Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 17. Oktober 2015, 11.05 - 12.00 Uhr KW 42 Verbaute Zukunft - - Zehn Jahre nach den Unruhen in den französischen Banlieues Mit Reportagen von Bettina Kaps Am Mikrofon: Andreas Noll Musikauswahl und Regie: Simonetta Dibbern 1) Das Sprachrohr der Banlieue - Mohamed Mechmache / 7:00 2) Warten auf den Abriss - Ein Streetworker in Clichy-sous-Bois / 6'33 3) Vorurteile überwinden - Pensionierte Polizisten auf Streife in den Banlieues / 7'15 4) Hoffnung für die Banlieue - Ein neues Schulmodell gegen Schulversagen und ethnische Spannungen / 7'15 5) Heißes Pflaster: "La Grande Borne" in Grigny / 7'05. Literatur: Saphia Azzeddine - Mein Vater ist Putzfrau; Verlag: Wagenbach, K; Auflage: 1 aus 2015. Übersetzung ins Deutsche: Birgit Leib ISBN-10: 3803132703; ISBN-13: 978-3803132703 Originaltitel: Mon père est femme de ménage (Längen: 00:48; 00:43; 00:55) Lit.Sprecher: Jean Paul Baeck /2'26) Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 17. Oktober 2015, 11.05 - 12.00 Uhr Verbaute Zukunft - Zehn Jahre nach den Unruhen in den französischen Banlieues Mit Reportagen von Bettina Kaps Am Mikrofon: Andreas Noll Musikauswahl und Regie: Simonetta Dibbern Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - "Es ist traurig, das zu sagen, aber die Unruhen im Jahr 2005 waren nötig, damit sich die Zustände in Clichy-sous-Bois bessern." "Leider muss die Feuerwehr hier oft unter Polizeischutz anrücken. Wenn in der Siedlung Autos brennen, wird sie mit Steinen beworfen." "Die verschiedenen Attentate in den vergangenen Jahren haben mich aufgeschreckt. Der Anschlag auf Charlie Hebdo im Januar hat dann den Ausschlag gegeben: Es reicht einfach nicht mehr, auf dem Sofa zu sitzen und Soziologie zu betreiben." "Verbaute Zukunft - Zehn Jahre nach den Unruhen in den französischen Banlieues" Gesichter Europas mit Reportagen von Bettina Kaps. Am Mikrofon ist Andreas Noll Reportage 1 : Das Sprachrohr der Banlieue - Mohamed Mechmache Es musste irgendwann passieren, beeilten sich die Experten schon wenige Tage nach dem Beginn der Unruhen in den französischen Banlieues zu analysieren. Zu diesem Zeitpunkt blickten Frankreich und seine Nachbarn halb gebannt, halb entsetzt auf eine nicht enden wollende Explosion der Gewalt in mehr als 300 Vorstädten. Dass diese Rebellion ausgerechnet in Clichy-sous-Bois - 15 Kilometer östlich von Paris - ihren Anfang nahm, ist reiner Zufall. Es war eine dieser von Vorstadt-Jugendlichen gefürchteten Routinekontrollen der Polizei, die am 27. Oktober 2005 den Funken auslöste, der innerhalb weniger Tage ein ganzes Land in Brand setzen sollte. Bouna, Zyed und Muhitin heißen die drei Jugendlichen, die an diesem 27. Oktober keine Lust auf ein lästiges Verhör der Polizisten haben. Ein Trafohaus der Elektrizitätswerke soll ihnen als Versteck dienen. Ein lebensgefährliches Versteck, denn dort tötet ein 20- Tausend-Volt-Schlag den 15-jährigen Bouna Traoré und den 17-jährigen Zyed Benna - der 17 Jahre alte Muhitin überlebt schwer verletzt. In den darauf folgenden Nächten brennen in ganz Frankreich Mülleimer, Autos und Gebäude - Polizisten, die der Staat zu Tausenden mobilisiert, werden mit Steinen beworfen. In diesen Nächten hat sich in Clichy der Verein "AC Le Feu" gebildet. Die sieben Buchstaben von AC le Feu stehen für "Kollektiv der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, gemeinsam und vereint". Zugleich heißt "assez le feu" aber auch: Schluss mit dem Feuer. * 1. Atmo Energische Stimme, knappe Worte: Mohamed Mechmache, Gründer von AC Le Feu, steht im Garten des Vereinshauses. Der 49-Jährige ist glatt rasiert, die braunen Stoppelhaare hat er nach hinten gegelt. Vor ihm sitzen 18 Frauen aus den ärmsten Vierteln von Clichy- sous-Bois. Fast alle tragen Kopftücher, manche auch ein langes Übergewand. 2. O Ton Mechmache: "Wer Kopftuch trägt, darf das Schwimmbad nicht betreten. Selbst dann nicht, wenn ihr nur am Rand sitzen und eure Kinder beaufsichtigen wollt. Vergangenes Jahr wurde das noch akzeptiert, jetzt nicht mehr. Tut mir leid, wir werden wieder mal diskriminiert." 3. Atmo Mit Jeans und bedrucktem Schlabber-T-Shirt hat Mechmache noch immer den Look des Streetworkers. Das war er im Oktober 2005. Damals zog er nächtelang durch die Straßen von Clichy, versuchte, vernünftig mit den Jugendlichen zu reden, ihnen zu erklären, dass es mehr bringt, sich politisch einzumischen statt Steine zu werfen. Seither hat er nicht aufgehört, die Bewohner in den Banlieues aufzurütteln und ihre Anliegen zu vertreten. Mit den Frauen hier im Garten und ihren Familien wird Mohamed Mechmache in die Ferien fahren: auf einen riesigen Campingplatz bei Perpignan, gut 900 Kilometer entfernt im Süden. Zehn weitere Freiwillige von AC Le Feu sind auch dabei. Bevor es losgeht, gibt er den Frauen klare Anweisungen. 4. O Ton Mechmache: "Auf dem Campingplatz werden uns manche Urlauber schief ansehen. Das haben wir letztes Jahr erlebt, aber das ist nicht weiter schlimm. Wir sind Menschen wie alle anderen auch, wir dürfen überall Ferien machen. Falls das einigen dort nicht passt, dann sagen wir ihnen, dass sie den Ort wechseln können. Aber dass eins klar ist: Unsere Gruppe wird alle Regeln einhalten, die der Campingplatzdirektor aufgestellt hat." Einige Frauen sind enttäuscht. Einen Badeanzug tragen und ohne Kopftuch ins Schwimmbad - das verbietet ihnen ihr islamisches Religionsverständnis. Mechmache will sie beruhigen: Der Campingplatz liegt direkt am Meer. Auf dem Strand könne ihnen niemand Vorschriften machen. Eine junge Frau mit schwarz geschminkten Augen strahlt. Ohne AC Le Feu, sagt Zahia, hätten ihre drei Teenies die neun Wochen Schulferien bestimmt wieder nur zu Hause gehockt. 