COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. "Vom Ende der Zukunft" Literarische Dystopien zu Beginn des 21.Jahrhunderts Eine Sendung von Angela Spahr Deutschlandradio Kultur: 19.1.2010 Redaktion: Barbara Wahlster Musik (1) Zitatorin (auf Musik) Mia weint, sie weiß, dass "Die Methode" ihren Bruder ermordet hat und dass sie selbst keine Chance gegen das System hat. Zitator (auf Musik) Adrian geht von Genf über München nach Berlin auf der Suche nach seiner Frau. Er weiß, dass er eine Statue finden wird, genauso still und starr wie der Rest der Welt, in der die Zeit angehalten hat und aus der es kein Entkommen gibt. Zitatorin (auf Musik) Cathy ist einsam und erschöpft, sie hat ihre besten Freunde in den Tod begleitet, bis zu vier grausame Organspenden lang, jetzt ist auch für sie die Zeit gekommen, ihren Zweck zu erfüllen, ihre Organe hinzugeben. Zitator Fred liegt auf seinem Wasserbett und versucht, das dröhnende Fernsehen zu überhören. Er kann dem Gerät nicht entkommen, er leidet an MOI, einem schrecklichen Virus. Zitatorin Ein Mann schleppt sich, seinen kleinen Sohn an der Hand, die Straße entlang gen Süden. Sie sind Überlebende, und er weiß, dass sie verhungern oder erfrieren werden. Erzählerin: Mia, Cathy, Fred, sie alle sind Helden von düsteren Geschichten, nachzulesen bei Juli Zeh, Kazuo Ishiguro, Heiko Michael Hartmann, Thomas Lehr und Cormac McCarthy. So verschieden wie ihre Autoren sind auch die Erzählungen: Ein Mann leidet an einem grauenvollen Virus, eine Frau kämpft gegen ein übermächtiges System, ein Mann und ein Kind fliehen vor Kannibalen. Allen Geschichten gemeinsam sind jedoch die Schrecken des Szenarios: Die Autoren entwerfen grausame, inhumane Welten, in denen ihre Protagonisten sich zurechtfinden müssen und - noch eine Gemeinsamkeit - scheitern. Sie alle scheitern ... und sterben. Musik (2) Erzählerin: Thomas Lehr erzählt in seinem Roman "42" die Geschichte von Adrian und 70 anderen Menschen, die das schweizer Forschungszentrum CERN besuchen. Als sie aus dem unterirdischen Schacht des Teilchenbeschleunigers wieder auftauchen, ist die Zeit stehen geblieben. Alle Uhren in der Uhrmacherstadt Genf zeigen 12 Uhr 47 und 42 Sekunden. Und nicht nur die Uhren sind gestoppt: Auch die Zeitgenossen ringsum verharren wie auf einem Foto eingefrorene Skulpturen. Die Überlebenden irren erst durch Genf, dann durch die Schweiz und schließlich durch Europa, nur um festzustellen, dass überall die Sekunde 42 herrscht. Glauben können sie ihre neue Wirklichkeit nicht: Zitator: "Der Strom der Zeit, dieser grandiose unhörbare Sog, der jede Stadt, jedes Dorf, jeden Berg, jeden Stein, jeden Baum, jeden Grashalm, jeden Menschen und jedes Tier auf dem Planeten mit sich führte wie Milliarden von Inseln, der größte denkbare Fluss, das Meer der Meere, das unser Sonnensystem und Milliarden andere, den gesamten Kosmos seit dem Urknall umfasste und auftrieb wie einen gigantischen Ballon in die Hypernacht eines unbegreiflichen Nichts - er konnte unmöglich angehalten worden sein. Was auch immer wir fühlten und sahen. Was auch immer wir glaubten." Erzählerin Lehrs Figuren sind in einer grässlichen Situation gefangen; zwar stehen ihnen alle Reichtümer und Kunstwerke, quasi die ganze Welt zur Verfügung, aber ihre Liebsten, Kinder, Freunde, überhaupt alle Menschen sind wie tot. Die Überlebenden, die sich selbst "Zombies" nennen, streifen durch Dornröschens Schloss und finden weder den Ausgang