Deutschlandradio Kultur Literatur 24.07.12 Segeln abseits des Betriebs Der Schriftsteller Sten Nadolny Von Knut Cordsen Redaktion: Sigried Wesener Zusp. 1 Nadolny: "Ich kann stundenlang irgendwo sitzen und mir was denken. Ich langweile mich nie. Außer im Betrieb. Es muss nicht der Literaturbetrieb sein, aber so Events, ja, die machen mich meistens ganz unglücklich. Ich bewege mich da nicht wie ein Fisch im Wasser, sondern setze mich am liebsten schnellstens irgendwo hin und bestelle etwas Gutes zu trinken und dann gehe ich auch bald wieder, weil ich weiß, dass es keine Chance gibt, hier wirklich etwas zu erleben." Spr.: Es gibt einen schönen Satz von Sten Nadolny: "Was man durchs Gespräch erfährt, ist des Merkens allemal würdiger als Nachrichten aus der Zeitung. Glückliche Funde, selbst ergattert, haften auch besser." Eine Begegnung mit diesem Eigenbrötler des deutschen Literaturbetriebs hinterlässt vieler solcher im Gedächtnis haften bleibender Funde. Sten Nadolny ist einer, der auf Distanz hält. Und der als Autor bisweilen bereits als verschollen gemeldet wurde, weil man so gar nichts mehr von ihm hörte oder las. Er ist nicht vollends von der Bildfläche verschwunden, aber es ist schon so, wie er es kaum verklausuliert in seinem jüngsten Roman "Weitlings Sommerfrische" schreibt, der im Jahr seines 70. Geburtstags erschienen ist und stark autobiographischen Charakter hat: Einen alles überragenden Bestseller hat er vor vielen Jahren gelandet, der die Geschichte eines verschollenen britischen Seefahrers erzählt, dessen Spuren sich irgendwo in den eisigen Weiten der kanadischen Arktis verlieren: John Franklin. Ein Buch, das sich über anderthalb Millionen mal verkaufte, in alle Weltsprachen übersetzt wurde. Und danach? Zitator ("Weitlings Sommerfrische"): "Danach verlor er den Kontakt zum großen Publikum wieder, aber er blieb ein Name." Spr.: Seitdem Sten Nadolny 1983 seinen Klassiker "Die Entdeckung der Langsamkeit" veröffentlichte, verbindet sich "Die Langsamkeit" mit seinem Namen - ein Buch als Fluch? Oder als Bürde? Zusp. 3 Nadolny: "Ich habe nie irgendwie bereut oder ich habe nie mich irgendwie daran gestört, dass mir dieses eine Buch ... - nein sagen wir so: dass mir dieser eine Erfolg gelungen war. Das war sozusagen jetzt Kapital, das war Besitz. Das war der Treffer im Lotto. Und ich habe nie gesagt. Ha, wie wunderbar würde ich jetzt groß rauskommen, wenn dieses Buch nicht wäre. Ich hatte sogar manchmal durchaus das Gefühl, dass ich da nicht mehr rankomme, ich glaube, es stimmt auch. So ein Buch schreibt man möglicherweise nur einmal im Leben, und wenn man's versucht zu wiederholen, nachzumachen, so was Ähnliches zu schreiben, dann wird man sich genauso viel Verdruss einhandeln wie wenn man was ganz Anderes schreibt. (lacht) Enttäuscht sind die Leute immer. Aber das gehört halt dazu, das ist der Preis." (00'48) MUSIKAKZENT Spr.: Ein Besuch bei einem, der schon in seinem literarischen Debüt "Netzkarte" 1981 von einem erzählt, der beschließt, "sich und anderen abhanden zu kommen", kurz: "zu verschellen": "Verschollen gab es, aber über die Präsensform hatte ich Zweifel", so sagt es sein literarisches alter ego Ole Reuter da, und auch zwanzig Jahre später, in der Fortsetzung "Er oder Ich", lässt ihn die Frage nicht los, warum wir zwar das Partizip "verschollen" kennen, aber just "die Präsensformen des Verbums ,verschellen' dahin sind". Die tiefere Ironie dabei bleibt kaum einem verborgen. Das "Verschellen" oder "Verschallen", auf das nach dem Wörterbuch der Gebrüder Grimm eben jenes "verschollen" zurückgeht, ist selbst - verschollen. So wie Sten Nadolny den Wurzeln eines Wortes nachsinnt