Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 19. Juli 2014 / 11.05 – 12.00 Uhr Nahost im hohen Norden: Syrische Flüchtlinge im schwedischen Södertälje Eine Sendung von Simonetta Dibbern Redaktion: Thilo Kößler Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – "Ich mag Södertälje, weil hier so viele verschiedene Menschen leben. Und du weißt nicht, wer neu ist, wer nicht neu ist. Wie in London. Aber dies ist eine kleine Stadt!" Ein schwedischer Soziologe, der in Södertälje aufgewachsen ist. Und ein syrisches Mädchen, das hier eine neue Heimat gefunden hat: "Wir wussten zuerst nicht, wo wir hingehen sollten außerhalb von Syrien. Doch dann hörten wir, dass viele nach Schweden gehen, weil das ein Land ist, das Menschen hilft, die vor dem Krieg fliehen. Und wir hörten auch, dass dort viele Araber leben, deshalb würden wir uns nicht so verloren vorkommen." Gesichter Europas: Nahost im hohen Norden – syrische Einwanderer im schwedischen Södertälje. Eine Sendung von Simonetta Dibbern. Es ist ein warmer Frühlingsnachmittag, die Sonne scheint. Von Södertäljes Innenstadt mit den vielen Einkaufspassagen sind es zu Fuß nur wenige Minuten bis zum schönsten Platz der Stadt, direkt am Wasser. Auf dem Inre Maren, dem kleinen Binnensee, dümpeln Segelboote. Am Ufer blühen Birken und Apfelbäume, auf dem Holzsteg, der einmal um den See herumführt, schieben Mütter ihre Kinderwagen. Dahinter der Turm der großen Schleuse: Der Södertälje Kanal verbindet den See Mälaren mit der Ostsee. Auf der breiten Treppe neben dem Eispavillon sitzt ein Pärchen in der Sonne und hält Händchen. Sie: blonde Haare, Sonnenbrille, Jeans. Er ist schwarzhaarig, lang und dünn und offensichtlich sehr verliebt. Beide kommen aus Syrien – er ist erst seit 2 Wochen in Södertälje, sie ist im Oktober 2013 gekommen. Geflohen vor dem Krieg. "Yeah." Afaaf Naddour. "Die meisten Syrer kommen auf illegalem Weg – und dazu gehöre ich auch. Wir haben gehört, dass Schweden allen Syrern Asyl gewährt. Und das war sehr verlockend, besonders für junge Leute wie mich, fünf Jahre jünger vielleicht, oder fünf Jahre älter." Afaaf ist 27 Jahre alt. Sie hat einen Universitätsabschluss in Politikwissenschaft mit Schwerpunkt internationale Beziehungen und Diplomatie. Außerdem ist sie Übersetzerin für Arabisch und Englisch. Als sie mit dem Studium fertig war im Frühjahr 2011, gab es die ersten Demonstrationen gegen das Assad-Regime in ihrer Heimatstadt Homs. Dann kam der Krieg. Sie fand keine Arbeit, aus dem Elternhaus wurde die Familie vertrieben. Weil sie nichts zu verlieren hatte, hat Afaaf sich auf den Weg gemacht. "Du fährst in die Türkei, das ist die normale Route. Türkei – dort findest du Leute, die Dir einen Ausweis oder einen gefälschten Pass organisieren können – und dann bringen sie Dich hierher – auf ihre Weise." Afaaf hat keine Scheu, die Geschichte ihrer Flucht zu erzählen. Natürlich brauchst Du Geld, sagt sie. "If you have enough money, exactly. And if you have the right person." Und die richtige Kontaktperson. "Es gibt zwei Routen: Die eine geht vom Flughafen in Istanbul oder von irgendeinem anderen türkischen Flughafen direkt nach Schweden, Stockholm-Arlanda. Die andere Möglichkeit ist von einer der Städte am Mittelmeer, Izmir oder Bodrum, da setzen sie dich in eine Jacht oder in ein kleines Boot und bringen Dich auf die nächste griechische Insel. Und dann weiter nach Athen, zum Flughafen. Innerhalb der Europäischen Union gibt es kaum Kontrollen, du wirst nicht so genau kontrolliert. So machen es die Leute. Ich auch." Ein Junge in Bermudashorts rast auf seinem Skateboard über den Platz, Afaaf sieht ihm nach. Den ersten Schlepper hatte sie im Internet gefunden. "Es war sehr anstrengend und sehr gefährlich, ich habe so etwas noch nie gemacht, weißt Du, ich bin ein Mädchen, ich war allein unterwegs und diese Leute sind alles andere als gute Menschen. Sie haben mich in einer Pension untergebracht, und der Typ, der mich dorthin brachte, kam jede Nacht zwischen zwei und drei Uhr, klopfte an die Tür und wollte Sachen, die nicht zu seinem Job gehörten. Ich konnte mich wehren und bin abgehauen, in ein anderes Hotel, neben der Polizeiwache, da habe ich mich sicher gefühlt. Und ich hatte noch Glück, manche von denen nehmen dein Geld, vergewaltigen Dich und lassen Dich liegen. Und hauen ab – und du bist immer noch in der Türkei." Die Sonne ist hinter einer Wolke verschwunden, Afaaf schiebt die Sonnenbrille in die Haare, während sie weitererzählt, es sprudelt geradezu aus ihr heraus, ihre grünen Augen glänzen. "Do you know Taksim Square? Es war ganz einfach, einen anderen Schlepper zu finden, du brauchst in Istanbul nur auf den Taksim-Platz zu gehen, dich in irgendein Café zu setzen und mit irgendjemandem über das Thema zu reden. Das braucht nur einer zu hören, der versucht dann sofort, Kontakt aufzunehmen. Es sind Türken, Syrer, Aramäer, Iraker oder Ägypter – meistens sind es Iraker oder Aramäer, denn die sind schon früh nach Schweden gegangen. Und wissen daher alles, was Du brauchst." 