5. O-Ton Zahia "Ab und zu gehen wir zusammen ins Einkaufszentrum oder in den Park. Was sollen wir sonst schon machen? Clichy ist keine Großstadt, hier gibt es nichts zu tun. Die meiste Zeit sitzen meine Kinder vor dem Fernseher." Die Ferienreise ist Höhepunkt eines der zahlreichen Programme, die AC Le Feu in den vergangenen zehn Jahren für die Bewohner von Clichy-sous-Bois entwickelt hat. Das Projekt heißt Oxygène, Sauerstoff. Die Familien sollen endlich mal raus aus der Vorstadt, neuen Schwung für den Alltag bekommen. 6. O-Ton Wir sind aber kein Reiseunternehmen, wir werden auch einiges zusammen machen, betont Mechmache, und stellt den Frauen die Sozialarbeiterin Zoulikha Jerroudi vor. Sie hat pädagogische Workshops vorbereitet, die sie auf dem Campingplatz abhalten wird. Teilnahme ist Pflicht, auch für die Ehemänner. Die Workshops sollen die Erwachsenen zum Nachdenken anregen, ob sie ihre Rolle als Eltern ausreichend wahrnehmen, erklärt Zoulikha. 7. Atmo Es ist Abend geworden, die Frauen gehen nach Hause. Erst jetzt macht Zoulikha Jerroudi ihrem Ärger Luft. Die 45-Jährige trägt ein blaues Kopftuch, farblich abgestimmt zu Bluse und Hose. Die Kleiderregel für die Schwimmbad-Wiese demütigt und frustriert die Mütter, sagt sie. Das sei mal wieder ein gezielter Affront gegen Einwandererfamilien. 8. O-Ton Zoulikha: "Wir sind alle Franzosen, wir lieben unser Land, Frankreich. Wir leben und arbeiten hier, zahlen Steuern. Unser Herkunftsland kennen wir kaum. Heute haben wir den Eindruck, dass Frankreich uns nicht verstehen will. Wir fühlen uns wie illegale Kinder, ja, wie Bastarde. Unsere Eltern und Großeltern hatten noch einen Fuß in ihrer Heimat. Wir hingegen stehen mit beiden Füßen hier. Wir hängen an Frankreich, aber Frankreich mag uns nicht, und das tut weh." Mohamed Mechmache muss schnell los. Mit seinen Mitstreitern vom Kollektiv hat er noch einen wichtigen Termin: Das Rathaus veranstaltet einen Informationsabend. In Clichy- sous-Bois soll ein Bürgerrat gebildet werden. Das verlangt ein neues Gesetz. Es gilt für alle Kommunen, die in das Ressort der so genannten Stadtpolitik fallen: immerhin 1.300 Städte. Der Bürgerrat, das war Mechmaches Idee. 9. O-Ton Mechmache: "Wir haben die Schnauze voll: Seit 30 Jahren entscheiden die Politiker über unsere Köpfe hinweg, was in den Siedlungen passiert. Wir wollen endlich mit am Tisch sitzen, wenn Reformen für unsere Viertel beschlossen werden. Wenn die dann Erfolg haben, umso besser. Wenn nicht, tragen wir Verantwortung und müssen herausfinden, warum. Aber es ist zu einfach, uns Vorwürfe zu machen, obwohl wir die Stadtpolitik nie beeinflusst, sondern immer nur ihre Folgen ausgebadet haben." Er geht in sein Büro. An der Wand hängt ein Foto, auf dem zwei wache junge Gesichter zu sehen sind: Zyed und Bouna, die beiden Jungen, die 2005 auf dem Gelände eines Umspannwerks von Clichy-sous-Bois ums Leben gekommen sind. Auf dem Schreibtisch liegt ein dicker Bericht, Titel: "Für eine radikale Reform der Vorstadtpolitik". Vor zwei Jahren hat die Regierung Mohamed Mechmache und eine Soziologin beauftragt, Vorschläge zu entwickeln, wie die Banlieuebewohner in die Politik eingebunden werden könnten. Mechmache reiste dafür quer durch Frankreich, befragte die Menschen in den Trabantenstädten. Dann entwickelte er konkrete Vorschläge, um die Bürger der Banlieues zu Akteuren zu machen. Aber von 30 Vorschlägen hat die Regierung nur einen einzigen übernommen - die Bürgerräte. Und: Das neue Gremium soll keine Entscheidungsbefugnisse haben, nur beratenden Charakter. Während Mohamed Mechmache berichtet, was von seinem großen Projekt übriggeblieben ist, sieht er plötzlich alt aus, mit tiefen Falten im Gesicht. Wenn die Menschen in den Vorstädten übergangen werden wie bisher, werden sie den Glauben an die Politik restlos verlieren, sagt er. Dann ist Frankreich in Gefahr. 10. O-Ton Mechmache: "Der Kessel steht unter Hochdruck, er kann jederzeit explodieren. Die Menschen hier müssen so viel einstecken: die Gewalt, ökonomisch und politisch ausgegrenzt zu sein, die ständige Stigmatisierung... Viele haben die Hoffnung verloren, und wer nichts mehr zu verlieren hat, der kann gefährlich werden. Wenn das Ventil platzt, müssen wir mit Unruhen rechnen, die schlimmer sind, als das, was wir 2005 erlebt haben. Vielleicht werfen die Leute dann nicht nur Steine, sondern gehen zu Angriffen über, wie im Januar, bei den Attentaten von Paris. Wir verurteilen das, aber wir spüren: Die Menschen hier sind am Ende." Vorstadtunruhen wie 2005 - sie sollen sich nie mehr in Frankreich wiederholen. Das hat sich die politische Elite des Landes geschworen - und unzählige Konzepte entwickelt, wie sich die Lebensbedingungen in den Trabantenstädten und die Perspektiven der abgehängten Vorstadtjugend verbessern lassen. Auch die Kultur hat in der Folge dieser Ereignisse die Banlieue stärker in ihren Blick genommen. Von den Bewohnern, die eigenständige Musik- und Literatur-Genres erschaffen haben, aber auch von Auswärtigen. Die junge Autorin Saphia Azzeddine wurde 1979 in Marokko geboren und zog mit neun Jahren nach Frankreich, wo sie in behüteten Verhältnissen aufwuchs. In ihrem Roman "Mein Vater ist Putzfrau" erzählt sie mit viel Situationskomik die Geschichte des 14- jährigen Paul, der in einer Pariser Vorstadt aufwächst. Er ist ziemlich klein, häßlich und arm. Während der Vater die Stadtbibliothek putzt, taucht Paul dort ein in die Welt der Bücher. Diese Wörter, so Pauls Überzeugung, können ihn aus der Perspektivlosigkeit der Vorstadt befreien. Die wirtschaftliche Armut teilt Paul mit den meisten seiner