und ihm dadurch auf den Grund zu kommen sucht, so wird man ihn, diesen bedachtsamen, höflichen Herrn wohl am besten verstehen, wenn man ihn dort aufsucht, wo seine Wurzeln liegen: in Chieming, wo er heute noch zeitweise lebt und schreibt, in einem dunkelbraunen Holzhaus mit rot- weißen Fensterrahmen, das im Schatten einer hohen Linde nah am Chiemsee steht. Zusp. 4 Nadolny: "Ja, von dem Fenster aus, hinter dem ich sitze und schreibe, kann man den See sehen. Ich schaue übrigens immer auf lauter lustige Gesellen, die das so genannte Kite-Surfing betreiben. Und zwar ist das gerade bei allerschlechtestem Wetter offenbar die beste Zeit für sie, also wenn's wirklich junge Hunde weht und Orkanstärke herrscht, dann kommen die und wagen sich ins Wasser und lassen sich dann oft hoch tragen von diesem Sturmwind. Also der fasst in ihren Drachen oder was das dann ist, hinein und hebt sie empor und sie kommen dann wie eine Katze dann wieder auf den Füßen an und segeln weiter. Also das zu sehen, ist schon ... ja, das sind natürlich auch Ablenkungen, (lacht), aber ich mag das gerne, diese wetterharten Gesellen da, und ihre Sprünge und das ist schon sehr schön anzugucken." (00'59) Spr.: Geboren wurde Sten Nadolny 1942 in Zehdenick an der Havel nahe Berlin, aber seine gesamte Kindheit und Jugend verbrachte er in Oberbayern, in Chieming. Zusp. 5 Nadolny: "Ich glaube, zwei Wochen nach meiner Geburt bin ich schon hierhergekommen. Meine Mutter war gerade zu Besuch in Gransee, beim Großvater Nadolny, und da kam sie nieder, und da das aber dort kein Aufenthalt von längerer Dauer sein konnte - Berlin war nun unter Bomben usw. - also sie fuhr mit irgendwelchen Zügen, die öfters beschossen wurden und brannten oder irgendwas, schnellstens wieder nach Bayern zu ihren Eltern, weil das ein sicherer Ort hier war. Spr.: Nadolny wohnt in Berlin, aber gerade ist er wieder einige Tage in Chieming, in dem Haus, das sein Großvater, der Maler Alexander Peltzer 1932 gebaut hat. Ursprünglich hatte es nur eine Hütte zum Aufbewahren der Badeanzüge werden sollen. Hier wurde Nadolny groß. Die Anschrift lautet heute: Isabella-Nadolny-Weg 1. Ist es nicht komisch, in einem Haus zu leben, dessen Adresse den Namen der Mutter trägt? Nein, ganz im Gegenteil, erwidert Nadolny, er habe sich gefreut, als der Gemeinderat nach dem Tod der Schriftstellerin Isabella Nadolny dieses Ansinnen an ihn, ihren Sohn, herantrug. Sten Nadolnys Vater war der Schriftsteller Burkhard Nadolny. In seinem in diesem Jahr erschienenen Roman "Weitlings Sommerfrische" setzt der Sohn diesem "Wortlöwen", dem zeitlebens der große Erfolg versagt blieb, ein berührend-zärtliches Denkmal in Gestalt des vom Pech verfolgten Autors Hansjörg Weitling. Im bäuerlich geprägten Chieming in den 50er und 60er Jahren bleibt vielen "nebelhaft", was so einer wie dieser Nachtarbeiter eigentlich tut. "Schriftsteller, das ist einer, der sich was denkt und es aufschreibt", heißt es im Dorf, und vielleicht ist just diese vermeintlich schlichte Definition auch die beste. Zusp. 6 Nadolny: "Also in mir ist schon ganz früh der Entschluss gereift, auf keinen Fall Schriftsteller zu werden, weil ich ja sah, dass das nicht ... dass das eine merkwürdige Tätigkeit ist. Erstens verdient man nicht viel Geld damit, so habe ich das zunächst mal erlebt. Man arbeitet drei Jahre und die Leute wollen das dann eigentlich gar nicht so unbedingt lesen, jedenfalls nicht viele, und dann war's auch merkwürdig, weil natürlich nicht alle wussten, was mein Vater überhaupt so treibt. Der ging da immer im Garten auf und ab und rauchte, und dann verschwand er ins Haus und kam irgendwann wieder und rauchte wieder, spazierte