noch eine Erklärung. Ihre unwirkliche Lage erläutert Thomas Lehr: O-Ton Lehr: Die Situation wird ja immer wieder unterminiert: Ist die Welt nun tatsächlich gefroren? Sind sie in einem anderen Universum gelandet? Sind sie plötzlich Raumschiffe, die von einer anderen Macht gesteuert werden, weil sie sich physikalisch paradox bewegen können? Sind sie - am Ende kommt das ja auch - Figuren in einem Roman, die sich leider dessen bewusst werden? Diese stilistischen Übergänge im Genre - ist es eine Komödie, ist es eine Tragödie? - entsprechen der allmählich immer nebulöser werdenden Scheinwirklichkeit des Romans. Erzählerin Der Roman "42" wirft seine Leser wie seine Figuren in den Strudel einer Geschichte mit verschiedenen Zeitebenen und Zeittheorien, die allen Beteiligten die Orientierung raubt. Musik (3) Erzählerin Heiko Michael Hartmanns Roman "MOI" changiert ebenfalls zwischen Lachen und Gruseln; hier zeichnen sich die Gegensätze allerdings noch schärfer ab: Fred Openkör leidet an einem so unheilbaren wie unerklärbaren Virus - MOI "maladie d'origine inconnue" -, das vermutlich durch Geldscheine übertragen wird. Es stimuliert das Zellwachstum, was den Körper sukzessive ballonartig aufquellen lässt. Die einzige wenigstens kurzfristig lindernde Behandlungsmöglichkeit besteht in Amputationen: der Kehlkopf, Arme, Beine und männliche Geschlechtsteile sind zuerst an der Reihe. Die übriggebliebenen stummen Torsi, aufbewahrt in Wasserbetten und an jede Menge technisches Gerät angeschlossen, harren des Zeitpunktes, an welchem sie ... ja, >platzen< werden. Fred Openkör leidet aber skurrilerweise mehr an seinen Krankenhaus-Zimmergenossen als an der Aussicht, sterben zu müssen. Zitator "Es ist eine dieser schmeichelhaften Flunkereien, mit denen sich die Glücklichen beruhigen: dass mehrere, wenn sie gemeinsam ins Unglück fallen, sich ihr Leid teilen und sich aneinander aufrichten. Das Gegenteil ist der Fall. Übrigens ist dies auch logisch. Rücksichtnahmen aus Mitleid, schlechtem Gewissen oder Sitte, wie sie bei Gesunden gegenüber Kranken üblicherweise vorkommen, fallen unter Kranken ganz weg. Überdies richten sich Hass, Neid und Abneigung immer gegen den, der am nächsten ist." Erzählerin Vier Männer - zwei Bankangestellte, ein Kioskbesitzer und der Büchermensch Openkör - sind von ihrem Autor in die groteske Situation des Wasserbetten-Daseins im Krankenzimmer eingesperrt. Das pausenlose Dröhnen des Fernsehers treibt Openkör zum Mord, den er mangels Gliedmaßen allerdings nur in Gedanken begehen kann, und nicht nur hier wirkt er lächerlich, wie sein Autor ausführt: O-Ton Hartmann Ja, an sich selbst scheitert er. Und das ist ja eigentlich immer das viel gravierende Scheitern. Wenn man am Fremden scheitert, dann ist man immer irgendwie entschuldigt: hat man halt Pech gehabt. Aber wenn man an sich selbst scheitert, dann hat das natürlich etwas Tragischeres in gewisser Weise, aber auch etwas Gerechteres, wenn man so will. Erzählerin Ein Zeitstillstand, möglicherweise durch einen Unfall in einem Forschungszentrum ausgelöst; ein tödliches Virus, übertragen durch Geld - das sind Szenarien, die eher an Autoren wie Michael Crichton oder Frank Schätzing erinnern. Oder auch Dan Brown, der in den "Illuminati" aus eben jenem schweizer CERN sogenannte "Antimaterie" für einen Anschlag stehlen lässt. Aber Thomas Lehr und Heiko Michael Hartmann schreiben keine Thriller: Ihnen geht es nicht um ein schrilles Setting