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Atmo / Musik 1 bis hinter Titel Sprecher vom Dienst: Mehr Genforschung, mehr Heilung? Die Vision von der individualisierten Medizin Eine Sendung von Barbara Zillmann Sprecherin Jetzt geht es um dich - so die Botschaft einer Internet-Seite der Uni Greifswald, Fachbereich Medizin, Projekt Gani-Med. Eine junge Frau hält uns strahlend ihren Fingerabdruck entgegen, ein paar leichte weiße Linien auf einer Glasscheibe, daneben der Schriftzug: Zitatorin Ich bin einzigartig, meine Therapie auch. Individualisierte Medizin - Der Mensch im Mittelpunkt. Sprecherin Endlich, denkt man. Keine Behandlung mehr von der Stange, ausreichend Zeit zum Gespräch mit dem Arzt, vielleicht sogar mehr Verständnis der Krankenkasse für meine persönlichen Bedürfnisse. Doch der Fingerabdruck steht für eine ganz andere Individualität: für den genetischen Code. Er gilt vielen Forschern, Vertretern der Gesundheitsindustrie und der Politik als Schlüssel für die Medizin der Zukunft. Die reicht von der Gentherapie, dem Austausch eines defekten Gens durch ein intaktes, über die Gendiagnostik, zum Beispiel bei der Nachwuchsplanung bis hin zur individuellen Therapie - für manche zurzeit der Paradigmenwechsel in der modernen Heilkunde. So unterschiedlich die Erbanlagen, so verschieden können auch Risiko und Verlauf einer Krankheit sowie die Reaktion auf Medikamente sein. Wer darüber Bescheid wisse, ob Arzt oder Patient, könne - so die Idee - eine maßgeschneiderte Therapie finden. O- Ton 2 Herholz Es ist eben nicht wie in der Bekleidungsindustrie, dass man ein maßgeschneidertes Produkt hat, beispielsweise einen Anzug, der nur mir passt. Das wird's bei Medikamenten nicht geben, diese Medikamente wären ja dann auch unbezahlbar, das heißt, hier ist sicher dieser Begriff "individualisierte Medizin" auch irreführend, "personalisierte Medizin", "maßgeschneiderte Medizin", das wird hier nicht der Fall sein. Sprecherin Harald Herholz ist Arzt bei der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen. Auch für Wolf- Dieter Ludwig, Onkologe am Helios-Klinikum Berlin-Buch, ist der Hype um die Gene ärgerlich. O- Ton 3 Ludwig Die Gefahr, die ich sehe, dass wir derzeit aufgrund einer gewissen Gläubigkeit, dass diese molekulargenetischen Befunde alle unsere Probleme lösen werden, zu viele Untersuchungen veranlassen, mit diesen Ergebnissen nicht richtig umgehen, und vor allem natürlich nicht die Geduld haben, die Bedeutung, die Signifikanz dieser Untersuchungsergebnisse zu überprüfen und erst dann in den klinischen Alltag einzuführen, wenn sie ihren Stellenwert, ihren Nutzen tatsächlich bewiesen haben. Sprecherin Daniela Steinberger, Humangenetikerin aus Frankfurt am Main, ist dagegen ungeduldig. Viel genetisches Wissen sei bereits medizinisch nutzbar - für Ärzte und Patienten. O-Ton 4 Steinberger Und da möchten wir eben Teil einer neuen Entwicklung sein dadurch, dass wir Informationen zumindest für unseren Bereich aufbereiten und für möglichst viele Menschen zugänglich machen. Musik als Trenner Sprecherin Anlass zu Forschungseuphorie und Hoffnungen gab ein historischer Moment in der Wissenschaftsgeschichte: im Jahr 2001 verkündeten Forscher, sie hätten das menschliche Genom, die menschliche Erbsubstanz in Grundzügen entschlüsselt. Aus den Gendaten mehrerer gesunder Personen hatte man eine Art Standardbausatz entwickelt. Das beflügelte die Erwartungen an Forschung, Fördergelder, Fortschritt. Und einen genaueren Blick auf Krankheiten: