DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 23.09.2014 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 ? 20.00 Uhr Der relative Wert des Schönen Vom Kampf um eine urbane Idylle Von Tita Gaehme URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Atmo: Demonstration Rettet die Kurbel Autorin Der Pachtvertrag für ein altes Kino wurde nicht verlängert, stattdessen dort ein Biosupermarkt eröffnet. Auch so können Kulturkämpfe beginnen, am Meyerinckplatz in Berlin Charlottenburg hat es so begonnen. Musik O-Ton Christian Berg Hier hatte sich unter anderem diese Westberliner Kulturschickeria schön eingerichtet, und die haben natürlich alle nen Schreck gekriegt und das fand ich super und das hat auch dazu geführt, dass die alle ihren Arsch hochgekriegt haben. Also, das war ganz prima. In diesem Kiez ist die ganze Luxus- und Verdrängungsdebatte erst am Anfang. Der relative Wert des Schönen Vom Kampf um eine urbane Idylle Ein Feature von Tita Gaehme Autorin Das Viertel um den Meyerinckplatz erfüllt das Ideal einer urbanen Wohngegend. Genauer gesagt: es erfüllte das Ideal. Denn heute sehen Alle, die wir hier wohnen, diesen Wohnort bedroht, der nur wenige Meter vom Kurfürstendamm entfernt liegt. O-Ton Prof. Dr. Fanny Michaela Reisin Ja, wir waren im Herzen der Metropole und wir waren eine wirkliche Nachbarschaft. Es war ? es ist es immer noch ein bisschen, aber nur ein bisschen ? eine Oase mitten im Herzen der Stadt. Du gingst aus dem Haus und trafst diesen und jenen und hattest eine Unterhaltung hier und dort, setztest dich auf die Bank und verhandeltest, das, was gerade anstand. Wir kannten uns, diese wunderbaren Straßenfeste die wir hatten, demonstrierten ja förmlich, dass wir eine zusammengewachsene Nachbarschaft waren. Autorin Italienische Städte sind berühmt für solche Plätze, in Paris, in London gibt es sie, New York hat solche Ecken, die den Charakter und Charme der Städte ausmachen, für die Bewohner in gleicher Weise Lebens- und Erholungsort sind. O-Ton Prof. Dr. Fanny Michaela Reisin ... und ich glaube, dass Urbanität künftig davon abhängig sein wird, dass genau solche Orte geschaffen werden, und das ist ja mein Ärger. Dass hier ein Ort besteht, da müsste gar nichts investiert werden, er müsste nur erhalten bleiben. Autorin Auch meine Nachbarin, die Informatik-Professorin Fanny Michaela Reisin, wohnt hier am Meyerinckplatz. Sie ist die Präsidentin der "Internationalen Liga für Menschenrechte", einer traditionsreichen Organisation, die sich für die Verwirklichung und Erweiterung der Menschenrechte und für Frieden überall in der Welt einsetzt. O-Ton Prof. Dr. Fanny Michaela Reisin Das Recht auf würdiges Wohnen ist ein Menschenrecht und ich bin der Auffassung, dass es hier darum geht. Der Platz hatte Charakter und Geist, und eben alldies wird jetzt einfach ausgekehrt. Die Tatsache, dass Filmkunst Biokäse weichen musste, hat den Charakter des gesamten Platzes zerstört. Autorin Weil die Wohnungen hier meist besonders schön sind, mit erhaltenen Accessoires der Berliner Gründerzeit, weil es auf der Straße lebendig zugeht und die öffentlichen Verkehrsmittel günstig angebunden sind, wohnen hier viele Künstler, Philosophen, Wissenschaftler und Medienleute, zumeist Menschen mit einem ausgeprägten Interesse und Sensorium für gesellschaftliche Entwicklungen. So auch der frühere sozialdemokratische Kulturstaatsminister, Verleger und Publizist Michael Naumann. O-Ton Michael Naumann Dieser kleine Platz ist ein Juwel, was jeder, der Berlin kennt, weiß. Es ist auch eine beliebte Wohngegend mitten in der Stadt und sie dann zu einem im Grunde genommen Industriehof zu verwandeln durch eine Fülle von LKW-Ladungen, was zu einem regelmäßigen Hupkonzert führt und im Übrigen auch in Notfällen, bei Brand oder ähnlichem, zu wirklichen Notlagen führen könnte, ist ein Sachverhalt, der nicht durch Baurecht allein geregelt werden müsste und könnte, sondern eben auch durch städteplanerische Überlegungen, auch des Bezirksamtes, über das hier die Rede ist. Musik Autorin In Paris heißt es Quartier, in Köln Veedel. In Berlin ist es der Kiez, den die Leute als ihre Heimat empfinden, an den sie ihr Herz hängen. Ursprünglich nach dem Vorbild Lennés angelegt, ist der kleine ovale Meyerinckplatz heute eine Verkehrsinsel. Drei schmale Einbahnstraßen laufen auf ihn zu, östlich entlang verläuft die Giesebrechtstraße, eine schmale Wohnstraße, die sich immer mehr zum Boulevard entwickelt. Es gibt einige Modeläden, Galerien, eine gut sortierte Buchhandlung, viele Bäume, freundliche Cafés und Restaurants, wo lauter Menschen sitzen, die, auch wenn sie Fremde sind, einander nicht fremd sind. Und seit einiger Zeit einen riesigen Bio-Supermarkt, der nach Ansicht vieler Anwohner die Idylle stört. O-Ton Atmo: Meyerinckplatz, Straßenmusik, "Danke für Geld" O-Ton Stefan Lukschy Also das ist wirklich Zuhause. Ich