DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Feature Dienstag, 30.06.2009 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 - 20.00 Uhr VERKORKSTE ORTE IM REVIER Ein Rundgang im Vorfeld der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 Von Ulrich Land URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Musik Autor: Qualmende Schlote, rußgeschwärzte Hausfassaden, sirrende Seilscheiben, kohlrabenschwarze Gesichter - der Ruhrpott Mitte der 70er Jahre. Und 2010: Die Kulturhauptstadt Europas! O-Ton Bürgersteigphilosoph 3 Da hab ich nix mit am Kopp. // Dann schlagen sie dat wieder auf de Miete drauf. // Is schön, wenn dat Kultur is, aber ohne meine Pfennige! Das wär gut. Ne? Aber die nehmen ja, wat se kriegen. Ne? Dat is dat. Headliner: Verkorkste Orte im Revier. Ein Rundgang im Vorfeld der Kulturhauptstadt Ruhr 2010. Ein Feature von Ulrich Land. O-Ton Bürgersteigphilosoph 1 En Haufen Trümmer. O-Ton Bürgersteigphilosoph 3 Jetzt werden wieder Zechen zugemacht. Überall wird doch zugemacht. O-Ton Bürgersteigphilosoph 2 Alles geht den Bach runner. Atmo: Fußgängerzone Oberhausen, Bahnhofsvorplatz Autor: Ganze Straßenzüge voller fantasieloser Fassaden, postindustrielle Brachen, lieb- und leblose Einkaufszonen, Verkehrsachsen, die gewachsene Stadtviertel zerschschneiden, urbane Wüsten. Auch wenn das Ruhrgebiet kurz davor steht, als Europas Kulturhauptstadt zu firmieren, stolpert man im Revier immer wieder in Orte und Ortsteile, die das Etikett "städtebauliche Problemzone" mehr als verdient haben. Sprecherin: Zum erheblichen Teil zählen diese verkorksten Revierplätze zur Erblast der anderthalb Jahrhunderte Montanindustrie. Und jetzt - obwohl zahllose Standorte knochenharter Maloche inzwischen als Museum, Kulturtempel oder Freizeitpark geadelt die Stadtbilder aufpolieren - jetzt, in den Zeiten schrumpfender Städte und schlaffer Stadtsäckel wird es offenbar immer schwerer, den im Stadtbild spürbaren Nachwehen der Industriegeschichte entgegen zu treten. O-Ton Bürgersteigphilosoph 2 Keine Ahnung. // Man weiß ja nich, wie't weiter geht. Ne? Noch schlimmer? Weiß man nich. Sprecherin: Im Zuge des ja nun schon Jahrzehnte währenden und noch längst nicht überall erfolgten, schon gar nicht erfolgreichen Strukturwandels setzen zahllose Ruhrgebietsstädte auf die - neudeutsch: "Creative Class". Auf Firmen also aus Branchen wie Film, Kunst, Musik, Architektur, Theater, Design, Mode. Selbst finanziell arg gebeutelte Städte suchen ihr Glück, indem sie im Stadtplan an möglichst prominenter Stelle ein Kreuzchen für ein Zentrum der Kreativwirtschaft platzieren. O-Ton Bürgersteigphilosoph 3 Dat is der allerletzte Heuler! Sprecherin: Und bei diesem Unterfangen kommt den Revierstädten die Tatsache, dass das Ruhrgebiet zur europäischen Kulturhauptstadt im Jahr 2010 gekürt wurde, sehr zupass. Denn sie werden beim Hofieren der Kreativler offensiv unterstützt durch die fürs Kulturhauptstadtjahr zuständige "Ruhr.2010-GmbH", die außer aufs Organisieren von Kunst- und Kulturevents einen Hauptakzent auf die Kreativwirtschaft legt. Immerhin existieren übers Revier verteilt etwa 23 000 Kultur- und Kreativunternehmen. Deutlich mehr als in Berlin und doppelt so viele wie in Köln. Und nun sind nicht wenige Stadtobere im Ruhrgebiet auf den Gedanken verfallen, diese Firmen und Firmchen zu bündeln und zu binden an einen speziell ausgewiesenen Standort in der jeweiligen Stadt. Headliner: In Unna-Massen soll ein ehemaliges Durchgangslager für Aussiedler aus Osteuropa mit einer Kreativ-Akademie bestückt werden und eine kreative Enklave auf der grünen Wiese entstehen. ? Auch dem Dortmunder "U", dem alten Brauereigebäude in Bahnhofsnähe, hat man das Label 'Designer-Standort' umgehängt. ? In Bochum wurde im Viktoria-Quartier, dem Gelände des ehemaligen Hauptbahnhofs, das Mekka der Kreativwirtschaft ausgerufen. ? In Gelsenkirchen ist es der Wissenspark, in Dinslaken die Zeche Lohberg, in Duisburg der Innenhafen. Und in Essen eine ausgedehnte Freifläche auf dem Gelände der Zeche Zollverein. Sprecherin: Fragt sich allerdings:.. Headliner: Gelingt es den postindustriellen Ruhrgebietsstädten, die städtebaulichen Insignien des industriellen Niedergangs auszumerzen und tatsächlich nachhaltig Stadtteilentwicklung zu betreiben, indem man Kreativ-Quartiere wie Phoenix aus der Asche steigen lässt? Musik Headliner: Standort EINS: Essen. Zeche Zollverein. Design unterm Förderturm. Atmo: Außenatmo Zollverein, Vogelzwitschern, Stadtlärmrauschen Autor: Verschachtelte Gebäudequader und -würfel, schräge oder waagerechte Rampen kreuz und quer, Flachdächer allenthalben, rechtwinkliges Stahlfachwerk mit rotbraunen Backsteingefachen. ein ganzes Regiment von Schornsteinen, ein Gewirr aus Gleisanlagen, Fördertürmen, Förderbändern. Aber es steigt kein Rauch mehr aus den Schloten. Eine parkähnliche Idylle erhebt die alten Zechen- und Kokereigebäude in den Stand von opulenten Skulpturen im Grünen. Headliner: Essen, Zeche Zollverein. Galt als die größte Zeche der Welt, bis 1986 der "Deckel auf den Pütt" kam und die Zeche samt angeschlossener Kokerei stillgelegt wurde. Sprecherin: Inzwischen trägt sie den Ehrentitel "Weltkulturerbe" und ist einer der designierten fünf Mittelpunkte der "Europäischen Kulturhauptstadt 