O-Ton 5 Ropers Die Aufklärung der Grundstrukturen des menschlichen Genoms ist natürlich 'ne Voraussetzung dafür, dass man Abweichungen davon feststellt. Sprecherin Hans Hilger Ropers. Er ist Direktor am Max-Planck-Institut für Molekulargenetik in Berlin. Sein Forschungsschwerpunkt: Erbkrankheiten. O-Ton 6 Ropers Und wir sind, seit wir diese Grundstruktur kennen, eben praktisch am Beginn der wirklichen Krankheitsforschung. Sprecherin: Auf der DNA, der Trägerin unserer Erbinformation, sind die Baupläne unserer Zellen, unseres ganzen Körpers gespeichert. Die Abfolge von vier Molekültypen legt detailliert den Aufbau von Proteinen fest. Proteine, das sind sozusagen die Bausteine, die Arbeiter und die Maschinen unserer Zellen. Sie definieren wie sich eine Zelle verhält und welche Funktion sie im Körper erfüllt. Wenn die DNA beschädigt wird, Mutationen auftreten, also der Bauplan verändert wird, kann das zu Fehlern im Proteinaufbau führen und weitreichende Konsequenzen für den Körper haben. O-Ton 7 Ropers Und jede Abweichung, auch der Austausch eines einzelnen Bausteins kann im Prinzip dazu führen, dass ne Krankheit entsteht. Das wird, wie sich herausstellt, nur für einen ganz kleinen Teil aller Austausche, Bausteinaustausche tatsächlich der Fall sein, also Krankheiten resultieren nur von einem kleinen Teil der möglichen Veränderungen, und das ist auch gleichzeitig das Problem: Es hat sich nämlich herausgestellt, dass jeder, Sie und ich, sich in etwa ein Tausendstel der Bausteine eben unterscheidet. Und das ist jetzt ein Riesenproblem, herauszubekommen, welche von diesen ein Tausendstel aller Bausteine tatsächlich zu Krankheiten führen. Sprecherin Eine Suche nach Stecknadeln im Heuhaufen. Zunächst versuchte man in einer Art Breitbandforschung, aus den Gendaten Kranker die Übeltäter herauszufischen - und konzentrierte sich auf Volkskrankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck. Diese hängen aber von Umwelt, Lebensstil und Alter des Patienten ab. Mindestens so sehr wie von der Veranlagung. O-Ton 8 Ropers Und das ist der wahre Grund, weshalb die Erforschung dieser Krankheiten eben weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind. Sprecherin Es zeigte sich, dass längst nicht alle Gen-Defekte zu einer Krankheit führen, bei vielen Erkrankungen mehrere genetische Veränderungen zusammenkommen und manche Defekte über Generationen unbemerkt schlummern. Es sind wenige Erkrankungen für die nur ein Gen verantwortlich ist, meist sind es schwerwiegende Erbkrankheiten, wie zum Beispiel Mukoviszidose. O-Ton 9 Ropers Komplexe Krankheiten sind eben komplex und deshalb schwer zu untersuchen. Weshalb man jetzt, nach zehn, zwölf Jahren, sich anders entschieden hat, und sagt, man fängt jetzt an, 1:1 nach Genen zu suchen, die Krankheiten machen. In der Hoffnung, dass man auf diese reduktionistische Weise dann auch Einblicke in die Ursache von komplexen Krankheiten bekommt. Musik 3 unter Zitat Zitatorin Die "Individualisierte Medizin" ist hochaktuell, denn eine noch stärker auf die individuellen Bedürfnisse und Voraussetzungen des Patienten zugeschnittene Medizin wird greifbar. Sprecherin So steht es auf der Homepage des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. In Fachkreisen ist es ein offenes Geheimnis, dass die Bundesregierung zunächst mit wenig Erfolg in die genetische Erforschung der Volkskrankheiten investierte. Die Aussicht schien verlockend, für verbreitete Krankheiten zielgenaue Therapien zu finden und damit