kenn das alles noch, als das "Irish Pup" noch ne deutsche Gaststätte war, das "Juleps" noch dies österreichische Stüberl war, wo es wunderbare Topfenpalatschinken gab, Wiener Stüberl, genau, und da hab ich mit meiner Großmutter in der deutschen Gaststätte, wo jetzt der Pup drin ist, gegessen, als Kind. Autorin Als Kind erlebte der Regisseur und Autor Stefan Lukschy dies Charlottenburger Wohnviertel als Raum der Geborgenheit und als Ort für Entdeckungen. Bis heute ist es ihm nicht zu eng geworden. Denn es macht reiche Angebote, sein Dasein zu gestalten: Eine komfortable Unterkunft, ein Ort zum Arbeiten, ein Platz zum Entspannen, Möglichkeiten sich zu amüsieren. O-Ton Stefan Lukschy Diese Qualität hat was mit Urbanität zu tun, wir haben wunderbare alte Platanen, wir haben einfach ein Stück altmodischer Großstadt. Hier ist offensichtlich was erhalten, was das alte Berlin von früher ausmachte, also das alte Charlottenburg. Und so was zu erhalten, ist doch eine ganz reizvolle Aufgabe. Autorin Bürgerliches 19. Jahrhundert, das lassen Gründerzeit-Architektur und Straßennamen assoziieren: Giesebrecht, Sybel, Mommsen, Clausewitz - preußische Historiker, Juristen, Militärreformer. In dieser Gegend hatte die Jugend-Alija ein Büro, von hier aus organisierte sie jüdischen Kindern ihr lebensrettendes Exil in Palästina und England. In der Nachbarschaft residierte der Jüdische Kulturbund, dessen Räume die Reichsschrifttumskammer übernahm. Joachim-Fernau-Leser wissen, dass in der Giesebrechtstraße das Edel-Bordell der Nazigrößen stand. Romy Schneider und Hildegard Knef haben hier gewohnt. An vielen Häusern erinnern Plaketten an prominente Bewohner: Wolf Vostell, Evelyn Künneke. In dieser Gegend wird an Geschichte erinnert. O-Ton Stefan Lukschy Auch dass dann solche Dinge entstehen wie die Stolpersteinaktion. Dass wir die erste Straße in Berlin waren, die Giesebrechtstraße, die komplett alle Stolpersteine verlegt hat für die verfolgten Juden, soweit es bekannt ist, in einem Haus 21 Stück. O-Ton Beate Jensen Das ist ja doch ein amerikanischer Begriff, "protect your neighbourhood", beschütze deine Nachbarschaft. Dass wir alle ein bisschen Verantwortung für unsere Nachbarschaft nehmen. Meine Mutter, die eben bei großer Hitze runter lief und mit der Gießkanne die Bäume goss, egal ob das nun sinnvoll war oder nicht ? aber eben dieses ich bin eben für meinen Baum verantwortlich, ich möchte ihm was Gutes tun, und ich möchte mich um meinen kleinen Platz kümmern. Mein Traum ist es, dass wir alle eines Tages im Sommer auf diesem Platz sitzen mit weißen Tischtüchern und bei Rotwein und Käse und ein bisschen erzählen, und vielleicht sogar jemand vorbeikommt und ein bisschen Musik macht. Autorin Die Schauspielerin Beate Jensen ist Motor der Bürgerbewegung, die sich für den Erhalt und die Lebensqualität ihres Viertels engagiert. Sie präsidiert dem Verein "Bürger für das Quartier Meyerinckplatz", der gegründet wurde, nachdem das alte Stadteilkino "Die Kurbel" durch einen Supermarkt verdrängt wurde. Das war ein Fanal. Erst als die Kurbel verschwinden sollte, das erste Tonfilm-Kino in Berlin, haben wir begriffen, dass das ganze Viertel in Gefahr ist. Das politische Denken hatte, wie so oft, viel mit Gefühlen zu tun. O-Ton Kosslick: Es gibt nicht mehr so viele, so unabhängige Kinos, also das ist ein Stadtteilkino ganz besonderer Art. Es ist ein sehr altes Kino, es liegt mitten drin. Ich hoffe, dass es nicht vom Winde verweht wird, dieses Kino, das war ja einer der Filme gewesen, die hier zum ersten Mal gespielt worden sind. Autorin Mir scheint, Berlinale-Direktor Dieter Kosslick ahnt bereits, dass das Kino verloren ist. Trotzdem zündet er die Kerze an, die eine engagierte Anwohnerin an ihn wie an alle anderen verteilt. Ich stehe in einer langen Reihe vor der roten Leuchtreklame des Kinos Kurbel, friere, habe eine rote Nase, wie die meisten, die gekommen sind, schließlich ist Dezember. Die Atmosphäre ist äußerst freundlich, sogar etwas anrührend. Ich wärme mich an meiner Kerze, deren Flamme mein Charlottenburger Kiez-Kino am Leben halten soll. Zahlreiche Filmer, Filmfreunde, Kunstsinnige und aufgeschreckte Nachbarn wie ich demonstrieren im Dezember 2011 für den Erhalt der Kurbel. Der Filmemacher Rosa von Praunheim ist da, der todkranke Otto Sander, seine Schauspielerkollegen Angelika Domröse, Roland Schäfer, Gerd Wameling. Der Regisseur Wim Wenders, Exbürgermeister Walter Momper. Viele wohnen hier, alle wollen das Kino retten. O-Ton Prof. Dr. Peter Grottian Es gibt ja solche Kinos, die haben einfach eine Atmosphäre und die Kurbel hatte eine Atmosphäre, sodass man bei der Wahl des Kinos, was man anschauen wollte, zuweilen sich gesagt hat, ach, da gehen wir in die Kurbel. Und deswegen habe ich auch so ein bisschen mitbekommen die Auseinandersetzungen über diese Initiative für den Meyerinckplatz und da kann