Mitschüler - die Hautfarbe nicht: Die Familie An jenem Tag hat meine Schwester für den Schönheitswettbewerb zur Wahl der Miss Mirabelle geübt. Im Idealfall wäre meine Schwester gerne schwarz gewesen. Pech gehabt, sie ist weiß. Sehr weiß. Weißlich. [..] Sie macht sich afrikanische Zöpfe, aber ihre rosa Kopfhaut schaut durch. Sie lässt nicht locker und kräuselt sie, um mehr Volumen zu bekommen, aber das hilft auch nicht, meine Schwester ist eben durch und durch Französin. Ich vermute schwer, dass sie sich einbildet, durchs Vögeln mit sämtlichen Schwarzen in der Cité ein bisschen Farbe abzubekommen. Aber alles, was an ihr hängenbleibt, ist ihr Ruf als billige Nutte. Sie lernt auch afrikanischen Tanz im Verein, aber sie hat nicht den richtigen Hintern dafür. Ihrer hängt nach unten anstatt nach oben anzuschwellen. Reportage 2 : Warten auf den Abriss - Ein Streetworker in Clichy-sous-Bois Seit zehn Jahren nun lebt Clichy-sous-Bois mit dem Stigma, die landesweiten Krawalle ausgelöst zu haben. In den Fokus der Politik ist das Städtchen allerdings schon viel früher geraten. Einige Viertel von Clichy zählen schon lange zu den mehr als 750 von der Politik definierten Problemvierteln Frankreichs. Und so startete bereits ein Jahr vor den Vorstadtunruhen eines der größten Sanierungsprojekte des Landes in Clichy-sous-Bois. Mittlerweile sind in der Stadt fast eintausend Wohnungen abgerissen, 2000 saniert - 800 neue Wohnungen gebaut. Ergebnis: Heute ist Clichy geteilt. Während auf der einen Seite kleine Wohneinheiten mit freundlich-farbigen Fassaden und Vorgärten stehen, dominieren in der Siedlung "Le Chêne Pointu" immer noch die großen Wohnblöcke. Sie wurden in den 1960er Jahren auf der grünen Wiese errichtet, um den Arbeitern aus Nordafrika eine Bleibe zu geben. In "Le Chêne Pointu", was auf Deutsch "Spitze Eiche" heißt, lebten auch Zyed und Bouna. Für die mehr als 8000 Bewohner dieser Siedlung - zwei Drittel von ihnen leben unterhalb der Armutsgrenze - hat sich in den vergangenen Jahren wenig geändert: * 1. Atmo Eine holprige Straße voller Schlaglöcher führt an staubigen Parkplätzen und überquellenden Müllcontainern vorbei. Im Erdgeschoss eines Hochhauses ist das Büro des Sozialhilfevereins Arrimage untergebracht. Hier arbeitet Naoufel Ettir. Der Streetworker holt sich Wasser aus dem Kühlschrank. Er ist sichtlich genervt. 2. O-Ton Ettir: "Unser Büro ist frisch renoviert, trotzdem haben wir Kakerlaken im Kühlschrank. Le Chene Pointu ist dreckig, das Viertel hinkt 20 Jahre hinterher. Alle anderen Vorstadtsiedlungen sind jetzt mehr oder weniger vorzeigbar, ganz egal, ob sie gefährlich sind oder nicht, ob es dort Dealer gibt oder nicht. Aber hier sind die Häuser immer noch schmutzig, feucht und voller Kakerlaken. Man muss es gesehen haben, um es zu glauben." Der stämmige Mann in Sport-Hose und Fußball-Trikot macht sich auf den Weg. Fast täglich läuft er die Straßen der Siedlung ab. Dabei pflegt er Kontakte, erfährt Neues von den Jugendlichen und ist auch für jene sichtbar, die nicht in sein Büro kommen. Es ist Nachmittag: Eine Frau in afrikanischem Boubou trägt schwere Einkaufstaschen nach Hause, ein Mann liegt unter einem Auto, wechselt das Öl, Kinder spielen auf der Straße. An einer Hauswand lehnen drei Heranwachsende, sie sehen gelangweilt aus. Der Streetworker geht auf sie zu, schüttelt Hände. Einen von ihnen kennt er noch aus einem Ferienlager, das er betreut hat. 3. Atmo Dialog Mammadou erzählt, dass er gerade die Prüfung zum Metallbauer absolviert hat. Wahrscheinlich sei er durchgefallen, dann wolle er alles hinschmeißen. Naoufel Ettir beschwört ihn, weiter zu machen. 4. O-Ton Wenn der Junge seinen Abschluss nicht bekommt, dann werden wir ihn am Wickel haben, sagt der Streetworker später. Mammadou sei leider kein Einzelfall. 5. O-Ton Ettir: "In der Siedlung gibt es viele Jugendliche, die völlig orientierungslos sind. Sie kommen mit einem ganzen Sack von Problemen zu uns: Mal geht es um ihre Gesundheit, mal dreht es sich um die Schule, aber ganz besonders oft brauchen sie Hilfe bei der Arbeitssuche und weil sie den Führerschein machen wollen. Beides gehört zusammen, denn wer keinen Führerschein hat, der findet auch keine Arbeit." Seit sechs Jahren arbeitet Naoufel Ettir schon in der Siedlung, kaum jemand kennt die Jugendlichen so gut wie er. Außerdem versteht er ihren Slang. Der 36-Jährige stammt selbst aus einer Vorstadtsiedlung. Früher war er Leiter einer Jugendgruppe in Sevran und Fußballtrainer in Aulnay - zwei Städte, keine zehn Kilometer entfernt, mit Vierteln, die als besonders heiße Pflaster gelten. 6. O-Ton Ettir: "Wenn ich die jungen Leute der verschiedenen Vorstädte vergleiche, stelle ich große Unterschiede fest. In Sevran und Aulnay sind sie viel gewaltbereiter. Dagegen sind die Jugendlichen aus Clichy-sous-Bois beinahe brav. In den sechs Jahren, die ich hier schon arbeite, hat mir nicht ein Einziger den Respekt verweigert, und meiner Kollegin auch nicht. Kein einziges Mal." In Clichy-sous-Bois herrschen keine Banden, hier gilt nicht das Faustrecht. Der Grund? Die Stadt ist isoliert: Es gibt keinen S-Bahn-Anschluss, keinen Autobahnzubringer. Paris liegt nur 15 Kilometer entfernt, aber mit Bus und Bahn dauert die Fahrt in die Hauptstadt anderthalb Stunden, selbst mit dem Auto ist man lange unterwegs. Was für die Bewohner ein großes Handicap ist, habe somit auch eine gute Seite, meint Naoufel Ettir: Für Dealer und ihre Kunden sei Clichy-sous-Bois uninteressant. 