2010". Und ganz nebenbei soll aus dem ehemaligen Bergwerk in einem der ärmsten Stadtteile Essens ... Headliner: ... "der bedeutendste Designstandort Deutschlands" werden, ein "Gestaltungszentrum mit europäischer Strahlkraft". O-Ton Tiggemann In Teilbereichen ist das ja // durchaus gelungen ... Headliner: Rolf Tiggemann, ehedem im Auftrag des Landes NRW zuständig für den Erwerb des stillgelegten Zechengeländes und die neue Standortentwicklung. O-Ton Tiggemann ... wir haben etwa in // einer ehemaligen Werkstatthalle eine Gruppe von Fotografen sitzen, wir haben // Grafiker und Designer dort sitzen, // eine Design-Agentur, // also wir haben schon // in dieser Richtung einiges geschafft. Headliner: Für die Herrichtung des Geländes und die Sanierung der alten Zechen- und Kokereigebäude wurden bislang rund 215 Millionen Euro öffentliche Gelder investiert. Wobei ein Großteil der Altbestandsbauten im Sinne des Weltkulturerbes als Industriemuseum dient. Sprecherin: Aber ein stattliches Areal ist noch ungenutzt und wartet auch über zwanzig Jahre nach der Stilllegung der Zeche noch auf die Errichtung der im Bebauungsplan ausgewiesenen "Design-Stadt": ... Headliner: ... der ehemalige Holzlagerplatz der Schachtanlage Zollverein 1/2/8. Sprecherin: Für diese "Design-Stadt" stehen indes keine öffentlichen Gelder zur Verfügung. Und so hofft man nicht zuletzt auf den Aufmerksamkeitsschub im Zuge des Kulturhauptstadtjahrs, denn hier müssen private Investoren angelockt werden. - Die eigentliche Nagelprobe für das weitere Entwicklungskonzept von Zollverein! O-Ton Tiggemann Das ist, wenn man sich den Standort heute nüchtern und realistisch anschaut, nicht in der Weise, wie wir's damals // vorgedacht hatten, gelungen. Sprecherin: Dort nämlich steht bislang ein einziges einsames Gebäude auf weiter Flur. Headliner: "Design-Stadt No 1". Atmo: Außenatmo Zollverein Autor: Ein anthrazitfarbener Kasten, dessen Architektur - wohlwollend ausgedrückt: an die Bauhaus-Geradlinigkeit der alten Zollverein-Gebäude angeglichen wurde. Wenn allerdings dieses belanglos bis schläfrig daherkommende Gebäude Initialzündung und Vorbild für die Bebauung des Geländes sein soll, dann dürfte die Design-Stadt ihrem Namen wenig Ehre machen. Sprecherin: Offenbar veranlasst der Investor dieser Immobilie denn auch nicht wirklich Nachahmungstäter, für das eine oder andere Gebäude der anvisierten Design-Stadt Geld locker zu machen. Neben der, sagen wir: zurückhaltenden Ästhetik des Baus mag dafür wohl auch die Tatsache verantwortlich sein, dass dort ein nicht unerheblicher Leerstand zu Buche steht. O-Ton Weiss Das Gebäude ist voll vermietet. Sprecherin: Die Klingelschildchen sprechen allerdings eine andere Sprache. In drei von zwanzig Büroeinheiten ist niemand anderer zu Haus als Max Mustermann, in zweien nicht mal der! Worauf der Stiftungsvorstand eilends nachbessert:... O-Ton Weiss Wir haben jetzt für alle Flächen Mietverträge wieder unterzeichnet, das Gebäude ist also wieder voll. Sprecherin: So Roland Weiss vom Vorstand der Stiftung Zollverein im März 2009. Drei Monate später indes bevölkerte Max Mustermann sogar vier Büros. Und zusätzlich prangten nach wie vor die beiden Leerflächen auf der Klingelschildchenfläche. Um die Design-Stadt auf dem weitläufigen Gelände am Nordrand von Zollverein jedenfalls ist es nach derzeitigem Stand nicht sonderlich gut bestellt. Und so hat man das Label "Design-Stadt" vorsichtshalber schon mal etwas kleiner geschrieben und nennt das Vorhaben jetzt "Creative Village". Bislang jedenfalls ist außer dem genannten Bürogebäude nichts dingfest gemacht, und nur wenige Investoren sind im Gespräch. Unter anderem ein ominöser Scheich, der seit ein paar Jahren durch die Zollvereinsgerüchteküchen geistert. O-Ton Weiss Ja, viele Leute denken dabei so an Tausend und eine Nacht, das ist nicht der Fall, es gibt Scheich Hamani, ein Immobilien-Investor. O-Ton Tiggemann Ich habe Standortentwicklung 35 Jahre hauptberuflich gemacht, ich habe viele Investoren vollmundig kommen und wieder gehen sehen, an einen Investor, egal ob es ein Scheich ist oder ein Dritter oder ein Vierter, hier auf Zollverein // unter dem Stichwort Design-Village, glaube ich erst, wenn // das erste Gebäude aus dem Boden heraus// wächst. Sprecherin: Irgendeine Überweisung getätigt hat der Mann aus dem Morgenland jedenfalls noch nicht. Das siebenstöckige Fünf-Sterne-Hotel im Creative Village, das man ihm aus dem Kreuz zu leiern gedenkt, lässt auf sich warten. Die Chance, dort auswärtige Besucher im Kulturhauptstadtjahr 2010 zu beherbergen, ist schon mal vertan. Denn das Hotel steht bislang noch nicht mal auf dem Reißbrett. Und keinen Steinwurf von seinem potentiellen Standort entfernt fristet ein weiteres Problemgebäude ein bislang eher kärgliches Dasein: ... Headliner: Der so genannte "Kubus". Atmo: große, leere Halle Musik Autor: Ein puristischer, heller Würfel. 