und nicht um bloße Spannung. Auch das Genre "Science-Fiction" passt nicht recht, denn phantastische Zukunftsvisionen bieten ihre Bücher ebenfalls nicht. Eher schon lassen die Romane an "Dystopien" denken, an negative Versionen der Utopie. Heutige literarische Dystopien stehen am Ende einer historischen Entwicklung, die schon in der Antike begann. Musik (4) Erzählerin Was wäre, wenn - alles besser wäre zum Beispiel? Die Lust an solchen Spekulationen muss im antiken Griechenland zu so manchen märchenhaften Entwürfen geführt haben. Überliefert ist uns aber nur der Spott, den Aristophanes über derartige Ideen ausgießt. In seiner Komödie "Die Vögel" errichten ein paar dümmliche Athener mit Hilfe der verbündeten Vögel die ideale Stadt, allerdings in den Wolken - daher der Ausdruck "Wolkenkuckucksheim". Platon denkt gleichzeitig über die Bedingungen der Möglichkeit von Gerechtigkeit nach und diskutiert in der "Politeia", wie ein gerechter Staat beschaffen sein müsste. Platon erfindet, was man später eine "Utopie" nennen wird. Thomas Macho, Professor für Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin: O-Ton Macho Man muss sich nur daran erinnern, dass "utopisch" eben ein Raumbegriff ist. "U-Topos": "Nicht-Ort", also nicht da, wo ich jetzt bin. Eine Alternative zu der Lebensform, in der ich mich jetzt bewege. Wir haben uns so daran gewöhnt, das Utopische zeitlich zu denken, als das, was in der Zukunft passiert, so etwas ähnliches wie Science-Fiction. Wenn man sich das wieder abgewöhnt und sagt: Es geht eigentlich darum, eine Alternative zu denken, und die kann ich in die Wolken verlegen, die kann ich -was in der Antike häufig passiert - ins Tierreich verlegen, die kann ich auf eine Insel verlegen - was alle großen Staats- und Sozialutopisten im 16. und 17. Jahrhundert machen -, aber es geht um ein Raum- Problem dabei. Eine Alternative zu meiner Lebensform, die irgendwo anders ist und die ich dann möglichst genau beschreibe. Erzählerin 1516 gibt Thomas Morus, seines Zeichens Humanist, Lordkanzler und zukünftiger Märtyrer, der Sache ihren Namen, denn er schreibt ein Buch mit dem Titel: "Von der besten Staatsverfassung und von der neuen Insel Utopia". Ein Weltreisender berichtet darin über die wunderbare Insel und die ideale Gesellschaft, die ohne Besitz und Geld auskommt. Morus' Freund Erasmus von Rotterdam las das Buch als Kritik des europäischen Staatswesens, insbesondere Englands. Die Schilderung Utopias endet denn auch mit Emphase: Zitator "Ich habe Euch so wahrheitsgemäß, als mir möglich war, die Form dieses Staates beschrieben, der nach meiner festen Überzeugung der beste, ja der einzige ist, der mit Recht den Namen eines staatlichen >Gemeinwesens< für sich beanspruchen darf. Denn wer anderswo vom >Gemeinwohl< spricht, denkt doch überall nur an seinen Privatvorteil; hier dagegen, wo es kein Privateigentum gibt, betreibt man ernsthaft die Interessen der Allgemeinheit." (Thomas Morus, Utopia, aus dem Englischen von Gerhard Ritter, Philipp Reclam, Stuttgart 1983) Erzählerin Gut 100 Jahre darauf besiedelt ein anderer englischer Lordkanzler eine andere Insel, Francis Bacon schreibt "Neu-Atlantis". Wiederum entdecken Seefahrer eine Insel, und sie erzählen von einer erstaunlichen Gesellschaft der Gelehrsamkeit und Weisheit. Bacon, einer der Begründer der neuzeitlichen empirischen Forschung, sah die Aufgabe der Wissenschaft darin, "den Menschen zum Herren der Natur" zu machen, in