Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 28. August 2010, 11.05 - 12.00 Uhr Allein in Europa - Minderjährige Flüchtlinge in Griechenland Eine Sendung von Dirk Auer und Chrissie Wilkens Moderation: Britta Fecke Musikauswahl: Babette Michel Redaktion: Thilo Kößler Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Trailer Mod auf Musik Mod.: .... ein Junge auf der Flucht, der an Europa geglaubt bis er in Griechenland ankam O-Ton: ..." "Ich bin aus Afghanistan geflohen, um ein besseres Leben in Europa. Aber hier ist die Situation noch schlechter als in Afghanistan. Wir haben nichts zu essen. Wir können auch nicht in die Stadt um zu arbeiten." Mod:...und eine griechische Anwältin, die sich für die Rechte der Flüchtlinge einsetzt: O-Ton: ...." Es ist alles dokumentiert und alle wissen bescheid. Aber die Situation ist seit Jahren dieselbe. Wir hatten Fälle von Kindern, die Opfer von Menschenhandel waren. Fälle die wir auf der Straße gefunden haben und nichts zu essen hatten". Gesichter Europas: Allein in Europa - Minderjährige Flüchtlinge in Griechenland Mit Reportagen von Dirk Auer und Chrissi Wilkens Am Mikrophon begrüßt sie Britta Fecke. 1 MOD: Der Kampf arm gegen reich - Wohlstand gegen Verzweiflung wird an den Außengrenzen der EU ausgetragen. Jedes Jahr kommen 10 000´de Armutsflüchtlingen mit kleinen Schlauchbooten über das Mittelmeer oder schlagen sich über die Türkei Richtung Europa durch. Jedes Jahr wird die Grenzüberwachung verschärft; und Unzählige lassen ihr Leben auf den Fluchtrouten in Richtung Europa. Seit Italien und Spanien bilaterale Abkommen mit Libyen und Marokko geschlossen haben, sind ihren Küsten für Flüchtlinge fast unerreichbar, doch die Schlepper sind findig, nun nehmen auch sie die Route über die Türkei. Drei von vier Flüchtlingen werden inzwischen an der türkisch-griechischen Grenze aufgegriffen. Unter ihnen sind besonders viele Kinder und Jugendliche. Sie kommen aus Afghanistan, dem Irak oder Somalia und sie kommen allein: ohne Eltern oder Freunde. Weil sie als illegale Einwanderer gelten, werden auch sie in Griechenland ins Gefängnis geworfen, dort gibt es keine medizinisch Versorgung, es gibt nicht mal eine Matratze für jeden und selten genug zu essen. All das verstößt gegen die UN-Kinderrechtskonvention, all das ist Alltag an Europas Grenzen. Atmo: Bahnhof Alexandropoulis In den Sommermonaten ist der Strom der Flüchtlinge so groß, dass die Gefangenen aus Platzgründen schon nach wenigen Tagen oder Wochen freigelassen - das heißt: auf die Straße gesetzt werden - ohne Geld ohne Verpflegung, aber mit einem in griechischer Sprache verfassten Dokument: Innerhalb von 30 Tagen müssen die Flüchtlinge Griechenland verlassen. Wer kann, setzt den Weg fort: vom Bahnhof in Alexandroupolis. fahren täglich drei Züge nach Athen: Reportage 1 Autor Touristen und Geschäftsreisende ziehen schwere Koffer hinter sich her. Um einen Berg von Rucksäcken hat sich eine Gruppe Pfadfinder in adretten weißen Hemden versammelt. Sie reden und lachen, einer von ihnen hat zur Gitarre gegriffen. Atmo Nach und nach treffen andere Reisende ein: die Hautfarbe etwas dunkler, die Kleidung schmutziger und ihr Gepäck viel kleiner. Einer von ihnen ist Amdul. Unsicher studiert er den Fahrplan, dann lässt er sich erschöpft auf eine Bank fallen. O-Ton 1 Wir hatten sehr viele Probleme mit den Taliban, und deswegen mussten wir Afghanistan verlassen. Ein Freund von uns, der in England lebt, sagte es sei kein Problem. Wir hatten keine Ahnung, dass wir so viel leiden würden. Die Situation in dem Gefängnis war furchtbar. Wir konnten nicht schlafen, es war sehr eng. In einem Raum waren bis zu 60 Menschen. Autor Amdul fährt sich mit seinen dünnen Fingern verlegen durch die schwarzen Haare. Dem 16- jährigen wächst gerade der erste Flaum über der Oberlippe. Noch nie hatte Amdul sein Heimatdorf verlassen - bis zu dem Tag, als er sich mit seinem gleichaltrigen Cousin Mohamed auf den Weg machte: Über Iran, in die Türkei, und dann standen sie schließlich vor der Grenze Europas. Am Fluss Evros, in dessen Fluten allein in diesem Jahr schon 38 Flüchtlinge ertrunken sind. O-Ton 2 Als wir den Fluss überquert hatten, haben wir nur Wildnis und Bäume vorgefunden. Wir haben dann einen Mann getroffen, und der fragte uns, wohin wir möchten. Wir sagten, wir wollen nach Athen. Der Mann sagte, ihr könnt nicht nach Athen, ich rufe einen Polizisten. Und wir sagten, gut, dann holt uns wenigstens jemand ab. Autor Sechs Tage hat Amdul in der Polizeistation von Soufli verbracht, ohne zu wissen, warum und wie lange er festgehalten wird. In derselben Zelle war auch noch eine Familie: fünf Geschwister, ihre Mutter und ein neun Monate alter Säugling. O-Ton 3 Wir hatten so große Angst. Wir wussten, dass wir in ein Lager gebracht werden, aber nicht, dass es so schlimm sein wird, dass Frauen zusammen mit Männern in einen Raum gesperrt werden. Es hat gestunken, es war heiß, und der ganze Raum war voller Moskitos und Fliegen. Etwa 250 Gefangene waren es insgesamt. In einem Bett haben bis zu vier Leute geschlafen. Autor Bis zu sechs Monaten können Flüchtlinge nach griechischem Gesetz inhaftiert werden, auch solche, die sich in einem laufenden Asylverfahren befinden. Menschenrechtsorganisationen prangern schon lange die