7. O-Ton Ettir: "In Sevran blühen die Schattenwirtschaft und der Drogenhandel, junge Leute haben dort wenig Anreiz, legal zu arbeiten. Hier in Clichy müssen sie sich auf normale Weise einen Job suchen, um Geld zu verdienen." Der Streetworker geht auf einen Wohnblock zu, der wie ein breiter Riegel in der Landschaft steht. An der Giebelseite sind Absperrgitter aufgestellt: Die Kacheln lockern sich, einige sind schon auf den Boden gefallen und zersplittert. Eine verkohlte Badewanne zeugt von einem Brand. Die Eingangstüren des Hochhauses stehen offen. Ettir geht hinein, sieht sich um. 8. O-Ton In der Haustür fehlt die Glasscheibe, die Wände sind geschwärzt, wie verkohlt, der Putz blättert ab. Oben in der Decke klafft ein Loch, die Stromkabel liegen frei. Ein Zustand, wie man ihn in Entwicklungsländern erwartet, nicht in Frankreich. Ein anderer Stadtteil von Clichy-sous-Bois wurde komplett saniert, erzählt Naoufel Ettir. Aber die Wohnungen in "le Chêne Pointu" sind im Privatbesitz, deshalb kann der Staat nicht eingreifen. Viele sind an Familien vermietet, die unter der Armutsgrenze leben und die Nebenkosten schuldig bleiben, seit Jahren schon. Die unbezahlten Rechnungen in der Siedlung belaufen sich auf sieben Millionen Euro. Kein Wunder, dass das Viertel verslumt. Aber das soll sich ändern: Im Juli war die Ministerin für den Wohnungsbau hier. Im Rathaus von Clichy-sous-Bois hat sie eine Konvention unterzeichnet, die es dem Staat erlaubt, die Wohnungen nach und nach aufzukaufen, um die Hochhäuser abzureißen oder zu sanieren. In 15 Jahren soll die Siedlung Le Chêne Pointu komplett renoviert sein. 9. O-Ton Ettir: "Es ist traurig, das zu sagen, aber die Unruhen im Jahr 2005 waren nötig, damit sich die Zustände in Clichy-sous-Bois bessern. Wenn Zyed und Bouna heute noch am Leben wären, was wir uns alle wünschen würden, dann hätte sich hier vielleicht gar nichts geändert." Clichy-sous-Bois ist zum Symbol geworden. Staatspräsident François Hollande ist schon zweimal in die Vorstadt gekommen, der Premierminister war ebenfalls da. Die ganze politische Klasse habe ihre Aufwartung gemacht, sagt Naoufel Ettir. Auch wenn der Wandel nur langsam vorankomme, so sei er doch deutlich spürbar. 10. O-Ton Ettir: "Hier wurden viele Projekte ins Leben gerufen: Das Rathaus organisiert ein Hip-Hop- Festival mit großen Stars. Auf einer Wiese wird jeden Sommer ein großes Schwimmbecken aufgestellt. Vergangenes Jahr wurde ein Jobcenter eröffnet. Wir haben eine Polizeiwache bekommen und bald soll auch eine Straßenbahn gebaut werden. Wir sind auf dem richtigen Weg." Reportage 3 : Vorurteile überwinden - Pensionierte Polizisten auf Streife in den Banlieues Im Sommer 1981 entflammten in Lyon die ersten offiziell registrierten Unruhen in Frankreich. Seit Jahrzehnten zählen die Vorstädte zu den zentralen Herausforderungen der französischen Innenpolitik. Schon lange vor den Unruhen 2005 pumpte der Staat Milliarden in die Problemzonen der Ballungsgebiete. Was sich mit Geld allerdings nicht lösen lässt, ist ein Problem, das ebenso wie das mangelnde Geld die Entwicklung der Vorstädte behindert: die Vorurteile zwischen Bewohnern und Staatsorganen. Genießt die Polizei in Frankreich schon keinen besonderen Ruf, ist das Verhältnis zwischen Polizisten und Bewohnern der Banlieue katastrophal. Auch damit ist zu erklären, warum Zyed und Bouna, die nichts zu verbergen hatten, vor der Polizeikontrolle geflüchtet sind. Weil viele Bewohner auch heute noch von den Staatsorganen wenig Gutes erwarten, setzt Frankreich nicht nur in der Städtebau- sondern auch in der Sicherheitspolitik neue Akzente. Seit einigen Jahren sollen Privatpersonen Vertrauen Stück für Stück wieder aufbauen. Das Innenministerium hat daher gut 80 Polizisten im Ruhestand im Großraum Paris aktiviert. Sie sollen dort Präsenz zeigen, wo die Beziehungen zwischen Polizei und Bevölkerung besonders angespannt sind. Zum Beispiel in Chanteloup-les-Vignes. Das Städtchen liegt 30 Kilometer westlich von Paris. Die große Mehrheit der 10.000 Einwohner lebt in der Sozialbausiedlung "La Noé". * 1. Atmo Im Freizeitzentrum von Chanteloup-les-Vignes: Zwei Mädchen und drei Jungen fläzen sich auf einem alten Sofa. Christian Berthier, klein, drahtig, graues Haar, Metallbrille, setzt sich neben die Teenager. Der 63-Jährige stellt sich vor. 2. O-Ton Berthier: "Ich war mal Polizist und habe in eurer Siedlung gearbeitet. Jetzt komme ich her, um Kontakte zu knüpfen und über Dinge zu sprechen, die euch vielleicht interessieren. Was denkt ihr eigentlich über die Polizei? Ist sie nützlich? Oder ist sie vor allem da, um euch zu ärgern? Ihr könnt ganz frei sprechen. Youssef wird euch bestätigen, dass wir hier offen miteinander reden können." Youssef nickt: Mit Christian gibt es wirklich kein Tabu, sagt der Leiter des Zentrums. Die beiden Männer duzen sich. Die Jugendlichen lächeln höflich, sagen aber trotzdem nichts. Berthier will wissen, wer schon mal von der Polizei kontrolliert wurde - niemand meldet sich. Ohne die Polizei, sagt der schmale Mann in Jeans und Lederjacke, würde sich in der Siedlung das Recht des Stärkeren durchsetzen, ein harmonisches Zusammenleben wäre dann unmöglich. Die Polizei schütze nicht nur Menschen, sondern auch Institutionen. 3. O-Ton Berthier "Leider muss die Feuerwehr hier oft unter Polizeischutz anrücken. Wenn in der Siedlung Autos brennen, wird sie mit Steinen beworfen. Das ist nicht normal. Sie leistet Hilfe, dabei darf sie doch nicht zur Zielscheibe werden. Bei ihrem Einsatz kann es um Leben oder Tod gehen." 4. Atmo Auch Briefträger und Hausmeister seien wichtig und müssten respektiert werden. Berthier lacht kumpelhaft, er will nicht belehrend wirken. 