seinem philosophischen Hauptwerk, dem "Novum Organum Scientiarum", stehen die berühmten Sätze: Zitator: "Wissen und menschliche Macht sind dasselbe, da die Unkenntnis der Ursache die Wirkungserzeugung verhindert. Denn die Natur wird nur durch Unterwerfung bezwungen." (Francis Bacon, Neu-Atlantis, aus dem Englischen von Günther Bugge, Phlipp Reclam, Stuttgart 1982) Musik (5) Erzählerin Auf den Inseln Utopia und Neu-Atlantis finden die fiktiven Seefahrer die Grundsteine der europäischen Aufklärung: politische Gerechtigkeit und wissenschaftlicher Fortschritt. Aber die Lage beider Inseln bleibt bewusst im Unklaren, Thomas Morus und Francis Bacon schildern sie als Spiegel der eigenen Gesellschaft, als Alternative in kritischer Absicht. Aber dabei handelt es sich lediglich um Fiktionen und nicht etwa um konkrete Pläne für politische Handlungen. Insofern ist die Utopie hier der "Nicht-Ort" in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes. Diese Bedeutung verändert sich in der Aufklärung grundlegend, als mit dem Begriff des Fortschritts ein linearer Zeitablauf denkbar wird. Die Idee des Fortschritts gibt der Sache eine andere Richtung, nämlich die einer möglichen chronologischen (Weiter)Entwicklung. Die Utopie wechselt also die Dimension und wandert vom Raum in die Zeit. Wünsche und Träume werden jetzt nicht mehr in eine nebulöse Ferne transportiert, sondern in die erreichbare Zukunft. Der Literaturwissenschaftler Klaus Vondung schreibt zu diesem Vorgang: Zitator: "Mit der Verzeitlichung der Utopie wurde die Vervollkommnung des Menschengeschlechts, wenn nicht gar der Zustand der Vollkommenheit nun als tatsächlich erreichbar in die Zukunft der eigenen Gesellschaft projiziert." Erzählerin Durch den Gedanken des Fortschritts verliert die Utopie teilweise ihren fiktionalen Charakter und wird im 19. Jahrhundert zum politischen Kampfbegriff. Die frühen Sozialisten wie Fourier, Saint-Simon und Owen entwerfen die sozialistische Zukunft als Konzept, an dessen Umsetzbarkeit sie nicht zweifeln. Damit gerät die Utopie aber in den Sog der Realität - mit schwerwiegenden Folgen. Denn utopische Projekte, wie das sozialistische, können nun überprüft werden und damit zur Enttäuschung führen: O-Ton Macho Und das spielt sowohl bei Huxley als auch bei Orwell eine ganz große Rolle. Beide haben dieses Scheitern des großen Menschheitsexperiments Sowjetunion sehr genau und sehr präzis rezipiert. Erzählerin Der schlechte Zustand der Wirklichkeit - früher gerade ein wesentlicher Ansporn der Utopie - dient nun zum Argument gegen utopisches Denken und beginnt es ins Negative zu verkehren, die Utopie wird zur Dystopie. Wie der Schriftsteller Thomas Lehr betont, ... O-Ton Lehr [...] haben eben diese Entwicklungskatastrophen oder historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, also vom Faschismus und Stalinismus, von den beiden Weltkriegen, zu solch ungeheuren Verwerfungen geführt in der Realität - Auschwitz hat keine Dystopie je übertroffen -, dass man wirklich Gründe für die Dystopie hat, weil sie sich im Jetzt des 20. Jahrhunderts tatsächlich ereignet haben. Erzählerin Im 20. Jahrhundert verbreitet sich die "Dystopie", die negative Form der Utopie, in der Literatur. Aldous Huxleys "Schöne neue Welt", George Orwells "1984", Margret Atwoods "Report der Magd" und viele andere Bücher entwerfen in Reaktion auf die Totalitarismen mögliche Schreckenssysteme der Zukunft. Zur Abschreckung und Warnung