15.000 Dollar wollte der Schlepper haben, Afaaf hat ihm fast alles gegeben, was sie hatte: 8000. Dazu das Versprechen, den Rest später zu bezahlen. "Als ich ankam in Arlanda Airport, bin ich sofort zur Polizei gegangen, habe denen meinen syrischen Pass gezeigt und gesagt, dass ich Asyl beantrage. Die Polizistin war sehr freundlich, sie sagte, dass ich ab sofort keine Angst mehr haben müsste, dass auch dieser Typ mir nichts mehr antun könnte, sie würden mich beschützen." Jeder Flüchtling aus Syrien, dem es gelingt, nach Schweden einzureisen, darf bleiben. Das hat die schwedische Regierung im Herbst 2013 beschlossen. Eine großzügige Regelung. Allerdings greift dieses Hilfsangebot erst dann, wenn die Flucht gelungen ist, wenn der oder die Asylsuchende schwedischen Boden betreten hat. Etwa 20.000 Syrer sind seitdem auf eigene Kosten und auf eigenes Risiko in das skandinavische Land gereist. Dann jedoch können sie aufatmen, trotz stundenlanger Verhöre – erst bei der Polizei, dann bei der Einwanderungsbehörde, die ein Büro ebenfalls direkt am Flughafen hat. Dabei soll geklärt werden, ob der Flüchtling aus politischen Gründen Asyl beantragt oder – wie im Fall der syrischen Kriegsflüchtlinge – aus humanitären. Ob er oder sie tatsächlich aus Syrien kommt. Welchen Familienstand, welche Ausbildung er oder sie hat. Und ob er in Schweden irgendjemanden kennt. Afaaf fand diese Befragung nicht schlimm. Es gab genug zu essen und zu trinken, sagt sie. "Ich habe mich sofort zuhause gefühlt, schon im ersten Moment in Schweden, weil alle hier mich so freundlich behandelt haben. Das hat es sehr leicht für mich gemacht, von Anfang an. Auch, dass 90 Prozent Englisch sprechen, dadurch konnte ich jede Frage stellen und bekam immer eine Antwort, zum Beispiel, wie ich mit dem Bus oder der Bahn von einem Ort zum anderen komme." Zwei Monate dauert das Schnellverfahren für Asylsuchende aus Syrien. Während dieser Zeit dürfen sie sich innerhalb des Landes frei bewegen und frei entscheiden, ob sie in eins der Flüchtlingsheime der Migrationsbehörde ziehen wollen oder zu einem Bekannten. Sie dürfen sogar arbeiten. In Södertälje ist Afaaf gelandet, weil ihr hier ein früherer Studienkollege aus Homs ein Zimmer angeboten hatte. Sofort begann sie, Schwedisch zu lernen. Zunächst in den Kursen, die von Ehrenamtlichen angeboten werden, organisiert über die Bibliothek, das Rote Kreuz oder kirchliche Institutionen. So konnte sie schon ein paar Worte, als sie von der Einwanderungsbehörde den Bescheid für permanentes Bleiberecht bekam und mit diesem Bescheid zum Arbeitsamt gehen konnte. Denn in Schweden ist es das Arbeitsamt, das die Neuankömmlinge während der ersten zwei Jahre betreut und darauf vorbereitet, möglichst schnell auch beruflich Fuß zu fassen. Einfach wird es nicht. Afaaf ist zwar ehrgeizig, doch bei acht Stunden Schule pro Tag kann sie nicht nebenher jobben, um genügend Geld für eine eigene Wohnung zu verdienen. Ihre Familie fehlt ihr, gerade hat ihr Vater Bilder geschickt von dem Haus, in dem sie früher wohnten: Die Rebellen hatten es besetzt und komplett zerstört. Afaaf fingert auf ihrem Handy herum, es sieht aus, als ob sie gleich weinen muss. Fast trotzig sagt sie dann, dass sie die Flucht nicht bereut. "Also ich kann nur sagen, dass ich in Syrien beinahe gestorben wäre. Unser Haus, die Nachbarschaft, da ist nichts mehr, alles kaputt. Und auf der Suche nach einem Job wurde ich jedes Mal dermaßen sexuell belästigt, dass ich aufgegeben habe. Deshalb hat es sich für mich auf jeden Fall gelohnt, hierherzukommen. Denn ich habe eine gute Ausbildung. Ich will hier arbeiten. Und Steuern zahlen! Denn das Geld, das ich jetzt bekomme, wird ja auch von anderer Leute Steuern bezahlt. Das möchte ich zuallererst zurückzahlen. Dann glaube ich, dass ich eine gute Staatsbürgerin sein kann, ich möchte Kinder haben, eine Familie – und ich werde versuchen, der schwedischen Gesellschaft nur das Beste zu geben." Afaaf nimmt wieder die Hand ihres Freundes. Manaf hat kein Asyl beantragt, er ist nicht vor dem Krieg aus Syrien geflohen, er kommt aus Katar, wo er die letzten 14 Jahre als Manager in einer internationalen Firma gearbeitet hat. Wegen seines syrischen Familiennamens wurde er zunehmend diskriminiert. Doch das ist nicht der wahre Grund, warum er nach Schweden, nach Södertälje gekommen ist. "Because I love her. Because I love this girl, I am Syrian, but used to live in Katar. I left everything just because of her." Beide lachen. Acht Jahre haben sie sich nicht gesehen. Wussten nicht, ob der andere noch lebte. Bevor die Zwei sich verabschieden und die Treppe hinaufgehen, Richtung Innenstadt, sagt Afaaf noch, dass ihr Happy-End gerade erst begonnen hat. "Wir haben Glück, dass wir noch leben. Viele unserer Freunde sind in diesem Krieg gestorben. Aber wir leben – und darum müssen wir es einfach schaffen hier." Bis Mitte des 20.Jahrhunderts war Schweden eher ein Aus- als ein Einwanderungsland: karge Böden, kaum Industrie, widrige Temperaturen. Dann, während des Zweiten Weltkriegs, kamen die ersten Flüchtlinge: Deutsche, die den Nationalsozialisten zu entrinnen suchten. Letten und Esten, die vor der russischen Armee über die Ostsee flohen. Und Anfang der 60er die ersten Gastarbeiter aus Südeuropa. Dass Schweden sich zu einer toleranten und weltoffenen Gesellschaft entwickelte, ist wohl vor allem dem Sozialdemokraten Olof Palme zu verdanken. Seine Weihnachtsansprache 1965, damals war er noch Verkehrsminister, gilt vielen als Geburtsstunde des modernen schwedischen Staats. In nur zweieinhalb Minuten erläutert er den Radiohörern, dass sie keine Angst vor Menschen anderer Kultur und anderer Hautfarbe haben müssen. Dass alle Neuankömmlinge sich an die Spielregeln der schwedischen Gesellschaft halten würden. Dass es eine moralische Verpflichtung sei, Menschen in Notsituationen zu helfen. Und dass andererseits das skandinavische Land Einwanderer dringend brauche. "Die Welt kommt zu uns und wir müssen raus in die Welt. … Wollen wir überleben, müssen wir lernen, miteinander, also