unnötige Medikamentenausgaben zu vermeiden - oder gar das Gesundheitssystem vor einem Kollaps zu bewahren. Der neue Trend greift auch eine Alltagserfahrung auf: Medikamente zeigen nicht die gewünschte Wirkung. O-Ton 10 Herholz Die Patienten unterscheiden sich dadurch, dass sie gewisse chemische Substanzen, also auch Medikamente, unterschiedlich verstoffwechseln, das heißt, im Körper existieren Stoffe, die diese Medikamente umbauen, und da ist dann die Frage, wie schnell werden sie umgebaut oder werden sie überhaupt oder gar nicht umgebaut. Sprecherin Harald Herholz ist Arzneimittelexperte bei der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen. Er weiß: ein Medikament wirkt oft nur bei einer kleinen Zahl von Patienten, außerdem: ist es zu hoch oder zu niedrig dosiert, kann es den Körper sinnlos belasten oder gar vergiften. Auch das kann mit den Genen zusammenhängen. Wer möchte diesen Prozess von Versuch und Irrtum nicht gern abkürzen? Publikumswirksam konnte sich ein breit angelegter Forschungsverbund von Bund und Ländern, Wissenschaft und medizinischen Hightech Unternehmen bilden. Das Gani - Med - Projekt der Uni Greifswald etwa bekommt über fünf Jahre 14 Millionen Euro aus Steuergeldern. Zugleich wird hier eine wissenschaftliche Gendatenbank aufgebaut. Herz-, Magen- oder Diabetes-Patienten werden eingeladen, Blut, Speichel oder Urin als Material der Forschung zur Verfügung zu stellen. Zitatorin Auf dieser Grundlage wollen wir Vergleiche mit anderen Behandlungsformen durchführen. Dadurch kann in einer Zeit knapper finanzieller Mittel ein Beitrag dazu geleistet werden, Ihre bestmögliche Behandlung sicherzustellen. Musik Zitator Meine Eltern haben mein Genom noch vor meiner Geburt bestimmt und ein mir selbst entsprechendes Computermodell angelegt. Wurde ich krank, konnten alle in Frage kommenden Medikamente zunächst an diesem Modell (...) auf ihre Wirkung überprüft werden. Sprecherin Eine fiktive Geschichte mit dem Titel "Der Virtuelle Patient". Alexander Kühn, ein junger Wissenschaftler, bekam im Essay-Wettbewerb "Medizin 2050"dafür einen Preis. Ausgeschrieben und überreicht von Annette Schavan, der Bundesministerin für Bildung und Forschung. Zitator Die wirkliche Behandlung mit den optimalen Medikamenten (...) und der richtigen Dosierung erfolgte (...) nach ausgiebigen Tests an diesem Modell, meinem virtuellen Crash-Test-Dummy sozusagen. Denn diesen konnte man ja resetten, nachdem er "gestorben" war, mich nicht. Musik abblenden Atmo 2 Kühn Genlabor /Rechnerraum Atmo - Rauschen - Tippen O-Ton 11 a Kühn Das ist zum Beispiel n Rezeptor, das ist n Ligant, die können untereinander interagieren, einen Komplex bilden ... Sprecherin Im echten Leben sitzt Alexander Kühn vor dem Computer. In den technischen Räumen des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik werden Genome sequenziert, die Erbsubstanz von Patienten ausgelesen. Mit diesen Daten wird aber auch diagnostische Software weiterentwickelt. Der 33 jährige Informatiker und Biologe zeigt das Herzstück seiner Arbeit: ein Computerprogramm, das die Reaktionen verschiedener Gene, z. B. in Tumorzellen, gleichsam "durchexerzieren" kann. Nur 550 bis 600 Gene habe er im Modell, obwohl es rund 24.000 bei jedem Menschen seien. Erst ein Anfang, sagt er, aber die wichtigsten Erkenntnisse der Genomforschung aus Studien und Datenbanken weltweit seien hier eingearbeitet. Ohne gute Software - undenkbar. O-Ton 12 Kühn Wir können natürlich noch bisschen mehr, wir haben direkt