vor politischen Gefahren malen sie die Zukunft schwarz. Musik (6) Sämtliche Sprecher jeweils 1x Regie: Bitte zur Collage auf Musik mischen Seuchen ... Wasserknappheit ... Weltkrieg ... Genmanipulation ... Gesundheitsdiktatur ... Ende der Demokratie ... Technologische Unfälle ... Isolation ... Terror ... Hunger ... Einsamkeit ...Verzweiflung ... Krieg aller gegen alle. Erzählerin Im Kern des utopischen Denkens stehen Wünsche und Ängste. Eine Veränderung der Gegenwart wird entweder erhofft oder befürchtet. Seit einigen Dekaden dominieren offensichtlich Ängste um die Zukunft und insofern auch die Dystopien, die negativen Entwürfe. Doch unterscheiden sich die aktuellen Bücher heute erheblich von den großen systemischen Dystopien des 20. Jahrhunderts. Aldous Huxley schrieb 1949 zur Neuauflage seines Buches im Vorwort: Zitator "[...] >Schöne neue Welt< ist ein Buch über die Zukunft und ein solches Buch, was immer seine künstlerischen oder philosophischen Qualitäten sein mögen, vermag uns nur zu interessieren, wenn seine Prophezeiungen so aussehen, als könnten sie Wirklichkeit werden." (Aldous Huxley, Schöne neue Welt, aus dem Englischen von Herberth E. Herlitschka, S.Fischer Verlag, Frankfurt aM 1953) Erzählerin Diesen Anspruch würde heute niemand mehr erheben. Thomas Lehrs Roman "42" spielt an einem Tag im August des Jahres 2000. Das "MOI"- Virus in Heiko Michael Hartmanns Roman übertragen vermutlich neue Euroscheine. In beiden Fällen handelt es sich also nicht um "Prophezeiungen". Der Zeitstillstand und das Virus wollen gar nicht in Huxleys Sinn glaubhaft sein, sondern im Gegenteil eine rein fiktionale Realität vorführen, einen anderen Zustand, der eher räumlich als zeitlich gedacht ist. Für beide Autoren spielt die "Insel" als Metapher eine Rolle, wenn auch in anderer Weise als bei Morus und Bacon. Inmitten der versteinerten Schweiz fühlen sich die Überlebenden wie Inseln: Zitator: "Die Zukunft ist schwarz. Sie liegt in den Pupillen unserer Augen, sie ist da, solange wir da sind. [..] Unsere Zukunft ist der eigene Körper." Erzählerin In beiden Romanen sind die Figuren selbst in einen insulären Zustand versetzt und von ihrer Umwelt isoliert. Auch das MOI-Virus reduziert die Kranken auf in sich selbst kreisende Monaden. Das Virus - nicht zufällig nach dem französischen Ausdruck "moi" für "ich" benannt - scheint die Metapher für eine Krankheit unserer Zeit zu sein. "MOI" steht für Einsamkeit, für das Resultat des modernen Individualisierungsprozesses, den der Autor kritisch sieht: O-Ton Hartmann: Ich würde sagen, eine Gesellschaft, in der Individualität in besonderem Maße möglich ist, muss auch eine Gesellschaft sein, in der die sozialen Fähigkeiten der Menschen gleichermaßen stark ausgebildet sind. Erzählerin Dass die sozialen Fähigkeiten heute weit zurückbleiben, demonstrieren die Kranken in Hartmanns Roman, die noch als hilflose Torsi um das Fernsehprogramm im Krankenzimmer kämpfen. Während Orwell und Huxley möglichst realistische Warnungen formulierten, um ihre Zeitgenossen aufzuscheuchen, sind es heute eher Zerrspiegel in der Tradition von Morus und Bacon, die uns vorgehalten werden. Darin, so skurril oder absonderlich die gegenwärtigen Geschichten auch wirken mögen, vermitteln sie durchaus, wo sich die Gesellschaft in Schieflage befindet. Dabei geraten nicht nur die Figuren zu Inseln. Die Bücher beschreiben auch quasi insuläre Aspekte von Gegenwart, denn es geht - wiederum anders