mit den Ausländern zu leben." Heute haben 20 Prozent der Schweden einen Migrationshintergrund – aber nicht alle fühlen sich wohl in dem Land. Einer von ihnen ist Kalim, der Held des Bestsellers "Das Kamel ohne Höcker" von Jonas Hassen Khemiri. Der Autor, 1978 in Stockholm geboren, wurde mit seinem Erfolgsroman zum ätzenden Chronisten der schwedischen Multikulturalität. "In Schweden gibt es immer noch viele Kanaken, und deshalb ist es wichtig, dass wir nicht das Streiten anfangen, denn da kriegen die Schweden Panik, denn in ihrem tiefsten Innern WISSEN die, dass wir stärker sind. Deshalb wird es max wichtig, dass die Ausländer die Geschichte vergessen und zu Schweden werden. Sonst merken die, dass wir voll fett Respekt kriegen und Mörderkohle. Deshalb geben die Politiker kein Geld für Muttersprachenunterricht und wollen die Ausländer auf die verschiedenen Stadtteile verteilen. Am liebsten wäre es ihnen, wenn wir auch noch unsere Merguez gegen Wiener Würstchen tauschen und Baklavas gegen Ekeltörtchen. Deshalb sagen die Schweden auch 'jemanden gelb und blau schlagen' statt grün und blau, denn da zeigt man, dass man ENTWEDER im innersten Innern schön schwedisch gelb und blau wird. ODER man wird eben gelb und blau geschlagen (vielleicht von Skins oder Bullen). Bullen werden ja auf alle Ausländer losgeschickt, die zeigen, dass sie Kohle gemacht haben, das riecht denen verdächtig, denn in Schwedenland verdient man die fetten Brocken, aber man zeigt es niemandem. Dann mit den Zeitungen und dem Fernsehen, das ist auch eine gute Methode, die Ausländer ruhig zu halten. Deshalb zeigen sie Robinson und Volksmusikscheiße und MTV Grind, aber gleichzeitig schmuggeln sie Nachrichten rein, die die Ausländer dazu bringen sollen, auszuticken." Die kleine Industriestadt Södertälje liegt 40 Kilometer südwestlich von Stockholm. Die Kommune wirbt auf ihrer Website mit ihrer Internationalität: "Södertälje in der Welt – Die Welt in Södertälje" lautet der Slogan auf der Startseite. Auf Seite 2 folgen Zahlen: In der Stadt mit knapp 90.000 Einwohnern leben Menschen aus 80 Nationen: aus Finnland, Polen, den baltischen Staaten, aus dem ehemaligen Jugoslawien – die größte Gruppe jedoch stammt aus dem Nahen und Mittleren Osten: Irak, Türkei, Libanon und Syrien. Knapp 20.000 Menschen, also fast ein Viertel der Bevölkerung von Södertälje spricht Arabisch als Muttersprache. Oder genauer: Aramäisch, denn die meisten von ihnen sind Christen, Mitglieder der syrisch-orthodoxen Kirche. Dass die sogenannten Assyrer seit Ende der 60er-Jahre in Södertälje ansässig sind, hat zum einen humanitäre, zum anderen wirtschaftliche Gründe: Etwa tausend Menschen wurden aus einem libanesischen Flüchtlingslager geholt, weil die zwei Großunternehmen Arbeitskräfte brauchten, der LKW-Produzent Scania und der Pharmakonzern Astra Seneca. Wohnungen gab es auch für die Neuankömmlinge – dank einer staatlichen Bauförderung, des sogenannten "Millionenprogramms". Und so wurden auch in Södertälje plattenbauähnliche Hochhaussiedlungen errichtet, ganze Viertel entstanden dadurch neu. Ronna. Geneta. Hovsjö. Hier blieben die Assyrer erst einmal unter sich, gründeten schon 1971 die erste assyrische Gemeinde. Und wenige Jahre später: ihren ersten Fußballverein Assyriska FF. Das Training beginnt morgens um zehn. Jeden Tag. Denn aus der Amateurmannschaft ist längst ein Profiverein geworden, seit Anfang der 90er-Jahre spielt Assyriska FF in der zweithöchsten schwedischen Liga. Und das Team besteht längst nicht mehr nur aus assyrischen Einwanderern. "No no no, we have so many kulturen in Assyriska FF, we have players from Sweden, from Balkan, from Afrika, South America – like all world it's an extreme multicultural club." Der Trainer: ein Bosnier, Valentic Azrudin. "Assyriska ist kein städtischer Klub, die Assyrer haben den Verein gegründet und sie sind es auch, die das Geld geben. Aber wir haben Fans in der ganzen Stadt. Und wenn wir so reich wären wie das Eishockeyteam, wären wir längst in der ersten Liga." Bisher ist es nur die Supereins, die Superettan. Doch im Grunde spielt Assyriska auf internationalem Niveau, schließlich ist Assyriska eigentlich eine Nationalmannschaft, trotz der internationalen Besetzung. "Es handelt sich nicht nur um Fußball." Danielo ist Brasilianer. "Es ist viel mehr als das, für alle anderen Vereine in der Liga es ist nur Fußball, hier nicht. Nationalität, Kultur, Religion – und in dem Fall muss ich mich auch dem anpassen." Während seiner Zeit bei Borussia Dortmund hat er Deutsch gelernt – das hilft ihm übrigens jetzt auch beim Schwedischen. "Die Fans hier, die nehmen das nicht nur als einen Verein, das ist auch die Nationalmannschaft und dementsprechend, alle, die hier spielen, haben viel viel mehr Verantwortung. Weil ich bin ja nicht Assyrian, ich bin Brasilianer. Aber wenn ich hier spiele und das Trikot anziehe, dann muss ich mich fühlen und auch so kämpfen genauso wie, wenn ich für die assyrische Nationalmannschaft spielen würde. Das erwarten die von alle." Die weißroten Trikots tragen den Namen des größten Sponsors: Scania. Und, als Emblem das aramäische Kreuz. Das Training jedoch unterscheidet sich kaum von anderen Vereinen. Das beginnt jetzt draußen, Danielo holt sich noch einen Anorak. "Regen - als Brasilianer hier man braucht immer mehr Kleider als die anderen." Die Spieler laufen ihre Runden auf dem Kunstrasen, zu zweit, zu dritt. Unter dem Dach der Tribüne zanken sich Krähen und Möwen um ein paar Reste aus dem Papierkorb, von fern das Rauschen der LKW – die Södertälje Fotbollsarena liegt mitten im Industriegebiet. 