man eigentlich nur sagen, alle diese Initiativen, die sich darum bemühen, in ihrem jeweiligen Stadtteil sich zu kümmern um demokratische Interessen, sind in jedem Fall begrüßenswert. Autorin Peter Grottian hält hochgradiges Misstrauen von uns Bürgern gegen etablierte Verwaltungsstrukturen und Machtapparate für geboten. Der emeritierte Professor für Soziologie und Politikwissenschaft an der FU Berlin ist überzeugt, dass die repräsentative Demokratie, so wie sie sich seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland entwickelt hat, in der Krise steckt. O-Ton Prof. Dr. Peter Grottian Der Wert für die demokratischen Verhältnisse ist, dass es im Volk ein Bewusstsein darüber geben muss, dass nicht nur die Parteien, Verwaltungen und der Staat Probleme löst, sondern dass die Bürgerinnen und Bürger sich selbst auf die Socken machen können, um etwas zu bewerkstelligen und Einfluss zu nehmen, ihre Sachen auch selbst in die Hand zu nehmen. O-Ton Christian Berg Die Bürger-Initiative hat herausgefunden, dass der Hausbesitzer es geschafft hatte, einen 15 Jahre laufenden Pachtvertrag mit der Alnatura-Kette auszuhandeln, zu einem sehr ordentlichen Pachtzins. Und mit diesem Schlüsselvertrag ist er zu seiner Bank gegangen und hat damit die Finanzierung für die Gesamtsanierung des Hauses damit bekommen. Und das ist eine Luxus-Situation, die kann man als Hausbesitzer aussitzen. Autorin Christian Berg wohnt am Rande des Meyerinck-Kiezes, weshalb der Verlust des alten Kinos ihn auch als Anwohner empört. Als Kinobeauftragter von Medienboard Berlin-Brandenburg, einer Gesellschaft, die mit öffentlichem Geld die Herstellung und den Vertrieb von Filmen fördert, hat er aber auch schlechte Erfahrungen mit Kommunalpolitikern. O-Ton Christian Berg Es war an keiner einzigen Stelle vom zuständigen Bezirk eingegriffen worden in diesen Genehmigungsprozess, das Kino Zweck zu entfremden und zu einem klassischen Gewerberaum zu machen. Atmo: Straßenmusik Autorin Bio-Supermarkt verdrängt Opas Kino. Moderner Lifestyle beseitigt den alten Muff. Rendite siegt über Kultur. "Das ist das Los des Schönen auf der Erde" klagt Thekla in Schillers Wallenstein. Alles Klischees, das weiß ich auch, trotzdem hat kaum jemand von den ästhetisch feinsinnigen Menschen, die hier wohnen, die geringste Lust, sich damit abzufinden. O-Ton Christian Berg Kino ist natürlich ganz wichtig, gerade in Bereichen wie Kudamm und drum herum, wo abends die Geschäfte zu haben, wo das andere Leben beginnt, mit den Bühnen, den Kinos, den Bars, den Kneipen, das heißt es gehört zur kulturellen Grundversorgung, es gehört aber auch zum städtischen Leben und belebt eine Stadt und wenn man ein Kino in seiner Nähe hat, ist es viel einfacher, als wenn man 7 Stationen mit der U-Bahn fahren muss. Autorin Natürlich ist Berlin Charlottenburg cineastische nicht unterversorgt. Man muss nur 10 bis 20 Minuten gehen und hat fünf Kinos zur Auswahl. Das weiß auch Christian Berg, seine Kritik zielt vor allem auf eine Verschlechterung der Kino-Situation in Gesamt-Berlin. O-Ton Christian Berg In Berlin hat man leider versäumt, was die Kinos angeht, so was Ähnliches wie ein Gesamtmaßnahmenplan zu haben. Das Genehmigungsverfahren für Kinos und für andere Gewerbetreibende ist bei den Bezirken verortet, und die Bezirke haben in den 90er-Jahren in diesem völligen Multiplex-Bauboom-Wahn alle in ihren Bezirken Multiplexe genehmigt. Wir haben in Berlin 15 oder 16 Multiplexe, in einer Stadt wie München gibt es nur zwei. In Berlin ist durch diesen Multiplexboom ganz viel kaputt gemacht worden. Autorin Der sozialdemokratische Bezirksstadtrat Marc Schulte, verantwortlich für Stadtentwicklung und Ordnungsangelegenheiten in Berlin Charlottenburg, ist redefreudig und medienversiert. Er versichert bei meinem Besuch, dass auch er anfangs die Bürger-Initiative "Rettet die Kurbel" unterstützt hätte. Denn auch er fände, dass ein Biosupermarkt am Meyerinckplatz eine Überversorgung darstelle, weil es genügend Biosupermärkte dort gäbe. Aber ? und dann ist er ganz Realpolitiker, der für die Dummheit des bürgerbewegten Bürgers wenig Verständnis aufbringen kann - es hätte eben niemand geschafft, mit dem Eigentümer einen neuen Mietvertrag für das Kino abzuschließen. O-Ton Marc Schulte Da sind wir als Verwaltung und Politik gebunden an Recht und Gesetz und haben da überhaupt keinen Entscheidungsspielraum, sondern können nur bestimmte Sachen vermitteln und es gibt bestimmte Entwicklungen im Baurecht, die ich auch nicht als positiv empfinde, die aber vollzogen werden müssen. Und beim Meyerinckplatz ging es darum, dass ein Kino geschlossen werden musste, weil die Zahlen nicht stimmten und der Eigentümer es nicht mehr vermieten wollte. Natürlich wäre schön, wenn der Staat jetzt sagen könnte, du musst dein Kino betreiben. Aber da ist eine Gewerbefreiheit, und ich kann einen Eigentümer nicht