Medikamente in das System mit eingegeben, so dass wir vorhersagen können, wie die Auswirkungen von bestimmten Medikamenten sind, und das würde dann im Endeffekt so aussehen: Atmo Sprecherin Links verschiedene Medikamente, "Drugs", oben verschiedene Komponenten der Tumorzelle sowie einer gesunden Zelle, jeweils in Daten umgerechnet. Auf der Bildschirmfläche flimmernde bunte Kästchen. O-Ton 13 Kühn Und dann kann man sehen, dass halt bestimmte Medikamente auf bestimmte Komponenten Effekte haben. Sprecherin Wie stark, das sieht man an den Farben. Und manchmal sieht man auch, dass ein Wirkstoff in der gesunden Zelle eine unerwünschte Nebenwirkung anrichtet. O-Ton 14 Kühn Mein Ziel ist, dass wir durch diese Computerprogramme, die wir entwickeln, den handelnden Ärzten n Tool zur Verfügung stellen, das ihnen bei der Auswahl der richtigen Therapie für Patienten hilft. Er testet im Computer ein Medikament, und der Computer muss ausspucken: wirkt - wirkt nicht. Sprecherin Vorausgesetzt, die genetischen Daten des Patienten sind eingespeist. Geht es nach Alexander Kühn, so übernehmen wir in Zukunft teilweise selbst Diagnose und Therapie. O Ton 15 Kühn So wie man heutzutage ganz selbstverständlich n Smartphone dabei hat, nicht mehr zehn Minuten auf n Bus wartet, sondern da nimmt man sein App raus und weiß, wann der Bus kommt, und so stell ich mir halt auch vor, dass wenn man merkt, dass man krank wird, ganz selbstverständlich sein Handy zieht und nachschaut, woran könnte das denn liegen. Meine Vision ist ja eigentlich, dass man vorhersagen kann, wann bei jemand eine Krankheit ausbricht und schon bevor die Krankheit überhaupt existiert, präventiv eingreifen kann. Aber das ist noch Science-Fiction. Musik 5 Sprecherin Nicht ganz. Forscher und Unternehmen arbeiten bereits an dem Zubehör, das man für solch ein Szenario braucht - neue Speichermedien, Biosensoren, die am Körper haften, Anwenderprogramme für Laien und Fachleute. Atmo -Ton 16 Steinberger Sie sehen, wir arbeiten immer wieder mit diesem Element, mit diesen Grundfarben, die stellvertretend für die DANN-Grundbausteine stehen. Sprecherin Daniela Steinberger zeigt ein Internetportal über Genetik und genetische Dienstleistungen, das sie erarbeitet hat. Sie ist Ärztin für Humangenetik in Frankfurt am Main. Vor zwei Jahren hat sie - neben der Labortätigkeit für Krankenhäuser und Arztpraxen - mit Fachkollegen eine Firma gegründet, die bio-logis GmbH, mit Sitz im "Innovationszentrum für Biotechnologie". Hier können Patienten seit kurzem eine Genanalyse bekommen - auch ohne ärztliche Überweisung. O-Ton 17 Steinberger Der Tabubruch besteht darin, den Menschen direkt die Informationen anzubieten und nicht notwendigerweise immer in Begleitung eines Arztes. Wir möchten natürlich, dass Menschen von einem Arzt begleitet werden, wenn sie denken, es ist an der Zeit, aber ich glaube auch, dass es wichtig ist, bestimmte Erkenntnisse frei zugänglich zu machen, zu demokratisieren, wenn man so möchte. Ärzte können einfach aufgrund von Kapazitätsgründen nur ein bestimmtes Quantum an neuer Information aufnehmen, aber wenn nun informierte Patienten zu ihnen kommen und sie auch wieder mit neuer Information versorgen, ob sie das möchten oder nicht - es sorgt dafür, dass die Dinge sich verändern. Zitatorin Die eigenen Gene kennen, verstehen und nutzen - die Medikamententherapie auf die eigenen Gene abstimmen. Sprecherin So wirbt Daniela Steinberger für ihre Dienstleistung. Man kann Speichel oder anderes Material