menschenunwürdigen Bedingungen in den Lagern an, die oft an Viehställe erinnerten. Aber Mohamed will daran jetzt nicht mehr erinnert werden. Das nächste Ziel wartet schon. O-Ton 4 Ich möchte in England in die Schule gehen, eine Ausbildung bekommen. Mein Vater ist gestorben als ich ein Kind war, und ich musste von klein an arbeiten. Auch meine beiden kleinen Brüder gehen nicht in die Schule, weil die Taliban sie nicht lassen. Als ich weggegangen bin, habe ich gesagt, wenn ich etwas für mich machen kann, dann kann ich auch euch helfen. Autor Dann fährt der Zug ein. Mohamed schnallt sich seinen kleinen Rucksack auf den Rücken, Atmo Auch die Familie packt ihre Sachen, das Baby wird in ein Tragetuch gewickelt. Mit welcher Erwartung sie nun nach Athen fahren? Die junge Frau lacht. O-Ton 5 Wir wissen überhaupt nichts über unsere Zukunft. Auch nicht, wie es in Athen sein wird. Denn wir kennen dort niemanden. Musik Mod. Literatur Zahir Athari floh aus Afghanistan nach Griechenland. Der Schriftsteller und Intellektuelle war selbst ein politischer Flüchtling, sein Asylantrag wurde bis in die letzte Instanz abgelehnt. Daraufhin floh er erneut, diesmal nach Norwegen. Dort trat er mehrfach in den Hungerstreik, bis er schließlich nach 10 Jahren anerkannt wurde. Heute lebt er mit seiner Familie in Oslo. Und setzt sich nach wie vor für die Rechte der Flüchtlinge ein. Literatur 1 Zu laufen und hunderte Kilometer verbotener Pfade und Grenzstacheldraht hinter dich zu bringen, um das unsichere Asyl zu finden, ist nicht leicht. Ein unsicheres "vielleicht" ist der einzige Grund, noch einen Augenblick länger in dem Martyrium zu bleiben. Vielleicht werden die Hunde nicht meinen Geruch aufspüren, und ich werde die Grenze überqueren. Vielleicht wird das Schlauchboot nicht sinken in den Wellen des Ozeans. Vielleicht wird die Polizei mich inmitten der normalen Passagiere nicht erkennen. Vielleicht wird das die letzte Kontrolle sein. / Die Ankunft in den europäischen Ländern ist am Anfang ein bisschen erleichternd und schön. Die Flüchtlinge glauben, sie würden hier Unterschlupf finden. Aber innerhalb eines Augenblicks wird dieser lange und erholende Atemzug zu einer tiefen Depression in den isolierten Barackensiedlungen, Schiffen und Abschiebelagern. / Wenn es eine Strategie gibt, dann diese: Den Atem anhalten für einen anderen Augenblick. Aber selbst dieser Atemzug wird zum Stöhnen. 2 Mod: Nach der Haft werden die Flüchtlinge in die Obdachlosigkeit entlassen, und nach Ablauf der 30-Tagefrist folgt das Leben in der Illegalität. Auch für die Kinder bedeutet das oft die vollkommene Schutzlosigkeit, viele werden misshandelt und missbraucht. Die meisten minderjährigen Flüchtlinge schlagen sich nach Athen durch, in der Hoffnung von dort weiter nach Norden zu kommen. Denn irgendwo muss doch das Europa sein, indem die Menschenrechte auch für afghanische Flüchtlinge gelten - so hoffen sie! Doch einmal in Griechenland registriert, wird das Land für Flüchtlinge zur Falle. Denn die sogenannte EU-Verordnung Dublin-II regelt, dass jeder Flüchtling in der EU nur dort einen Asylantrag stellen darf, wo er erstmals europäischen Boden betrat. Mit diesem Asylrecht wird die Verantwortung für die Flüchtlinge auf die Randstaaten der EU abgewälzt. In Deutschland ist die Zahl der Flüchtlinge seitdem rapide zurückgegangen. Doch in Griechenland steht das Recht auf Asyl nur auf dem Papier. Über 40.000 unbearbeitete Asylanträge liegen auf den Schreibtischen der Behörden, die Anerkennungsquote geht gegen Null. Es gibt keine Unterkünfte, keine medizinische Versorgung und schon gar keine soziale Unterstützung. Trotzdem wurden tausende Asylsuchende in den vergangenen Jahren nach Griechenland zurückgeschickt. Inwieweit das mit den Europäischen Grundrechten vereinbar ist, wird zurzeit vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg geklärt. Atmo: Stimmen auf der Straße Rund um den Attiki-Platz in Athen halten sich die meisten Afghanen auf, die Afrikaner sammeln sich dagegen in den heruntergekommenen Mietshäusern rund um den Omonia-Platz. Hierher wagt sich kaum noch ein Grieche, denn die Gegend gilt als Zentrum von Gewalt und Drogenhandel. Reportage 2 Autor Eine enge Gasse, links und rechts eingerahmt von schäbigen Häuserfassaden. Somalis und Sudenesen stehen in kleinen Gruppen zusammen, reden und gestikulieren. Atmo: Treppe In den Hausfluren ist dichtes Gedränge. Noaf schiebt sich an ein paar Männern vorbei und öffnet die Tür zu einem winzigen Zimmer. Auf dem Boden liegen Decken und Matratzen, es riecht nach Schweiß und Schimmel. Eigentlich kein Ort zum Leben, aber trotzdem der einzige, wo sich Noaf halbwegs sicher fühlt. O-Ton 1 Mein ganzes Leben ist voller Angst, denn ich habe keine gültigen Papiere. Wenn ich nach draußen gehe, schnappt mich vielleicht die Polizei, und so bleibe ich lieber hier drin - nur manchmal gehe ich nach unten, auf die Straße oder zum Omonia Platz. Autor Noaf, 16 Jahre alt, kommt aus Somalia. Wegen des Bürgerkriegs schickte ihn seine Familie zu Verwandten nach Jemen. Damals war er fünf Jahre alt. O-Ton 2 Es waren Verwandte, aber sie haben mich sehr schlecht behandelt. Sie haben sich nicht um mich gekümmert und mich geschlagen. Auch von anderen bekam ich Schläge, so sehr, dass ich manchmal sogar ins Krankenhaus