COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Anruf aus Istanbul Deutsche Callcenter in der Türkei Von Luise Sammann Atmo 1 Callcenter Ein Surren liegt in der Luft, so als käme es mitten aus einem Bienenschwarm. Mal schwillt es an, mal ab, verstummt aber nie ganz... Mehr als 50 Call-Center-Mitarbeiter klemmen dicht an dicht hinter ihren Bildschirmen, säuseln in die Mikrophone ihrer Headphones. Junge Frauen fuchteln erklärend in der Luft herum, ein bulliger Typ mit samtweicher Stimme ist aufgestanden, tigert beim Sprechen vor seinem Tisch auf und ab - immer soweit, wie es sein Kopfhörerkabel zulässt. Der 29-jährige Levent sitzt ganz ruhig in der letzten Reihe, während er spricht fährt er mit dem Zeigefinger über einen abgegriffenen Zettel. O-Ton 1 Levent Das ist mein Leitfaden für das Projekt, was ich im Moment bearbeite. Wir rufen Ärzte an, in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz und schicken denen eine Umfrage per Email zu, die die dann auch beantworten können. Levent - schlank, kurze dunkle Haare, dunkle Augen - kommt aus Ulm, sein Deutsch ist akzentfrei. Das, erzählt er, war das Hauptkriterium um hier im Call-Center einen Job zu bekommen. Dass er Deutschtürke ist, sollen die Kunden am Telefon nicht merken. O-Ton 2 Levent Ich habe einen Agentennamen, mein Name ist Mario Ebert übrigens. Ich kann die Ärzte nicht anrufen mit einem türkischen Namen. Also ich denke mal, dass die dann ein bisschen abweisend sind, weil die vertrauen eher ihren eigenen Landsleuten als wie nem Türken, denke ich mal. Ich sage halt, woher ich anrufe - ich rufe aus London an, weil unser Hauptsitz ist in London. Ich rufe aber aus Istanbul an normalerweise, ist ja klar. "Ist ja klar ... ", Levent zuckt mit den Schultern, klickt auf dem Bildschirm die nächste Telefonnummer in Deutschland an. Als sich die Stimme am anderen Ende meldet, wird er wieder zu Mario Ebert ... Fast monatlich eröffnen am Bosporus neue Call-Center. Günstige Mieten, niedrige Löhne und unzählige Deutschtürken wie Levent locken vor allem deutsche Firmen nach Istanbul - von der Fluggesellschaft bis zum Elektrogerätehersteller. Callcenter- Agenten betreuen Kunden, verkaufen Zeitschriftenverträge, beantworten Fragen - oft sechs Tage in der Woche, für umgerechnet knapp 600 Euro im Monat. Levent zuckt mit den Schultern, er ist zufrieden mit seinem Job. Für türkische Maßstäbe ist die Bezahlung nicht schlecht, die Arbeitslosigkeit ist hoch. "Bewerber haben wir genug", bestätigt Levents Chefin, die ihm von hinten über die Schulter guckt. O-Ton 3 Chefin (Original Türkisch!) Übersetzerin: Viele der Frauen kommen in die Türkei weil sie heiraten. Auch viele Männer heiraten, oder sie wollen das Leben hier einfach mal ausprobieren, weil sie das hier irgendwie vermissen und zurückkehren wollen. Ich arbeite hier seit mehr als 5 Jahren und habe erst einen gesehen, der den Neustart nicht geschafft hat und wieder nach Deutschland gezogen ist. Alle anderen bleiben und denken auch nicht darüber nach, wieder zu gehen. Atmo 2 Verkaufsgespräch Yasam Nur wenige Meter von Levent entfernt sitzt Yasam auf ihrem Drehstuhl, am Telefon nennt sie sich Vanessa Schubert. Ihren türkischen Namen, sagt sie, konnten die Deutschen schon damals nicht aussprechen. Damals, als sie mit ihren Eltern noch in Berlin lebte. Ernst, die dunklen Augenbrauen zusammengezogen, klemmt Yasam zwischen den beiden Holzwänden, die ihren Arbeitsplatz von ihren Nachbarn trennen. Das Surren des Bienenschwarms können die dünnen Wände nicht abschirmen, es dringt in jeden Winkel des stickigen Großraumbüros. Manchmal, sagt Yasam, platzt ihr fast der Kopf. O-Ton 4 Yasam Also psychisch wird man schon richtig müde deswegen. Weil man schaut den ganzen Tag auf den Computer, dir tun die Augen weh, dann hast du Kopfschmerzen, du sprichst den ganzen Tag ... Und da hast du natürlich abends dann auch n' richtig dicken Kopf, du kannst da fast gar nichts mehr machen. Trotzdem - Yasam, die eigentlich studierte Deutschlehrerin ist, arbeitet seit sechs Jahren hier. "So vergesse ich mein Deutsch wenigstens nicht" sagt sie, ohne dabei den Blick vom Bildschirm zu wenden. "Und ein bisschen fühlt man sich hier, als wäre man mitten in Deutschland." O-Ton 5 Yasam Da sind einige Dinge, die einen daran erinnern. Weil, wenn man natürlich auch mit den Kollegen sich unterhält, über die Vergangenheit, was man erlebt hat in Deutschland und was man zu bestimmten Feiertagen gemacht hat oder über bestimmte Programme oder Sendungen ... Dann hat man schon ein bisschen das Gefühl, dass man in Deutschland ist. Während der letzten Worte macht Yasam eine halbe Drehung auf ihrem Stuhl, lässt den Blick durch das Büro schweifen. Deutsche Wortfetzen dringen herüber, hellgelbe Klebezettel mit deutschen Notizen hängen an den Computerbildschirmen, auf einem Kalender hat jemand die deutschen Feiertage eingetragen. Wenn die Türken feiern, müssen Call-Center-Mitarbeiter wie Yasam und Levent arbeiten. Die Kunden in Deutschland können schließlich nicht wissen, ob in der Türkei gerade Opferfest ist, erklärt Yasam. "Pflichtbewusstsein", sagt sie dann und lächelt zum ersten Mal. "Das habe ich aus Deutschland." O-Ton 6 Yasam Auch natürlich von der Arbeitsdisziplin her, dass man immer früher da ist als vor Arbeitsbeginn natürlich. Also viele Türkische sind mehr bequemer in der Hinsicht. Aber wir, also wir fangen um 10.00 an und wir machen schon 10 oder 15 Minuten vorher die Computer an oder sind schon vorher hier oder bereiten alles vor. Die haben nicht so die Disziplin wie wir. Atmo 3 Straße, lauter Verkehr Mitten im täglichen Istanbuler Chaos läuft in den Call-Centern alles streng nach Plan - typisch deutsch eben. Jeder Mitarbeiter hat eine vorgegebene Anzahl an Anrufen pro Tag, 40 Sekunden bleiben im Schnitt für die Nachbearbeitung, bevor der nächste Kunde in der Leitung ist. Auch der Toilettengang ist in den meisten Büros auf 20 Minuten pro Tag beschränkt - die Zigarettenpause sowieso. Doch gerade die brauchen viele der Call-Center-Agenten dringend, wenn ein Kunde mal wieder wütend in den Hörer brüllt... O-Ton 7 Aysun Also, das ist unsere Raucherstelle. Wir müssen immer raus zum Rauchen, oben haben wir keinen Platz dafür. Und das dauert immer auch so ne Weile bis man hier die Treppen runtersteigt oder auf den Aufzug wartet, verliert man da ja schon auf dem Weg zwei, drei Minuten. Die 25-jährige Aysun - beiges Kopftuch, langer Mantel, dezentes Make-Up - steht vor einem heruntergekommenen Bürogebäude im europäischen Teil von Istanbul. Eine Bank zum Hinsetzen gibt es in der Raucherecke nicht, ununterbrochen donnern Lastwagen und Busse vorbei.... Journalisten sind in diesem Call-Center nicht erwünscht. Vielleicht schämt sich das deutsche Unternehmen dafür, dass es seinen Kunden nicht die Wahrheit sagt: Aysun und ihre Kollegen erzählen am Telefon: "Wir sitzen in Berlin." Neben ihrem Arbeitsplatz hängt deswegen immer der aktuelle Wetterbericht für die Hauptstadt, heute regnet es dort. Hektisch wirft sie einen Blick auf ihre Handyuhr. O-Ton 8 Aysun Wir müssen einen Code eingeben in unser System, wo wir sind. Also, ob wir auf Essenspause oder auf Zigarettenpause oder auf Toilette sind, sodass die auch in Deutschland wissen, wo wir sind. Ja, und das wird gezählt, du darfst die Pause nicht überschreiten, musst du dir immer aufschreiben, wie lange du auf der Pause warst. 