zur Genanalyse einsenden - 460 Euro kostet das. Eine Telefonberatung klärt Fragen, auf Wunsch anonym und ein Internetportal steht zur Verfügung. Darin sind die verschlüsselten Gen-Daten des Kunden nur für diesen und seinen Arzt abrufbar. Dazu gibt es wissenschaftliche Informationen und bei Bedarf auch einen ärztlichen Befund. Allerdings untersucht die Ärztin in diesem Rahmen nur eine Auswahl von Gen-Veränderungen, die keine schweren Krankheiten anzeigen, sondern eher Dispositionen. O-Ton Steinberger 18 Das bieten wir im Moment in einem Gesamtpaket an, was aus verschiedenen Bereichen besteht, nämlich genetischen Veränderungen, die was für den Medikamentenstoffwechsel bedeuten, die Kategorie "Carrier-Status", das heißt, bin ich Anlageträger für Veränderungen, die bei den Nachkommen etwas bewirken können, wenn mein Partner auch eine Veränderung im selben Gen hat, und Prävention im engeren Sinne, das heißt Varianten, die dazu führen, dass ich ne höhere Disposition habe, von bestimmten Dingen betroffen zu sein, beispielsweise Thrombose oder der Eisenspeicherkrankheit. Sprecherin Die erbliche Stoffwechselkrankheit, bei der zuviel Eisen im Körper lagert, werde oft übersehen, sagt Daniela Steinberger. Man könne sie, wenn man Anlageträger ist, durch einfache Kontrolluntersuchungen im Blick behalten. Bei überraschenden Befunden zu schweren Krankheiten kontaktiert sie die behandelnden Ärzte, oder vermittelt eine ausführliche genetische Beratung. Musik Sprecherin So wie in Frankfurt am Main entsteht derzeit an vielen Orten eine Infrastruktur mit Blick auf spätere Kunden, Interessenten, Ärzte und Patienten. Sowohl Daniela Steinberger in Frankfurt als auch Alexander Kühn in Berlin bekamen für ihre Initiativen Preise. O-Ton 21 Kühn Unser Ziel ist natürlich, diese Modelle, die wir jetzt haben, noch besser zu machen und wir wollen natürlich auch diesen Paradigmenwechsel in den Köpfen von Medizinern und der Bevölkerung schaffen. Sprecherin Wissenschaft, Politik und Unternehmen, so scheint es, sind unter dem Banner der "personalisierten" Medizin ein Dreiecksverhältnis eingegangen, das kritische Fragen an den realen Nutzen des "Paradigmenwechsels" meist ausspart. Der Klinikdirektor Wolf-Dieter Ludwig leitet die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. O-Ton 22 Wolf-Dieter Ludwig Also zunächst reagier ich allergisch bei dem Begriff Paradigmenwechsel, Ich bin 30 Jahre in der Klinik, ich hab schon einige Paradigmenwechsel hier durchgelebt, als ich nach Buch kam, gab es den Paradigmawechsel Gentherapie, das war vor 17 Jahren, wenn Sie sich vorstellen, welche gentherapeutischen Ansätze heute im klinischen Alltag Verwendung finden, das sind sehr sehr wenige. Sprecherin Gentherapie, in den 90er Jahren entwickelt, ist der Versuch, ein beschädigtes Gen, das zu schweren Krankheiten wie Immundefekten führt durch eine intakte Variante auszutauschen. Bei dem heutigen "Paradigmenwechsel" geht es darum, Patientengruppen auf Basis molekular-genetischer Erkenntnisse optimal medikamentös zu therapieren. Aber den meisten Erfolg, so Ludwig, haben in der Krebstherapie bis heute traditionelle Zytostatika, Medikamente, die das Zellwachstum hemmen. O-Ton 23 Ludwig Im Augenblick muss ich nüchtern feststellen, dass die meisten Heilungen - medikamentösen Heilungen von Krebserkrankungen - mit sehr alten, sehr konventionellen Zytostatika möglich sind und wir bis auf wenige Ausnahmen von den neuen, zielgerichteten, gegen molekulare Strukturen gerichteten Medikamenten