wieder, was konnte sich also jetzt hier in der Umgebung nicht jeder vorstellen. Ich wollte eigentlich etwas Solides werden, womit man auch Geld verdient, und hatte dabei auch die Idee, muss ich zu meiner Ehre sagen, von meinem Geld dann den Eltern etwas abzugeben, damit sie weiter so dieser komischen Tätigkeit nachgehen können." (01'04) Spr.: Sten Nadolny wächst in einer Familie auf, in der viel geredet wird, auch über die möglichen Konstruktionen von Geschichten. "Konversationsstark" seien seine Eltern gewesen, sagt er rückblickend - und erinnert sich daran, wie selbst beim Mittagessen vom Tisch aufgesprungen und zum Regal gerannt wurde, wenn eine Wissensfrage geklärt werden musste. Meyers Konversationslexikon wusste Rat, und eben jenes Nachschlagewerk war es auch, in dem Nadolny erstmals auf einen gewissen Sir John Franklin, einen Konteradmiral im Dienste Seiner Majestät, stieß. Zusp. 7 Nadolny: "Das stimmt, das war so mit 14 etwa. Ich fand den großartig, der hatte mit Indianern zu tun und mit Eskimos, Polarforscher, Seemann, zu Seeleuten hatte ich ein besonders gutes Verhältnis, weil ich am Chiemsee wohnte, da gab's zwar keine Seeleute in dem Sinne, aber man kann sich den Chiemsee an manchen Tagen sehr gut als Atlantik vorstellen oder als die Hudson Bay oder den Stillen Ozean. Und ich habe immer wieder neue Informationen über John Franklin gesammelt, und bin auch nach England gefahren, als ich 17 war, das fuhr ... tat ich sowieso, aber ging dann in eine Bibliothek und suchte nach John Franklin. Und der hat mich so etwas begleitet, und ich dachte immer, ich muss irgendwas in der Richtung auch tun oder werden, Franklin-Forscher z.B., wissenschaftlich natürlich, und mit dem Spaten in der Hand, um ihn dann irgendwo auszugraben aus dem Permafrostboden der Arktis, daraus wurde natürlich nichts, und ich habe auch keine Doktorarbeit über ihn schreiben können, weil der Doktorvater sich schüttelte vor Lachen sagte: Was glauben Sie, was für eine Bedeutung so eine langweilige Marine- Karriere des 19. Jahrhunderts hat! Schließlich bin ich doch drauf gekommen, dass ein Roman wohl das Beste wäre." (01'39) Zitator (aus "'Die Entdeckung der Langsamkeit', S. 196): "Er brauchte die Bewegungen des Meeres, und das Segeln war ihm wichtiger als das Atmen. So träumte und dachte er. Er sah auch Bilder: Flussbiegungen, Boote, wilde Tiere, gefährliche Augenblicke. Jetzt erschienen Eisberge, Schollen knirschten unter dem Kiel, dann öffnete sich eine weite, glitzernde Durchfahrt. Der Eisgürtel verschwand, und der Polarsommer tat sich auf und mit ihm das Land, wo die Zeit nicht drängte." MUSIKAKZENT Spr.: Bis dahin aber ist es noch ein weiter Weg. Davor liegt das Studium: Mittelalterliche und Neuere Geschichte sowie Politologie in München, Tübingen, Göttingen und Berlin. Seine Dissertation schreibt Nadolny bei Thomas Nipperdey über die Abrüstungsdiplomatie 1932/33. Und diese Arbeit hat mit einem ihm nahen Verwandten zu tun - mit seinem Großvater Rudolf Nadolny: einst Gesandter in Stockholm, dann Botschafter in der Türkei und 1932/33 Leiter der deutschen Delegation auf der Genfer Abrüstungskonferenz des Völkerbunds. Rudolf Nadolny war ein Mann mit Eigensinn, der als einer der ganz wenigen im Auswärtigen Amt Adolf Hitler offen die Stirn bot. Für seinen Enkel war er daher ein großes Vorbild. Zusp. 9 Nadolny: "Ja, ja, der Großvater väterlicherseits war das. Der starb schon 1952, nein 53, da war ich natürlich noch klein, elf. Und wusste aber schon: Das ist der große Großvater. Das ist ein großer Mensch, das ist ein tapferer Mensch, das ist ein kluger Mensch usw. Ich liebte meinen anderen Großvater, den Maler, sehr, und