5. Atmo Ein Junge gähnt. Christian Berthier steht auf, dankt den Schülern fürs Zuhören. Man spürt, dass er einen guten Draht zur Vorstadtjugend hat. Langfristig würden seine Argumente hoffentlich Wirkung zeigen, sagt er anschließend zu Youssef. Der 42-Jährige, ein sportlicher Typ mit Glatze und kurzem Vollbart, schließt die Tür, damit ihn die Jugendlichen nicht hören. Selbst er hat schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht. 6. O-Ton Youssef: "Ich kenne die Beamten und sie kennen mich, das ist das Schlimmste daran. Die wissen ganz genau, dass ich respektabel bin und fürs Rathaus arbeite. Trotzdem sind sie mir nachgefahren. In dem Moment, als ich die Haustür aufsperren wollte, sind sie aus dem Auto gesprungen, haben mich gegen die Wand gedrückt und abgetastet. Ich war schockiert. So wie mich die Polizei da behandelt hat, kann ich verstehen, dass es manch einen Jugendlichen zur Weißglut treibt." Berthier zuckt mit den Schultern. Das Gefühl von Ohnmacht und Demütigung kann er anscheinend nicht nachvollziehen. Der ehemalige Kriminalinspektor spricht von Übereifer, den man nicht immer unterbinden könne, zu viele Vorschriften würden die Beamten nur demotivieren. Trotzdem will er mit seinen früheren Kollegen darüber sprechen. Dann bricht er auf zum Wochenmarkt. 7. Atmo Sein Weg führt vorbei an flachen Wohnblöcken in gelb und beige. Das Viertel macht einen freundlichen Eindruck. Ganz anders als noch in den 1990er Jahren, sagt Christian Berthier. Damals war er in der Siedlung als Polizist eingesetzt - eine schlimme Zeit: 8. O-Ton Berthier "Täglich gab es Krawalle und Straßenschlachten. Da flogen nicht nur Steine, sogar Kühlschränke haben sie von den Dächern geworfen. Damals konnten wir nicht mit dem Polizeiwagen in die Siedlung fahren, weil es keine Straßen gab. Wir mussten zu Fuß gehen. Einmal haben sie mich in die Enge getrieben. Wir waren zu Dritt, 150 standen uns gegenüber. Heute gibt es nur noch ab und zu mal eine kleine Explosion, aber insgesamt ist es jetzt eher ruhig." Ein Grund für die Befriedung: Die Enklave wurde aufgebrochen, einige Wohneinheiten wurden abgerissen, heute kann die Polizei auch mit Fahrzeugen patrouillieren. Aber ein Drogenumschlagplatz ist die Siedlung immer noch. Berthier überquert einen zentralen Platz, zeigt auf einen leicht erhöhten Laufgang, der den Platz am Rand überbrückt. Überall gebe es Späher, kleine Jungen, gerade mal 12 oder 13 Jahre alt, die von den Größeren angelernt würden. Von dieser Empore aus seien alle Zufahrtsstraßen besonders gut sichtbar. Jeder Fremde werde registriert, auch Polizisten in Zivil würden sofort erkannt. 9. O-Ton Berthier: "Sobald die Polizei auftaucht, hört man einen ersten Warnschrei, der weiter gegeben wird: "ça passe, ça passe". Hier kann man nicht anonym bleiben." Berthier schlendert an den Marktständen vorbei: preiswertes Obst und Gemüse, arabische Kleider, islamische Kopftücher. Zwei bärtige Männer sammeln für eine Moschee. Der Ex- Polizist will Vertrauen schaffen, die Sorgen der Menschen erspüren und jene beraten, die sich bedroht fühlen. Zwei Mal pro Woche ist er in der Siedlung präsent, seit sechs Jahren schon. Aber kaum jemand grüßt ihn und niemand spricht ihn an. 10. O-Ton Berthier: "Die Leute kennen mich, aber die meisten trauen sich nicht, mit mir zu sprechen, für sie bin ich immer noch ein Polizist. Sie haben Angst, man könne sie als Spitzel anschwärzen." 11. Atmo Umso lieber geht er bei Michel Legendre vorbei. Der Hausmeister der Sozialbausiedlung sei als einziger hier ganz offen zu ihm. Der schwergewichtige Mann sitzt am Schreibtisch, er hat Sorgen. 12. Atmo Ein Bewohner der Siedlung habe sich den Schlüssel zum Müllraum angeeignet, stelle dort seine Motorräder ab. 13. O-Ton Hausmeister: "Aber wenn ich das Türschloss austausche, dann kriegt es mein Auto ab. Gerade erst wurde mein Reifen zerstochen. Du weißt schon: so ein Renault, der brennt lichterloh..". Legendre ist um die 60, seit 23 Jahren arbeitet er schon in Chanteloup-les-Vignes. Kürzlich hat er es abgelehnt, in eine andere Siedlung zu wechseln, obwohl er hier schon einiges durchgemacht hat: 14. O-Ton Hausmeister: "Feuer in meiner Hausmeisterloge, Feuer vor meinem Wohnungsfenster, Aggressionen, Einbruch, selbst meine Kinder wurden bedroht. Aber ich gönne den Kerlen keinen Sieg, deshalb bleibe ich hier. Außerdem wäre es für meinen Nachfolger unmöglich, den Job zu machen, wenn ich fortginge. Ich habe denen immer die Stirn geboten." Christian Berthier verspricht, dass er sich um das Problem mit dem Müllraum kümmern wird, ohne dass es auf den Hausmeister zurückfällt. Bevor er nach Hause fährt, macht er sowieso noch Halt beim Polizeikommissariat in der Nachbarstadt. Aber das sollen die Bewohner lieber nicht wissen. In der Bibliothek Im Lycée war nichts los. Die Mädchen, sogar die potthässlichen, interessierten sich immer noch nicht für mich. Was die Mädels angeht, habe ich schon immer eher im Schatten gestanden, aber dieses Jahr ließ sich noch mieser an. Wie Flaubert empfand ich eine leichenhafte Traurigkeit. Ich surfte in seiner Korrespondenz mit Louise Colet. Ohne dass sie es beabsichtigt hätte, zeigte mit die Literatur mein wahres Bild: ein junger Kerl, der um jeden Preis mit einem Mädchen schlafen wollte, der die Wochen und seit Kurzem die Tage zählte, wo der andere in Büchern zählt. Das ist ein tödlicher Weg, und ich möchte noch drei oder vier Bücher lang leben. Zwangsläufig bin ich mir daneben kläglich vorgekommen. Reportage 4 : Hoffnung für die Banlieue - Ein neues Schulmodell gegen Schulversagen und ethnische Spannungen Auch weil den aufgebrachten Jugendlichen vor zehn Jahren eine politische Vision fehlte, dominierte vielfach die bloße Zerstörungswut. Und so brannten neben Polizeistationen auch Sporthallen, Postämter, Rathäuser, Schulen und sogar Kindergärten. Die brennenden Schulen, sie waren aber auch ein Symbol dafür, dass der Glaube an das republikanische Integrationsmodell Schaden genommen hatte. Der Schulbesuch in den Problemvierteln, er eröffnet vielfach keine Perspektiven, sondern besiegelt das Scheitern - entsprechend viele Schüler verlassen die Schulen ohne Abschluss. Die Gründe für die Bildungskrise sind vielfältig: So werden ausgerechnet die jüngsten, unerfahrenen Lehrer in die unbeliebten Banlieue-Schulen geschickt. Das französische Schulsystem, so sagen Experten, reproduziert und vertieft soziale Ungleichheit. Hoffnung auf Besserung besteht keine. Auch nicht aus Sicht der Eltern, die ihre Kinder aus dem staatlichen Schulbetrieb herausnehmen und in Privatschulen anmelden. Ein spezielles Modell hat in diesem Zusammenhang die Stiftung "Espérance Banlieues" entwickelt. 