22, 23, 24 ... Aysun zieht jetzt schneller an ihrer Zigarette, die Sekunden auf ihrer Handyuhr ticken gnadenlos weiter. Schon mehrmals, sagt sie zwischen zwei Zügen, hat sie versucht mit dem Rauchen aufzuhören. Aber wenn es dann wieder mal stressig wird, sind alle guten Vorsätze dahin.... O-Ton 9 Aysun Manche Kunden sind total gemein. Wenn die nicht das bekommen, was sie wollen, dann fragen die noch mal nach deinem Namen. Und dann merken sie, dass du Ausländer bist und dann fragen die: Ich will mit jemandem sprechen, der kompetenter ist als Sie. Er denkt, weil ich Ausländerin bin, komm ich da nicht weiter. Ich wurd' einfach so dahingesetzt ... Aysun drückt die Zigarette mit der Stiefelspitze aus, macht sich auf den Weg zurück an ihren Platz. "Ich geh' jetzt nach Deutschland", sagt sie lachend, bevor sie das Gebäude betritt. Trotz all der Kontrolle, der wenigen Pausen und der gereizten Kunden: Aysun geht gern zur Arbeit. O-Ton 10 Aysun Ich sag ja immer, ich fühl mich total wohl da. Alle sprechen Deutsch, und manchmal meine Arbeitskollegen machen so blöde deutsche Witze und die gefallen mir total, weil ich die vermisst habe. Alle denken wie du. Alle haben so fast die gleiche Geschichte wie du. Fast die gleiche Geschichte ... Das bedeutet, dass fast alle der Istanbuler Call- Center-Mitarbeiter in Deutschland geboren, zumindest aber dort aufgewachsen sind. Irgendwann landen sie - freiwillig oder nicht - in der Türkei. Atmo 4 Wohzimmer, im Hintergrund Gespräch Eine gute Stunde von den Istanbuler Bürovierteln und Call-Centern entfernt, irgendwo am Rand der Stadt, sitzt Berna mit angezogenen Beinen auf einer Couch. In der Ecke flimmert ein riesiger Fernseher, deutsches Programm! Auf dem Glas- Tischchen vor Berna steht ein Teller Lebkuchen. "Das fühlt sich irgendwie nach zuhause an", murmelt sie fast entschuldigend, schließlich ist Weihnachten längst vorbei. Berna kommt aus Bayern, das rollende "R" verrät sie manchmal. Nach Istanbul kommt sie früher höchstens mal in den Sommerferien. Doch dann wird im letzten Jahr ihr Freund aus Deutschland abgeschoben, seitdem lebt sie hier. "Und dann plötzlich fehlen einem Dinge, die in Deutschland einfach nur normal waren." , seufzt die 26-jährige Berna. O-Ton 11 Berna Ich kann sagen, ich vermiss eigentlich vieles, also alles fast. Ich weiß nicht, also schon allein so, wenn man in die Wohnungen reinkommt zum Beispiel Es ist einfach ganz anders wie in Deutschland. Also, die Straßen, die Häuser ... Es ist ne ganz andere Welt wie in Deutschland. So wie man rausgeht und spaziert, das war ganz anders irgendwie. Zuerst, erzählt sie, fängt das Call-Center die Neuankömmlinge aus Deutschland auf. Hier, wo plötzlich alles so fremd ist, sind die Deutsch sprechenden Kollegen wie eine Ersatzfamilie. Drei Monate telefoniert Berna von morgens bis abends, mit den Kunden einer großen deutschen Fluggesellschaft. Bucht Flüge um, lässt sich anschreien. Dann schmeißt sie hin. O-Ton 12 Berna Du hast da ne Arbeitszeit von 9,5 Stunden, den ganzen Tag sitzt du am Telefon so richtig wie Akkordarbeit einen Anruf nach dem anderen. Du hast die Menschen nicht gegenüber dir sondern nur am Telefon. Versuchst dir am Telefon ein Bild von dem Menschen zu machen aber es war irgendwie gar nicht spannend, man hat immer dieselben Wörter benutzt, zum Beispiel Natürlich oder Selbstverständlich oder Ich werde mir das mal mit ihnen gemeinsam ansehen, wenn's Probleme gibt. Das ist wie so ein Roboter, wo man die ganze Zeit nur mit diesen selben Wörtern antwortet und mehr gibt's da nicht. Berna, 25, ist jetzt Hausfrau. Mit ihrer abgeschlossenen Ausbildung als medizinische Fachangestellte kann sie in der Türkei wenig anfangen, sagt sie. Das geht vielen Deutschtürken so. Unter den ehemaligen Call-Center-Kollegen sind Akademiker, gut ausgebildete Facharbeiter, frisch gebackene Abiturienten. "Oder solche wie ich", wirft Ömer ein, Bernas Freund. In ausgeblichener Jeans und Kapuzenpulli sitzt er mit einem Freund auf dem Sofa gegenüber, angelt sich ein Lebkuchenherz, während Berna den Fernseher lauter stellt. Atmo 5 leise Fernseher O-Ton 13 Ömer Da sind sehr viele Abgeschobene. Ich war am Anfang total ruhig und dann hat einer angefangen, ich wurde abgeschoben und dann kam der andere, ja ich wurde auch abgeschoben. Meine Einsicht ist, die brauchen deutschsprachige Mitarbeiter. Es ist ganz egal wer kommt, den nehmen die einfach, Hauptsache er kann am Telefon verkaufen, das ist das wichtige für die. 1000 