2006 wurde sie gebaut, Platz für 5000 Zuschauer. Und Heimspielstätte der zwei Profiklubs von Södertälje. Assyriska FF ist der eine. Der andere Syrianska FC - ebenfalls gegründet von assyrischen Einwanderern, ebenfalls bereits in den 70er-Jahren. Der Grund für die Gründung war nicht das Überangebot an hervorragenden Kickern, sondern eine Spaltung der aramäisch-sprachigen Community von Södertälje. Zurzeit spielen Assyriska und Syrianska in derselben Liga – ein einziges Mal sind sie in dieser Saison bisher gegeneinander angetreten, hier in der Fotbollsarena Södertälje. Ein doppeltes Heimspiel, sagt der Assyrer David. "Das ist immer ein großes Fest. Denn die Zuschauer kommen von überall her, um uns zu unterstützen – es ist eine Atmosphäre wie in Mailand, wenn Inter auf Milano trifft. Großartig!" Schließlich sind die Fans alle Assyrer – trotz der Konkurrenz auf dem Spielfeld. Und trotz interner Konflikte zwischen den beiden Gemeinden, die für Außenstehende kaum zu verstehen sind. Die vier großen syrisch-orthodoxen Kirchen in Södertälje vertreten zwei unterschiedliche Strömungen der Assyrer. Daher gibt es zwei syrisch-orthodoxe Erzbischöfe in der schwedischen Stadt. Zwei Flaggen. Und zwei Fernsehstationen. Die Größere ist Suryoyo TV – der weltweit einzige Fernsehsender mit 24 Stunden-Programm auf aramäisch steht in Södertälje. Ein unscheinbarer Bungalow am Rand des Stadtteils Geneta. Die Türen stehen offen, jeder kann hineinspazieren. "Just we as Suryoyo we’re sending the news in the arameic language." Hasne Paulus. Mitte 50, Anzug mit dunkellila Krawatte. Moderator und Nachrichtensprecher bei Suryoyo TV. "Wir sind der einzige Fernsehsender, der Nachrichten auf Aramäisch sendet: Täglich abends um sieben, nachts um zwei werden sie wiederholt für die assyrische Gemeinde in den USA – und jeden Mittwoch sind die Nachrichten in klassischem Aramäisch." 300 bis 500.000 Zuschauer hat Suryoyo TV jeden Tag – der Großteil lebt im Exil, in Indien und in den USA. Außer Nachrichten gibt es Diskussionssendungen. Vor allem aber besteht das Programm aus Gottesdienstübertragungen, aufgenommen in syrisch-orthodoxen Kirchen rund um den Globus. Auch im Besprechungsraum läuft der Fernseher. Auf dem Bildschirm: Die Gemeinde festlich gekleidet, zwei Chöre wechseln sich ab, einer von jungen Männern, einer von jungen Frauen, in der Mitte steht der Patriarch. Gebete und Gesänge in der Sprache, die Jesus gesprochen hat, sagt die junge Frau, die dazugekommen ist. "Wir müssen unsere Sprache bewahren, wir haben ja kein eigenes Land." Nahrin ist Mädchen für alles bei Suryoyo TV. Zuständig für Empfang und Finanzen. Eine junge Frau, 30 Jahre alt, die langen schwarzen Haare trägt sie offen, schwarzer Rollkragenpullover, enge Jeans, Stiefel. "Wir vermischen Kurdisch, Türkisch, Arabisch, Schwedisch, Deutsch – je nachdem, in welchem Land wir leben. Die assyrische Sprache reicht meistens einfach nicht aus, denkt man. Da, die Glocken – gleich beginnt die Nachmittagsmesse nebenan. Also, unser Ziel ist es, das Aramäische reinzuhalten und dabei hilft der Fernsehsender sehr, das hätte früher niemand gedacht, dass man gutes Aramäisch sprechen kann." Nahrin ist als kleines Mädchen nach Schweden gekommen, ihre Familie kommt aus der Türkei, die Eltern sind christliche Kurden. Nahrin ist auf eine schwedische Schule gegangen, hat Betriebswirtschaft studiert und macht gerade ihr Jura-Examen. Sie spricht Englisch, Schwedisch, Kurdisch. Und Aramäisch. Sie hat sich eingerichtet im Exil. Für die Situation der arabisch-sprechenden Neuankömmlinge aus Syrien hat sie Verständnis. Doch die Skepsis überwiegt. "Wenn du aus einem Land kommst, wo Krieg ist, dann brauchst du erst mal Sicherheit, du willst bei Menschen sein, die du kennst, in einem fremden Land, über das du nichts weißt, nicht die Sprache sprichst – ist doch klar, dass sie hierherkommen, nach Södertälje. Denn fast jeder hat hier Verwandte. Aber Schule, Unterkunft, das ist schwierig, es gibt keine Jobs. Und wenn du hier nicht mal deinen Lebensunterhalt verdienen kannst, lohnt es sich doch nicht herzukommen." Die Arbeitslosigkeit in Södertälje liegt bei 14,6 Prozent und ist fast doppelt so hoch wie der schwedische Durchschnitt. Und bei den Einwanderern liegt die Quote gar bei 27 Prozent – trotz der beiden großen Arbeitgeber AstraSeneca und Scania. Auch die Zahl der Sozialhilfeempfänger ist nach Malmö die höchste im Land. Es fehlt an geeigneten Jobs für Neuankömmlinge, die noch nicht schwedisch sprechen. In den internationalen Nachrichten von Suryoyo TV geht es nicht um die regionalen Probleme von Södertälje. Sondern um die Krise in der Ukraine. Die Sendung läuft, Nahrin kann Pause machen, sie packt ihre Sachen zusammen und geht nach nebenan – zur Messe. Denn auch sie singt im Frauenchor der syrisch-orthodoxen Kirche von Geneta. Schwedisch, Arabisch und Französisch – in drei Sprachen ist der Autor und Dramatiker Jonas Hassen Khemiri aufgewachsen. Tunesier der Vater, Schwedin die Mutter. Er studierte Wirtschaftswissenschaften und Literatur in Stockholm und Paris, arbeitete bei den Vereinten Nationen in New York und ist heute einer der erfolgreichsten Dramatiker Europas. Khemiris Debütroman erschien 2003: "Ett öga rött", auf deutsch: "Das Kamel ohne Höcker". Dass dieses Buch nicht nur mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde, sondern auch Bestseller war und später erfolgreich verfilmt wurde, ist ein Beweis für die Offenheit des schwedischen Publikums. Denn "Das Kamel ohne Höcker" ist keine Neuauflage von Michel aus Lönneberga. Hier schreibt der tunesische Junge Kalim über sein Außenseiterdasein. Im Rap-Stil romantisiert er seine arabischen Wurzeln. Jedes Anzeichen von "Schwedisierung" lehnt er ab – und macht sich doch auch lustig über die Weisheiten seines Vaters: Ein Kamel ohne Höcker, gibt der ihm mit einem ägyptischen Sprichwort auf den Weg, ist wie ein Mann ohne Sprache. Wertlos. "Um Mittag rum hab ich mich vom Theaterspielen und Zigarettenrauchen verdrückt und bin an der Schranke vorbei und dann an der roten Linie weiter. Dalanda saß auf derselben Bank wie immer und fütterte die Tauben. Als ich von der ersten Schulwoche erzählte und vom Muttersprachenunterricht, war sie superwütend geworden und hatte vom Integrationsplan erzählt. 