musste. Atmo: Treppe Autor Noaf führ weiter durch das Haus. Im nächsten Stock dasselbe Bild. Bis zu zwanzig Menschen leben in den engen Wohnungen. Atmo "Hier schlafen wir", klagt ein Mann und betritt einetwa zehn Quadratmeter großes Zimmer. Auch hier liegen auf dem Boden drei verdreckte Matratzen. "Sieben Leute - drei hier, zwei hier und zwei hier. Zu viele Menschen, keine Arbeit, kein Essen." Noaf zuckt mit den Schultern. Er ist einfach schon froh, dass er nicht - wie viele andere Flüchtlinge - auf der Straße leben muss. Atmo In einem kleinen Schlauchboot hat er es von der Türkei nach Lesbos geschafft. Zusammen mit anderen Somaliern und Afghanen erreichte er schließlich Athen. O-Ton 3 Die meisten von ihnen hatten hier irgendwelche Verwandte und konnten dort unterkommen. Aber ich hatte niemanden. Ich war dann in einem Aufnahmelager für Minderjährige, da wohnten vor allem Afghanen, aber wir haben uns nicht gut verstanden. Und einmal, als ich unterwegs war und wieder zurück wollte, war die Tür plötzlich zu. Das Heim war geschlossen. Und drinnen waren alle meine Sachen, auch Fotos von meiner Familie. Ich hatte alles verloren. Atmo Autor Auch der Raum nebenan ist voller Menschen, auf dem Boden sitzen kleine Kinder, eine junge Frau stillt ein Baby. Seit drei Jahren lebt die Familie bereits hier. Atmo: Stimmen, Rufe ... "Es ist sehr schwierig hier mit Kind. Kein Geld, kein Essen. Wir wollen nur hier weg." Alle hier im Raum nicken: "Wir wollen alle hier weg. Deutschland ist gut, Frankreich ist gut". Auch Noaf möchte am liebsten weiter. Aber ohne Papiere? Ohne Geld? Vor einem Jahr hat er für ein paar Monate im Gefängnis gesessen. O-Ton 4 Die Polizei hat mich mit Drogen erwischt. Aber das waren nicht meine, sie wurden mir zugesteckt. Sie haben mich verhaftet, und ich musste irgendein Formular unterschreiben. Es gab keinen Übersetzer, und seitdem wird auch meine Rosa Karte nicht erneuert. Autor Die begehrte Rosa Karte bekommt in Griechenland, wer es geschafft hat, einen Asylantrag zu stellen. Mit der Karte wird ein Flüchtling gegenüber den Behörden zumindest existent. Und er erhält so eine Arbeitserlaubnis. Sozialleistungen gibt es aber nicht. Atmo: Fahrstuhl Ein paar Hundert Meter weiter hat die Rechtsanwältin Jiota Masouridou ihr Büro. Sie ist spezialisiert auf Flüchtlingsrecht. O-Ton 5 Warum seine Rosa Karte nicht erneut wurde, wissen wir nicht. Vielleicht weil er eine negative Antwort auf sein Asylantrag bekommen hat, die aber auf Griechisch war und er sie deshalb nicht verstehen konnte. Es kann aber auch einfach sein dass die Behörde unterbesetzt ist und sie es deshalb nicht schaffen, die Karte zu verlängern. Es kann alles sein. Auf jeden Fall ist er jetzt ohne Papiere. Autor Und damit einer von Tausenden in Athen, wie die Anwältin resigniert feststellt. Die Papierlosen schlafen in Parks oder heruntergekommen Abbruchhäusern, verkaufen Drogen, und rum um den Attiki-Platz wächst der Straßenstrich. Für ein paar Euro sind die Körper der Kinder und Jugendlichen zu haben. O-Ton 6 Es ist alles dokumentiert, und alle wissen Bescheid. Aber die Situation ist seit Jahren dieselbe. Wir hatten Fälle von Kindern, die Opfer von Menschenhandel waren. Fälle, die wir auf der Straße gefunden haben und nichts zu essen hatten. Oft sprechen wir sie einfach nur aus humanitären Gründen an - und dann müssen wir nachdenken, was wir machen können, um ihnen irgendwie zu helfen. Autor Eine Sisyphusarbeit sei das. Aber was, so fragt Masouridou, will man machen? Bis heute gibt es keine Organisation in Athen, die sich speziell um die Nöte der minderjährigen Flüchtlinge kümmert. Atmo: Verein der Sudanesen und Somalier Auch Noaf wendet sich deshalb notgedrungen vor allem an Seinesgleichen, wenn er Hilfe braucht. Im Erdgeschoss seines Hauses hat der Verein für Somalier und Sudanesen seine Räume. Noaf begrüßt einige der herumsitzenden Männer. Sie gucken Fußball, spielen Karten und rauchen. Ins Leben gerufen hat diese kleine Insel Ziad Adam. Er sitzt hinter einem Schreibtisch, vor ihm ein Berg von Zetteln und Unterlagen. O-Ton 7 Wenn jemand essen will, wenn jemand keine Papiere hat, dann versuchen wir zu helfen. Oder wenn jemand Medikamente braucht. Wir helfen auch bei Übersetzungen. Oder wenn jemand neu am Hafen ankommt und keine Unterkunft hat - wenn es Kinder sind, versuchen wir etwas zu organisieren für zwei drei Tage, sie können duschen und etwas essen. Autor Aber die Zeiten werden immer härter, meint er. Er selbst ist seit sechs Jahren in Griechenland, er hat einen Asylantrag gestellt, aber noch immer wartet er auf eine Antwort. O-Ton 8 Früher wussten wir noch, wie das Verfahren lief, jetzt verstehen wir es nicht mehr. Asyl zu bekommen, ist sehr schwer. Und jetzt, nach der ganzen Wirtschaftskrise, gibt es keine Arbeit mehr. Wir können manchmal nicht mal die Miete oder die Stromrechnung zahlen. Vor ein paar Tagen hat hier in dieser Straße eine Razzia stattgefunden. Die Polizei hat die Leute - auch Kinder - festgenommen, die keine Papiere hatten. Autor Das ist ein Problem insbesondere für diejenigen, die völlig auf sich alleine gestellt sind. Unauffällig schaut Ziad Richtung Noaf. O-Ton 9 Hier, unser Freund zum Beispiel. Normalerweise, wenn es keine Eltern gibt, gibt es Verwandte. Der Kleine hier hat niemanden. Ich