dem war ich ja auch nah und sah ihn jeden Tag, wie er malte, und wahrscheinlich habe ich viel mehr von dem übernommen, hat mich viel mehr geprägt von diesem mütterlichen Großvater her, und der andere war der Held. Und der große Name, deswegen war ich ja nun stolz, so zu heißen, und ich war auch ganz traurig, als er starb, aber ich hatte ihn kaum kennen gelernt. Ich habe ihn nur einmal, zweimal gesehen und erinnere mich, dass er mir dann sagte, ich soll mich gerade halten. Denn es störte ihn, dass ich so schlaff rumhing und so'n Buckel machte." Spr.: Der Historiker Sten befasste sich mit der Geschichte seines Vorfahren Rudolf Nadolny. Der verweigerte konsequent den Hitlergruß und die Anrede "Mein Führer". Eine 32 Dienst-Jahre währende Karriere schmiss er am Ende hin - aus Überzeugung. Zusp. 10 Nadolny: "Das war im Frühjahr 34. ... ist zurückgetreten, zusammen übrigens ziemlich gleichzeitig mit einem anderen, Prittwitz-Gaffron, dem Botschafter in Washington, der das noch dezidierter begründet hat, dass er diese Politik der Nazis im Ausland nicht vertreten kann." (00'18) Spr.: Der angesehene Diplomat Rudolf Nadolny stellte sein Amt als Botschafter in Moskau auf eigenen Wunsch wegen der sowjetfeindlichen Politik zur Verfügung und widmete sich fortan der Landwirtschaft. Was für ein Wechsel -das internationale Parkett tauschte er ein gegen ein 20 Morgen großes Obstgut im Brandenburgischen. Zusp. 11 Nadolny: "Naja, dann pachtete er ein Gut - ja, er hatte zwar nicht die vollen Ruhestandsbezüge natürlich, aber er war furchtbar sparsam und besonders meine Großmutter war das gewesen, und da war dann ein bisschen Geld da und er konnte sich da ein Obstgut in Gransee in der Nähe Berlins pachten und das bewirtschaften, und in solchen Sachen war er auch ziemlich tüchtig und umsichtig, und er blühte auf. Er war ja sozusagen ein Bauernjunge, sein Vater war ein freier Bauer in Ostpreußen, und das lag ihm. Und er hat da in Ruhe weiter Obstbauer gespielt. Kam nur natürlich Krieg und Kriegsende und alles Mögliche dazwischen, wie man weiß." Spr.: Ein wenig von diesem Eigensinn seines Großvaters hat Sten Nadolny wohl geerbt. Immun zeigte er sich zumindest während der 60er Jahre gegen das, was er in seinem weithin unterschätzten Roman "Selim oder die Gabe der Rede" 1990 retrospektiv "die APO-Krankheit" nannte: den "linkshemisphärischen Begriffsdrill", die "Diffamierung der Nachdenklichkeit" und derer, die sich noch ihre eigene Sprache bewahrt hatten,, "das Leiern und Knirschen der klassenkämpferischen Agitationsmühle", - all das störte Sten Nadolny sehr. Zusp. 12 Nadolny: "Ich war damals auch ergriffen von dem Geist der Veränderung, der neuen Lebensweise und der neuen Offenheit oder was immer man sich vorgestellt hat - jeder hat sich ein bissl was anderes vorgestellt - naja, ich fühlte mich schon angesteckt und war dann bloß sehr schnell abgestoßen und fühlte mich nicht mehr wohl, als das sozusagen nicht mehr bisschen hippiehaft und mit Musik verbunden war, sondern als Steine geworfen wurden, als ständig in diffamierender und herabsetzender Weise über jedes und jeden geredet wurde, da fing ich an, unglücklich zu werden mit dem Ganzen, das war nicht meine Art, dieses Polemische, dieses Rechthaberische, dieses historisch Siegesgewisse, das passte nicht zu mir. Das schien mir die Sache ins Gegenteil zu verkehren dessen, was man möglicherweise gewollt hatte, und dann lebte ich einfach wieder eigenbrötlerisch vor mich hin." MUSIKAKZENT Spr.: Den Eigenbrötler trieb es jetzt zu einem Brotberuf. Nach einer kurzen Zeit als Lehrer in Berlin-Spandau und als Aufnahmeleiter beim Film - u.a. für den Dreh der Berliner Szenen von "James Bond - Octopussy" - beginnt er zu schreiben. Er macht sich daran, sein Jugend-Idol John Franklin in Literatur zu verwandeln. 