'Wie, Integrationsplan?', habe ich gefragt und da hat sie mich so einem Blick angesehen, mit dem man normalerweise verletzte kleine Vögel anschaut. 'Soll das heißen, dass dein Vater dir noch nicht mal vom Integrationsplan erzählt hat? Hat er dir nicht einmal gesagt, dass schwedische Politiker angefangen haben, daran zu arbeiten, alle Einwanderer in richtige Schweden zu verwandeln?' Auch wenn ich selbst langsam anfange, so was zu denken, lasse ich es nicht zu, dass Papa von einem anderen beschimpft wird. 'Ja, klar, hat er da, ist nur lange her. Deshalb. Lange her.' 'Willst du wissen, was ich glaube? Ich glaube, dein Vater ist so ein Intellektueller. Ich glaube, er ist ein Chamäleon, das immer den Ort wechselt und sich immer an die Umgebung anpasst. Wird wie neu, vergisst dabei alle Tradition und Geschichte. Bei uns in Libyen haben wir ein Sprichwort, das sagt, es gibt eine große Ähnlichkeit zwischen Intellektuellen und hinkenden Kamelen. Weil keiner von beiden je eine Revolution anzetteln wird.'" Die Vormittagssonne scheint in den Klassenraum im zweiten Stock. Gleich beginnt hier der Kurs "Schwedisch für Fortgeschrittene", Lehrerin Katharina kennt ihre Schüler seit zehn Monaten, sie weiß, dass ein paar immer zu spät kommen. Aber sie weiß auch, dass ihre Schüler sehr lerneifrig sind. Wer hier sitzt, will in wenigen Wochen den nationalen Sprachtest bestehen. Pierre zum Beispiel. Er sitzt am Fenster in der ersten Reihe. Pierre ist Anfang 20, ein schmaler junger Mann in hellblauem Poloshirt. Vor einem Jahr ist er in Schweden angekommen, jetzt wohnt er bei seinem Onkel, zusammen mit seinen zwei Brüdern. Die Eltern haben sie in Syrien zurückgelassen, in Damaskus. Heute geht es darum, einen Essay zu schreiben. Thema: Wie stellst Du dir einen Traumstaat vor – und welche Qualitäten müsste der Staatschef dieses Traumstaates haben. Vor dem Verfassen steht eine Wortschatzsammlung: Välfardsstat schreibt die Lehrerin an die Tafel. Wohlfahrtsstaat. Klärt Begriffe, sammelt Argumente, lässt diskutieren. Unter anderem, warum kaum ein afrikanisches Land, trotz landschaftlicher Schönheit, der Definition Wohlfahrtsstaat genügt. Es geht also, neben der Sprachlektion, auch um ein tiefergreifendes Verständnis der schwedischen Gesellschaft. SFI – Svenska för invandrare. Das Sprachinstitut ist mehr als eine Volkshochschule: Die Kurse werden von morgens um acht bis abends um zehn angeboten, damit jeder Erwachsene, der schwedisch lernen möchte, es sich einrichten kann. Solange wie nötig oder gewünscht. Es kostet nichts, im Gegenteil: Migranten mit permanentem Bleiberecht bekommen für jeden Tag einen Bonus vom schwedischen Staat, zur Zeit knapp 40 Euro. Denn der Sprachkurs ist Teil des sogenannten Etablierungsprogramms, das jedem anerkannten Asylbewerber zusteht. "Ich bin sehr stolz. Denn ich habe erst im September angefangen. Und ich würde nicht sagen, dass ich die schwedische Sprache beherrsche. Doch ich verstehe alles. Ich brauche nicht mehr englisch zu sprechen, ich kann Schwedisch." Sein Vorteil, sagt Pierre, ist, dass er schon viele andere Sprachen gelernt hat: Arabisch natürlich. Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch. Die meisten syrischen Flüchtlinge, die nach Schweden kommen, sind gebildet. Und wohlhabend. Das macht die Integration in mancher Hinsicht einfacher. Hier jedoch, im Asyl, fangen sie bei Null an. "Das Gute ist, dass die Schweden die Menschen respektieren, die hierherkommen. So als ob es keinen Unterschied gibt zwischen ihnen und uns. Wir leben hier zusammen. Und darüber sind wir froh." Dass Pierre und die anderen Neuankömmlinge sich in Schweden schnell heimisch fühlen, liegt auch an Menschen wie Rebekkah. Sie arbeitet im Arbeitsamt von Södertälje, ein heruntergekommener 70er-Jahre-Bau, gelegen am Rande der Innenstadt an der 4spurigen Umgehungsstraße. Die Hässlichkeit jedoch ist nur äußerlich. In dem Gebäude ist die Atmosphäre geradezu heiter, trotz der niedrigen Decken und des künstlichen Lichts. Der Flur im zweiten Stock erinnert fast an ein orientalisches Café. "Dieser Raum hier, Raum 216 ist jeden Tag offen von zehn bis vier. Hier kann jeder herkommen, ohne Termin, um Fragen zu stellen. Oder Neuigkeiten mitzuteilen oder sich in das Etablierungsprogramm einzuschreiben. Sie müssen eine Nummer ziehen und warten, bis sie dran sind." Rebekkah Kaufmann. Anfang 30 ist sie, dunkelbraune Haare fallen ihr ins Gesicht, sie trägt T-Shirt, Leggings, Turnschuhe. Sie grüßt die Wartenden, als wären es alte Bekannte. "Früher mussten sie nicht so lange warten. Aber zur Zeit haben wir viele Leute im Programm, manchmal warten hier zehn oder sogar 20 darauf, dass sie drankommen, das ist manchmal schon stressig – doch wir arbeiten so