2012 hat die erste Stiftungsschule in Montfermeil bei Paris ihre Arbeit aufgenommen. Drei weitere Schulen wurden inzwischen in Marseille, Roubaix und Asnières eröffnet. Die Lehrer dort unterrichten Kinder der Grund- und Mittelstufe, also Sechs- bis 15-jährige. In der Nordpariser Vorstadt Asnières ist der Frust über das staatliche Schulsystem besonders groß - die Suche nach alternativen Erziehungsmethoden hat Konjunktur: * 1. Atmo Stadt Die Sonne geht auf und taucht die Wohnblöcke am Rand von Asnières in ein warmes Herbstlicht. Zwei Frauen treffen sich mit ihren Kindern auf dem Parkplatz. Vanessa bringt die Jüngeren in Krippe und Vorschule, Chimène Kwengoua fährt die Älteren in die Grundschule. Beide Mütter sind erleichtert, dass ihre Kinder in die neue Privatschule Antoine de Saint-Exupéry eingeschult wurden. Obwohl die Schule nicht staatlich anerkannt ist und sie dort 750 Euro pro Jahr bezahlen müssen. 2. Mutter Vanessa: "Wir haben die Schule gewechselt, weil Enzo in seiner alten Schule misshandelt wurde. Er wurde geschubst, hat Fußtritte bekommen und man hat ihn sogar erpresst. In den staatlichen Schulen herrscht keine Disziplin. Schon als Enzo in der Vorschule war, wollten wir ihn in einer Privatschule anmelden. Hier konnten wir endlich einen Platz ergattern." Der 7-Jährige ist schmächtig. Er setzt sich neben Aaron auf die Rückbank, der ihn um zwei Köpfe überragt. Chimène Kwengoua schnallt die Kinder an, fährt los. Die Privatschule liegt im Zentrum von Asnières. Dort hat der Träger, die Stiftung "Espérance Banlieues", ein leer stehendes Schulgebäude angemietet. Der Schuldirektor habe sie beim Aufnahmegespräch vor allem gefragt, ob sie das Konzept der Schule gutheiße, erzählt Kwengoua. Die Noten ihres Sohnes hätten keine Rolle gespielt. 3. Mutter Kwengoua: "Sie verlangen eine enge Partnerschaft mit den Eltern, das finde ich gut. Die Lehrer informieren uns regelmäßig: In diesem Bereich macht Aaron Fortschritte, dort hat er Schwierigkeiten. Was meinen Sie dazu? Sie wollen die Kinder in der Banlieue erziehen und ihnen Wissen vermitteln, damit sie nicht mehr benachteiligt sind." Chimène Kwengoua ist Französin, ihre Eltern stammen aus Kamerun. Ihr gefällt auch, dass die Schule großen Wert auf die Vermittlung der französischen Geschichte legt: 4. Mutter Kwengoua: "Zuallererst sind unsere Kinder Franzosen. Unsere Herkunft verleugnen wir natürlich nicht, aber unser Land ist jetzt Frankreich. Wir müssen unsere Rechte und Pflichten kennen und auch die Geschichte. Damit bin ich absolut einverstanden." 5. Atmo Der Schultag beginnt mit einer Zeremonie. Lehrer und Schüler stellen sich im Rechteck auf, der Direktor mahnt zur Stille. 6. Atmo "Nehmen Sie die Hände aus den Taschen, legen Sie die Mäntel ab, damit man Ihre Uniformen sieht", verlangt Patrick Bergot. Der 53-Jährige siezt die Kinder. Das gehört zur Pädagogik hier: Die Sechs- bis 12-Jährigen sollen spüren, dass sie respektiert werden. Alle Mädchen tragen weinrote Pullover, Jungen grüne Kapuzenpullis. Die Schulkleidung sei Zeichen für die Solidarität unter den Schülern, erklärt der Direktor. Die Rituale wirken an diesem Vormittag noch ungewohnt - auch der Schulleiter ist im Umgang mit den Kindern etwas hölzern. Bis zum Sommer war Bergot noch Finanzmanager in London. 7. Atmo Die Schüler sollen erklären, warum hier jeden Morgen Fahnen gehisst werden - das ist an französischen Schulen sonst nicht üblich. 8. Atmo Während Kinder und Erwachsene die Marseillaise schmettern, dürfen drei Schüler, die sich durch vorbildliches Verhalten ausgezeichnet haben, die Fahnen am Mast hoch ziehen. Dann ist es Zeit für den Unterricht. 9. Atmo Patrick Bergot - grauer Anzug, Krawatte, glänzende Lederschuhe - lehrt selber Englisch und Biologie. Die Übung dafür habe er bei den eigenen vier Kindern gesammelt, erklärt er, so als käme das einer Ausbildung gleich: Er habe ihnen bei den Hausaufgaben geholfen. Mit seinem feinen Outfit und den tadellosen Manieren wirkt der schlanke Mann ein bisschen unnahbar. Auf die Frage, warum er der internationalen Finanzwirtschaft den Rücken gekehrt hat und von London nach Paris gezogen ist, um eine Schule für Banlieue- Kinder aufzubauen, antwortet der Direktor: Er habe einen inneren Drang verspürt. 10. O-Ton Bergot: "Die verschiedenen Attentate in den vergangenen Jahren haben mich aufgeschreckt. Der Anschlag auf Charlie Hebdo im Januar hat dann den Ausschlag gegeben: Es reicht einfach nicht mehr, auf dem Sofa zu sitzen und Soziologie zu betreiben. Ich will wenigstens ein paar Jahre meines Lebens geben, um mögliche Lösungen anzubieten." 11. Atmo Eine blonde Frau macht sich im Lehrerzimmer einen Tee. Hedwige Hallopeau ist Französischlehrerin. 