35 Meter lang, breit, hoch. Wie zufällig darüber gestreut: zahlreiche, unterschiedlich große Vierecke, in denen rahmenlose Fenster erstaunliche Durchblicke gewähren. Durchblicke weniger ins Gebäude hinein als hindurch! Denn der Blick ins Fenster gelangt geradenwegs durchs übereck sitzende Nachbarfenster wieder hinaus und landet im Himmel. So wirkt der ganze Betonwürfel erstaunlich luftig, leicht. Als sei es ein Würfel, der nur aus seinen fensterdurchsetzten Wänden besteht. Ohne störendes Innenleben. Ohne Zwischenböden, Zwischenwände, Zwischenmenschen. Alle Etagen, inklusive der eingearbeiteten Dachterrasse, werden architektonisch so gut wie nicht gegliedert - abgesehen vom gläsernen Hörsaal im Parterre und von den zentralen Versorgungs- und Aufzugschächten. Ansonsten lassen sie praktisch jede interne Raumorganisation mittels spanischer Wände, Rigips-Nischen, mobiler Stellwände und Tapetentüren zu. Rauminspiration ins Offene. Sprecherin: Dieses Gebäude mit seiner raffinierten Architektur und die darin untergebrachte "Zollverein School of Management and Design" sollten den Nukleus der Entwicklung abgeben, die weitere Ansiedlung allerhand kreativer Gewerke initiieren und Investoren anlocken. Dass indes dieses Gebäude auf ein räumlich strukturiertes Innenleben verzichtet, spricht Bände. Es hat nämlich in der Tat - abgesehen von ein paar Führungen, singulären Ausstellungen und Firmen-Incentive-Veranstaltungen - kein Innenleben. Jedenfalls zur Zeit nicht. Und schon über Jahre ein sehr reduziertes. Wenn man ehrlich ist: von Anfang an. O-Ton Tiggemann Das Gebäude hat, wenn ich die Zahlen einigermaßen richtig im Kopf habe, // zwischen 15 und 20 Millionen gekostet. // Mit öffentlichen Mitteln gefördert worden, natürlich, klar, und // zuletzt // haben da, glaube ich, noch sechs oder sieben Leute in der Schlussphase ihres Aufbaustudienganges gesessen. Sprecherin: Der Hochschul-Kubus war eigentlich für 150 Studierende ausgelegt. Diese Auslastungszahlen hätten schon längst erreicht werden sollen, wurden indes nie erreicht. Nicht zuletzt wohl auch wegen der nicht ganz unbeträchtlichen Gebühren von 22 000 Euro für das angebotene 20-monatige Aufbaustudium. Die Rettung naht, wie's aussieht, in Gestalt des Design-Fachbereichs der Essener Folkwang-Schule, die nicht nur diesen Kubus zu besiedeln, sondern darüber hinaus ein oder zwei weitere Fakultätsgebäude zu errichten gedenkt. Auf dem Gelände des angedachten Creative Village. Leider jedoch fehlt auch hier bislang der Investor. Bis also wirklich die ersten Folkwang-Studenten das Gelände bevölkern, dürften noch einige Jahre ins Land gehn. Zunächst mal ziehen - so die Planung - im Herbst 2009 einige Verwaltungseinrichtungen der Hochschule in den Kubus ein. Immerhin scheint man auf diese Weise noch einmal knapp an der Katastrophe vorbeigeschrammt zu sein und der Kubus denn doch kein Millionengrab zu werden. Atmo Sprecherin: Die künstliche Erzeugung eines künstlerisch anmutenden Stadtteils ist und bleibt offenbar äußerst problematisch. Gerade die, auf die man ein Auge geworfen hat, die innovativsten Überzeugungstäter der Design-Branche lassen sich, wie's aussieht, ungern räumlich festnageln, haben womöglich doch noch was andres im Sinn, als das Bewirtschaften der nachindustriellen Ödnis. Die Kreativwirtschaft scheint auf einen räumlichen Kristallisationskern, auf ein monochrom monokulturell ausgerichtetes Gelände nicht sonderlich erpicht zu sein. O-Ton Tiggemann Es sind immer // fast mikrobenhafte // Firmenorganisationen. // Kleine, schlagkräftige Einheiten, die irgendwo im Stadtgebiet verteilt sitzen, // das sind aber in der Regel keine riesigen Apparate, die die unterhalten, sondern die Kreativität, die aus solchen Unternehmen kommt, die kommt aus den Köpfen der Leute und nicht erst mal aus der Quantität. // Und ob da nicht ein Sättigungsgrad erreicht ist, das wäre die Frage. O-Ton Fesel Bei der Entwicklung der Kreativwirtschaft ist immer // davon auszugehen, was die Kreativen wollen! Headliner: Bernd Fesel, bei der Kulturhauptstadt für die Kreativwirtschaft zuständiger Projektmanager. O-Ton Fesel Es hat sich immer gezeigt, dass ein Top-Down-Politikansatz ganz schwierig funktioniert. Einfach weil die Kreativwirtschaftsszene so heterogen ist, die Leute sind sehr eigenwillig, Gott sei Dank, dadurch entstehen die Innovationen, und es ist eben sehr fragmentiert. Sprecherin: Die so genannten Synergieeffekte, die sich aus einer räumlichen Bündelung ergeben, sind nach allem Anschein für die Kreativ-Firmen allenfalls zweitrangig. Schließlich muss keiner mehr mit Rollen von Pergamentpapier unterm Arm zwischen Zeichen- und Architekturbüro hin- und herlaufen, und niemand muss mehr Tonbandstapel vom Aufnahmestudio zum Büro des Plattenlabels schleppen. In Online-Zeiten ist für die alltäglichen Geschäftsabläufe in der Kreativbranche die räumliche Nähe nahezu unerheblich. Im Gegenteil. Eine Konzentration auf ein Stadtquartier scheint gradezu kontraproduktiv zu sein. Wenn man die verstreute Ansiedlung der Kreativwirtschaftler gerade im Ruhrgebiet ansieht, wirkt es vielmehr so, als bevorzugten sie ganz normale, durchmischte, quirlige Stadtviertel. Als würde die Kreativität ihre Musenküsse weniger aus einer monothematischen Umgebung beziehen denn aus einer vielgestaltigen, aus einem pulsierenden urbanen Leben. Die Motivation, monokulturell nur von Gleichgesinnten umgeben zu sein, ist mithin nicht sonderlich ausgeprägt. O-Ton Fesel Der // Mehrwert der Kreativwirtschaft liegt ja nicht in der Normierung, sondern in der Differenz. // Und deswegen sind Industrieparks in diesem Sinne für Kreative gar nicht interessant, // es