schnell wir können." Das Programm. Etablierungsprogramm. Wer von der Einwanderungsbehörde ein permanentes Bleiberecht bekommen hat, muss sich zunächst bei der Steuerbehörde melden, um die persönliche Identifikationsnummer zu erhalten. Ab dem Moment ist wie gesagt das Arbeitsamt zuständig für die Flüchtlinge und hilft bei der Jobsuche. Zunächst eben mit dem sogenannten Etablierungsprogramm, das in der Regel über zwei Jahre läuft und aus vielen Bausteinen besteht: Ein Einführungskurs in schwedische Geschichte, Gesellschaft und Kultur steht meist am Anfang – in der Muttersprache des Neuankömmlings. Dann der Sprachkurs am SFI. Beratung bei der Erstellung eines Lebenslaufes, Hilfe bei der Anerkennung von Zeugnissen oder bei der Suche nach einem Praktikumsplatz. Während des zweijährigen Programms werden sie unterstützt, von persönlichen Betreuern wie Rebekkah Kaufmann. Lots heißen sie auf schwedisch: Lotsen. Wir sind ein Superteam, sagt sie. "In diesem Bereich des Arbeitsamtes sind wir alle sehr überzeugt von dem, was wir hier machen. Denn uns sind die Menschen wichtig. Wir tun alles, damit diese zwei Jahre für die Teilnehmer dieses Programmes so gut sind wie möglich. Ich hoffe, dass das überall in Schweden so ist, aber da bin ich mir nicht so sicher. Ich glaube, hier sind wir besonders engagiert." Die offizielle Haltung des schwedischen Arbeitsamtes ist zumindest freundlich: Wir freuen uns, Sie kennenzulernen, steht auf der Internetseite, in verschiedenen Sprachen. Für Rebekkah jedenfalls ist es ein Traumjob. Sie ist vor drei Jahren in ihre Heimatstadt Södertälje zurückgekehrt – aus dem Nahen Osten. In den Palästinensergebieten hatte die Politikwissenschaftlerin für eine NGO gearbeitet, um Demokratisierungsprozesse zu unterstützen. Dass sie dort Arabisch gelernt hat, nützt ihr jetzt auch. "Ich spreche ein bisschen, nicht perfekt. Für die Gespräche hier im Büro hole ich daher immer einen Übersetzer dazu, das hat rechtliche Gründe, damit die Klienten alles richtig verstehen. Aber sie können mich jederzeit anrufen. Oder ich sie. Auf Arabisch." Auch Rebekkahs Kollegen sind hoch motiviert – wer bei der Migrantenbetreuung arbeitet, hat sich dafür beworben. Und mindestens einen Hochschulabschluss in der Tasche: Anthropologie, Soziologie oder Ingenieurwissenschaften – plus mehrere Jahre Berufserfahrung, außerhalb des Arbeitsamtes. Es ist ein kleines Team, 24 Mitarbeiter, davon sind sieben seit Längerem krank oder beurlaubt, andere in Teilzeit. Neue Stellen gibt es nicht – obwohl die Zahl der Teilnehmer im Etablierungsprogramm sprunghaft angestiegen ist. Insgesamt 250 waren es vor drei Jahren, jetzt sind es fast viermal so viel, die nach Södertälje kommen. "Die Kommune holt niemanden hierher. Aber weil freie Wohnungswahl ein Menschenrecht ist, kann niemand sie davon abhalten nach Södertälje zu kommen. Ich habe keine Lösung für dieses Problem. Natürlich ist es gut, wenn Menschen ihren Wohnort frei wählen können, doch wenn es so viele sind, dass der Wohnungsmarkt oder die Infrastruktur überlastet wird, entstehen neue Probleme. Als Staatsbeamtin darf ich keine Meinung haben. Aber ich persönlich bin sicher, dass wir die Situation meistern können. Schließlich sind sie vor dem Krieg geflohen. Und daher müssen wir ihnen helfen und die Probleme irgendwie lösen." "Heute habe ich eine Theorie über Schweden und Ausländer an der Schule rausphilosophiert. Man kann sagen, dass es drei Sorten Schweden gibt. Erst mal sind da die Luxusschweden, die Mafia spielen, aber auf Schwedenart. Die haben teure Marken an, deren Logos aber trotzdem kleiner und nicht so gut sichtbar sind wie die teuren Ausländermarken (die Kanaken spielen reich sein einfach ehrlicher). Trotzdem sind die Luxusschweden echt wenige, denn fast alle in der Schule gehören zu den Flippies, die in Zigeunerklamotten rumlaufen, mit kaputten Lederjacken und Jeans mit maximal vielen Löchern. Wenn man einer von denen werden will, dann muss man sagen, die Russen machen die beste Poesie und Bob Hund hören anstelle von Snoop Doggy Dogg. Außerdem muss man stolz verkünden, dass man die Kleider im Secondhandladen gekauft hat. Klar, dass da kein Kanake dabei sein will. Außerdem fange ich an, zu glauben, dass die Flippies auch falsch spielen, denn die haben immer jede Menge Kohle für die Pause und so und von den Eltern sitzt keiner im Knast oder geht putzen." Zehn Minuten Fußweg sind es vom Arbeitsamt zum neuen Rathaus von Södertälje. Ein schicker Bau in Glas und Stahl, im Jahr 2008 gebaut – als architektonischer Inbegriff des modernen Schwedens. 450 Mitarbeiter aus allen Bereichen städtischer Betriebe arbeiten hier, die Empfangshalle ist offen für alle. Es gibt eine Bibliothek, einen Lese- und einen Konzertsaal. Die Mitarbeiter am Empfang sprechen Schwedisch und Arabisch und sind auch sonst sehr hilfsbereit. Wer indes zur Bürgermeisterin will, muss angemeldet sein. Seinen Namen in den Computer eingeben und warten, bis jemand zum Abholen kommt. Drei Minuten später kommt sie selbst die Treppe herunter: Boel Godner, Sozialdemokratin, seit drei Jahren Bürgermeisterin von Södertälje. Graues Kostüm, Pumps, die blonden Haare sind etwas zerzaust, sie lächelt freundlich. Müde sieht sie aus. Viele Interviews hat Boel Godner in den vergangenen Monaten gegeben. Schwedische und ausländische Journalisten wollten immer wieder von ihr wissen, wie sie mit dem Ansturm der syrischen Flüchtlinge umgeht und umzugehen gedenkt. "Jeder will über die Probleme reden, für mich ist es eine Verantwortung, nicht ein Problem. Eine enorme Verantwortung, so viele Flüchtlinge aufzunehmen, die keine Wohnung haben, nicht wissen, wohin." 