zwingen dazu, ein Kino zu betreiben. O-Ton Christian Berg Man kann Kino nur erhalten, wenn man als Denkmalschutzbehörde dafür sorgt, dass es in der dreistufigen Kategorie die Stufe 2 bekommt, das heißt Bestandschutz. Nur dann können die Hausbesitzer und -vermieter dazu gezwungen werden, dass in dieser Immobilie ein Kino bleibt. All das ist verbockt worden. O-Ton Marc Schulte Nein, das ist schlicht und einfach falsch, weil das Gebäude unter Denkmalschutz steht, aber nicht das Kino. Das heißt, das Gebäude hatte immer unten ein Ladengeschäft und jetzt ist wieder ein Ladengeschäft da. Der Denkmalschutz wäre eine schöne Krücke gewesen, aber sie konnte hier tatsächlich nicht ziehen. Und das war das Problem, dass die Kurbel tatsächlich nicht unter Denkmalschutz stand und dann kam ein Bio-Supermarkt, hat sich als neuer Gewerbemieter sich angemeldet und dann stehen wir vor dem Dilemma, wenn in einer Umgebung ein Kino möglich ist, ist baurechtlich ein Biosupermarkt auch nicht unmöglich. Musik Autorin Ich bin nicht die einzige, die der Anblick des aufgestylten Eckhauses am Meyerinckplatz, in dem es mal "die Kurbel" gab, melancholisch stimmt. Fanny Reisin, die Präsidentin der Liga für Menschenrechte, sieht in der Charlottenburger Bürgerbewegung sogar Parallelen zum Kampf der türkischen Zivilgesellschaft um den Gezi-Park in Istanbul. O-Ton Prof. Fanny Michaela Reisin Das gleiche finde ich hier auch in der Giesebrechtstraße. Und ich sage immer: Nicht nur im Gezi-Park in Istanbul, sondern in der Giese hier mitten in Berlin. Wir sehen hier eine unglaubliche Kommerzialisierung in der gesamten Straße. Es wird alles mögliche gemacht, damit neue Läden, neue Kanzleien angeworben werden, und vor allen Dingen werden Mietwohnungen in Privatwohnungen verwandelt. Die Tatsache, dass es sich hier um eine reine Wohnstraße ? übrigens nicht nur für Reiche ? handelt, wird vernachlässigt. Dabei wäre es doch die Aufgabe des Bezirksamtes und der Senatsverwaltung für eine Lebens- und eine Erholungsqualität der Mensche zu sorgen. Auch hier in Berlin erhöht sich der Druck, dem wir ausgesetzt sind. Es findet eine unglaubliche Entgrenzung zwischen Arbeitswoche und Wochenende statt, zwischen Feierabend und Arbeitstag, wir sind alle großem Stress ausgesetzt und genau in einer solchen Zeit käme es doch bei einer vernünftigen Stadt- und Flächenplanung darauf an, dafür zu sorgen, dass die Menschen in ihren Wohngebieten Rückzugs- und Ruhemöglichkeiten finden und sich erholen können von dem Alltagsstress. Insofern ist der Gezi Park in Istanbul durchaus vergleichbar dem, was wir hier in Berlin wollen: Wir wollen nämlich, genau wie die Protestierer dort, Partizipationsrechte in den Entscheidungen des Bezirksamtes und des Senats bei der Gestaltung des Wohngebiets. Atmo Eröffnung Autorin Im April 2013 feiert Alnatura seine 77. Filiale in den umgebauten Räumen des alten Kinos. Ein richtiger Rummel wird es nicht, aber die Bürger-Initiative ist da. Stolz zeigt Götz Rehn, Alleininhaber der Bio-Supermarkt-Kette, auf sein Logo. Die meisten, die hier stehen, hätten lieber noch die dicke rote Kino-Leuchtschrift der Kurbel, die aber leider abmontiert ist. O-Ton Götz Rehn Alnatura, sinnvoll für Mensch und Erde, steht da in großen Lettern, das fasst das zusammen, um was es uns eigentlich geht. Was ist unser eigentlicher Impuls? Unser Impuls ist die Freiheit des Menschen zu unterstützen. Nicht nur in bester Bio-Qualität, sondern eben auch mit vielen Bildungsinitiativen. Der andere Impuls ist die Frage, wie können wir einen Beitrag leisten, dass die Erde durch uns Menschen unterstützt wird in ihrer Entwicklung, und dass wir dazu beitragen, dass das, was wesenhaft in einer Karotte, in einem Salatkopf ist, durch den Menschen sich verbessert statt verschlechtert. Denn aktuell ist ja die Situation, dass wir meistens nicht zu einer Verbesserung beitragen. Ich hoffe, dass sie uns gewogen sind. Ich freue mich jetzt erst mal auf einen Beitrag von Ursula Karven, bitte sehr: Autorin Die Schauspielerin nennt sich auch Yogabotschafterin und outet sich als Götz-Rehn-Verehrerin. O-Ton Ursula Karven Ich stehe hier, weil ich Herrn Dr. Rehn bei der Karma Konsum-Konferenz in Frankfurt kennengelernt hab. Ich sollte nach ihm sprechen, und er war so mitreißend, dass ich meinen kompletten Text vergessen hatte. Ich bin auf die Bühne gestolpert, ich bin fast runter gefallen, es hat ihn sehr amüsiert, ich war komplett aufgelöst, es war ein großer Saal mit Video-Kameras, es war schrecklich. Aber - ich war ihm verfallen. Ich bin ein Fan von Menschen, die nicht nur irgendwas behaupten, sondern es wirklich leben. Atmo/ auf der Straße Wenn irgendwas ist, sprechen sie jederzeit unseren Filialleiter an. Wir sind wirklich bereit, so viel wie möglich zu tun. Die Situation hat sich auch ein bisschen verhärtet, aber wir hoffen trotzdem irgendwann einmal auf gute