Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio Die Reportage Deutschlandradio Kutlur 5.5.2013 Vier Freunde Auf Sardinien lebt der Männerchor Atmo 1 – Schmiede O-Ton 1, Mura Für 14-, 15-jährige Jungs gab es in Santu Lussurgiu bis auf Bars und den Freizeitsaal in der Pfarrei damals nichts Aufregendes. Keine Disco. Der einzige Ort, wo du mit Freunden ungestört sein konntest, war der Vorratskeller. Jeder hier hat zu Hause einen solchen Keller. Da gab’s immer was zu naschen. Vor allem Wein. Atmo etwas freistehen lassen Autor Giovanni Mura wäre wie sein Vater Schmied geworden, hätte ihn damals nicht die Polizei in Oristano genommen, eine nahe Provinzhauptstadt in der Mitte von Sardiniens Westküste. Die Liebe zum Handwerk aber ist ihm geblieben. Sowie er Zeit übrig hat, schaut er auf einen Sprung in der verwaisten Werkstatt seines 88 Jahre alten Herrn vorbei. Mura wäre ein guter Schmied geworden. Flink formt der drahtige 46-Jährige mit einem Hammer am Amboss das eiserne Ornament für ein Balkongitter. Die Falten auf seiner Stirn passen zu einem Schmied. Der bleistiftdünne Bart an Oberlippe und Kinn dagegen ist ganz Polizist. O-Ton 2, Mura Im Keller störte uns niemand. Da konnten wir Krach machen und Wein trinken. Manchmal sind wir bis drei in der Früh geblieben. Atmo 2 – Gang zum Weinkeller, darüber: Autor Mura muss nur raus aus der Schmiede auf einen kleinen Hügel, dann steht er schon vor dem Eingang dieses Kellers, der neben dem Haus seiner Eltern liegt. Dieser Keller ist ungewöhnlich: kein Untergeschoss, sondern ein in Sandstein gegrabener Stollen, etwa 15 Meter lang, breit wie eine Garage und so niedrig, dass die Hände die feuchte Decke berühren können. Weinfässer und Glaskolben stehen Spalier, ein Laib Pecorino baumelt neben einer verrosteten Lampe, als flacher Tisch dient ein durchgesägtes Fass. Es ist elf Uhr morgens, drei weitere Männer sind inzwischen dazugestoßen. Atmo 3 – Weinkeller, Serviergeräusche, darüber: O-Ton 3, Mura Genau in diesem Keller ist die Passion für den Gesang entstanden. Hier haben wir die ersten Akkorde gesungen – die übrigens unerträglich waren, uns aber unter dem Einfluss des Weines wunderbar vorkamen! Autor Mura spült kleine Gläser aus (Regie: Schankgeräusch), füllt sie mit Rotwein und reicht Oliven dazu, beides Marke Eigenanbau. Fast jeder hier hat irgendwo in den unteren Hügeln um das 500 Meter hoch gelegene Santu Lussurgiu ein paar Reben und Ölbäume. (Regie: Gläser klimpern) O-Ton 4, Mura Wenn sich in Santu Lussurgiu zufällig vier Männer treffen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie singen werden. Regie: (Cin-cin!) Autor Die Männer prosten sich kurz zu und stellen sich derart eng im Karree auf, dass sich fast ihre Schultern berühren. Dann straffen sie ihre Körper, holen gleichzeitig tief Luft im feuchtkalten Gemach, das schwer nach vergorenem Wein, Erde und Holzfässern riecht und demonstrieren, was man hier sonst noch machen kann. Atmo 4 – Lied 1, freistehen lassen, darüber: Autor Sardinien gilt als jene unter Italiens 20 Regionen, in der die Verbundenheit der Bewohner zu Brauchtum und Tradition mit Abstand am stärksten ausgeprägt ist. Dazu zählt auch der Canto a Tenore, der sardische Satzgesang zu viert. Doch auf der zweitgrößten Mittelmeerinsel geben in diesem Bereich nicht wie im Rest der Welt meist Frauen, sondern ausschließlich Männer den Ton an –möglicherweise schon seit dem Ende der Jungsteinzeit. Atmo kurz freistehen lassen O-Ton 5, Mura Von Anthropologen wissen wir, dass der Canto a Tenore vermutlich der Schäferkultur im Neolithikum entsprang. In den entlegenen Weidegründen sollen die Hirten mit ihren Stimmen das Heulen des Windes, das Blöken der Schafe und das Brüllen der Ochsen imitiert haben. Atmo kurz frei