als bei Orwell und Huxley - nie ums Ganze. Das Ganze scheint zu Beginn des 21. Jahrhunderts viel zu groß und zu enorm, um literarisch in den Blick genommen zu werden, wie Thomas Lehr findet: O-Ton Lehr Und wenn Sie es so sehen, ist mein Roman eine Konsequenz: Die Insel, was utopisch werden kann, kann nur noch der Einzelne sein, aber nicht mehr das Ganze. Weil man das Ganze nicht mehr prognostizieren oder durch eine einfache Phantasie, die auch nur halbwegs realistisch wäre, in ein utopisches Insulares überführen kann. Also die Wahrnehmung der Welt ist so komplex geworden und die Welt so verschachtelt und komplex, dass jede Prognose fehlgeht: die negative Prognose - die ist zum Teil wahrscheinlicher, das hat das 20. Jahrhundert nahegelegt - und die positive Vorhersage in ein mögliches Gutes ist nahezu unmöglich geworden. Erzählerin: Das Ganze, was sollte das in der vielbeschworenen globalisierten Welt schon sein? Die heutigen Dystopien kommen fragmentarisch daher, wählen Aspekte, Stichworte, Mosaikteile und konstruieren daraus eine neue, andere Wirklichkeit. Die Kulturwissenschaft sieht hier eine wesentliche Differenz zu den früheren Formen der Utopie: O-Ton Macho Man kann nämlich fragen, wie unsystematisch kann eine Utopie oder eine Dystopie sein, ohne dass sie damit aufhört, entweder Utopie oder Dystopie zu sein? Wie fragmentarisch kann man vorgehen? Musik (7) Erzählerin: Der portugiesische Nobelpreisträger José Saramago geht fragmentarisch vor, wenn er in "Die Stadt der Sehenden" vom Ende der Demokratie erzählt. Eine Stadt, die Leser vermuten Lissabon, wählt zum Entsetzen der Politiker nicht korrekt, denn die Auszählung der Lokalwahl ergibt 83% leere, weiße Stimmzettel. Was daraus folgt, sind eskalierende Maßnahmen der Regierung gegen die Bevölkerung der Hauptstadt, die schließlich in eine Art Krieg münden. Saramago gibt in seinem Buch, das gut 200 Seiten lang ohne Hauptfigur auskommt, keine Erklärung für das Nicht-Wählen - es gab keine Verschwörung, keine Rebellion und keine Terroristen, wie sie die Regierung so gerne hätte. Die Städter taten nichts Unrechtes und doch war es Unrecht, wie ihr Präsident erklärt: Zitator "[...] und Sie werden verstehen, wenngleich viel zu spät, dass Rechte nur in den Worten, mit denen sie ausgesprochen wurden, wirkliche Rechte sind und auch nur auf dem Papier, auf dem sie niedergeschrieben wurden, [...] Sie werden verstehen [...] dass das maßlose, unüberlegte Pochen auf ein Recht selbst die festgefügteste Gesellschaft umwälzen würde, und Sie werden schließlich auch verstehen, dass der schlichte gesunde Menschenverstand gebietet, dass wir sie als bloßes Symbol dessen nehmen, was sein könnte und nie als tatsächliche und mögliche Realität. Weiß zu wählen ist ein unverzichtbares Recht, keiner wird es Ihnen streitig machen, aber wie wir den Kindern verbieten, mit dem Feuer zu spielen, warnen wir auch das Volk, nicht gegen die eigene Sicherheit zu verstoßen." (José Saramago, Die Stadt der Sehenden, aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis, Rowohlt Reinbek bei Hamburg, 3. Auflage 2008) Erzählerin Obgleich Politik im Zentrum steht, beschreibt "Die Stadt der Sehenden" kein politisches System. Der 1922 geborene Saramago skizziert lediglich und deutet an: Sein Roman entspricht eher einer Zeichnung als einem Gemälde. Ein Beispiel für die neue Art fragmentarischer Dystopie, denn Saramago stellt nicht nur kein System dar, sondern auch keine