muss eben die Heterogenität da sein. // Und bei der urbanen Entwicklung, die wir betreiben,... Headliner: ... also die Ruhr.2010-GmbH ... O-Ton Fesel ... dürfen Sie sich das jetzt auch nicht so vorstellen, dass wir in einem Karree 10 Gebäude mit Kreativen vollhauen, sondern Sie haben eben ein Quartier, wo von mir aus 100 Gebäude stehen, und zwei davon stehen teilweise leer, und die machen wir dann zugänglich für Kreative. Also ist das eine Entwicklung für Kreative in einem Quartier, aber nicht ein Quartier, was dann nur mit Kreativen gefüllt ist. Sprecherin: An genau dieser Idee aber hält man auf Zollverein mit Zähnen und Klauen fest, und so ist sie auf dem besten Weg zum Mythos zu werden. O-Ton Weiss Zentrum der Kreativwirtschaft mit Schwerpunkt Design und Architektur. // Das ist das, was uns auszeichnet. // Und deswegen ist das Thema Kreativität // ein Zukunftsthema, // das Profil dieser Fläche. O-Ton Tiggemann Man muss sich hinsetzen und überlegen, ob das weitere starre Festhalten an einem // relativ eingeengten Nutzungsprofil // noch tragfähig ist // auf Dauer. Sprecherin: Zumal es bislang mit und ohne Creative Village nicht gelungen ist, die runderneuerte Zeche Zollverein in den sozial eher problematischen Stadtteilen des Essener Nordens zu verankern, geschweige denn der Stadtentwicklung dadurch Impulse zu geben. O-Ton Weiss Nach dem Motto // "schmeißt doch mal ne Million übern Zaun von den vielen, die ihr kriegt", damit hier was passiert. Das ist ein ganz schwieriges Thema. // Ich glaube, dass Zollverein immer anders sein wird, weil wir einen andern Anspruch haben, // dass aber trotzdem // von diesem Standort Zollverein Stadtentwicklungs-effekte ausgehn können. // Beispiel: Die Ansiedlung jetzt von "Folkwang-Design" mit 600 Studenten und 50 Angestellten und Professoren, // wird natürlich Nachfrage generieren. Nach billigem Wohnraum, nach einem Copy-Shop, nach Gastronomieangeboten, nach allen möglichen Dienstleistungen. // Aber ich glaube, dass // es nie so verschmelzen wird, dass man sagt, Mensch, das ist jetzt integriert. O-Ton Tiggemann Was getan werden muss, das ist sehr viel intensiver Stadtentwicklungspolitik // in die Stadtteile hinein! Da muss man ansetzen, // Zollverein // öffnen für die Bürger aus dem Stadtteil! Über VHS, über Vereine, Verbände, um einfach die Schwelle, da ist noch was, was // uns fremd ist, um diese Schwelle aufzubrechen und zu überwinden. Sprecherin: Auch wenn das nicht ganz einfach sein dürfte bei der multikulturellen Bevölkerung im Essener Norden. Vor allem nicht mit diesem abgehobenen Zuschnitt, mit dem hochgestochenen "Design" des strukturgewandelten Standorts: Auf Zollverein Neu gibt es zwar ein "Casino" und ein "Bistro", aber eine Kneipe sucht man vergebens. Atmo Headliner: Standort ZWEI: Oberhausen. Stadt mit dem Rücken an der Wand. Musik Atmo: Autobahnstau Autor: Spätestens seit den 70er Jahren stand Oberhausen in erster Linie für jenes hartnäckig verstopfte Autobahnkreuz, das es schleunigst hinter sich zu lassen galt, wollte man mit dem Käfer oder wahlweise der Ente Richtung Holland abheben. Atmos: Bahnhofsvorplatz/Stadtstraße Autor: In fußläufiger Entfernung vom Bahnhof - vorbei an Finanzamt, Sparkasse, Versicherungen und Unternehmensberatern - ein kantig-klotziges Rathaus: großflächige Backsteinfassade mit einem stilisierten, versteinerten Jägerzaun, der aus der Dachrinne wächst; rechteckige Säulen, die sich zu klobigen Arkaden aufstellen und einen staunen machen, dass das Gebäude bereits vor der Nazi-Zeit - 1929 - erbaut wurde. Headliner: Eine der am rapidesten schrumpfenden Städte Nordrhein-Westfalens. Die Einwohnerzahl Oberhausens ist in den vergangenen vier Jahrzehnten um fast 50 000 gesunken, liegt jetzt bei 217 000 und wird - den amtlichen Prognosen zufolge - auch in den nächsten zehn Jahren weiter zurückgehn. O-Ton Bürgersteigphilosoph 1 Sie treffen nur noch ältere Leute hier. Die hier eingefleischt sind. Headliner: Die Arbeitslosenquote gehört mit ihren 12 bis 13 Prozent seit Jahren zu den höchsten im Lande. O-Ton Bürgersteigphilosoph 1 Die Stadt ist doch // pleite, wir machen irgendetwas auf und wollen irgendwat machen und ham kein Geld dafür. Headliner: Oberhausen steht mit 1,7 Milliarden Euro in der Kreide und hat mit fast 8000 Euro die höchste Pro-Kopf-Verschuldung aller kreisfreien Städte in Nordrhein-Westfalen. Die erste Stadt, deren Schulden größer sind als ihr Vermögen! Sprecherin: So hat sich Oberhausen denn eingereiht in die Ruhrgebietsstädte, die einer Haushaltssperre und damit der direkten Kontrolle der kommunalen Aufsicht durch die Bezirksregierung unterliegen. Wie Essen, Dortmund, Mühlheim oder Hagen, um nur einige prominente Beispiele zu nennen. O-Ton Wehling Also der Spielraum, oftmals überschrieben mit "kommunaler Selbstverwaltung", der besteht im Grunde genommen nicht mehr. Headliner: Klaus Wehling, Oberbürgermeister in Oberhausen. O-Ton Wehling Es ist ein sehr sehr großes Problem, wenn wir uns an Förderprogrammen beteiligen wollen, // hier sagt also die Aufsichtsbehörde ganz eindeutig, dass // Eigenanteile // über Kredite zu finanzieren seien, und dann erfolgt ein kategorisches Nein! Mit der Problematik, dass wir im Grunde genommen von allen Fördertöpfen abgeschnitten