allenfalls kurze Verlängerungen des Überlebens erreichen, aber keine Heilungen. Sprecherin Neue Krebsmedikamente, die auf Genomforschung beruhen und ihre Wirksamkeit schon bewiesen haben, gibt es nur eine Handvoll - sie aber sind ein Hoffnungsschimmer. Der Wirkstoff Imatinib zum Beispiel hilft vor allem Leukämie- Kranken mit einer bestimmten Chromosomenveränderung. In den mutierten Zellen entsteht ein Enzym mit krebsfördernder Aktivität - und wird durch das Medikament blockiert. Oder ein Brustkrebsantikörper: es wirkt nur bei jenen 20 %, deren Gene ein bestimmtes Eiweiß, einen "Rezeptor" an der Zelloberfläche im Übermaß produzieren. Dort dockt es an. O-Ton 24 Ludwig Der große Vorteil dieser genetischen Erkenntnisse ist, dass ich heute wirklich in der Diagnose homogen erscheinende Gruppen, z.B. Bronchialkrebs, Lungenkrebs, Brustkrebs, Darmkrebs in Untergruppen aufteilen kann und diese Untergruppen anhand genetischer Merkmale sozusagen identifiziere und dann möglicherweise gezielter neue Wirkstoffe in diesen Untergruppen, die gewisse genetische Veränderungen aufweisen, einsetze - das ist ein kleiner Fortschritt, das ist in vielen Situationen nur mit einer geringen Verbesserung der Prognose verbunden, das wird aber, wenn wir es intelligent nutzen, mittelfristig sicherlich einen deutlicheren Fortschritt bedeuten, ich glaube aber, da brauchen wir mit Sicherheit 5-10 Jahre, bis wir einen größeren Schritt nach vorne machen. Sprecherin Der Onkologe spricht von "zielgerichteter Therapie" und nicht von personalisierter Medizin. Für neue Wirkstoffe ist er angewiesen auf gründliche Studien der Pharmaforschung. Lange hatte sie vor allem auf Blockbuster gesetzt, Medikamente mit Massenabsatz. Im Jahr 2000 erleichterte die europäische Arzneimittelbehörde den Herstellern, Medikamente für "seltene Erkrankungen" schneller zu vermarkten, sogenannte "Orphan Drugs". Seitdem investieren immer mehr Pharmafirmen in diese Nische. Das Schlagwort der "personalisierten Medizin" half dem Image. O-Ton 25 Ludwig Wir haben aber in den letzten Jahren bemerkt, dass diese Regelung missbraucht wurde von der Industrie, und sie zunehmend auch mithilfe der genetischen Fortschritte bei der Charakterisierung von Erkrankungen Untergruppen gebildet hat - Untergruppen von zunächst eigentlich eher häufigen Erkrankungen, und diese Untergruppen waren dann selten, und für diese seltenen Untergruppen hat man dann Orphan Drugs zugelassen, dadurch auch Vergünstigungen kassiert, und kaum sind sie auf dem Markt, dann (haben sie) viele Zusatzindikationen bekommen, und dann wird aus einem Nichebuster innerhalb kurzer Zeit ein Blockbuster und ein Beispiel ist das Imatinib, ein gutes Medikament, aber was genau über diesen Weg zu einem Blockbuster geworden ist. Sprecherin: Zunächst für eine Form der Leukämie zugelassen, wird das Medikament inzwischen auch bei bestimmten Magen-Darm- und Hauterkrankungen verschrieben. 90 Tagesrationen kosten über 10.000 Euro. O-Ton 26 Jahn Ich denke, die Preisbildung für innovative Medikamente folgt zu einem bestimmten Teil dem Forschungsaufwand, der damit verbunden ist. Die Entwicklung von Medikamenten, muss man generell sagen, ist komplizierter geworden. Es mag paradox klingen, aber dazu trägt auch die enorm und rasant wachsende Wissenschaft bei. Sprecherin Sigbert Jahn ist Medizinischer Leiter beim Pharma-Hersteller Merck-Serono in Frankfurt am Main. Das Unternehmen ist spezialisiert auf Biotechnologie und Krebsmedizin. O-Ton 27 Jahn Die forschenden