kenne ihn seit drei Jahren. Er ist minderjährig und wohnt mit Erwachsenen zusammen. Er hat keinen, der ihm helfen kann. Atmo: Gaskocher Autor Im Hinterraum wird für alle gekocht. Ein großer Wasserkessel steht auf einem Gaskocher. Noaf hat sich zwei Euro geliehen und freut sich auf die warme Mahlzeit. In Griechenland bleiben, will er nicht. Weiter, nach Westeuropa - vielleicht. Er würde sogar zurückgehen, nach Somalia. Aber wohin, fragt er sich. Denn von seinen Eltern hat er schon seit 11 Jahren nichts mehr gehört. O-Ton 10 Ich weiß nicht, wo sie wohnen, weil sie immer viel hin und hergezogen sind. Aber ich denke sehr viel an meine Mutter und meinen Vater, vor allem Nachts, wenn ich nicht schlafen kann. Vielleicht haben sie nichts zu essen, vielleicht ist ihr Leben bedroht. Ich denke daran, dass sie vielleicht in noch größeren Schwierigkeiten stecken als ich. Musik Literatur 2 Alle verlieren ihre Identität und ihr Gesicht. Sie sehen anders aus, vielleicht erschreckend. Es sind Flüchtlinge. Es sind Menschen. Menschen, die kein Recht haben zu arbeiten, zu reisen, politisch und sozial aktiv zu sein. Sie müssen hier bleiben, Jahre über Jahre. Ohne irgendetwas über ihr Morgen zu wissen. Stell dir vor, du verbringst deine Zeit auf eine Art, dass du nichts weißt über die nächste Stunde. Vielleicht schicken sie dich im nächsten Augenblick zurück. Vielleicht bist du noch zwei Jahre hier. In einem Zustand wie diesem ist alles anders, und alles verliert seinen normalen Rhythmus. 3 MOD. Um nach Griechenland zu kommen, nahmen die Flüchtlinge bislang vor allem die Route über das Meer: Mit kleinen Schlauchbooten setzten sie vom türkischen Festland auf die griechischen Inseln über. Doch seit die EU-Grenzschutzbehörde Frontex ihre Patrouillen in der Ägäis verstärkt hat, hat sich auch der Flüchtlingsstrom verschoben, viele kommen nun über den türkisch-griechischen Grenzfluss Evros. Allein im letzten Jahr wurden hier mehr als 14.000 Flüchtlinge aus Afghanistan, Somalia, oder dem Irak gestellt, das sind vier mal so viele Migranten wie noch im Vorjahr. Atmo: Straße Wer es lebend auf die andere Seite des Flusses geschafft hat, für den endet die Reise unversehens in einem der heruntergekommenen Gefangenenlager. Von dort geht es für die meisten weiter nach Athen, in der Hoffnung über die Hauptstadt nach Nordeuropa zu kommen. Dass lassen sich die Schlepper teuer bezahlen und deshalb nutzen die Verzweifelten die Wartezeit in der griechischen Hauptstadt zur Geldbeschaffung und Kontaktpflege: Wer hat es geschafft, auf welchem Weg, wie läßt sich der Freund oder die Tante in Norwegen oder England ausfindig machen? Die günstigste Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch beginnt auch für die minderjährigen Flüchtlinge in Griechenland mit www.: Beitrag: Autor Jak betritt zusammen mit seinem Freund Ali ein Internet-Cafe im Zentrum von Athen. Vor den Computern sitzen junge Männer aus Afghanistan oder Pakistan, auch der Besitzer ist Afghane - wie Jak selbst. Der 17-jährige hält einen Euro in der Hand, damit kann er nun eine Stunde surfen. Atmo: Tippen O-Ton 1 Ich schaue nach meinen Emails, danach gehe ich auf YouTube, höre Musik. Dann schaue ich auf Google Earth und sehe mir die ganzen Länder an: Afghanistan, wo ich herkomme. Ich suche auch nach Informationen über die Situation in Afghanistan. Autor Sieben Jahre lebte Jak mit seiner Mutter und Schwester in einem Flüchtlingslager in Pakistan, bevor er sich alleine auf den Weg nach Europa gemacht hat. In Athen bleiben will er aber nicht. O-Ton 2 Vor allem schaue ich mir Schweden an. Denn dort lebt mein Bruder, dort will ich hin. Ich such nach Informationen für Asylbewerber. Wie ist die Situation für Flüchtlinge in Schweden? Wie für die Minderjährigen? Wie werden sie behandelt? Können sie dort zur Schule gehen? Atmo: Musik, Jak singt mit .. Autorin Surfen im Internet - für Ali ist das eine fremde Welt. Der schmächtige Junge hat noch nie vor einem Computer gesessen. Jak schüttelt mit dem Kopf. Womit verbringst Du denn Deine Zeit in Athen, fragt er? Mit ein paar Klicks hat er Ali eine Email-Adresse eingerichtet. Das ist schon mal ein Anfang, meint Jak. Atmo: Tippen, Singen ... O-Ton 3 Für Flüchtlinge ist sehr wichtig, miteinander in Kontakt zu bleiben. Ich spreche viel mit meinen Freunden, die es geschafft haben, von Griechenland wegzukommen. Sie erzählen mir dann, wie sie es geschafft haben. Einige meiner Freunde sind nun in einem Flüchtlingslager in Deutschland, dann zeigen sie mir mit einer Webcam ihr Zimmer, und dann sage ich: Oh, ich werde kommen! Autor Jak öffnet die nächste Internetseite. Atmo: Tippen ... "birds of migrants" ... O-Ton 4 Das ist ein Blog von Flüchtlingen, den ich mit einer Freundin eingerichtet habe. Hier sind zum Beispiel Fragen, die die Jungen der griechischen Regierung stellen: Warum gibt es kein Asyl in Griechenland? Warum steckt ihr Minderjährige ins Gefängnis? Jeder, der etwas beitragen möchte, kriegt das Passwort. Das Problem ist nur, dass viele nicht wissen, wie man das benutzt. Autor Jak ist deshalb selbst so etwas wie ein rasender Reporter geworden. Überall, wo er Kinder und Jugendliche trifft, fragt er sie nach ihren Problemen und sammelt Fotos, die die Flüchtlinge mit ihren Handys gemacht haben. Die stellt er dann