Nachbarschaft. O-Ton Christian Berg Interessanterweise hat sich der Bezirk einen Dreck darum gekümmert, was das eigentlich bedeutet, nämlich Liefererverkehr, Parkplätze etc. ALNATURA ist dafür bekannt, dass sie relativ aggressiv wachsen. Sie sind bisher eher selten direkt in so geschlossene Wohngebiete wie diesen Kiez hier zwischen Kudamm und Kantstraße gegangen. Was sie aber immer schon gemacht haben ist, möglichst in direkter Nähe zu Konkurrenten Läden aufzumachen. O-Ton Marc Schulte Ich hab die Bürgerinitiative gefragt, wär euch denn lieber eine Videothek oder ne Spielhalle, die gar kein Lieferverkehr hat? Autorin Marc Schulte ist nicht der einzige, der sich realistisch mit den Gegebenheiten abfindet. Auch in der Nachbarschaft bröckelt die Front. Willst du, dass Aldi dorthin kommt oder ein Bettenmarkt? Werde ich gefragt. Nein. Das ist wirklich nicht die Alternative. Der Meyerinckplatz ist eine urbane Idylle. Da wollen wir keinen Supermarkt. Auch keinen Bio-supermarkt. Da wollen wir keinen Lieferverkehr, keinen Lärm. Da verursacht schon die Müllabfuhr ein Verkehrschaos. O-Ton Ursula Keller Dieser Laden wird hier nicht gebraucht. Und das ist, was mich an der ganzen Sache auch so wütend macht. Es geht hier nicht um Nahversorgung, es geht wirklich darum, die lokalen, regionalen Mitbewerber kaputt zu machen, und es geht um eine Schaffung von künstlicher Konkurrenz auf den Rücken der Anwohner hier. Autorin Meine Nachbarin Ursula Keller war keine rebellische oder gar aufsässige Bürgerin. Sie liebte die Konzentration ihres Arbeitsplatzes mit Blick auf die grünen Bäume des Meyerinckplatzes, beim Übersetzen der russischen Briefe des Ehepaares Tolstoj zum Beispiel, bei der Arbeit an Büchern, die sie gemeinsam mit Natalja Sharandak schreibt. Zuletzt die Biografie der Theosophin Madame Blavatsky. Erst als häufige Hupkonzerte, lärmender Verkehr sie bei der Arbeit störten, begann Ursula Keller sich zeitaufreibend für die Verkehrsberuhigung am Meyerinckplatz zu engagieren und lernte eine Verwaltung kennen, die ihr kafkaesk vorkam. O-Ton Ursula Keller Man rutscht da schon rein in diese Rolle des "Querulanten". Ich hab ja ein 60-seitiges Konvolut von E-Mails an das Ordnungsamt wegen Verkehrsverstößen gesammelt mit Fotos und davon sind ungefähr dreiviertel an E-Mail-Text meiner und ein Viertel wenn's hoch kommt ist E-Mail-Text von Antworten aus dem Bezirksamt. Wie aufdringlich muss man sein, bis man von diesem Bezirksamt überhaupt mal Antwort bekommt. Das endete dann darin, dass der Verkehrsstadtrat mich aufgefordert hat, ich sollte doch bitte Autokennzeichen notieren. Ich als Anwohnerin soll die Aufgaben des Bezirksamts übernehmen, hier dafür zu sorgen, dass die Straßenverkehrsordnung eingehalten wird. Das ist absurd. Ich bin dann schon so ein bisschen auch in eine Rolle geraten, in der ich mich nicht sehe. Ich hatte wirklich dann ne Zeitlang immer meine Kamera dabei, hab ständig fotografiert, ich bin dann auch oft angesprochen worden, da kommt wieder die Frau, die fotografiert, wenn jemand falsch parkt oder so. Es zeigt im Grunde auch die Machtlosigkeit. Dass man versucht, die Behörden, die eigentlich zuständig sind, auf Missstände aufmerksam zu machen, es passiert aber nichts. Das Ordnungsamt sagt dann, wir sind nicht zuständig, rufen sie die Polizei an, wenn hier ne Verkehrsgefährdung vorliegt. Die Polizei sagt dann, für den ruhenden Verkehr ist das Ordnungsamt zuständig. Der Baustadtrat sagt, wir haben nicht genügend Leute und: es stimmt doch gar nicht, was sie sagen, und: was wollen sie eigentlich, ja so. Autorin Wie Ursula Keller hat auch Stefan Lukschy den Eindruck, dass die Anliegen der Aktivisten vom Meyerinckplatz als Luxusprobleme einer verwöhnten Schickeria abgetan werden sollen und wehrt sich dagegen. O-Ton Stefan Lukschy Also ich finde, jemandem einen Vorwurf zu machen, dass es ihm gut geht, das ist nur dann gerechtfertigt, wenn dieses Gutgehen auf dem Elend anderer beruht. Dass Leute lange in einer Gegend wohnen, die glücklicherweise viele Wohnungen hat und nicht von Büros dominiert ist, finde ich, ist eigentlich ein durch langes Leben erworbenes Privileg, was ja nicht auf dem Unglück anderer fußt. Wir nehmen ja niemanden was weg, wenn wir hier wohnen. Wir finden es natürlich ganz wunderbar, dass hier eine fast dörfliche Atmosphäre herrscht, fünfzig Meter vom Kudamm weg, das ist ein tolles Gefühl, das wir uns ganz gerne, also ohne jetzt irgendwie Hobbits zu werden, oder spießig zu werden, aber wir wollen uns das irgendwie erhalten. Autorin Als Michael Naumann im Berliner Tagesspiegel wirkungsstark einen Artikel gegen die "kleine Ortszerstörung" am Meyerinckplatz durch den Bau des Alnatura-Supermarktes veröffentlichte, erregte das die Empörung des Charlottenburger Baustadtrates Marc Schulte. O-Ton Marc Schulte Das war ein ganz großes Essay, super gut geschrieben, toll pointiert, ganz