Pharmaunternehmen versuchen Erkenntnisse der Genomforschung, aber auch der Eiweiß- und Zellforschung im Sinne der Biomarkersuche anzuwenden, und in klinischen Studien zu schauen, ob bei einer bestimmten Biomarkersituation der Patient auf eine eventuelle Therapie besser oder schlechter anspricht. Sprecherin Biomarker sind messbare biologische Merkmale, die bestimmte Zustände anzeigen: etwa ob ein Tumor gut- oder bösartig ist. Ein Biomarker kann ein Protein sein, das nur bei einer bestimmten Erkrankung auftritt, eine Veränderung im Genom - typisch für eine bestimmte Krebsart, oder auch ein Blutwert, der auf Diabetes hindeutet. Arzneimittelbezogene Biomarker zeigen, ob sich ein Medikament bei einem Patienten als wirksam erweisen könnte. Um das festzustellen, wird ein Test durch die Pharmaindustrie gleich mit angeboten: O-Ton 28 Jahn Ein Medikament durch einen Biomarker begleiten zu lassen, heißt also im Sinne der personalisierten Medizin, Patienten in bestimmte Gruppen einzuteilen, vielleicht Konfektionsgrößen gleich, eine passende Therapie anzubieten. Sprecherin: Eine besser passende, besser verträgliche, aber nach wie vor nicht immer heilende Therapie. 17 solcher Tandems - Medikamente mit verpflichtendem Voraus-Test - sind bereits in Deutschland zugelassen, hunderte weitere in der Entwicklungsphase. Dabei ist die zentrale "Arbeitsebene" heute immer die des Erbguts. Musikakzent Sprecherin Auf dem ureigensten Gebiet der genetisch orientierten Medizin, bei den Erbkrankheiten, hat die Genomforschung schon jetzt die Situation der Betroffenen erleichtert. Hans Hilger Ropers berät Eltern, die wegen eines geistig behinderten Kindes zu ihm kommen. Bis zu einer klaren Diagnose vergingen bisher im Durchschnitt 7 Jahre. Doch immer genauer und schneller können genetische Ursachen abgeklärt werden. Ropers selbst entschlüsselte Defekte auf dem X- Chromosom, die zu geistiger Behinderung führen können. O- Ton 30 Ropers Wir haben fast bei null angefangen. Das Ziel seinerzeit vor 15 Jahren war, etwa einen repräsentativen Anteil aller Gendefekte aufklären und diagnostizieren zu können. Heute, 15 Jahre später, sind wir bei 75 Prozent. Das heißt also, wenn jetzt eine Familie kommt können wir drei von vier Familien mit einer Diagnose nachhause schicken. Und das ist ein enormer Fortschritt, weil es Konsequenzen hat, denn dann, wenn man den Gendefekt kennt, muss in der Familie kein krankes Kind mehr geboren werden. Sprecherin Welche ethische Verantwortung tragen die Eltern mit diesem Wissen? Laut Gesetz steht ihnen die Entscheidung über eine Abtreibung zu. Doch in öffentlichen Debatten wird der Gedanke der Selektion kritisch beschworen. O-Ton 31 Ropers Für Betroffene ist das ne ziemlich akademische Diskussion, das kann ich Ihnen sagen. Die natürlich in unserer Bevölkerung beeinflusst ist durch die deutsche Geschichte - aber es handelt sich ja hier nicht um eine Maßnahme, die in irgendeiner Weise auf die Population, auf die Bevölkerung zielt, es sind ja nur Angebote, Möglichkeiten, die den Eltern zur Verfügung gestellt werden, um in der für sie schwierigen Situation überhaupt Handlungsoptionen zu haben. Sprecherin Und um zum Beispiel das Risiko der Behinderung bei einer weiteren Schwangerschaft abschätzen zu können. Ob vorbelastet oder unbelastet - die Möglichkeit genetischer Defekte steckt in jedem von uns. O-Ton 32 Ropers In dem Maße, wie auch über diese genetischen Grundtatsachen Einmütigkeit besteht in der Bevölkerung, wird sich die Frage der