13 Jahre lang hat sie in einer staatlichen Banlieue-Schule unterrichtet, im Collège, der Mittelstufe, wo die Heranwachsenden besonders disziplinlos sind. Jetzt ist sie an die Ecole Antoine de Saint-Exupéry gewechselt, wo es deutlich kleinere Klassen gibt: 15 Schüler, das soll auch in Zukunft die Obergrenze sein. 12. O-Ton Hallopeau: "Hier sind alle Lehrer bereit, auch die Rolle des Erziehers zu übernehmen. In den staatlichen Schulen wollen sich viele nur auf ihr Fach konzentrieren. Ich bin aber absolut überzeugt: Man kann nur dann gut unterrichten, wenn man zugleich erzieht. Das wollen wir hier alle, das ist eine große Bereicherung." 13. Atmo Aber auch ein kräftezehrendes Engagement: Die Lehrer arbeiten von 9 bis 18 Uhr ohne Pause. Selbst in der Mittagszeit. Die 50 Schüler strömen in den Speisesaal. Eine Lehrerin fordert sie auf, kurz die Augen zu schließen und für einen Moment der Stille zu sorgen. Das funktioniert. Dann setzen sich Lehrer und Kinder nebeneinander an die Tische. Jeder packt seine eigene Mahlzeit aus - so entsteht auch kein Konflikt, ob die Nahrung Hallal ist oder nicht. Zwei Mädchen wärmen ihr Essen in der Mikrowelle auf. 14. Atmo Mädchen Die neue Schule gefällt mir viel besser. Wir unternehmen mehr und die Lehrer ermutigen uns sehr, selbst wenn mir Fehler machen. 15. Mädchen In meiner alten Schule gab es Schlägereien, erzählt Jasmina. Ein Schüler musste ins Krankenhaus, weil er am Kopf blutete. Das hat mir Angst gemacht. Hier gibt es weniger Gewalt und wenn, dann greifen die Lehrer sofort ein. 16. Atmo Nach dem Essen steht Sport auf dem Programm. Patrick Bergot sieht wie verwandelt aus: Statt Schlips und Anzug trägt er jetzt T-Shirt, Shorts und Trillerpfeife. Er trommelt die Kinder im Hof zusammen. Sechs Schüler müssen allerdings in einer Klasse bleiben, sagt der Direktor, und ruft ihre Namen auf. 17. O-Ton Bergot: "Sie werden an diesem Nachmittag den Unterricht nachholen, den Sie versäumt haben und Ihre Lücken schließen. Zwei Lehrer helfen Ihnen beim Lernen, damit Sie Montag früh wieder das erforderliche Niveau haben." Alle anderen werden belohnt: Weil sie gut gelernt haben, findet der Sportunterricht ausnahmsweise im Park statt. Direktor und Lehrer machen sich mit den Schülern auf den Weg. Die Anderen Das Schuljahr ging zu Ende, es roch gut nach großen Ferien. Ich nenne sie die langen Ferien. Am schlimmsten ist es, zuzusehen, wie die Cité sich leert. Marwan und sein Clan im vollgestopften Minivan zusammengepfercht. [..] Abdu ging nach Mali. Mit dem Flugzeug. Das hatte Stil.[..] Ich habe mich aufs Sofa fallen lassen und geschmollt. [..] Ich war neidisch. Auf ihre umständliche Reise, die sie nach Hause brachte. Zwar waren sie Franzosen, aber sie blieben doch bis auf die Knochen Araber. Im Sommer wäre ich gerne Araber gewesen. Bis auf die Knochen. Stattdessen bin ich in den Louvre gegangen, damit ich auch mal auf die andere Seite der Stadtautobahn komme. Klar ist es auch schön dort, da konnte man nicht meckern. Aber es ist auch entmutigend, diese ganzen Meisterwerke eines neben dem anderen aufgereiht zu sehen. Zu sehen, wozu ein einzelner Mensch fähig ist, während ich unfähig bin, meine Schnürsenkel richtig zu binden. Reportage 5 : Heißes Pflaster: "La Grande Borne" in Grigny Häufig musste es ganz schnell gehen: Als nach dem Zweiten Weltkrieg neue Siedlungen in Frankreich entstanden, um die akute Wohnungsnot zu lindern, setzten viele Stadtplaner auf Hochhäuser. Ganz anders dagegen: Grigny südlich der Hauptstadt. In der Siedlung "La Grande Borne" mit 3.600 Sozialwohnungen gleich neben der Autobahn haben die Wohnblöcke lediglich drei bis vier Stockwerke - in sanften Kurven schlängeln sie sich über ein weites Wiesengelände. Hier wollte Architekt Emile Aillaud vor 50 Jahren eine Utopie umsetzen: kinderfreundlich, menschenwürdig - so ganz anders als die tristen Betonburgen der übrigen Vorstädte. Aus dem Gartenparadies ist in 5 Jahrzehnten allerdings ein Ghetto geworden. Das Viertel ist heute ein Auffangbecken, vor allem Einwanderer aus Schwarzafrika finden hier eine erste Bleibe. Die Werte der Republik werden in diesem Umfeld auf einen harten Prüfstand gestellt. Sollte die Jugend aus den Vorstädten noch einmal revoltieren - in Grigny könnte die Lage besonders brenzlig werden: * 1. Atmo La Grande Borne, 25 Kilometer südlich von Paris. Im Büro des Mietervereins sitzt Bernard Moustraire mit zwei Nachbarn bei Kaffee und Gebäck. Der 70-Jährige schüttelt seinen dichten weißen Lockenkopf: 2. O-Ton Moustraire: "Und du hast wirklich gar nichts gehört? Die Polizei hat gestern Nacht die Flucht ergriffen. Sie wurde von einem Hausdach aus mit Molotow-Cocktails beworfen." Die Nachbarin hat Lärm gehört, aber gesehen hat sie nichts. Das ist ihr auch lieber so. Nachfragen von Fremden sind hier unerwünscht. Bernard Moustraire schlägt plötzlich einen gereizten Ton an. 3. O-Ton Moustraire: "Hier ist immer was los, aber ich mag es nicht, wenn darüber berichtet wird, das rückt uns wieder in ein schlechtes Licht." Am Tag darauf steht es in wenigen Zeilen in der Lokalzeitung: Im Problemviertel La Grande Borne haben 30 vermummte Steinewerfer ein Polizeiauto angegriffen. Die Polizisten retteten sich zu Fuß. So etwas kommt häufiger vor, sagt Bernard Moustraire. 