2000 syrische Flüchtlinge sind im letzten Jahr nach Södertälje gekommen, in diesem werden es noch mehr sein. Die kleine Stadt ist darauf kaum eingestellt: Hier gibt es keines der staatlichen Flüchtlingsheime, die die Einwanderungsbehörde in anderen schwedischen Kommunen gebaut hat. Wer hierherkommt, hat Verwandte oder Freunde in Södertälje. Sollte sich jedoch nach einigen Monaten herausstellen, dass das Zusammenleben auf engem Raum nicht mehr tragbar ist, haben die Neuankömmlinge keine Alternative, denn nur innerhalb der ersten zwei Monate können sie die Entscheidung für den zunächst gewählten Wohnort korrigieren. "Ich habe nie gesagt, dass wir hier keine Flüchtlinge mehr wollen. Niemals. Wir wollen gerne unseren Teil der Verantwortung übernehmen, doch wir als kleine Kommune können nicht den Großteil der Menschen aufnehmen, die nach Schweden flüchten. Södertälje ist ein Zehntel von Stockholm, doch hierher kommen genausoviele wie nach Stockholm. Das ist der Punkt meiner Kritik: Wir müssen innerhalb Schwedens ein neues Konzept finden. Ich sage immer, dass wir das beste Land für alle Flüchtlinge auf der Welt sein könnten. Doch daraus wird nichts, solange Södertälje und ein paar andere Kommunen die meisten Menschen aufnehmen und die großen und reichen Kommunen sagen können, sie haben keine Kapazitäten." 15 Prozent aller Syrer, die in den vergangenen zwölf Monaten nach Schweden gekommen sind, kamen nach Södertälje. Und sind geblieben. Zum einen, sagt Boel Godner, fehlt es an Unterstützung durch den schwedischen Staat. Für Unterricht, Wohnungen, für therapeutische Betreuung der oft traumatisierten Kriegsflüchtlinge, vor allem der Kinder. Der Zuschuss, der jeder Gemeinde pro aufgenommenem Flüchtling zusteht, reiche nicht aus. Zum anderen vermisst sie die Solidarität anderer Kommunen. Die seien froh, das Flüchtlingsproblem auf Södertälje abwälzen zu können. Die schwedische Regierung hat vor einigen Monaten zwei Koordinatoren eingestellt, die durch das Land reisen und bei den Kommunen werben, Flüchtlinge aufzunehmen. Denn die kleine Stadt Södertälje stößt an ihre Grenzen, das sagt auch Johan Ward, Soziologe und Statistiker. Und Boel Godners rechte Hand in Fragen der Einwanderung. "Das ist ein Widerspruch: Wir haben Scania hier, Astra Seneca, zwei Großunternehmen also. Es gibt ein großes Krankenhaus und auch die Stadtverwaltung ist ein großer Arbeitgeber. Doch die Menschen, die nach Södertälje kommen, erfüllen nicht die Kriterien für diese Jobs." Johan, Mitte 30, schwarze Haare, dunkler Teint – seine Eltern waren Inder, er wurde als Kleinkind von Schweden adoptiert. "Viele Einwanderer, die hierkommen, sind gut ausgebildet. Und sie sind hoch motiviert, so bald wie möglich wieder in ihrem Beruf zu arbeiten, als Lehrer oder als Arzt. Doch es dauert, bis es soweit ist. Wir haben eine Studie erstellt. Danach dauert es sieben Jahre, bis sich ein Neuankömmling auf dem schwedischen Arbeitsmarkt etabliert. Und wenn es ihm bis dahin nicht gelungen ist – weil das System zu langsam ist zum Beispiel oder weil es keine Stellen gibt, dann schwindet auch die Motivation, dieses Ziel zu erreichen. Die Leute fahren Taxi oder machen andere Jobs, die nichts mit der Ausbildung in ihrem Heimatland zu tun haben. Das ist ein Problem." Lösungen zu entwickeln, für diese und andere Probleme, das ist eine von Johans Aufgaben. Auch, um den Kritikern und Gegnern der großzügigen Asylpolitik den Wind aus den Segeln zu nehmen. Vor den Parlamentswahlen im September hat Bürgermeisterin Boel Godner zwar keine Angst. Sie ist sich ihrer Sache ebenso sicher wie der Unterstützung der Bevölkerung: Im Gemeinderat haben Sozialdemokraten, Linke und Grüne die absolute Mehrheit. Doch auch in Södertälje haben immerhin 10 Prozent der Wähler ihre Stimme den rechtspopulistischen Schwedendemokraten gegeben. "Sie sind im Stadtrat mit fünf gewählten Plätzen eigentlich. Doch drei von ihnen sind gleich nach der Wahl wieder aus der Partei ausgetreten und keiner ist nachgerückt, also sind sie nur noch zu zweit. Und sie machen nicht viel Lärm. Und auch auf den Straßen gibt es keine Demonstrationen von Rassisten wie sonst in vielen schwedischen Orten, vielleicht kommt es hier noch, doch bis jetzt ist Södertälje kein Ort für sie." In den Straßen von Södertälje jedenfalls sind sie nicht zu sehen. Die Schwedendemokraten hatten während des Europawahlkampfes keinen einzigen Stand in der Fußgängerzone aufgestellt. Und stehen grundsätzlich nicht für Interviews zur Verfügung. Ihre Taktik, sagt Boel Godner, besteht darin, Mails an die örtliche Tageszeitung zu schicken, um einfache Antworten anzubieten: Die Ausländer sind schuld. "Das Thema Migration wird bei der Wahl keine große Rolle spielen, nur die Schwedendemokraten reiten immer wieder darauf herum. Hier in Södertälje allerdings wird es sehr wohl ein Thema sein. Denn meine Partei will eine Gesetzesänderung. Damit sich alle Schweden verantwortlich fühlen für die Einwanderer." Verantwortung ist eins der Lieblingswörter der sozialdemokratischen Politikerin, wenn es um politische und soziale Belange in ihrer Gemeinde geht. Auch und vor allem im Umgang mit Einwanderern und Flüchtlingen. Und das, sagt sie zum Schluss, sollten alle Länder tun: Nicht über die Probleme sprechen, sondern Verantwortung übernehmen. "If you change the question from problems to responsibility it will be very different, I think many countries should do like that." "Ausländer