stehen lassen (Regie: bim-be-rim-bo) Autor Sa Pastorina heißt das Stück, das Giovanni Mura und sein Chor Cuncordu Lussurzesu gerade singen. Der archaische Einfluss ist unüberhörbar. Zudem handelt der melancholische Text von einem Schäfer, der sich darum sorgt, dass ein junges Lamm seiner Herde bei den Nachbarn unlautere Begehrlichkeiten wecken könnte. Die Urform des vierstimmigen Satzgesangs der Schäfer, schlicht A Tenore genannt und bis auf eine Stimme mit Lauten begleitet, die in der Kehle gebildet werden, wird noch heute in vielen Dörfern praktiziert. In Santu Lussurgiu und einigen anderen Ortschaften aber mischten sich im Lauf der Zeit immer stärker gregorianische Einflüsse von Mönchen darunter, die sich Anfang des 17. Jahrhunderts auf der Insel ausbreiteten. In kaum einem anderen Ort auf Sardinien jedoch ist die Begeisterung für den Gesang größer als in Santu Lussurgiu. Die Männer hier sind geradezu besessen vom Singen. Allein sechs Chöre zählt das Bergdorf mit seinen 2500 Einwohnern, dutzende sporadische Gruppen nicht mitgezählt. O-Ton 6, Mura Es war nichts Geplantes. Wir haben uns damals nicht hingesetzt und gesagt: ‚wir wollen ein Chor gründen’, so wie andere in einen Fußballclub eintreten. Es ist einfach passiert, fast ein Zufall. Atmo frei stehen lassen, darüber: Autor Ein Zufall, der auch anderswo in Sardinien ziemlich oft passiert. Ganz besonders in Santu Lussurgiu. Atmo 5 – Tischlerei (Schnitzgeräusche) Autor Viele Handwerker, weniger Schäfer: vor allem das hat viel dazu beigetragen, dass sich im Dorf der feinere Gesang gegenüber den eher rauen Weisen der Schäfer durchsetzen konnte. Er wird A Cuncordu genannt, was in etwa so viel heißt wie ‚ von Herzen’. Giovanni Meloni, der 44-jährige Bariton des Chors und Tischler, dessen Gesicht zur Hälfte unter einem dichten Salz-und-Pfeffer-Dreitagebart verschwunden ist, schnitzt in seiner Werkstatt gerade mit einem Kerb-Beitel einfache Blütenmotive in ein Kantholz aus Kastanie, das eine schwere, typisch sardische Truhe tragen soll. O-Ton 7, Meloni Ein älterer Sänger, der auch mein Tischler-Meister war, hat mich in den Gesang eingeführt. Von meinem ersten Gehalt kaufte ich mir damals als 14-Jähriger einen Kassettenrecorder – nur um seinen Chor aufnehmen zu können. So fing alles an, als ‚offizieller Aufnehmer’. Und ich war keinesfalls der einzige. Autor Meloni hat in seinem ganzen Leben noch keine einzige Stunde Gesangsunterricht genommen. Denn für den Canto a Tenore, der in den sardischen Bergen entstanden ist, gibt es weder Lehrer noch Schulen, nirgendwo. Stattdessen hat Meloni sich seine Tonbandaufnahmen angehört – wieder und wieder. O-Ton 8, Meloni Wer ein bisschen Gehör hat, kann die Lieder imitieren. Beim Älterwerden hat die Stimme dann geholfen. Danach ging es richtig voran. Atmo 6, Blende: Kirchplatz Das erste unvergessliche Gesangserlebnis hatte er als Siebenjähriger während der Osterwoche, als seine Mutter ihn in die Chiesa di Santa Maria degli Angeli mitnahm, vor der in diesem Augenblick einige Jungs um einen Kleintransporter herumlungern. Atmo kurz frei stehen lassen (Ape startet) O-Ton 9, Meloni Wenn sie Christus vom Kreuz nehmen, der Mutter zeigen und du diesen herzzreißenden Gesang des Countertenors hörst, der höchsten Stimme, der eher wie der verzweifelte Schrei einer Mutter klingt, die ihren Sohn verliert... das war ein sonderbares Gefühl. Da hab’ ich Gänsehaut bekommen. Autor Die Karwoche oder Settimana Santa ist ein wichtiger Termin für alle A-Cuncordu-Sänger. Denn etwa die Hälfte des Repertoires besteht aus gregorianisch eingefärbten Gesängen in lateinischer Sprache. Die andere Hälfte bilden traditionelle Gesänge, deren verschiedene Melodien von Generation zu Generation singend weitervererbt und nur