sind, ... O-Ton Bürgersteigphilosoph 3 Aber die Leute, die die die kapieren dat nich. // Leute, die nich rechnen könn'. Ne? Dat is dat. Wir haben ja hier viele, die nich rechnen könn'. O-Ton Wehling Wir haben // zum Beispiel für die Umgestaltung von Spielplätzen, // von Schulhöfen // also schon in Millionenhöhe Bewilligungsbescheide im Haus, dürfen aber auf Grund der sehr einseitigen Betrachtung durch die Kommunalaufsicht diese Gelder nicht in Anspruch nehmen. Atmo: Stadtverkehr Autor: Hin und wieder sieht man noch Häuser, deren Fenster mit ihren rußschwarzen Augenrändern an die Zeiten der Montanindustrie gemahnen. Und auch die Bude auf der Ecke ist noch nicht verschwunden. Inbegriff der Ruhrkulktur: "Tu sse mich ne Flasche Pils, Schachtel Zichten, Kotelett mit Sempf?!" O-Ton Bürgersteigphilosoph 1 Heute ist alles so grimmig, so trist, so, // jeder nur für sich, // ziehn sich alle zurück und spielen am Computer. Atmo: Stadtrandsiedlung O-Ton Bürgersteigphilosoph 1 Dat letzte große Treffen // war als, wat war dat, vor den Wahlen? // Die SPD war da, // und der Hähnchenwagen, und da war auf einmal war ne riesengroße Menschenmasse hier. // Warum? Halbes Hähnchen für'n Euro! Dat war dat letzte Treffen der Eisenheimer. O-Ton Bürgersteigphilosoph 2 Un der letzte der kam, hätte dann noch bald den Hähnenwagen zerlegt, weil er kein Hähnchen mehr gekriegt hat. // Is traurig, aber wahr. Sprecherin: Unter den Oberhausenern greift die Befürchtung Raum, beispielsweise Eisenheim im nördlichen Teil der Stadt, die älteste und inzwischen durchsanierte Bergarbeitersiedlung, werde im Rahmen des Kulturhauptstadt-Runs für die staunenden Sightseeing-Knipser zu einer Art lebendem Museum mutieren. Musik O-Ton Bürgersteigphilosoph 1 Die möchten gerne, dass wir hier noch mit Holzpantoffeln herumrennen und noch an der Waschkaue unten am Schrubben sind. Ehrlich, das wollen die Leute sehn. // Ja, so 1847. Ja. Sprecherin: Die Hoffnungen, die mit der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 verbunden werden, fallen denn auch eher bescheiden aus. O-Ton Bürgersteigphilosoph 3 Da hab ich nix mit am Kopp. // Ja, dat is donnich für uns! // Wenn das hier zur Kultur//stadt wird, dat is genauso, wenn se'n Bad davor setzen. // Bad Oberhausen. // Da wollen se dann gleich fuffzig Mark für haben. Eintritt. Is doch viel zu teuer für uns. // Euro. Ja, man vertut sich immer noch. Ne? O-Ton Bürgersteigphilosoph 3 Die Stadt soll zumachen un alles nach Düsseldorf hinbringen. Ne? Ja, wofür brauchen wir'n Oberbürgermeister und nen stellvertetenden Oberbürgermeister, wofür brauchen wir'n so wat. Ist doch nicht mehr nötig. Dat is weggeschmissen Geld. Ne? // Ich möcht'n Stellvertretender sein!!! O-Ton Zalastras Richtig ist, dass die Stadt einsparen muss, ... Headliner: Apostolos Zalastras, Beigeordneter der Stadt Oberhausen in Sachen Kultur. O-Ton Zalastras ... aber wir legen Wert darauf, dass dieses Einsparen so gemacht wird, dass // die wichtigen Institutionen, die wir haben, // nicht kaputt gehen. Headliner: ? Nicht nur, aber auch der Gasometer als wohl höchste Kunsthalle der Welt, wo einst Christo seine Fässer stapelte. ? Die Kleinkunstbühnen, Kongress- und Konzerthallen, die letzten paar handverlesenen Kinos. ? Und nicht zuletzt das Theater, um dessen Erhalt ein erbitterter Streit zwischen Kommune und Kommunalaufsicht tobt. Das dennoch aber spielt und spielt und spielt. Sprecherin: Du hast keine Chance, also nutze sie. O-Ton Zalastras Was sicherlich dazu kommt in einer Stadt wie Oberhausen mit der sozialen Situation: // die Kultureinrichtungen haben die Aufgabe, // aus dem Haus raus zu gehen, in die Stadtteile zu gehen, die Leute anzusprechen und dort auch neugierig zu machen auf Kultur. // Wir machen im Augenblick ein Projekt, das nennt sich // "Kulturbotschafter", dort gehen Jugendliche in ihre Milieus und versuchen, andere Jugendliche für die Kultureinrichtungen der Stadt zu interessieren. Insbesondere auch im Bereich der Migrantengesellschaft. Musik : Kulturbotschafter-Rap O-Ton Kulturbotschafter Harry Früher hab ich so gedacht, ouh, Theaterstücke sind immer so langweilig und so, aber als ich so diese Theater Oberhausen besucht hatte, hab ich ein ander Begriff von Theater und so. Sprecherin: Das Projekt scheint zu funktionieren. Zumindest die Kulturbotschafter selbst sind schon mal infiziert. Beste Voraussetzung, um den Virus Kultur weiterzuverbreiten. O-Ton Kulturbotschafter Harry Erreichen wir durch also alles Mögliche. So Musik, also // ich bin ein Rapper und so. // Ich kann über Theater rappen, also über Kulturbotschaft oder über jugendliche Leute, über so Spaß oder so. // Alles Mögliche. Musik : Kulturbotschafter-Rap O-Ton Kulturbotschafterin Gledise Wenn du dich für Theater interessierst, dann werden wir // das Theater wirklich zu dir bringen! // Wir können alle unsere Kultur mitbringen. O-Ton Kulturbotschafter Harry Also es gibt manche Leute, // sie möchten immer was Schlechtes tun. // Aber wenn wir immer so gemeinsam // über Kultur oder über Musik oder über Medien, Film oder also das reden, das kann also die Leute helfen, nicht was Schlechtes zu tun // oder ins Gefängnis gehn oder so. O-Ton Zalastras Die Kultur kann eine Basis dafür bieten, dass sich neue, kreative Menschen in einer Stadt