1980 betritt er dann im Alter von 38 Jahren erstmals die literarische Bühne, und das mit Aplomb. Seine Teilnahme beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt gerät ihm zum Triumph. Es ist die Geburtsstunde seines Meisterwerks "Die Entdeckung der Langsamkeit". Nicht nur, dass Nadolny einhelliges Lob von der Jury am Wörthersee zuteil wird - Marcel Reich-Ranicki, Walter Jens, Hilde Spiel, Klara Obermüller, Joachim Kaiser, Günter Kunert, Adolf Muschg, Peter Härtling und Ulrich Greiner staunen auch nicht schlecht, als der mit dem Bachmannpreis Gekrönte beschließt, sein Preisgeld unter allen 18 Teilnehmern des Wettbewerbs gleichmäßig aufzuteilen - aus Protest. Zusp. 13 Nadolny: "Ja, das war eine etwas zugespitzte Idee von mir damals, ich dachte, mein Gott, wir schreiben doch alle vollkommen verschiedene Texte, kommen aus ganz verschiedenen Ecken. Wie kann man es wagen, daraus einen Wettbewerb zu machen und zu sagen: Der und jener ist der beste. Wir sind ja nicht beim Formel- 1-Rennen. Damals wollte ich das demonstrieren, was ich meinte, und verteilte das Geld." Spr.: Jeder fuhr mit 500 Mark nach Hause, die Verlierer ebenso wie der Gewinner, eben weil es in der Literatur solche Kategorien wie Gewinner und Verlierer für Nadolny nicht gab. Kein Heischen nach medialer Öffentlichkeit war das, sondern die Überzeugungstat eines Einzelgängers. Und es passte: John Franklin selbst, sein Held, war auch kein Sieger. Sein Vater Burkhard, dem Sten Nadolny den fertigen Roman widmete, war schon früh eines plötzlichen Todes gestorben. Blieb nur die Mutter Isabella, mit der er jahrelang über den Franklin-Stoff diskutiert hatte. Zusp. 14 Nadolny: "Ich habe ihr immer meine Manuskripte gegeben, alle, und sie hat ein gnadenlos gutes Auge für Texte. Und sie war natürlich auch dann irgendwie mitbeteiligt und sie war stolz, als dann die ,Langsamkeit' erschien. (Pause) Ihr erster Satz, als sie das Manuskript gelesen hatte, da sagte sie einen Satz, den ich übrigens falsch finde, aber er war von ihr mit so einem großen Stolz gesagt, sie sagte: ,Das Buch eines Gentlemans über Gentlemen.' Und ich bezweifle den ersten Teil ihres Satzes, Gentleman bin ich nie gewesen und werde es auch nicht, aber dass sie dieses Gentleman-like oder meine Sehnsucht nach der Figur des Gentleman, dass sie das erkannt hat und mich da gleich mit einbezog, - ich war natürlich zu Tränen gerührt. Ich freute mich ungeheuer über diesen Satz." Zitator (aus ,Die Entdeckung der Langsamkeit'; S. 66 und 64): "Benehmen wie ein Gentleman. Beim Geschütz so wenig wie möglich im Weg stehen. Vom Batteriedeck zum Achterdeck rennen und zurück. Befehle möglichst sofort verstehen oder, wenn nicht möglich, energisch Wiederholung erbitten. .. Und John hatte, während die Erfahrenen fieberten oder erstarrten, einen der Augenblicke, die ihm gehörten, denn er konnte die schnellen Vorgänge und Laute ignorieren und sich solchen Veränderungen zuwenden, die ihrer Gemächlichkeit wegen für andere kaum noch wahrnehmbar waren." MUSIKAKZENT Spr.: ,Die Langsamkeit', wie Sten Nadolny seinen Roman nennt, erscheint mittlerweile in der 46. Auflage. Gelegentlich wird es als "Kultbuch" tituliert, aber derlei dummdeutsche Begrifflichkeiten werden diesem modernen Klassiker kaum gerecht. Zusp. 16 Nadolny: "Diese Figur John Franklin ist ja sozusagen eine vollkommen, eine vollkommen positive, das ist ja geradezu penetrant, wie gut der ist, wie wacker, wie tapfer, wie er sich Gedanken macht, wie er Verantwortung versucht zu übernehmen für das, was