ins Netz. Hier zum Beispiel, lacht Jak, und zeigt auf den Bildschirm. O-Ton 5 "I want to be a bird so I can shit on all the passports in the world." Autor "Ich möchte ein Vogel sein, dann könnte ich auf alle Pässe dieser Welt scheißen" - Ansonsten sind es aber kleine Hoffnungen und Wünsche, die die Flüchtling auf der Internetseite hinterlassen haben: Saubere Kleider, keine Angst mehr haben zu müssen, zur Schule gehen zu können. Atmo: Strasse Die beiden Jungen treten ins Freie. Jedes Mal, wenn sie in eine neue Straße einbiegen, schauen sie sich zunächst vorsichtig um. Denn hier, in der Nähe der Kirche von Agios Panteleimonas, kam es in der letzten Zeit häufiger zu gewalttätigen Übergriffen von Neonazis. Atmo: Glockenklingeln Auch vor der Polizei hat Ali Angst, weil er keine Papiere besitzt. Er setzt sich auf einen Treppenabsatz, die Beine schützend vor seinen Körper gezogen. Plötzlich entspannt er sich wieder, aber sein Blick bleibt ernst. Ali will weiter nach Dänemark. O-ton 6 Aber ich habe kein Geld. Wenn ich mit meinen Eltern telefoniere, sagen sie, ich soll zurückkommen - wir haben nichts mehr, was wir Dir schicken können. Vielleicht lasse ich mich also zurückschieben. Aber wenn ich doch noch einmal Geld bekomme, würde ich es noch einmal versuchen. Es ist schwierig, aber ich muss es versuchen. Autor Ohne Geld für einen Schlepper geht gar nichts, bestätigt Jak. Sein Bruder lebt als anerkannter Flüchtling in Schweden. Durch die schwedische Botschaft hat er einen Antrag auf Familienzusammenführung eingereicht. Doch der wurde abgelehnt. O-Ton 7 Jetzt bin ich gezwungen, es illegal zu versuchen. Ich habe meinen Bruder angerufen, dass er mir Geld schickt, und wenn er das macht, werde ich gehen. Vielleicht schon in einer Woche. Vielleicht. Atmo: Attiki-Platz Autor Der Attiki-Platz, von den Athenern auch Klein-Kabul genannt, ist der Treffpunkt der Afghanen. Sie sitzen auf Bänken, und wer keinen Platz mehr bekommt, stellt sich zu kleinen Gruppen. Dazwischen spielen kleine Kinder Fußball. Auch Jak und Ali sind oft hier. Aber sie spielen schon lange nicht mehr. O-Ton 8 Ich muss einen guten Schlepper finden und sicher sein, dass er seinen Job gut macht. Dass er gut zu uns Minderjährigen ist. Wenn wir in den LKW gehen, ist es heiß - also muss genug Platz drinnen sein und Luft. Wenn wir drinnen sind, verstecken wir uns zwischen der Ladung. Es sind zum Beispiel Früchte drin. Wir sind dann vielleicht 24 oder 30 stunden drin. Wir machen die Handys aus und verhalten uns ganz still. Und wir müssen Wasser bei uns haben. Das ist sehr wichtig, weil es drinnen sehr heiß ist. Autor Und doch bleiben viele Unwägbarkeiten. Das Risiko, in eine Polizeikontrolle zu kommen. Und vor allem im Sommer kann die Fahrt auch lebensgefährlich sein. O-Ton 9 Es passiert oft, dass die Jungs drinnen keine Luft mehr bekommen. Sie haben kein Wasser mehr. Es passierte mal, da waren zwei Jungs im LKW und einer starb - einfach weil es zu heiß war. Autor Trotzdem: Auch Ali würde in einen LKW gehen. Er hat schon früh viel gewagt: Mit sechs Jahren hat er Afghanistan verlassen und im Iran schon als kleines Kind gearbeitet. Seine Eltern hat er schon seit neun Jahren nicht mehr gesehen. Sein einziger Kontakt mit ihnen ist über das Telefon. O-Ton 10 Mein Vater hatte mir noch einmal 200 Euro geschickt. Aber die sind jetzt weg. Also muss ich wieder anrufen. Autor Ali zieht eine Telefonkarte aus der Tasche. Atmo: Telefontippen Autor Noch einmal 200 Euro - das wäre sowieso nur ein Tropfen auf den heißen Stein. 2500 Euro bräuchte er, damit ihn ein Schlepper nach Dänemark bringt. Für Ali eine unvorstellbare Summe. Atmo Die Verbindung kommt nicht zustande. Entweder ist das Telefon kaputt - oder, sagt Ali, es ist schon wieder Stromausfall in seinem Dorf, in Afghanistan. Musik Literatur 3 Das Leben der Flüchtlinge beginnt dort, wo alle Möglichkeiten des normalen Lebens aufhören. Die Identität des Flüchtlings befindet sich außerhalb der Grenzen des Lebens. Der Flüchtling ist gezwungen, sein Leben aus dem normalen Lebenskreis herauszuziehen. Das kann dem Leben dazu verhelfen, sein Feld der Möglichkeiten zu erweitern, aber es gibt keinen Zweifel, dass man sich auf schwierigem Terrain bewegt. In dieser Region gibt es keine Überlebensstrategie im üblichen Sinne. Strategie bedeutet, langfristige und klare Möglichkeiten zu haben, die zu einem Ziel führen - so sollte es jedenfalls sein. Da die Flüchtlinge nichts haben, an dem sie sich festhalten können, können sie auch keine Strategie entwickeln. Weil sie nie wissen, was im nächsten Augenblick geschehen wird. Wenn es in dem Leben der Flüchtlinge eine Überlebensstrategie gibt, dann ist es die Strategie des Instinkts, zu der jeder lebende Organismus verurteilt ist. Es ist der "Kampf ums Überleben" in seiner primitiven Form. 4 MOD. Die Hafenstadt Patras im ionischen Meer nennt sich selbst das "Tor zum Westen". Doch hinter diesem Tor liegt für die Flüchtlinge nicht das ersehnte Paradies, sondern das griechische Inferno. Atmo. Wellen Am Hafen stehen die ärmsten der armen -Flüchtlinge, auch viele Kinder und Jugendliche, die kein Geld mehr haben und auf eine Gelegenheit warten, um in oder unter einen wartenden LKW zu klettern. Wer es nicht schafft muss wieder zurück in das Elend am Stadtrand. Mehr als 