niederlassen, die dann auch ein gewisses ökonomisches Potenzial bieten. Atmo: Applaus Sprecherin: Und da ist es wieder: das Schielen auf die Kreativwirtschaft! O-Ton Bürgersteigphilosoph 1 Tja, wat da rauskommt, lassen wir uns ma überraschen. Sprecherin: Bei diesem Ansinnen sucht man den Schulterschluss mit der "Ruhr.2010-GmbH". Denn die hat, wie gesagt, das Installieren so genannter "Kreativ-Quartiere" auf die über den Tellerrand des Kulturhauptstadtjahrs hinausreichende Agenda gesetzt. Aber möglichst ohne noch einmal die Fehler zu machen, an denen die Entwicklung des Creative Village auf Zollverein krankt. Deshalb also unter maßgeblicher Beteiligung der Betroffenen! O-Ton Fesel Wir sind einfach wirklich ganz strikt der Meinung, es geht nur bottom up, // dass wir hier sozusagen ein bisschen Stadtplanung 2.0 machen, user-generatet. Sprecherin: Und so haben die Kulturhauptstadtmatadore in sechs Revierstädten Roundtables mit Vertretern der Kommunalverwaltung und mit praktizierenden Kreativwirtschaftlern ins Leben gerufen. O-Ton Fesel Und dort beginnen wir dann einen Dialog darüber, was denn die Szene vor Ort als Entwicklungsraum braucht. // Und gucken dann, ob das die Stadt nicht hat! Denn meistens hat sie es! Headliner: Bernd Fesel, Ruhr.2010-Manager in Sachen Kreativwirtschaft. O-Ton Fesel Es wird kein einziges Gebäude gebaut. // Es gibt genügend auch innerstädtische, leerstehende Gebäude, die sich eignen, um für solche Firmen angemietet zu werden. Das ist dann ein Mietniveau nicht für neun bis zehn Euro, saniert und schön, sondern vielleicht 15, 20 Jahre alt, durchaus auch in dem brüchigen Charme, den der Kreative sucht. Dann aber auch für drei bis vier Euro. Und das ist auch genau das Mietniveau, das er braucht, insbesondere dann, wenn er noch Existenzgründer ist. Und in diesen Roundtables wird dann eine Art Erhebung der Leerstände gemacht, und wir werden dieses Leerstandskataster ungefähr in einem halben Jahr auch über das Internet bewerben, // um wirklich Zuzug von Kreativen aus dem Ausland zu generieren. O-Ton Zalastras Ich nehme mal ein Beispiel: Wir // sind im Gespräch mit einem holländischen Künstler, der in Oberhausen // ein Ladenlokal anmietet, // das jetzt schon, ich glaube, seit zwei Jahren leer steht. Dort will er Ausstellungsfläche nutzen; und auch dadurch, dass das ebenerdig ist, // ist das auch von außen einsehbar. Dadurch entsteht natürlich an der Stelle // neues Leben. Neugier, die Leute gucken rein, beschäftigen sich mit dem, was da stattfindet; // dadurch, dass der jetzt aber auch noch Künstler aus den Niederlanden zu sich einlädt, um sich mit dem Ruhrgebiet auseinanderzusetzen, // entsteht noch mal ein ganz neues Potenzial. // In Altoberhausen, ein Stadtteil mit hohem // Hartz IV-Anteil, // sehr hohen Migrationsanteil, also kein ganz einfacher Stadtteil. Sprecherin: In Oberhausen hat man sich - der Not gehorchend - offenbar von dem Wahn verabschiedet, für die rund 900 bereits in der Stadt ansässigen Betriebe der Kreativwirtschaft und für die, die man möglicherweise neu hinzugewinnt, einen dezidierten, konzentrierten Standort hervorzuzaubern. O-Ton Zalastras Diese Ansätze sind mir // zu groß. Also ich halte mehr // von den kleinen Ansätzen im Stadtteil, // die zwar in der Öffentlichkeit kein großes Aufsehen erregen wie ein großes Design-Zentrum, aber das sind Dinge, die nachhaltiger wirken, im Stadtteil selber! // Dadurch, dass // dort die Bevölkerung auch in Kontakt kommt mit den Kreativen, mit Künstlern, mit Projekten, die da gemacht werden, mit Theater, mit Musik, // auf der anderen Seite auch deshalb nachhaltiger, weil wenn man Leerstand beseitigt in einer Stadt, wird eine Stadt auch attraktiver. Atmo Headliner: Standort DREI: Hagen. Highway in neuem Outfit. Musik Atmo: Stadtverkehr Altenhagen, Regen pladdert in Pfützen Autor: Es regnet Bindfäden. Altenhagen sieht an diesem trüben Tag noch trister aus. Macht seinem Leumund als grauester Stadtteil in der grauesten Stadt des Reviers alle Ehre. "Günstig zu vermieten. Über Hausvermittlung XY." Pappschilder, die in den gardinenlosen Fenstern diverser altgestandner Wohnhäuser prangen, auf die der finstre Schatten eines kantig-ungelenken Betonlindwurms auf stämmigen Stelzen fällt: der Schatten einer grau-grauen Hochstraße über grau-graue Straßenkreuzungen hinweg. Genannt: "der Überflieger". Eine Ikone des städtebaulichen Sündenfalls der autobegeisterten Zeiten, als man nichts andres im Sinn hatte, als, koste es, was es wolle, die Verkehrsströme ohne Tuchfühlung durch die Stadt - oder: darüber hinweg fluten zu lassen. Headliner: "Die Ebene 2", so die offizielle Bezeichnung dieser Straßenbrücke aus den siebziger Jahren, die täglich von 40 000 Autofahrern frequentiert wird. Sprecherin: Auf einer Strecke von einem halben Kilometer zerschneidet die Brücke die Stadt, führt nur wenige Meter an den angrenzenden Mietshäusern vorbei und gewährt direkte Einblicke in die Wohnzimmer. O-Ton jüngere Hagenerin Es herrscht hier sehr viel Armut, sehr viel Kriminalität, und die Nähe zum Bahnhof macht auch die Drogenszene sehr nah, und // es waren sehr viele kleine und Kleinstunternehmer, die mit der Wirtschaftskrise nicht mehr mithalten konnten, das heißt jeder zweite Laden stand leer, ständig war