Ursache- Wirkungsketten. Er lässt die Gründe des "Weiß-Wählens" im Dunklen. Ähnlich wie in Cormac McCarthys Roman "Die Straße" Vater und Sohn durch ein völlig verwüstetes Amerika fliehen, ohne dass die Ursache der Zerstörung deutlich wird. Ähnlich wie Thomas Lehr und Heiko Michael Hartmann ihren Lesern nur vage und mehrdeutige Hinweise geben über das Zustandekommen der jeweiligen Katastrophen. Zum Fragmentarischen tritt das Uneindeutige hinzu. Vage bleiben die Aussagen, weil den Autoren nicht an Realitätsnähe gelegen ist, wie Hartmann hervorhebt: O-Ton Hartmann Der Literat ist kein Wetterfrosch, der vorhersagt, wie wird es aussehen in zehn Jahren, sondern er spielt mit dem Gedanken, wie würde es denn aussehen, wenn wir so weitermachen. Musik (8) Erzählerin Die heutige dystopische Literatur fragt, wie schon Morus und Bacon: "Was wäre, wenn - alles anders wäre?" Ging es damals jedoch um die Wünsche des Tun-Könnens, so geht es heute um die Ängste vor den Folgen tatsächlichen Tuns. Die Differenz zwischen den frühneuzeitlichen Utopien und den heutigen Dystopien beschreibt gleichsam eine historische Kurve von der humanistischen Begeisterung der Renaissance bis zum postmodernen Erschrecken vor der Reichweite des eigenen Handelns. Was als Bild der Hoffnung begann, hat sich in sein Gegenteil verkehrt: Die Utopie phantasierte von Machbarkeit innerhalb einer Welt der Ohnmacht. Die heutige Dystopie dagegen tritt als Ohnmachtsphantasie in einer Welt der Machbarkeit auf. Schon deshalb ist die heutige dystopische Literatur keine "Science-Fiction", denn es geht ihr kaum um die Zukunft, sondern vielmehr um das Experiment mit der Gegenwart. Der französische Philosoph Raymond Ruyer nannte die utopische Form ein "geistiges Experimentieren mit Möglichkeiten" und schrieb: Zitator: "Der Intellekt äußert sich in der utopischen Denkweise als Fähigkeit zur Denkübung am Konkreten. Er hat seine Freude am gedanklichen Erproben von Möglichkeiten, die er über die Wirklichkeit hinausgehen sieht. Dies ist eine Art von >Verstehen<." (Raymond Ruyer, Die utopische Methode, aus dem Französischen von Arnhelm Neusüss und P. Weber, in: Arnhelm Neusüss (Hg.): Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, Hermann Luchterhand Neuwied und Berlin 1968) Erzählerin Dystopische Literatur erzeugt eine andere Form des Verstehens von Welt als die Wissenschaft. Wissenschaftliche Folgenabschätzungen heutiger Handlungen sind nicht nur häufig fehlerhaft, sie stecken vor allem in Zahlen und Statistik fest. Ein Roman dagegen kann zum Beispiel anschaulich machen, wie Bereiche unserer Lebenswelt nach einem Unfall in einem Forschungszentrum oder nach dem Ausbruch einer Seuche aussähen. Thomas Lehr formuliert das so: O-Ton Lehr Ich glaube, Literatur hat immer schon experimentiert. [...] Also wenn Sie mich fragen, warum ich kein experimenteller Wissenschaftler geworden bin, sondern ein experimenteller Künstler: das Experiment, das der Künstler macht, ist eigentlich mehr synthetisch, also wenn man eine Symphonie komponiert oder ein Bild malt oder auch einen Roman schreibt, dann macht man weniger eine Analyse als eine Synthese. Das heißt, man nimmt sich eine Schöpfung vor. Erzählerin Literatur schafft alternative Welten und Räume, in denen sie heutige Perspektiven entfaltet und Entwicklungen simuliert. Der Philosoph Ernst Bloch definierte den Menschen als "das Geschöpf, das sich ins Mögliche hineinbegibt" und eben dies leistet Literatur