4. O-Ton Moustraire: "Sicher, das war spektakulär, aber es betraf nur eine einzige Straße. Kein Vergleich zu den Unruhen vom Jahr 2005. Sehen Sie.." Er steht auf und geht zu einer Wand, die von oben bis unten mit Fotos aus der Siedlung plakatiert ist. Auf einigen Bildern sind schwer bewaffnete Polizisten mit Helmen und kugelsicheren Westen zu sehen. In Grigny wurden bei den landesweiten Unruhen vor 10 Jahren die ersten Schüsse auf Polizisten abgefeuert. Zahlreiche Autos und drei Schulen gingen in Flammen auf. 5. O-Ton Moustraire: "Damals standen 60 Mannschaftswagen mit Bereitschaftspolizisten bei uns. Aber auch danach gab es noch enorme Spannungen. Hier auf diesem Foto sehen Sie, wie Bewohner, die ihre Miete nicht mehr zahlen können, auf die Straße geworfen werden. Das ist auch unerträglich und genauso ein Beispiel für Gewalt wie das, was 2005 passiert ist." Segregation, die Ausgrenzung der Ärmsten, ist für Moustraire die Ursache aller Probleme in der Siedlung. Er hat die Entwicklung der Kommune lange begleitet: Bis zur Rente führte er hier eine Firma, die Menschen bei der Integration in die Gesellschaft geholfen hat. Als Vorsitzender des Mietervereins ist er auch heute noch täglich mit den Sorgen der Bewohner konfrontiert. 6. O-Ton Moustraire: "In dieser großen Siedlung gibt es überhaupt keine Mischung von Mietern und Eigentümern. Wir leben vielmehr alle in Sozialwohnungen. Und weil es große Appartements sind, wohnen hier vor allem kinderreiche Familien. Die Behörden schicken Menschen zu uns, die so arm sind, dass sie nirgendwo sonst eine Wohnung bekämen. Alle Spannungen haben wirtschaftliche Ursachen." Moustraire beschreibt einen Teufelskreis: Grigny ist die Stadt der Kinderwagen und Buggys. Fast 700 Babys kommen hier Jahr für Jahr auf die Welt. Die Hälfte der Bewohner ist jünger als 24 Jahre. Doch jeder zweite Jugendliche verlässt die Schule ohne Abschluss und jeder dritte junge Erwachsene ist arbeitslos. Selbst wer ein gutes Diplom hat, findet nur schwer einen Job, wenn er als Wohnort Grigny angibt. Wenn die Zukunft derart düster erscheint, lockt das schnelle Geld umso mehr: In der Siedlung blüht der Drogenhandel. Die Kunden kommen sogar aus Paris, sagt Bernard Moustraire. Die Dealer betreiben ihr Geschäft in aller Öffentlichkeit. Wer in La Grande Borne lebt und wegsieht, hat von ihnen nichts zu befürchten. Aber wer von außen kommt, muss mit Schikanen rechnen. Moustraire geht auf die Place des Herbes, den Platz der Kräuter, zeigt auf die vielen leer stehenden Ladenlokale. 7. O-Ton Moustraire: "Die Apotheke hier, das ist einzige Apotheke für 11.000 Menschen. Die Post ist geschlossen, der Tabakwarenladen auch. Dort war das Büro der Familienkasse - auch das ist geschlossen." Im März war ein Botaniker in der Siedlung. Er sollte den prächtigen Mammutbaum untersuchen, der vor 50 Jahren zur Grundsteinlegung der ersten Häuser gepflanzt worden war. Er wurde von Vermummten überfallen und niedergestochen. Ärzte und Pflegerinnen weigern sich inzwischen, in La Grande Borne Hausbesuche zu machen. 8. Atmo Einige Einwohner wollen sich jetzt wehren. Sie haben sich zu einem Kollektiv zusammengeschlossen. "Elan Citoyen", so der Name des Vereins, der sich als Sprachrohr der Bürger von Grigny versteht und das Zusammenleben verbessern will. An diesem Sonntag haben sich die Mitglieder zum Picknick in einem städtischen Saal getroffen. Ein junger Mann hält die Begrüßungsansprache. 9. O-Ton Souleymane Hissourou, 29 Jahre alt, ist aus Mali ausgewandert, als er 19 war, um in Frankreich eine Ausbildung zu beginnen. Grigny ist sein Zuhause geworden. 10. O-Ton Hissourou: "Nach den Terroranschlägen, die unser Land, Frankreich, im Januar getroffen haben, sind unsere Stadt und ihre Einwohner wieder einmal stigmatisiert worden..." Die Anspielung ist eindeutig: Amedy Coulibaly, ebenfalls malischer Abstammung, ist in La Grande Borne aufgewachsen, seine Familie lebt immer noch in der Siedlung. Zwei Tage nach dem Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo hat der islamistische Terrorist einen Supermarkt für koschere Lebensmittel in Paris überfallen, mehrere Geiseln genommen und vier Menschen ermordet. Die Polizei hat ihn bei der Erstürmung des Ladens erschossen. Das Attentat und die Tatsache, dass ihre Stadt erneut für negative Schlagzeilen gesorgt hat, habe viele Einwohner bitter berührt, sagt Hissourou. Als spontane Reaktion auf die Attentate haben er und seine Mitstreiter unmittelbar nach den Anschlägen am Bahnhof von Grigny und auf dem Wochenmarkt Schreibtafeln aufgestellt, und die Menschen aufgefordert, Luft abzulassen. Marie-Paul Bamba ist eine von 350 Bewohnern, die dort ihre Wut und Sorgen geäußert haben. 11. O-Ton Bamba: "Ich habe große Angst um meinen Sohn, weil er jetzt schon mit Drogenverkäufern in Kontakt kommt, obwohl er erst 12 Jahre alt ist. Unser Viertel ist nicht sicher. Die Großen bilden die Kleinen aus, machen sie zu Spähern. Wir müssen zusammenhalten, damit dieses System endlich aufhört. Wir alle wollen doch, dass unsere Kinder im Leben erfolgreich sind." Die 50-Jährige trägt raffiniert geflochtene Zöpfe und ein weites, afrikanisch gemustertes Kleid. Bamba stammt ebenfalls aus Mali. Jetzt will sie sich in Grigny engagieren, damit sich ihre Landsleute der Verantwortung stellen. 12. O-Ton Bamba : "Es gibt Väter, die sagen ständig zu ihren Kindern: Geht raus, spielt auf der Straße. Manche sind polygam und müssen 12 oder 15 Kinder in der Wohnung unterbringen. Wie oft nehme ich ein Kind an die Hand und bringe es zu den Eltern zurück. Eigentlich habe ich dazu kein Recht. Aber jetzt kann ich sagen: Ich mische mich ein, weil ich Mitglied von ‚Elan Citoyen' in Grigny bin. Passt auf eure Kinder auf, erzieht sie anständig, lasst euch nicht entmutigen." * "Verbaute Zukunft - Zehn Jahre nach den Unruhen in den französischen Banlieues" Das waren "Gesichter Europas" mit Reportagen von Bettina Kaps. Die Literaturauszüge stammten aus dem Buch "Mein Vater ist Putzfrau" von Saphia Azzeddine, erschienen im Wagenbach-Verlag Berlin, gelesen von Jean-Paul Baeck. Musikauswahl und Regie: Simonetta Dibbern Ton und Technik: Eva Pöpplein und Petra Pelloth Am Mikrofon war Andreas Noll. * 2 2