Fluktuation, Krise, Chaos, sehr viele Schlägereien, auch durch diese vielen multikulturellen Konflikte, // und // die Bausubstanz hier ist ja auch teilweise, ja, Schimmel, oder ruinös gewesen. O-Ton Viehoff Deswegen // "Stadtteil mit besonderem Erneuerungsbedarf". Headliner: Rita Viehoff, Leiterin des Kulturbüros der Stadt Hagen. O-Ton Viehoff Von daher ist dieses Viertel, ja, einfach mit ein paar Dingen belastet, die es besonders schwierig machen, daraus etwas Schöneres zu machen, also irgendwas, was ne größere Aufenthaltsqualität bekommt. Atmo: Regen Musik Autor: Gründerzeitliche Häuser mit ausgebleichten Fassaden. Daneben vier-, fünfstöckige Wohnbebauung mit kahlen schmucklosen 50er-, 60er-Jahre-Fassaden. Parterre ein Laden für Billigschmuck, gegenüber ein Café mit Migrationshintergund, ein An- und Verkaufladen mit vergilbten Schaufenstern auf der anderen Ecke, Spielhöllen, ein Call-Shop mit günstigen Internetangeboten, ein Umzugsbüro, ein "Kultür-Vereinsbüro" und drüben an einem der klotzigen Brückenpfeiler ein zerfleddertes Plakat von "Brot für die Welt". O-Ton Griechin Nicht schön. Muss ich ehrlich sagen. Also mir gefällt das nicht. // Es ist so grau, also ist nichts. // Man ist wie depressiv, kann ich sagen. Autor: All das überhöht vom Hagen-Altenhagener-Highway, dessen Betonflanken jetzt mit pastellbunten Gemäldeflächen versehen sind. Eine Galerie, einen halben Kilometer vor und auf der andern Seite wieder zurück. Darunter die in den Nacken gelegten Köpfe der Passanten. Und darüber die Autos, die nichts davon wissen. Sprecherin: Menschen aus 82 Ländern leben dicht gedrängt neben und mit der Brücke. Sie wurden nie gefragt, ob sie sich dort zu Hause fühlen, wovon sie träumen, wonach sie sich sehnen. Zwei Künstlerinnen fragten sie! Fragten 40 der dort lebenden Frauen nach ihrer Geschichte und ... O-Ton Verkerk ... nach Farben, die sich mit bestimmten Erinnerungen verbinden. // und dann mit diesen // Farben der Frauen und ihren Geschichten haben wir die Entwürfe ausgearbeitet. // Und diese Entwürfe sind auf dieser Brücke jetzt zu sehen. Die haben wir da ausgemalt. Headliner: Marjan Verkerk aus Amsterdam und Milica Reinhart aus Hagen, die beiden Künstlerinnen des Projektes "Sehnsucht nach Ebene 2". O-Ton Reinhart Das ist ja auch dokumentiert, also einen Teil der // Vorarbeit mit den Interviews, und dann // wird es einen Film geben, während der Zeit, wo wir gearbeitet haben. // Halbes Jahr haben wir gemalt. O-Ton Griechin Da kann man sehen die Landschaft, // meinen Garten, // Ich weiß genau, was jede Farbe bedeutet, und jedes Mal, wenn ich da vorbeikomme, ich bleibe stehen, ich gucke das immer an, und da freue ich mich! O-Ton Russin Mein Bild ist das allerbeste. Denn es zeigt viel Farbe. Viele Träume. Und die große Landschaft von Sibirien. // Und dicke rote Sonne. O-Ton ältere Hagenerin Bis dato, ja, // da sahen wir die Brücke gar nicht. Da guckte man raus und sah das schwatze Ding, und aber jetzt // freut man sich doch dadrüber. Dass es die Brücke überhaupt gibt. // Mir gefällt es sehr gut. Ja. // Weil ich jetzt weiß, ich bin darauf verewigt. Ja. Haha. O-Ton Griechin Ich krieg immer Gänsehaut, // wenn die Lichter angehn, // sogar jetzt krieg ich Gänsehaut, ja, weil das ist ein Stück also - oder eine Zeit von meinem Leben, und das ist an die Brücke gemalt worden. Sprecherin: Zusätzlich prangt über das ellenlange Gemäldefries hinweg in metergroßen handschriftlichen Neonleuchtbuchstaben das Wort "Brücke" in den verschiedenen Sprachen der Anrainer. O-Ton Griechin Jeffira. // Jeffira heißt Brücke. O-Ton Russin Most. // Brücke. O-Ton Verkerk Das hat eine Wirkung, die von allen Seiten der Brücke anders aussieht, // von jeder Straße, die man reinkommt, hat man einen anderen Blick drauf, // so, es gibt abstrakte // Flächen und // es gibt auch ein blaues Kleid, das tanzt, an der Brücke. // Ein bestimmtes Blau, an das eine Frau sich erinnert hat. // Sie wohnt hier direkt an der Brücke, // eine deutsche Frau, die ist // nach dem Zweiten Weltkrieg, // mit der ganzen Familie von Ostpreußen westwärts geflüchtet übers Eis, // sie hat erzählt über das weiße Pferd, das ins Eis gesackt ist, ganz viele Leute sind gestorben, diese Frau hat zwei Stunden lang erzählt über grau und schwarz und grau und schwarz, // da gab es überhaupt keine Farben! Und // in dem Moment, wo sie sich richtig frei gefühlt hat, hat sie eine Nacht lang getanzt in einem blauen Kleid. Und das blaue Kleid // tanzt jetzt auf der Brücke. Musik Headliner: Dieses Brückengemälde-Projekt ist der Beitrag Hagens zur Kulturhauptstadt Ruhr 2010. Atmo O-Ton Viehoff Wir sind eigentlich sogar schon lange, bevor klar wurde, dass wir Kulturhauptstadt werden, angefangen, // wir haben also Theaterstücke, Tanztheater, Filme entwickelt, wir haben also eine Menge gemacht, was die Bewohner hier aus dem Stadtteil ganz konkret miterleben konnten, wir haben ein altes Kino reaktiviert und dort Theaterstücke aufgeführt, // alles im Zusammenhang mit der Brücke, // es ging immer um das Thema Heimat, Ankommen in der Fremde, // auch die restlichen Hagener Bürger haben sich dann gefragt, wie gehen wir eigentlich mit den unterschiedlichen Erfahrungen unserer Einwanderer um, wie wichtig sind die, nehmen wir die überhaupt wahr, // und jetzt sind