartig ist. B: Ja, aber Sie werden den Faden verlieren und ihn unvermutet wieder finden, der Regen im Text wird sich in ihrem Gemüt abbilden, Sie werden diese Stimmung schätzen und wieder den Faden verlieren, werden aufhören zu lesen und wieder anfangen? Zitator Simon: ? sein Vater sagte: ?Was hast du?? und er: ?Nichts ich habe nichts ich habe vor allem keine Lust noch mehr Wörter und Wörter und wieder Wörter aneinanderzureihen Hast du nicht endlich auch genug davon?? und sein Vater: ?Wovon?? und er:?Von dem Gerede Vom Aneinanderreihen von??, und dann schwieg er? Musik ? Krzystof Penderecki: Anaklasis; ab 7:35 14