auf diese Art am Leben erhalten werden. Das einzige, was variiert, sind die Texte, die jeder Chor selbst wählt – bekannte oder weniger bekannte Poeme, die manchmal auch neu verfasst werden. Selbst, wenn es Noten dazu gäbe, würden sie den Sängern nichts nützen. Denn fast niemand von ihnen kann sie lesen. Atmo 7 – Park, frei stehen lassen bis zu den Rufen Autor Einen Steinwurf unterhalb der Kirche bietet sich fremden Augen und Ohren eine eigentümliche Szenerie. Zwei Gruppen Jugendlicher stehen in einem kleinen Park unter Bäumen. Während die Mädchen sich am Rand unterhalten oder desinteressiert auf Handys eintippen, ereifern sich die Jungs bei Sa Murra. Das Ratespiel, das viel Konzentration erfordert, ist ebenfalls sehr alt. Zwei gegenüberstehende Gegner machen in schnellem Rhythmus mit einer Hand synchron eine zählende Bewegung Richtung Boden. Es gewinnt, wer am öftesten die richtige Summe der Finger laut rufend rät, die beim Öffnen der Hände abgespreizt sind. Atmo kurz frei stehen lassen War Sa Murra vor einigen Jahren schon fast verschwunden, hallen die Rufe nun wieder durch die Gassen der Dörfer im Landesinnern. Santu Lassurgiu ist in vielerlei Hinsicht ein Brennpunkt sardischer Traditionen. Die Trachten-Webkunst ist legendär. Die sardischen Hirtenmesser, Lepa genannt, zählen zu den besten. Und auch an Pferden haben die Lussurgesi einen Narren gefressen – der Ort ist inselweites Zentrum der Pferdezucht. Selbstverständlich können auch Giovanni Meloni und die anderen Sa Murra spielen, selbst wenn sie das heute nur noch selten tun. Und wenn, dann natürlich im Weinkeller. Atmo 8 – Sa Murra, frei stehen lassen O-Ton 10, Meloni In der Jugend-Clique waren wir damals zu zwölft. Wenn wir uns irgendwo trafen, haben wir sofort gesungen. Die anderen haben sich dann meist beschwert und uns gesagt, wir sollten endlich aufhören! Später aber, als wir besser wurden, waren wir noch begeisterter, weil wir merkten, dass es auch den anderen zu gefallen begann. Atmo 9 – Weinkeller Autor Giovanni Mura sorgt nicht nur als Polizist für Ordnung, sondern auch als Kopf des Chores, wo er die höchste Stimme singt – hier contralto genannt, die dem Countertenor ähnlich ist. O-Ton 11, Mura Wenn wir damals in einen Kellerkamen, wo schon andere Leute sangen, die aber keine richtigen Sänger waren, sagten sie sofort: Hey, Ruhe, ‚Su Cuncordu’ kommen. Nicht etwa, weil sie uns Respekt zollten! Sie traten zur Seite und wollten uns hören! Ab und zu lassen wir auch andere mitsingen. Einer von uns geht raus, ein anderer übernimmt seine Stimme. So teilen wir festliche Momente. Autor Die Mädchen aus Santu Lussurgiu hingegen zeigten ihnen damals die kalte Schulter, erinnert sich Mura. Das ein oder andere Ständchen haben sie dennoch aufgeführt, und zwar vor einem Nonnen-Kolleg. Dort sangen sie Schülerinnen von Auswärts vor, die das Sprach-Gymnasium von Santu Lussurgiu besuchten. Atmo 10 – 2. Lied, kurz frei stehen lassen, darüber: O-Ton 12, Mura Diese Mädchen kamen wir gerufen, denn sie hatten weder Brüder noch Eltern in ihrer Nähe. Das Risiko war also gering für uns. Viele waren sehr hübsch, und wir haben so manches Eis gebrochen... Atmo kurz frei stehen lassen Autor Gesungen wurde in Gassen und auf Plätzen, worüber die Oberprimanerinnen entzückt waren, Nonnen und Anwohner hingegen weniger. Gelegentlich begriffen die jungen Künstler das auch erst, als sich über ihnen Wassereimer leerten. Und einmal, so der Polizist, bekamen sie es sogar mit den Carabinieri zu tun. O-Ton 13, Mura Artikel 650 unseres Strafgesetzbuchs besagt, das den Anweisungen der Ordnungskräfte unbedingte Folge zu leisten ist. Da wir aber ihre Aufforderung, mit dem Singen aufzuhören, ignorierten, mussten sie uns anzeigen. Atmo 11 – Kamin, frei stehen