wir eben 2009 an diesem Punkt, dass wir glücklicherweise inzwischen das Kunstprojekt realisiert haben, aber dieser Prozess, hier in diesem Stadtteil mit künstlerischen Mitteln weiter zu intervenieren, der wird auf jeden Fall fortgesetzt und der wird 2010 // einen Höhepunkt erreichen. Wir haben nämlich vor, im Sommer 2010 diese Brücke // komplett zu sperren und sie den Bewohnern zugänglich zu machen. O-Ton ältere Hagenerin Ich gucke da mit anderen Augen hin! Als früher. O-Ton Griechin Also ich bin früher mit Kopf nach unten raus gegangen, // bevor die Brücke angemalt war, das war grau, das war Beton, das war überhaupt nicht schön. // Und heute gucke ich immer die Brücke an, der Kopf ist oben, da freue ich mich, // ja, und da sehe ich öfter Leute, die stehen bleiben und das angucken. // Ja, das ist ein Stück von meinem Leben // und das bleibt auch. Auch wenn ich nicht mehr da bin. O-Ton Viehoff Also sowohl die Schirmherrschaft der UNESCO, die wir auch bekommen haben, als auch dieser Titel, hauptamtliches Projekt der Kulturhauptstadt zu sein, hat sicherlich dazu beigetragen, das Projekt im Stadtrat durchzusetzen. // Hat eine größere Akzeptanz geschaffen, auch innerhalb der Bürgerschaft, die eben gespalten war. Sprecherin: Obwohl sämtliche Mittel für die künstlerische Arbeit nicht aus der Stadtkasse, sondern aus Kulturhauptstadt- und Landestöpfen bestritten beziehungsweise von Sponsoren und privaten Spendern aufgebracht wurden. Denn der Stadt - wer hätte das gedacht - ist seit Jahren eine Haushaltssperre auferlegt. O-Ton Viehoff Es gab Stimmen, die gesagt haben, "was steckt ihr so viel Geld in dieses Bauwerk, sprengt es einfach, und dann seid ihr // damit durch!" O-Ton Verkerk Man kann eigentlich mit einem Kunstwerk so direkt nicht so viel tun. Aber man kann eine Kommunikation sein. Ne? Durch Kunst kann man sichtbar machen // die Sehnsüchte, die da leben in den Menschen, // die sie // selten miteinander teilen. O-Ton jüngere Hagenerin Dieses Viertel ist so, dass // viele Kulturen halt eben unter sich bleiben, und sich untereinander nicht austauschen, // der eine kauft nur im Laden des Landsmanns ein, und, ne, die Italiener beim Italiener, die Türken bei den Türken und die Afrikaner bei den Afrikanern. Headliner: Bettina Mankowsky, in Altenhagen, im Angesicht der Brücke großgeworden. O-Ton jüngere Hagenerin Und als dieses Fest dann bezüglich der Brücke im September war, // das war so schön multikulturell, und man hat sich halt die Gesichter aus dem Viertel auch gemerkt. // "Ach, und dich hab ich doch gesehen unter der Brücke, und das von euch, war total lecker, was ihr da angeboten habt," und es hat sich ausgetauscht... O-Ton Viehoff ... und es ist so was wie ein Zeichen der Hoffnung! Man hat diesen Stadtteil nicht aufgegeben, // dann ist das ein Hingucker, und vorher war's so, dass man das innerlich immer so weggebeamt hat. O-Ton jüngere Hagenerin Jetzt ist es so, dass durch diese Farbenfröhlichkeit eben halt mehr Atmosphäre in das Viertel gekommen ist. // Ich sage mal: anti-depressiv, durch das Licht und durch die Farben. // Das ist ja meistens der erste Schritt, dass vielleicht auch noch mehr saniert oder auch investiert wird. Atmo: Regen Sprecherin: "Sehnsucht nach Ebene 2" ist ohne Frage ein Beispiel, bei dem es gelungen ist, mit künstlerischen Mitteln eine Bausünde abzumildern und das entsprechend gebeutelte Stadtviertel samt seiner Bewohner aufzuwerten. Ein Beispiel aber auch, das den Vorteil hat, ausschließlich aus öffentlichen Mitteln und Spenden finanziert zu werden und keine Bewährungsprobe etwa durch Neuansiedlung von Gewerbe wie bei der Zeche Zollverein bestehen zu müssen. Vielleicht neigt man grade im hundertfünfzig Jahre lang schwarz-grau geprägten Ruhrpott zu einer solchen Überschätzung der Kreativwirtschaft, weil die Designgewerke - so schick wie sie daherkommen - höchst geeignet scheinen, das jeweilige Stadt-Design aufzupolieren. Um daraus die Funken zu schlagen, die überspringen auf die einzelnen Stadtteile und eine neue Urbanität aus dem kargen Boden stampfen. O-Ton Bürgersteigphilosoph 2 Na ja, okay, aber dat bringt ja nix. Sprecherin: Lässt man dagegen die Kunst im Stadtviertel gestalterisch in Aktion treten, können davon durchaus Impulse ausgehen, die die verkorksten Orte im Revier zumindest entschärfen können. Offenbar ist die Wohnbevölkerung genau wie die "kreative Klasse" auf ein stimulierendes, ideenspendendes Umfeld angewiesen. Auf einen Mix aus Wohn- und Gewerbebebauung, durchsetzt von Grünanlagen, Plätzen und anderen Kommunikationsebenen, an unerwarteten Stellen bestückt mit einem künstlerisch gestalteten Blickfang, geprägt durch sowohl geschichtsträchtige als auch moderne Architektur, bevölkert auch, aber nicht nur von Kreativen. Atmo Autor: Verkorkste Orte im Revier. Ein Rundgang im Vorfeld der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 Von Ulrich Land. Sprecherin: Es sprachen: Ralf Spengler Frauke Poolman und der Autor O-Ton Bürgersteigphilosoph 2 Man weiß ja nich, wie't weiter geht. Ne? Headliner: Technische Realisation: Eva Pöpplein und Anna Dain Regie: Axel Scheibchen O-Ton Bürgersteigphilosoph 1 Wollen jetzt nicht jammern! Sprecherin: Redaktion: Hermann Theißen. Eine Produktion des Deutschlandfunks 2009. Atmo 28