Klasse, war ein Genuss, das zu lesen. Ich glaube, wenn ich gefragt hätte beim Tagesspiegel, kriege ich auch ne Seite, darf ich auch meinen Essay schreiben und kriege ich das, wenns Naumann bezahlt bekommen hätte, auch bezahlt, dann hätte ich mir vorstellen können, wie die Antwort ist. Er hat nicht geschrieben, dass er dort wohnt. Er stellt es dar als jemand, der davon erfahren hat und das jetzt beobachtet, er stellt es als einen feuilletonistischen Artikel dar. Dass er selber Eigeninteressen hat, steht mit keinem Wort in diesem Artikel. O-Ton Michael Naumann Wenn alle die Demonstranten gegen die geplanten Stromtrassen in Bayern, ihren Mund halten würden, weil sie selbst betroffen sind, könnte man eigentlich sagen, es gibt überhaupt keinen Grund für irgendwelche Bürgerpartizipation. In dieser Äußerung manifestiert sich ganz einfach ein Amtsverständnis eines hochrangigen Beamten, der davon ausgeht, die Bürger hätten hinzunehmen, was man von oben herab entscheidet. Oder um das mal mit Helmut Schmidt zu sagen: Beamte wollen Macht. Immer mehr Macht. Das ist so, aber weil das so ist, gibt es auch eine pluralistische demokratische Öffentlichkeit, das ist eine große Errungenschaft in diesem Land. Das hat es ja nicht immer gegeben, und ich glaube das wird auch noch mindestens fünfzig bis hundert Jahre dauern, bis sich die Mächtigen im Staat daran gewöhnen, dass sie kritisiert werden dürfen. Atmo O-Ton Annegret Falter Bauen und klopfen und hämmern und Lärm und Krach von morgens bis abends. Und zugestellte Parkplätze. Es ist unfassbar, was den Investoren gestattet wird, den Leuten, die hier Profit erwirtschaften wollen mit der Umwandlung von Mietshäusern in Eigentumswohnungen, die dann extrem teuer verkauft werden. Autorin Die Journalistin und Politologin Annegret Falter zog Ende der 70er-Jahre als Mieterin in das Viertel und kaufte ihre Wohnung Anfang der 80er-Jahre. Jetzt gehört sie zur Eigentümer-Gemeinschaft einer Edel-Immobilie, und sie fürchtet, sich diese bald nicht mehr leisten zu können, da die Luxus-Sanierungen am Gemeinschaftseigentum, für sie unvorstellbar waren, als sie ihre Wohnung kaufte. O-Ton Annegret Falter Zu dem Zeitpunkt waren ganz andere Läden hier am Platz. Es waren kleine Läden da, es waren bescheidene Läden da, es waren bescheidene Preise, zu denen man einkaufen konnte. Heute umgibt einen das, was man eine Schickimicki-Struktur nennt, teure Restaurants, teure Läden. Häufig Klamotten-Läden. Ein schönes altes Kino, was hier am Platz war, musste einem schicken Alnatura Bioladen weichen, das alles wäre vor 30 Jahren unvorstellbar gewesen. Da wohnte noch der kleine Schuster im Haus, der um die Ecke seinen Laden hatte, da wohnten Rentner, sehr viele Rentner im Seitenflügel. Heute sind die Seitenflügel und Gartenhauswohnungen zusammengelegt und topsaniert. Und wenn sie nicht selber bewohnt werden von den Eigentümern eben zu Höchstpreisen vermietet. Autorin Die erste Umwandlungswelle von Miet- in Eigentumswohnungen in den 80er-Jahren hatte zur Folge, dass ein großer Bestand an jahrzehntelang unsanierten, verfallenden Mietshäusern gerettet wurde. Der heutige Sanierungswahn führt zu strukturellen Veränderungen des Wohnviertels. O-Ton Annegret Falter Da werden Dinge mit diesen Häusern getrieben, zu denen sie nie geschaffen waren. Das Ensemble von Häusern, deren Höfe ja oft zusammenhängen, wird zerstört. Und das neueste ist natürlich Austritte der Parterrewohnungen in den Hof hinein. Da bekommen Leute, die die Parterrewohnungen kaufen, vorgemacht, sie könnten ein kleines Stückchen Garten nutzen. Die Berliner Höfe waren nie dazu geschaffen, das sind in der Regel eher enge und hoch bebaute Höfe, in denen es fürchterlich hallt. Wenn man da spricht, ist es, als wenn man mit einem Megafon sprechen würde. Wenn aber jetzt die Höfe täglich benutzt werden, um draußen zu grillen, Kaffee zu trinken, Bier zu trinken, Party zu machen, dann wird das zu einem fürchterlichen Streit in der Nachbarschaft führen. Es sind aber jedenfalls Balkone an Stellen gebaut worden, wo sie erstens nicht hingehören, zweitens nie waren, drittens so breit sind, dass sie die Balkone und Wohnungen die darunter liegen, total verschatten. Sie gehen zum Teil auch nach Norden raus und überall, wo überhaupt nur ein Plätzchen denkbar ist für einen neuen langen breiten Balkon, ist ein Balkon gebaut worden. Ich frage mich, wie so was jemals genehmigt werden konnte. Ich frage mich auch, wie die Baupläne präsentiert sein müssen, damit Leute so was kaufen. Autorin Das Baurecht und die Genehmigungsverfahren wurden in Berlin so extrem liberalisiert, dass es kaum noch Kontrollmechanismen gibt. Eine Entwicklung, die Charlottenburgs Baustadtrat Marc Schulte durchaus nicht als positiv empfindet. Im Gegenteil, der Sozialdemokrat beklagt, dass der Staat zu wenig rechtliche Eingriffsmöglichkeiten habe. O-Ton Marc Schulte