1000 Flüchtlinge aus Asien und Afrika halten sich in Patras auf. Sie hausen in den Slums an der Grenze der Stadt, zwischen Plastikplanen, Pappe, und Fäkalien. Der griechische Staat reagiert nicht mit Hilfe, sondern mit Repression: Im vergangenen Sommer ließ die Polizei das größte illegale Lager von Patras von Bulldozern niederwalzen. Atmo: Stimmen Auch die Hilfsorganisationen sind inzwischen abgezogen, obwohl das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR immer wieder die Menschenrechtsverletzungen, die unwürdigen Zuständen in Patras und die eklatanten Defizite des griechischen Asylsystem anprangert. Geändert hat sich bis dato nichts: die Flüchtlinge sind immer noch da. Auch die Kinder, eine Schicksalsgemeinschaft im Elend: Beitrag Atmo: Vorbeifahrender Zug Autor Helmachamat und Sakir leben etwa 10 km vom Zentrum von Patras entfernt, zusammen mit etwa 12 afghanischen Jungen, am Rande eines Bahngleises, unter einer Autobahnbrücke. Der gemeinsame Schlafbereich, ein paar verdreckte Matratzen auf dem Boden, ist durch Tücher und Decken abgetrennt. Davor stehen einfache Möbel vom Sperrmüll: ein Sofa, ein paar Stühle, ein kleiner Schrank für ein paar Küchenutensilien. Es ist Mittag, und obwohl die Brücke Schatten spendet, ist es drückend heiß. Zwei Jungen kommen die Schienen entlang. Sie tragen schwere Wasserkanister, ihre Gesichter sind schweißüberströmt. O-Ton 1 Die Situation hier ist furchtbar, es ist heiß, und die nächste Wasserquelle ist zu weit weg. In der Nacht können wir nicht schlafen wegen den Moskitos - wir können uns nicht richtig waschen. Ich bin aus Afghanistan geflohen, um ein besseres Leben in Europa zu haben. Aber hier ist meine Situation schlechter als in Afghanistan. Wir haben nichts zu essen. Wir können auch nicht in die Stadt, um zu arbeiten. Autor Helmachamat füllt das Wasser in einen großen verrußten Kessel, der über dem offenen Feuer steht. Es gibt Spaghetti mit einer Packung Tomatensoße, die mit so viel Wasser gestreckt wird, dass es für alle reicht. Seit anderthalb Monaten lebt der zierliche Junge unter der Brücke, und in dieser Zeit hat sein ansonsten dichtes schwarzes Haar graue Strähnen bekommen. Für alle hier ist es ein Leben im Wartesaal - mit nur einem einzigen Ziel: O-Ton 2 Jeden Tag, das heißt jede Nacht versuche ich am Hafen auf einen LKW zu kommen. Tagsüber bin ich hier, ich besorge Wasser, nehme am Strand ein Bad. Dann gehe ich in den Hafen, manchmal schläft der Fahrer in seinem LKW, wir sind zu fünft, öffnen die Tür und schleichen uns rein. Autor Auch Sakir ist dann immer dabei, er ist mit seinen 15 Jahren der Jüngste der Gruppe. Aber was zählt das hier in Patras, unter diesen Bedingungen? O-Ton 3 Seit zwei Monaten versuche ich, diese Grenze zu überwinden. Oft habe ich nichts zu essen, ich gehe los, ohne Frühstück, ohne Mittagessen. Wenn die Polizei mich dann im LKW findet, schlagen sie mich. Dann stecken sie uns ins Gefängnis - dort schlagen sie uns auch. Es passiert sehr oft. Täglich. Autor Helmachamat will etwas sagen, doch die Worte stocken und seine Augen füllen sich mit Tränen. Er steht auf, nimmt einen Stuhl und setzt sich auf den Bahndamm, seinen Blick in die Ferne gerichtet. Die anderen lassen ihn, jeder hier weiß, wie es ist, wenn plötzlich diese Traurigkeit kommt. Sakir rührt gedankenverloren in der Tomatensoße. O-Ton 4 Freundschaft ist sehr wichtig, vor allem hier in Patras. Ohne Freunde kannst du hier nicht überleben. Wenn Du deine Familie vermisst, kannst du immerhin hier noch zusammensitzen und miteinander reden, über deine Gefühle. Autor Auch heute Abend geht es wieder an den Hafen. Natürlich, sagt Sakir, denn ein Tag, ohne es wenigstens versucht zu haben, ist ein weiterer verlorener Tag. Nach dem Essen packen Helmachamat und Sakir ihren kleinen Rucksack. O-Ton 5 Wir haben eine kleine Flasche Wasser bei uns, eine andere um uns sauber zu machen. und Kekse. Ansonsten nur ein paar Kleider. Und ich habe diesen Ring hier bei mir, von einem Freund in Afghanistan. Er kam schon vor einem Jahr hierher, und nun ist er in Schweden. Atmo: Hafen ... Autor An der Hafenpromenade von Patras stellen sich die beiden Jungen zu einer Gruppe von etwa 20 anderen Afghanen. Sie verharren in der Abendsonne vor einem drei Meter hohen Stahlzaun. Auf der anderen Seite reiht sich Café an Café, gut gefüllt mit Besuchern. Die Griechen haben sich an den Anblick der Verzweifelten gewöhnt. O-Ton 6 Wir versuchen unsichtbar zu sein. Sie wollen uns nicht sehen, sie sprechen nicht mit uns. Wenn wir sie ansprechen, wenden sie sich ab. Wenn wir die griechischen Jugendlichen sehen, dann werden wir sehr traurig. Schau sie Dir an und schau uns an. Schau Dir ihre Heimat an und schau Dir unsere an. Sie gehen zur Schule, sie haben ein ruhiges Leben, sie können Urlaub machen und sie sind bei ihren Müttern und Vätern. Autor Immer wieder lassen die Flüchtlinge ihre Blicke über das Hafengelände mit den wartenden LKWs schweifen. Alle warten auf den passenden Moment. Wenn vielleicht ein Fahrer in seinem Führerhäuschen eingeschlafen ist oder nicht hinschaut. Massih ist mit seinen 24 Jahren einer der ältesten in der Gruppe. In Kabul hatte er als Übersetzer für die internationale Afghanistan-Mission ISAF gearbeitet. Daraufhin geriet er ins Visier der Taliban und musste seine