in besonderem Maße. O-Ton Macho Ich finde diese Funktion von Literatur oder auch einer essayistischen Form von Wissenschaft, eben eine solche "ästhetische Folgenabschätzung" zu treiben, großartig und wichtig. Von daher muss man auch sagen, hat sich in dem Bereich die Vorherrschaft der Dystopien natürlicherweise ergeben. Weil man nicht mehr so wie früher darauf erpicht ist, die positive Folgenabschätzung zu treiben, von der ist man ohnehin getragen, sondern eben eine Funktion der Warnung, der Mahnung, der Rücksichtnahme, der Vorsicht und dergleichen einzubauen und zu verwalten. Erzählerin Heiner Müller schrieb 1993: Zitator "Menschen, denen das Träumen verwehrt wird, haben keine andere Heimat als den Wahnsinn. Die Schreckensfrage des nächsten Jahrhunderts lautet: Was spricht gegen ihn?" Erzählerin Möglicherweise helfen Bücher mit schrecklichen, dystopischen Träumen, den Wahnsinn zu verhindern. Musik (9) Literatur (in Reihenfolge der Nennung): Juli Zeh, Corpus Delicti, Schöffling & Co, Frankfurt aM 2009 Thomas Lehr, 42, Aufbau-Verlag, Berlin, 2. Auflage 2007 Kazuo Ishiguro, Alles, was wir geben mussten, aus dem Englischen von Barbara Schaden, btb Verlag, München, 6. Auflage 2006 Heiko Michael Hartmann, MOI, Carl Hanser Verlag, München Wien 1997 Cormac McCarthy, Die Straße, aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl, Rowohlt Reinbek bei Hamburg, 2. Auflage 2009 Thomas Morus, Utopia, aus dem Englischen von Gerhard Ritter, Philipp Reclam, Stuttgart 1983 Francis Bacon, Neu-Atlantis, aus dem Englischen von Günther Bugge, (im Nachwort von Jürgen Klein) Phlipp Reclam, Stuttgart 1982 Klaus Vondung, Wunschräume und Wunschzeiten, http.//www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/Kvondung1.pdf; auch in: Bernáth, Arpád/Hárs, Endre/Plener, Peter (Hg.): Vom Zweck des Systems. Beiträge zur Geschichte der literarischen Utopien, Francke, Tübingen 2006, S. 183-190 Aldous Huxley, Schöne neue Welt, aus dem Englischen von Herberth E. Herlitschka, S.Fischer Verlag, Frankfurt aM 1953 Margret Atwood, Der Report der Magd, aus dem Amerikanischen von Helga Pfetsch, S.Fischer Verlag, Frankfurt aM 1989 George Orwell, 1984, aus dem Englischen von Michael Walter, Ullstein Verlag, Berlin, 1994 George Orwell, Literatur und Totalitarismus, aus dem Englischen von Tina Richter, Rundfunkansprache im BBC Overseas Service, abgedruckt im Listener vom 19. Juli 1941. In: Fritz Senn (Hg.), Das George Orwell Lesebuch, Zürich 1981 José Saramago, Die Stadt der Sehenden, aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis, Rowohlt Reinbek bei Hamburg, 3. Auflage 2008 Raymond Ruyer, Die utopische Methode, aus dem Französischen von Arnhelm Neusüss und P. Weber, in: Arnhelm Neusüss (Hg.): Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, Hermann Luchterhand Neuwied und Berlin 1968, S. 339-360 Heiner Müller, Das Liebesleben der Hyänen, Vorwort in: Thomas Grimm (Hg.): Was von den Träumen blieb. Eine Bilanz der sozialistischen Utopie, Siedler Verlag Berlin 1993 Thomas Macho und Annette Wunschel (Hg.): Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, S.Fischer Verlag, Frankfurt aM 2004 Musik Morton Feldman, Patterns In A Chromatic Field, Rohan de Saram (Violoncello), Marianne Schröder (Piano) John Cage, Totem Ancestor / Alfred Schnittke, Collected Songs Where Every Verse is Filled with Grief, Kronos Quartett: Early Music Krysztof Penderecki, Musica Da Camera, Ivan Monighetti (Violonvello) 1 1