gibt es auf der Schule nicht so viele, aber trotzdem gibt es zwei Varianten. Nummer eins sind die üblichen Ausländer: Diebe, Schieber und Stressmacher. Ausländersorte Nummer zwei sind die Fleißtypen, die für Tests lernen und feine Wörter benutzen und niemals Schwarzfahren oder was klauen. Sie glauben, sie werden respektiert, aber eigentlich lachen alle Lehrer nur über die, denn jeder merkt, dass die nicht klarkommen. Aber heute habe ich rausphilosophiert, dass es noch eine dritte Sorte Ausländer gibt, die ganz allein steht, und das ist die, die, die von den Schweden am meisten gehasst wird: der Revolutionskanake, der Gedankensultan, der alle Lügen durchschaut und sich nie leimen lässt. Ungefähr wie al-Kindi, der alle Codes knackte und mehrere Tausend voll harte Bücher über Astronomie und Philosophie und auch noch über Mathe und Musik schrieb. Letztes Jahr war ich wohl mehr der Lan, aber von heute an schwöre ich, dass ich der Gedankensultan bin." Der Stadtteil Ronna ist eins der Viertel von Södertälje, das mit dem sogenannten Millionenprogramm Ende der 60er-Jahre entstanden ist: eine Hochhaussiedlung außerhalb der Stadt. Hier sind die ersten Einwanderer aus dem Nahen Osten an- und untergekommen. Heute leben etwa zehnmal so viele in den Plattenbauten. Das Zentrum: eine trostlose Ansammlung von Billig-Supermärkten, Schustern und Friseuren. Und gleich neben der Bushaltestelle die Schule. Ronnaskolan. 760 Schüler, von sechs bis 16. Einige haben frei und spielen Fußball auf dem Hof. Per Ollson kann sie von seinem Fenster aus sehen. Mitte 30 ist er, Hornbrille, unter seinem Schreibtisch stehen elegante Lederschuhe, er trägt im Büro lieber Clogs. "Ich würde nicht sagen, keine schwedischen Eltern. Ich würde sagen, 99 Prozent unserer Schüler haben nicht Schwedisch als Muttersprache. Viele sind hier in Schweden geboren, manchmal schon in der zweiten oder dritten Generation. Doch Muttersprachler sind sie nicht. Das sind bei uns ein Prozent. Vielleicht noch weniger." Per Ollson ist kommissarischer Direktor der Ronnaskolan. Er gibt gerne Interviews, denn seine Schule ist eine der erfolgreichsten Schulen Schwedens. Es ist nicht sein Verdienst. Seine Vorgängerin hat die Ronnaskolan nach vorne gebracht und ist deswegen gerade befördert worden, damit auch der Rest des Landes von Schulkonzept der Ronnaskolan profitieren kann. Darum hat er jetzt ihren Job. "Bei uns steht das Wissen im Mittelpunkt. Wir haben sehr hohe Erwartungen an unsere Schüler. Und wir tun viel dafür, dass sie sie erfüllen können. Auch wenn sie aus einem anderen Land kommen. Auch wenn sie Schwedisch erst lernen müssen. Und die letzten zwei Jahre haben gezeigt, dass es funktioniert, dass wir inzwischen die Ziele sogar noch höher stecken." Schüler, die Feedback und Unterstützung brauchen auf ihrem Weg, bekommen sie: Es gibt Förderstunden in Schwedisch für die Neuankömmlinge und daneben muttersprachlichen Unterricht in Naturwissenschaften. Und in den Klassen 7 bis 9 arbeiten zwei Lehrer pro Kurs. Im Idealfall spricht einer von ihnen Arabisch. Davon profitiert auch Gabriella. Die 15-Jährige ist kurz vor Weihnachten in Södertälje angekommen. "Ich heiße Gabriella Idar, ich komme aus Syrien, aus Aleppo. Ich bin mit meiner Familie vor acht Monaten hierhergekommen, weil in unserer Heimat Krieg ist. Jetzt lernen wir Schwedisch und wir sind sehr glücklich, hier zu sein." Englisch hat sie in der Schule in Aleppo gelernt, sie mag die Sprache sagt sie. Französisch spricht sie auch. Und Aramäisch – sie sind assyrische Christen. Als sich die Gelegenheit bot zu fliehen, war das Ziel klar: Södertälje. "Die Tante meines Vaters lebt hier. Sie ist sehr nett. Wir haben die ersten sechs Monate bei ihr gewohnt, weil wir nichts anderes gefunden haben. Das ist das größte Problem hier: dass es nicht genügend Wohnungen gibt. Jetzt haben wir etwas gefunden, doch da können wir nur drei Monate bleiben. Das ist schwierig für den Anfang, ich hoffe, dass es später einfacher wird." Beim Rundgang durch die Schule gibt es nur wenige, die sie grüßen. Viele Freunde hat sie hier noch nicht, sagt Gabriella. Aber das wird schon – zu ihren Kinderfreunden aus Aleppo bleibt sie in Verbindung, per Telefon und Facebook. Sobald der Krieg vorbei ist, will sie sie besuchen. Doch ihre Zukunft, das weiß sie, ist in Schweden. Ihre Eltern haben es da etwas schwerer. "Sie lernen erst mal die Sprache, in zwei oder drei Jahren können sie vielleicht genug, um arbeiten zu können. Das wird schwierig, es gibt wenig Jobs hier. Mein Vater war Zahnarzt in Syrien, er hat dort 20 Jahre gearbeitet, hatte seine eigene Klinik – jetzt muss er erst mal pauken. Und er hat nichts hier. Es ist schwierig für ihn. Aber immer noch besser als dort, mit dem Krieg." Etwas besseres als den Tod finden sie auf jeden Fall in Schweden, die Kriegsflüchtlinge aus Syrien. Zumindest diejenigen, die nicht so schnell aufgeben. So wie Gabriella Idar, 15 Jahre alt. "Ich war immer gut, ich habe immer mein Bestes gegeben. Und ich möchte etwas Großes werden, ich bin sehr ehrgeizig. Vielleicht werde ich Arzt wie mein Vater, dann wäre er sehr stolz auf mich. Aber wer weiß, was die Zukunft noch bringt." Nahost im hohen Norden. Das waren Gesichter Europas an diesem Samstag: syrische Flüchtlinge im schwedischen Södertälje. Eine Sendung von Simonetta Dibbern. Mit Ausschnitten aus dem Roman "Das Kamel ohne Höcker" von Jonas Hassan Khemiri, gelesen von Matthias Haase. Ton und Technik : Petra Pelloth, Oliver Dannert und Christoph Gieseberg. Redaktion: Thilo Kößler. 2