Und in der Bauordnung ist es so, dass viele Bauvorhaben nur noch angezeigt werden müssen, und für alle Einhaltungen der Norm der Architekt oder der Bauherr selbst verantwortlich sind. O-Ton Christian Berg Die Umnutzung des Kinos ist nur ein erster Schritt und die Umwandlung in Eigentumswohnungen ist auch nur ein erster Schritt. Der zweite Schritt ist die Veränderung der Bevölkerungsstruktur. Das wird diesen Kiez nicht verschonen. Und wenn da schon mal bei so einem Anlass wie der Kinoschließung und der Umnutzung in einen Supermarkt, wenn da schon mal ein bisschen Bürgerbeteiligung und Bürgerprotest offensichtlich ist, und man da tausende von Unterschriften zusammenkriegt, da bin ich im ersten Schritt ganz zufrieden mit. O-Ton Annegret Falter So werden aus Gentrifizierern Gentrifizierte. Wohlhabend ist nicht reich. Sicherlich würde meine Familie statistisch zu dem wohlhabenden Teil der Bevölkerung zählen, aber anteilig an 280.000 Euro zur Renovierung einer Hoffassade beteiligt zu werden, wie jetzt bei uns, setzt schon ein hohes Maß an Sparrücklagen voraus. Und die hat eine Familie auch mit einem guten Durchschnittseinkommen eher nicht. Insofern aber, wenn Wirtschaftlichkeit für eine Renovierungsmaßnahme keine Rolle mehr spielt, wenn Geld keine Rolle mehr spielt, dann ist die Skala von Verschönerungsmaßnahmen nach oben offen. Es kann ein Garten angelegt werden nach Art der Fußgängerzonen in deutschen Heilbädern, die schönen, etwas verlotterten alten Gärten dürfen, die sind auf einmal nicht mehr schick genug. Bäume werden abgehackt, weil den Hinterhofbewohnern Licht fehlt oder schlimmer noch, weil zu viel Laub fällt. O-Ton Marc Schulte Das ist dann dieses Widerstrebende, dass die Erwartungshaltungen unheimlich hoch sind, was Politik machen kann, aber die Rahmenbedingungen, die der Gesetzgeber gibt, einfach zu gering sind, als dass ich im Rahmen der Bauordnung auch solche Projekte verhindern könnte. Das kann ich nicht, das darf ich nicht, weil es gesetzlich möglich ist. Das ist ne Folge auch der Liberalisierung der Gesetzesnormen. O-Ton Prof. Dr. Peter Grottian Man sieht einen übermächtigen Staats- und Verwaltungsapparat, ein Apparat der Parteien und der etablierten Verbände, und dagegen sind diese Bürgerinitiativen relativ machtlos. Sie sind immer darauf angewiesen, dass ein Professor oder ein Rechtsanwalt oder ein Experte sie vertritt. Sieh haben gar keine Ressourchen, ein Klageweg in den einzelnen Instanzen durchzuziehen. Sie machen es trotzdem und verschulden sich damit. Man sieht auch daran, dass es so eine absolute Waffenungleichheit gibt. Waffenungleichheit insofern, und nicht militaristisch gemeint, dass natürlich der Staatsapparat über so viel Ressourcen verfügt, dass er die Bürgerinitiativen und sozialen Initiativen und Bewegungen oft am langen Arm verhungern lassen kann. Und eigentlich, wenn man über Demokratie nachdenkt, muss man auch sagen, dass zum Beispiel die Experten die solche Bürgerinitiativen engagieren, dass die auch vom Steuerzahler finanziert werden müssen. Nicht nur die Bürokratie hat ein Recht darauf irgendwelche Experten zu nominieren, sondern die Bürgerinnen und Bürger haben das auch. Autorin Der Verein der Bürger vom Meyerinckviertel holte sich den Rat eines Fachanwalts für Verwaltungsrecht. Und Karsten Sommer eröffnete ein Klageverfahren gegen die Umnutzung des Kinos in einen Supermarkt, gegen die Baugenehmigung. O-Ton Rechtsanwalt Sommer Da geht's ja um Verkehr, Verkehrsbelastung, Verkehrslärm und Verkehrsbehinderungen und da ist immer die Frage, wie kann ich das belegen. Das Bezirksamt sagt, ich weiß von nichts, der Investor sagt, ich verursache keine Verkehrsprobleme und die BI sagt, es ist aber ganz fürchterlich. Die Frage ist, wer kann am Ende das belegen, was er da sagt. O-Ton Beate Jensen Wir haben unter Einsatz unserer Freizeit und Urlaubstage wechselseitig Dienst geschoben. Anwohner haben Aufzeichnungen vom Balkon, weil sie gestört waren dadurch und haben das mit Fotos dokumentiert. Das war auch abgesprochen mit dem Verkehrsausschuss, ich hab mit dem Justitiar der bvv darüber selbst gesprochen, dass ich gesagt habe, was akzeptieren sie denn als Nachweis, und da sind wir überein gekommen, dass wir das beobachten, dass wir das aufschreiben und Fotos machen und das haben wir auch getan. O-Ton Naumann Es hat ja 2 Klagen gegeben vor dem Verwaltungsgericht in Berlin, und dieses Gericht hat entschieden, dass in der Tat die Baugenehmigung nur erteilt werden dürfe, wenn es bei dieser zugesagten Anlieferung von 8 bis 9 Lkws oder Sprintern pro Woche bliebe. Es ist aber die Zahl von der Firma selber kurz vor Ablauf der Genehmigungsfrist erhöht worden auf mindestens drei Dutzend und damit hätte das Gericht noch mal gefragt werden müssen. Autorin Ist es Schlendrian oder hat der Unternehmer einen willigen Helfer gefunden? Jedenfalls setzte Alnatura-Chef