lassen, darüber: Autor Dass sich die Gemeinsamkeiten von Chormitgliedern hier nicht in Proben und Auftritten erschöpfen, ist kein Zufall, sagt Gino Leoni, 45 und Bass des Chores, der inzwischen zu den beiden Giovannis gestoßen ist. Zur Abwechslung löscht der Feuerwehrmann mit dem kantigem Kopf und dem drahtig-weißem Haar heute mal keinen Brand, sondern entzündet einen – mit trockenen Mastixsträuchern im Kamin von Muras Wohnzimmer. Und während der Countertenor eine Carbonara für die Männerrunde kocht, trifft rechtzeig zum Mittagessen auch der Tenor ein. Simone Riggio, mit 39 der Jüngste des Quartetts und von Beruf Grafiker, zeichnet ein noch dichteres Bild vom Canto a Tenore: O-Ton 14, Riggio Es sind immer vier Freunde, die den Ausgangspunkt für einen guten Chor bilden. Das gilt auch für die anderen Chöre in Sardinien, ganz gleich, ob sie nun ‚a cuncordu’ oder’ a tenore’ singen. Autor Bariton Giovanni Meloni sieht das ganz genau so. O-Ton 15, Meloni Wenn du hier versuchst, einen Chor allein nur nach der Perfektion der Sänger zusammenzustellen, dann hält der maximal ein Jahr, bevor er sich wieder trennt wegen unterschiedlicher Ansichten. Das einzige, was uns als Gruppe zusammenhält, ist die Freundschaft! Autor Der Bariton weiß ganz genau, wovon er spricht. Denn nur wegen unterschiedlicher Ansichten mit seinem Tischler-Meister über die Entwicklung des Gesangs gab er die Werkstatt auf, die sie zehn Jahre gemeinsam geführt hatten, und machte sich selbstständig. Atmo 12 – Kinder Autor Wenig später kommt Muras Ehefrau Antonella mit den sechs- und achtjährigen Kindern Francesco und Mattia von der Schule zurück. Auch Melonis Sohn Antonio ist dabei. „Neuneinhalb“, antwortet der auf die Frage nach seinem Alter. Über musikalischen Nachwuchs sorgt sich in Sardinien niemand. Auch Antonio singt bereits mit Inbrunst. O-Ton 16, Antonio Mein Vater hat mich gefragt, ob ich Lust hätte, in einem Chor zu singen. Ich würde es versuchen, habe ich ihm geantwortet. Das habe ich dann auch gemacht. Es hat mir gefallen. Und ich singe immer noch! Autor Drei Jahre ist er nun schon im Knabenchor. Voci bianche nennt die italienischen Sprache sie, ‚weiße Stimmen’. Die Lieder dort haben allerdings nichts zu tun mit dem Canto a Cuncordu. Den singt Antonio mit seinem Vater, und zwar die zweite Stimme. Atmo 13 – Duett, frei stehen lassen, darüber: Autor Der kleine Francesco will zwar Fußballer werden, übt sich aber ebenfalls gern im Gesang. Nur Mattia, der hat ‚überhaupt keine Lust’ – sagt er. Als sich dann aber sein kleiner Bruder neben den großen Antonio stellt, um den Choral des Dorfheiligen ‚Santo Splendore’ zu intonieren, dauert es keine Sekunde, bis Mattia sich zwischen die beiden quetscht. Atmo 14 – Santo Splendore, frei stehen lassen, darüber: Autor Wie Muras Frau Antonella schätzt auch Schwester Cristina, 45, den Chorgesang der Männer sehr. O-Ton 17, Cristina Mura Ich bin eine große Bewunderin! Wenn ich wollte, dann könnte auch ich ihn singen, ich kenne die verschiedenen Stimmen gut. Aber Frauen singen hier allenfalls in der Kirche. Für uns ist kein Platz in dieser Realität. Atmo 15 – Probenraum, Stühle rücken, freistehen lassen, darüber: Autor Und deswegen bleiben Antonella und Cristina auch zu Hause, als die vier Männer sich am Nachmittag auf den Weg in den Probenraum machen, der sich fünf Gehminuten entfernt im leerstehenden Haus des Großvaters befindet. Seit 30 Jahren treffen sich die Vier hier zwei bis dreimal pro Woche, um eine Auswahl aus ihrem Repertoire für Auftritte zu proben. Der nächste soll in Aggius im Norden der Insel stattfinden. Simone Riggios Stimme macht die Frühjahrskühle der Berge zu schaffen. Atmo freistehen lassen, bis Riggio abbricht, darüber: Autor Der untersetzte Riggio, der in seinem Daunenanorak wie ein russischer Gewichtheber aussieht, stieß erst vor 15 Jahren zum Chor. Als Hobby-Musiker hatte er schon Erfahrung. Doch Riggio ist Seiteneinsteiger. Vorher war er Lead-Sänger in einer Punkrock-Band. Den Wechsel hat er nie bereut. O-Ton 18, Riggio Der Chorgesang war immer etwas, das mir gefehlt hatte. Bei Hochzeiten oder anderen festlichen Gelegenheiten hörst du deine Freunde singen und sagen: ‚Komm, mach mit!’ Ich habe mich nicht getraut, was mir leid tat und wofür ich mich manchmal auch schämte. Dabei dachte ich: so schwer kann das nicht sein! Atmo 16 – Riggio intoniert, frei stehen lassen, darüber: Autor Dass drei Jahrzehnte Chorgesang bei den vier Freunden das Selbstbewusstsein schärfte, demonstriert selbst Giovanni, der Bariton mit dem Bärengemüt, ohne Umschweife jedem, der von cantante spricht. Denn obgleich keiner von ihnen ein professioneller Sänger ist und sich auch nicht so sieht, können sie das Wort cantante, das allgemein für Sänger steht, nicht ertragen. Sie bestehen auf cantore, Chorsänger. O-Ton 19, Meloni Und du bist nicht nur Chorsänger, sondern bekleidest eine besondere Rolle im Dorf. Alle Chorsänger haben eine starke Identität, sind anerkannt in der Gesellschaft. Man wird besonders respektiert. Autor Der sardische Chorgesang, schiebt Giovanni Mura nach, hat in den vergangen Jahren zudem erheblich im öffentlichen Bewusstsein an Bedeutung gewonnen. O-Ton 20, Mura Früher haben die antiken Dinge immer nur nebenbei existiert. Besser die Juke-Box als Chorgesang, besser Fensterläden aus Alu statt aus Kastanie. Inzwischen steht der Gesang für kulturelle Qualität. Sogar die Universitäten beschäftigen sich damit! Atmo 17 – vor der Kirche, stehen lassen bis Eintritt, Hall, darüber: Autor Der Lieblingsort für alle Chorsänger ist und bleibt wegen der besonderen Akustik die Kirche. Fast verzögerungsfrei stellt dies der einsilbige Gino Leoni unter Beweis, dessen schmelziger Bass – kaum ist die schwere Holztür ins Schloss gefallen – den Raum von der Altarempore bis in die hintersten Winkel des Mittelschiffs mit der Kraft eines Nebelhorns ausfüllt. Atmo 18 – Gino intoniert, freistehen lassen, darüber: Autor Allein in Santu Lussurgiu gibt es Hunderte, die gut singen und sich regelmäßig treffen, sagt Simone Riggio, der Tenor. O-Ton 21, Riggio Der einzige Unterschied ist, dass unser Chor sich noch ein bisschen öfter trifft. Denn wenn wir außerhalb singen, muss alles sitzen. Dieser Anspruch gilt auch, wenn wir unter uns sind. Das ist wesentlich für den Gesang. Für uns ist das fast eine heilige Angelegenheit. Atmo 19 – Miserere, etwas länger freistehen lassen, darüber: Autor Vor allem Frauen zeigen sich inzwischen viel öfter und offener berührt von dem Gesang, weiß Giovanni Meloni. O-Ton 22, Meloni Wir haben Leute weinen sehen, während wir sangen – darunter sogar eine Frau, die den Text nicht verstehen konnte. Ihr ging es sicher so wie mir damals als Kind, als meine Mutter mich das erste Mal zur Settimana Santa in die Kirche mitnahm. Zu erleben, dass wir mit dem Chor in der Lage sind, so etwas auf eine fremde Person zu übertragen, ist einfach herrlich. Und es entschädigt für alles. Atmo 20 – Blende, Torgesang Als sich später die Nacht über den Ort gesenkt hat, bleiben die vier Freunde während eines Spaziergangs in einer der vielen Kopfsteinpflaster-Gassen von Santu Lussurgiu unter einem Torbogen stehen und formieren sich zu einem letzten Lied. „In einem richtigen Chor mögen sie Noten lesen können, wir aber haben den Gesang im Blut“, meint der singende Polizist und lässt die Schmied-Falten auf seiner Stirn spielen. „Su Cuncordu“, sagt Mura, „ist nicht nur Gesang. Für uns ist er das Leben.“ Atmo stehen lassen, bis Hunde bellen, ausblenden. ENDE 1