er tut und das zu rechtfertigen, das ist ja ein bisschen ein Intellektueller fast, der gewissen-, sehr gewissenhaft ist. Und wenn dann noch die Mischung dazu kommt, er wird Prüfungen ausgesetzt, er gerät ins größte Schlamassel, wo man ganz schnell sein muss, während er doch langsam ist und bedächtig. Und er schafft es irgendwie, also diese Tapferkeit, der Optimismus, die Hoffnung eines Riesen, ja, die diesen Franklin auszeichnet, das ist etwas, das macht ihn zu einer Identifikationsfigur ersten Ranges, also zu so einem Hoffnungsspender für Leute, denen es ähnlich geht, die sich auch auf die Füße getreten fühlen oder in die Hacken getreten, und die auch nicht wissen, ob sie es schaffen werden. Das sind Geschichten, die an sich immer gut ankommen; ich wollte nur ein besonders schön und gut geschriebenes Buch über diesen John Franklin vorlegen, der mein Leib- und Magenheld war und viel erlebt hat. Und dem ich die Eigenschaft der Langsamkeit eigentlich gegeben habe, um ihn etwas interessanter zu machen, literarisch interessanter, um ihn zu einem einzigartigen Menschen zu machen, der es schwer hat, weil dann die Fallhöhe größer ist, er riskiert mehr, er kann schlimmer scheitern, er kann sich schlimmer blamieren als andere Leute und so, und alle anderen hacken auf ihm rum, er sieht sich ständig einem Plural gegenüber. All das habe ich eigentlich gemacht, um einen Helden zu schaffen, damit dieser nette, etwas dröge möglicherweise tüchtige Seeoffizier und Polarforscher, den ich nun mal liebte als Figur, etwas interessanter wurde." Spr.: Vielleicht kann man Sten Nadolnys "Die Entdeckung der Langsamkeit" sein Lebensbuch nennen. Immer wieder nimmt er darauf in seinem nachfolgenden Ouvre Bezug, so auch in seinem Roman "Selim oder die Gabe der Rede" mit dem Satz: Zitator (,Selim'): "Das Erzählen trägt uns wie die See den Seemann. Nichts wird durch sie sicherer, nur er selbst." (00'07) Spr.: Auch wenn Nadolny solche Sätze für Formulierungen von Selbstverständlichkeiten hält - sie spiegeln die tiefe Überzeugung ihres Schöpfers wider. Die Langsamkeit, sie tritt in nahezu allen seinen Büchern auf: "Langsam sein, um zu bestehen", diese Worte finden sich in seinem Debüt "Netzkarte". Und in "Er oder Ich" heißt es: "Weg mit der Raschheit, die irgendwo immer auf einen Diebstahl hinausläuft." Und in "Selim oder die Gabe der Rede" notiert der Erzähler: Zitator (,Selim'): "Wenn irgendwo, dann wohnt der Widerstand im Erzählen. Listig, schwer erkennbar, erst nach längerer Zeit wirksam. Erzählen widersteht der Eile, es verfügt über ein unangefochtenes Volumen an Zeit und Bewegungsfreiheit." (00'19) MUSIKAKZENT Zusp. 19 Nadolny: "Also ich bin nicht besonders arbeitslustig. Ich finde, es ist immer ziemlich trist, da zu sitzen und einen Satz nach dem anderen zu schreiben und sie taugen alle noch nichts und sind wiederholungsreich und es ist nichts drin, es schmeckt nach nichts, es gibt nur umrisshaft ungefähr das wieder, was ich mir vorgenommen hatte zu schreiben, aber es ist trocken und irgendwie doof. Und das belastet natürlich die Seele, man denkt: Ach, was schreibst du denn da für dummes Zeug, das wird ja nie was! Deswegen mache ich wochen- und monatelang einen Bogen um den Schreibtisch und setze mich da nicht hin, um Sätze zu schreiben, weil ich weiß: Das ist Frust, das führt zu Depressionen, das zeigt mir auch immer, wie lang der Weg noch ist, bis ich dann da durch bin durch diesen Hirsebreiberg, - viel schöner ist es, zu konstruieren, d.h. dann am Gartentisch zu sitzen, eine Zigarre zu rauchen und ein Papier vor mir zu haben, auf dem ich natürlich nicht Sätze schreibe, sondern Diagramme und sehr seltsame Figuren