Götz Rehn seine Pläne mit vorsätzlich falschen Angaben durch, bestätigt auch Marc Schulte. O-Ton Marc Schulte Und da haben uns die Eigentümer auch in der Tat falsche Daten geliefert, aber es ist so, dass die Baubehörde nicht von vornherein solche Sachen anzweifeln darf. O-Ton Beate Jensen Und dann wird ein neuer Antrag gestellt vom Investor. Wochen vor der Eröffnung des Ladens und dieser Antrag bleibt im Amt liegen, wird nicht bearbeitet, überschreitet die Vier-Wochen-Frist und ist deswegen rechtskräftig. O-Ton Marc Schulte Verwaltung ist niemals perfekt, Verwaltung macht auch Fehler. Wenn ich für ein Bauamt von Charlottenburg Wilmersdorf zuständig bin mit 300.000 Einwohnern, ist klar, dass ich nicht jeden Bauantrag sofort sehe. Und wenn ein Mitarbeiter einen Bauantrag liegen lässt, obwohl es klar ist, dass es ein wichtiges Projekt ist, dann können sie sicher sein, dass man als Verwaltungschef nicht begeistert in die Luft springt. O-Ton Naumann Ach, denken tu ich mir viel, aber alles was ich mir da denke, führt in solche Abgründe, dass ich dazu gar nichts sage. O-Ton Marc Schulte Und dann kommt man natürlich auch nicht damit gegen an, wenn man sagt, da ist ein Fehler passiert, weil dann heißt es, nee, das war Absicht, das ist, wo ich glaube, dass man auch einen Umgang zwischen Bürgerinitiativen und Verwaltung einfach auch durch die Verdichtung von Arbeitsprozessen auch so was akzeptieren muss, dass auch Fehler in der Verwaltung passieren. Autorin Für mich als Laiin ist diese Lässigkeit eines Veraltungschefs in Bezug auf die Leistungsfähigkeit seiner Behörde schwer verständlich. Aber Rechtsanwalt Sommer sieht das eher abgeklärt. O-Ton Rechtsanwalt Sommer In der Verwaltung gibt es tatsächlich Leute, die relativ wenig arbeiten, das lässt sich auch statistisch nachvollziehen anhand der Krankheitsstände. Es ist ein weit verbreitetes Problem, das Sachverhalte einfach nicht bearbeitet werden. Atmo Autorin Das Kino ist weg, aber offensichtlich wollte das Ordnungsamt sich den Anschein geben, dass es für die kulturelle Gestaltung des Viertels etwas tut. Die Behörde gestattete dem Künstler Georg Seibert seine monumentale Eisenskulptur "Ikarus", die dort vor Jahren schon einmal stand und nach Protest der Anwohner entfernt worden war, wieder auf dem kleinen Meyerinckplatz abzustellen. Ich habe Mühe, in dem abstrakten Werk zu erkennen, was der Künstler mir erläutert. Aber so ist es ja mit moderner Kunst. Sie braucht Vermittlung. Ein Arm des Ikarus liege am Boden, einer rage in den Himmel. Er habe die Skulptur für Kinder geschaffen und hat für sie eine Botschaft, eine Lehre fürs Leben: Lernt fliegen! Aber verpasst die Landung nicht! Werdet nicht zu übermütig, wie Ikarus, der im Höhenflug der Sonne zu nahe kam und abstürzte. Der Künstler wünschte, dass seine Skulptur auf die Straße gestellt wird, anstelle der parkenden Autos. So weit wollte das Bezirksamt nicht gehen. Parkplätze wegnehmen! Nein. Und jetzt steht die Skulptur da, wo sie niemand haben will. O-Ton Michael Naumann Auch hier muss man erleben, dies wird entschieden ohne mit irgendjemanden zu sprechen. Jedenfalls da steht das Ding nun, durch eine Entscheidung von autonom handelnden Politikern. Das ist alles sehr mysteriös, aber da steht das Ding nun. Also das Ganze hat schon etwas Possenhaftes. O-Ton Beate Jensen Wir wollen ja auch den alten Brunnen wieder haben. Es gibt sogar einen Brunnen, der dem alten Brunnen sehr ähnlich ist. Wir könnten mit wenig Aufwand eine kleine Boule-Bahn haben. Autorin Beate Jensen gibt ihre Träume für ein lebendiges, bürgernahes Wohnviertel mitten im Zentrum des Berliner Westens nicht auf. Unermüdlich mobilisiert sie ihre Nachbarn, hofft auf tätige Unterstützung für ihre Ideen. Man müsste nur ein Stück Straße sperren, dann hätte man den Platz vergrößert, ihn mit den Bürgersteigen und Cafés verbunden. Man hätte dann eine richtige Oase und nicht nur eine schöne Verkehrsinsel unter Platanen. O-Ton Beate Jensen Wir könnten weniger Autos haben, dass wir den Platz überhaupt erreichen können, dass wir zu Fuß dorthin gehen können ohne übergefahren zu werden, dann können wir uns dort hinsetzen, uns dort treffen, das wär ein ganz schönes Ziel. Vielleicht schaffen wir es ja, so ein bisschen Zukunftsperspektive da auch fühlbar zu machen. Diese Vision, dass es für uns alle noch ein viel, viel schönerer Platz und Aufenthaltsqualität sein könnte, das ist ein schönes Ziel, an dem ich gerne mitwirken würde. Mal gucken. Mal gucken. Atmo: Straßenmusik. "Vielen Dank für Geld. Einen schönen Tag noch, vielen Dank." ? "Danke, Ihnen auch." Absage Der relative Wert des Schönen Vom Kampf um eine urbane Idylle Ein Feature von Tita Gaehme Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2014. Es sprach: Hildegard Meier Ton und Technik: Gunther Rose und Anna Dhein Regie: Axel Scheibchen Redaktion: Hermann Theißen Atmo 26