Heimat verlassen. O-Ton 7 Ich bin mehr als zehn Mal über diesen Zaun geklettert. Aber als ich unter den LKW wollte, kam jedes mal die Polizei: Geh da raus! Manchmal schlagen sie uns dann, oder wir bekommen Handschellen, und dann bringen sie uns zur Polizeistation. Nach eins, zwei Tagen lassen sie uns dann wieder gehen. Autorin In Patras lebt Massih wie die Mehrheit der Flüchtlinge mittellos auf der Straße. Seine schwarze Hose und sein T-Shirt sind von oben bis unten mit Staub bedeckt. O-Ton 8 Ich habe mich seit 20 Tagen nicht gewaschen. Ich stinke. Es gibt kein Essen und keine Arbeit. Jeder isst hier vielleicht ein Biskuit am Tag. Wie ein Hund. Wir laufen jeden Tag hier an der Straße lang. Die Leute denken, dass wir Diebe sind. Aber wir stehlen nicht. Wir werden vor Hunger sterben, aber wir werden niemals etwas stehlen. Wir sind keine Diebe, sondern Flüchtlinge. Autor Dann kommt plötzlich Bewegung in die Gruppe. Einige Meter weiter ist ein junger Mann über den Zaun geklettert. Etwas ziellos läuft er über das offene Hafengelände. Massih schaut ihm skeptisch hinterher. O-Ton 9 Ich habe nur einen gesehen, der es wirklich geschafft hat, von hier wegzukommen. Ein Freund von mir. Wir sind zusammen hier angekommen, und gestern hat er es geschafft. Autor Ein Polizeiwagen nähert sich O-Ton 10 Schau! ... Wir sind keine Kriminellen! Wir sind Flüchtlinge! Wo sind die Menschenrechte? Es gibt keine für die Flüchtlinge, es gibt gar nichts! Autor Die Polizisten fordern die Flüchtlinge auf, das Gebiet zu verlassen. Auch das ein immer gleiches Ritual: Die Gruppe schlendert über die Straße, nur um auf den nächsten Moment zu warten, wo die Polizei vielleicht einmal nicht hinsieht. Sakir schaut auf die große elektronische Tafel, auf der die Abfahrtzeiten der Fähren angezeigt werden. Nur noch wenige Stunden, dann legt die "Hellenic Spirit" Richtung Ancona ab. O-Ton 11 Ich habe meine Hoffnung noch nicht verloren. Ich hoffe, dass es in Zukunft alles gut werden wird. Wenn ich diese Grenze überwinde, will ich in die Schule gehen - in Europa! Wenn ich dort Asyl bekomme, einen Pass, dann wird alles gut. Musik Mod: Zahir Athari floh selbst aus Afghanistan, inzwischen lebt er legal in Norwegen, aber die Zeit seiner langen Flucht durch Europa ist nach wie vor das Thema seiner: Literatur 4 Wenn es nur eine Möglichkeit oder einen Grund gibt, an dem du dich festhalten kannst, dann bist du dazu gezwungen, es zu tun, unabhängig davon, dass er dich vielleicht nicht hält und du herunter fällst. Die Flüchtlinge sind dazu gezwungen, sich an einem Grund festzuhalten, der sie in die nächste Minuten bringt, aber es gibt keine Garantie dafür, dass nach einem Augenblick wieder ein anderer Grund gefunden wird, damit du in die übernächste Minute rollen kannst. So ist jede Minute die letzte. Dieser Kampf ist ungleich, und die Reise ist lang und endlos. Manchmal ist sie weitaus länger als das Leben eines Flüchtlings, während andere Male die ersten Schritte gegangen sind und die nächsten nie folgen. 5 MOD. Auf der Flucht geht es von Versteck zu Versteck, von Grenze zu Grenze, von Afghanistan über Iran, das kurdische Grenzgebiet bis in die Türkei. Und auch in Griechenland selbst, dem vermeintlichen Ziel, geht es nie geradeaus, sondern sehr oft zurück. An den Ort wo alles begann. Für viele Kinder begann der schlimmste Teil ihrer Flucht auf Lesbos, in den vergangenen zwei Jahren strandeten hier über 3.600 unbegleitete Minderjährige. Dort, wo andere Ferien machen, wurden sie in ein Internierungslager gesperrt. Nachdem sich sogar die EU-Kommission entsetzt über die Menschenunwürdigen Zustände in dem Gefängnis empörte wurde der Kinderknast von Lesbos geschlossen. Atmo: Meer Nur 10 Kilometer liegen zwischen Asien und Europa, zehn Kilometer zwischen dem türkischen Festland und Lesbos. Doch viele Kinder schaffen diese vermeintlich kurze Distanz nicht, in der stürmischen Ägäis zerschellen ihre Boote an den Felsen und die Fluten ziehen sie in die Tiefe. Wer es lebend bis Lesbos geschafft hat, kommt in die erste Unterkunft für minderjährige Flüchtlinge, sie wurde vor einem Jahr eingerichtet, als Antwort auf die internationale Kritik an der griechischen Einwanderungspolitik . Für einige Kinder ist es die erste Station in Europa, andere kommen wieder hierher zurück: Reportage 5 Autor 10 Kilometer südlich von der Inselhauptstadt Mitilini ist der Strand übersät mit verlassenen Schlauchbooten und Schwimmwesten. Zeugnisse der nächtlichen Überfahrten. Hier haben die Flüchtlingen zum ersten Mal europäischen Boden betreten. Hassani und Hussen, zwei junge Afghanen, lassen flache Steine über das Wasser hüpfen. Atmo Die beiden Jungen waren bereits in Patras, der Drehscheibe für den weiteren Weg nach Westeuropa. Auch sie wollten sich dort auf einen LKW schmuggeln, um nach Italien zu kommen. O-Ton 1 24 Stunden am Tag haben wir nur darüber nachgedacht, wie wir diese Grenze überwinden können. Jeden Tag. Es war wie unser Job - so wie andere zur Schule gehen: Sich unter einen LKW verstecken, reingehen, entdeckt zu werden. Die Schläge vom Fahrer, von der Polizei. Autor Es war an einem heißen Sommertag wie diesem: Der 17-jährige Hasani wartet mit anderen Jungen in den Seitenstraßen vor einer Kreuzung. Als die Ampel Rot zeigt, sprinten sie aus ihrem