und Linien und Satzfetzen und Gedanken. Alles so was, ja, was irgendwie auch noch rein müsste und so. Sich ein Buch auszumalen, das noch nicht existiert, ist wunderbar, das ist eine, eine Lust! Aber es zu schreiben, das ist dann das Landen auf dem Erdboden wieder, der sehr steinig und hart ist, und man merkt: (stöhnt) Du hast es schon irgendwie vor Augen, aber erstens siehst du ja schon nach zwei Sätzen die du schreibst, dass das gar nicht funktioniert, was du dir am Gartentisch mit der Zigarre eingebildet hast, und dass es dann auch noch so lange dauern wird." (01'38) Spr.: Ein Erfinder auf der Suche nach mehr Selbstgewissheit ist Sten Nadolny seit jeher. Einer, der unsere labile seelische Architektur erzählend erkundet. Zitator (,Selim'): "Erzählen ist innerer Wohnungs- und Städtebau. Es ist ins Zeitliche gewendete Architektur, schafft Grundlage für alle Fragen und Entscheidungen, heilt von Demütigungen, macht sogar hin und wieder augenzwinkernd Fehlschläge zu Erfolgen. Vor allem ist es das große, das überragende Mittel gegen Einsamkeit." (00'22) MUSIKAKZENT Spr.: In seinem siebzigsten Lebensjahr hat Nadolny nun einen schmalen Roman veröffentlicht, der dort spielt, wo er Kindheit und Jugend verbrachte: am Chiemsee. Wohl in keiner anderen literarischen persona hat sich Sten Nadolny so genau porträtiert wie in Wilhelm Weitling, der Hauptfigur dieses Romans, die "schwankt zwischen größenwahnsinnigen Träumen und tiefer Trübseligkeit". Augenfällig sind die Übereinstimmungen von Weitlings Vita mit der Nadolnys - bis hin zu dem Segelboot, das der eine wie der andere besitzt: eine so genannte Chiemseeplätte. "Nicht viel mehr als ein mit Lugersegel und Steckschwert versehener Fischerkahn", sechs Meter dreißig lang und "ausgesprochen elegant", so beschreibt sie ihr Halter. Zusp. 21 Nadolny: "Ja, ja, ich habe eine Chiemseeplätte, mit der ich auch ab und zu mal segle, viel zu wenig, weil ich immer denke: Ach, schreibe ich heute doch lieber mal ein bisschen weiter oder es liegt wieder irgendwas dazwischen. Also ich bin da etwas faul, aber auch manchmal etwas zu verhindert, um da jetzt wirklich für einen Tag auf den See zu gehen. Also Segeln ist so eine Sache, die ich gelegentlich furchtbar gerne mache, aber oft entscheide ich mich dagegen." Spr.: Es ist ruhig in jenem Holzhaus, das Sten Nadolny früher, als er hier noch mit seinen Eltern und dem Großvater lebte, "hellhörig wie eine Fregatte bei totaler Flaute" vorkam. Gerade ist er allein in Chieming, seine Frau hält es hier in der Stille am See nicht allzu lange aus. Sten Nadolny aber liebt diese Stille. Er ist ein Melancholiker, der weiß, was man im günstigsten Falle mitnimmt aus der Romanlektüre: "mehr Ahnungsvermögen für die Abgründe" in uns. Zitator ("Weitlings Sommerfrische"): "Und es ist wahr, als Kind wünschte ich sehnlichst, dass sich nichts änderte, keine Landschaft, kein Mensch, den ich liebgewonnen hatte, ich wünschte mir Stillstand - nur mit mir selbst durfte es natürlich mächtig weitergehen." Zusp. 23 Nadolny: "Ich möchte gerne Nicht-Leser gewinnen und erreichen. Leute, die eigentlich sonst keine Bücher lesen, sollen von dem, was ich schreibe, begeistert sein. Das ist also jedenfalls so eine Wunschvorstellung, ja. Ob ich das je erreicht habe, weiß ich nicht. In einigen Fällen doch - also das Langsamkeitsbuch, das kriegten nämlich manchmal Männer geschenkt, die sonst nie Bücher lesen, aber sehr langsam sind. Und die haben das dann tatsächlich gelesen, weil man ihnen gesagt hat: Da kommst du vor. Das ist ja ein starker Motor beim Lesen, dass man sagt: Ich komme vor, ich weiß es, man hat's mir gesagt. (lacht) Das passiert also auch." 11