Diskriminierung von alleine klären. Weil eben jeder weiß oder zur Kenntnis nehmen muss, dass er selbst vielleicht für 20-30 Gendefekte Träger ist. Es ist ein reines Lotteriespiel. Musik Sprecherin Noch kostet eine Genanalyse je nach Umfang, Fragestellungen und Ausarbeitung zwischen 500 und 10.000 Euro. Bisher sind es nur wenige, zahlungskräftige Menschen, die diese Möglichkeit nutzen. Doch die Preise fallen. Amerikanische Kliniken stellen bereits eine komplette Genomsequenzierung für 1000 Dollar in Aussicht. O-Ton 33 Ludwig Gut, also die Ergebnisse der Genomsequenzierung, die bald sehr preisgünstig durchzuführen sein wird, inwieweit diese Daten für unsere Patienten in irgendeiner Form relevant sind, das kann derzeit kein Mediziner, kein Naturwissenschaftler sagen, weil wir werden dann mit einem riesigen Datenpool überhäuft werden, dessen Interpretation kein Mediziner beherrscht, dazu brauchen wir andere Wissenschaftler, die dann diese Daten hinsichtlich ihrer Aussagekraft bewerten. Sprecherin Wie werden wir mit Daten umgehen, wenn sie im Smartphone, in der Arztakte, auf Festplatten zu lesen sind? Wer bekommt Zugang zu diesen Daten? O-Ton 34 Herholz Ethisch sehe ich das Problem, dass die Informationen von Dritten verwendet werden, um zu selektieren. Angefangen von Versicherungen, bei Arbeitgebern, bei Banken, Krediten oder ähnlichem, da ist es natürlich fatal, wenn da plötzlich Risiken offenkundig werden, von denen man bisher nichts wusste. Sprecherin Die neue Forschungsrichtung wirft viele gesellschaftliche Fragen auf. Eine Medizin auf Basis genetischer Daten könnte, so fürchten Kritiker, bei allen Versprechungen das solidarische Gesundheitssystem untergraben. Dann nämlich, wenn Kosten und Nutzen in keinem Verhältnis zueinander stehen. Oder wenn dem einzelnen die Verantwortung für seine Gesundheit aufgebürdet wird. O-Ton 35 Ropers Das einzige, was wir dann machen können, ist: allen den Betroffenen unsere Solidarität zu geben, ein entsprechendes Krankenversicherungssystem zu haben, dass diese nicht ausgegrenzt werden, ein Mind Set zu haben, eine Einstellung gegenüber diesen Krankheiten zu haben, die davon getragen sein muss, dass es uns alle treffen könnte, und dass wir also solidarisch sein müssen und dass wir sie nicht ausgrenzen dürfen. Sprecherin Die Genomanalyse ist eine junge Methode in der Medizingeschichte - am Anfang ihrer Entwicklung, und noch vielfach überschätzt. Rechtliche Rahmenbedingungen müssen ausgehandelt werden. Aber es geht auch um eine sehr alte Vision: O-Ton 36 Steinberger Nämlich dass ein Mensch die Medizin bekommt, die ihm am besten hilft. Es gibt nicht eine maßgeschneiderte oder eine personalisierte Medizin - es sind ganz viele unterschiedliche Prinzipien, die sich hinter diesen knackigen Schlagworten verbergen. O-Ton 37 Ropers Letzten Endes kommt man aber um die Diskussion sagen wir mal im Bevölkerungsmaßstab nicht herum, weil der Staat letzten Endes sämtliche dieser Mittel aufbringen muss oder die Bevölkerung diese Mittel aufbringen muss, und diese Mittel sind nicht unendlich. Jeden Euro kann man nur einmal ausgeben. Und insofern ist das n fruchtbares Feld für ne öffentliche Diskussion, die auch weitergehen muss. Sprecher vom Dienst: Mehr Genforschung, mehr Heilung? Die Vision von der individualisierten Medizin Eine Sendung von Barbara Zillmann Es sprachen: Julia Brabandt, Nico Selbach und Birgit Dölling Ton: Bernd Friebel Regie: Stefanie Lazai Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2012 1