Versteck. Hassani hat ein Stemmeisen dabei, mit dem er die Heckklappe eines wartende LKWs öffnen wollte. O-Ton 2 Plötzlich tauchte von hinten ein anderer LKW auf. Bevor ich die Tür zuschlagen und wegrennen konnte, schlug er von hinten auf mich auf. Der Fahrer hat uns genau gesehen, er hatte eine gute Sicht. Und trotzdem fuhr er direkt auf uns drauf. Autor Hassani erlitt eine Lungenquetschung, zwei Wochen lag er im Koma im Krankenhaus in Patras. Dass er den Unfall überlebte, grenzt an ein Wunder. Jetzt ist er wieder auf Lesbos, wohnt wie Hussein hoch oben in den Bergen von Lesbos - in der Villa Azadi, eine der wenigen Unterkünfte für minderjährige Flüchtlinge in Griechenland. Nur selten kommen sie von dort in die Haupstadt Mytilini oder ans Meer, wie heute. Gedankenverloren schaut Hussein auf die gestrandeten Schlauchboote und Schwimmwesten. O-Ton 3 Ich denke an mein eigenes Leid, was ich selbst erlebt habe. Und ich denke, dass das jetzt andere erleben. 40, 50, 30 Leute in einem Schlauchboot - und auch wenn einer von uns stirbt, dann erfährt es keiner. Selbst wenn man überlebt und hier ankommt: Vielleicht gibt es ein paar Wenige, die hier glücklich werden. Aber die meisten werden unglücklich. Autor Hassani nickt. O-Ton 4 Ja, wir hatten gehört, dass Europa ein guter Ort ist, wo die Leute wissen, was human ist, was Menschenrechte sind. Wir wussten nicht, dass sie Kinder ins Gefängnis stecken oder schlagen wie in Patras. Als wir hier ankamen, hat uns die Polizei aufgegriffen und gesagt: Wir bringen euch zum Flüchtlingslager für Minderjährige. Aber sie haben uns nach Pagani gebracht. Autor Pagani war ursprünglich ein altes Lagerhaus, das zu einem Gefängnis für Flüchtlinge umfunktioniert wurde. Drei Hallen, vollgestellt mit klapprigen Doppelbetten, auf denen verschimmelte Matratzen liegen. Für 300 Flüchtlinge war Pagani gedacht, doch letzten Sommer waren hier bis zu 1000 Menschen eingepfercht. O-Ton 5 Es waren alle möglichen Leute. In einer Halle waren nur Minderjährige. Die Älteren hatten Betten, die die sich nicht durchsetzen konnten, schliefen auf dem nackten Boden. Es gab nur ein Bad und zwei Toiletten. Das Essen kam durch ein Gitter, aber oft haben wir nichts mehr gekriegt und sind dann hungernd eingeschlafen. Erst nach einer Woche haben sie uns einmal kurz in den Hof gelassen, damit wir frische Luft atmen konnten. Autor Die Gefangenen reagierten mit Hungerstreiks und Feuerrevolten. Im Oktober vergangenen Jahres besuchte dann der stellvertretende Bürgerschutzminister das Lager und reagierte schockiert: Die Zustände seien "schlimmer als Dantes Inferno", sagte er. In den darauffolgenden Tagen wurden die Häftlinge freigelassen. Atmo: Stimmen, Soundcheck Es ist Abend geworden. Und es ist Weltflüchtlingstag. Für die Flüchtlinge aus der Villa Azadi wurde ein Bus in die Inselhauptstadt Mitilini organisiert. Auf einem Platz an der Hafenpromenade ist eine Bühne aufgebaut. Atmo: Gesang Auf der Bühne singen fünf Afghanen ein traditionelles Lied aus ihrer Heimat. Begleitet werden sie von griechischen Musikern. O-Ton Hassani 6 Dieses Fest heute, das ist wirklich gut für uns, weil wir die Leute sehen und sie uns. Wir würden sehr gerne viel öfter in die Stadt gehen, um mit ihnen zu sitzen, zu reden und uns bekannt machen. Aber leider ist unser Griechisch nicht gut genug. Atmo: Musik Autor Etwas traurig lehnt Hassani an einem Pfosten. Etwa 100 junge Flüchtlinge haben sich auf dem Platz versammelt. Die meisten von ihnen sind bereits länger in Griechenland, fast alle haben es schon in Patras versucht, sind gescheitert und wieder zurückgekommen. Manche sind deshalb dabei zu resignieren, wie Hassanis Freund Nujan, der darüber nachdenkt, sich nach Afghanistan zurückschieben zu lassen. O-Ton 7 Wir waren Kinder, wir waren jung - wir dachten, dass wir alles können. Aber als wir reisten und das alles mit unsern eigenen Augen sahen - wir hatten Unrecht! Jetzt versuchen wir den anderen von unseren Erfahrungen zu erzählen. Dass sie auf ihr Leben aufpassen sollen. Unsere Zeit ist vorbei. Atmo: Afghanische Beats Autor Schweigend stehen Hassani und Nujan eine Weile zusammen. Doch dann gibt es auch für die beiden kein Halten mehr, zusammen stürmen sie auf die Tanzfläche. Arme in die Höhe, es wird gelacht, gehüpft und sich umarmt. Atmo: Musik Autor Eine Stunde später ist alles vorbei. Der Bus wartet, gleich geht es wieder hinauf in die Berge von Lesbos. Für einen Moment sieht Hassani zufrieden aus. Er winkt - und dabei lächelt er ein wenig. O-Ton 8 Es war Flüchtlingstag, und es war ein bisschen ein Zeichen, dass Flüchtlinge auch Menschen sind. Aber ich will hier nicht bleiben. Ich will weitergehen, Asyl bekommen. Ich werde es wieder versuchen. Atmo: Abfahrender Bus Abmod: Seit dem 10. Juli ist die Villa Azadi auf Lesbos offiziell geschlossen Die Verträge der Mitarbeiter wurde vom zuständigen Gesundheitsministerium nicht verlängert. Dennoch existiert diese Institution weil das Personal unentgeldlich weiter arbeitet, damit die Kinder nicht zurück auf die Straße müssen. Gesichter Europas: Allein in Europa - Minderjährige Flüchtlinge in Griechenland Eine Sendung von Dirk Auer und Chrissi Wilkens. Die Musikauswahl traf Babette Michel. Die Literatur las Philipp Schepmann. Durch die Sendung begleitete Sie Britta Fecke. 1