Lira - arbeitest du, ok. Arbeitest du nicht, kommt 'n Anderer. Es sind viel zu viele Abschieber hier und viel zu viele Leute natürlich auch, die freiwillig hierüber gekommen sind und viel zu viele Call-Center sag ich mal. Ömer schüttelt genervt den Kopf. Weder will er in der Türkei leben, noch in einem Call-Center arbeiten. Aber ohne Kontakte und Erfahrungen auf dem türkischen Arbeitsmarkt haben er und viele seiner Kollegen keine andere Wahl. Bevor Ömer nach Istanbul kommt, prügelt er in Frankfurt einen Mann halb tot, sitzt drei Jahre im Gefängnis, wird abgeschoben. "Mann, dabei ist das doch mein Zuhause", ruft er zum Fernsehen hinüber, der gnadenlos weiter flimmert. O-Ton 14 Ömer Zuerst hat man sich gefreut, natürlich mit den Freunden usw. unterhalten macht schon Spaß. Aber, wenn ich schon dieses Telefon da sehe, ich muss mir nur vorstellen, die Kunden rufen jetzt an und dann geht's gleich los ... Ja, Willkommen und guten Tag, was wünschen Sie? Und ich bedanke mich, dass sie angerufen haben ... Ist doch alles gelogen, ist doch so! Und auch, wenn der mich beschimpft am Telefon, muss ich mich entschuldigen. Aber wofür? Dass der mich beschimpft? Das kommt mir alles komisch vor. Ömer presst die Lippen aufeinander. Manchmal, sagt er, fällt es ihm schwer sich zusammen zu reißen, wenn die Kunden ihm am Telefon "blöd kommen". Ihm, der hier in Istanbul sitzt, wo er doch gar nicht sein will. Aber es gibt auch gute Momente, in denen das Call-Center auch für Ömer ein Stückchen Ersatzheimat ist. O-Ton 15 Ömer Wir haben natürlich noch Weihnachten gefeiert, wir haben unseren Tannenbaum gehabt, was geschmückt war und dann haben wir noch Wichteln gemacht und untereinander Geschenke verteilt, das ist schon total deutsch eigentlich. Also wenn ich jetzt mich mit einem normalen Türken unterhalte, ist das total was anderes, ne andere Welt. Aber wenn ich jetzt nen Deutschtürken sehe, der auch abgeschoben ist oder der hier lebt, da fühlt man sich bisschen näher. Ömer und Berna starren eine Weile auf den riesigen Fernseher in der Ecke. Vor kurzem haben sie sich deutsches Fernsehen angeschafft. Jetzt ist alles einfacher ... Atmo 6 deutsches TV (Ömer: Um 20.15 kommen immer die Filme (lacht laut) ... 20.15 kommen meine Filme...) O-Ton 16 Berna Hier Pro7, We are Family zum Beispiel Oder wie Galileo zum Beispiel, das finden wir auch immer sehr interessant. Das ist was, worauf wir auf keinen Fall verzichten könnten. Im Moment haben wir leider nur ein Programm auf Deutsch, ich hoffe, es kommt noch mehr dazu. Man fühlt sich schon so wie Deutschland, als würde ich in Deutschland in meiner Wohnung sitzen und Fernsehen sehen, so fühlt sich das an. Atmo TV laut kurz stehen lassen, dann O-Ton drauf O-Ton 17 Ömer Ich sag mal so, bei uns ist schon einiges deutsch, das Essen z.B ... Also, wir schwärmen nach Quark, ja?! Also es gibt schon viele Dinge, die nach dort Sehnsucht machen, sag ich mal. ... Also keine Kartoffeln (lacht) hab ich genug gehabt im Knast. Das ist nix mehr. Aber da gibt's schon vieles. So, Plätzchen, oder Kaffee, Kuchen, was man auch in Deutschland machen würde. So Bienenstich zum Beispiel fehlt mir total. Oder so Käsekuchen, solche Sachen. Käsekuchen und Quark - oft sind es diese kleinen Dinge, von denen die Istanbuler Deutschtürken träumen. Atmo 7 Supermarkt Der nächste Tag: Ömers Kollegin Aysun schlendert durch einen Edel-Supermarkt. Heute, an ihrem freien Tag, zählt niemand die Sekunden, die sie an ihrer Zigarette raucht. Sie wirkt entspannter als beim letzten Treffen in der Rauchercke ... Aysuns Kopftuch ist heute blau, der Plastikkorb, der an ihrem Arm baumelt noch leer. "Die Preise!", sagt sie kopfschüttelnd, zeigt auf einen Joghurt, der fast 5 Euro kosten soll. Was hier in den endlosen Regalen steht, kommt direkt aus Frankreich, Italien oder eben Deutschland. Eine deutschtürkische Kollegin meint deswegen, dass es hier fast alles gibt. Schmand zum Beispiel - oder eben Quark. Den sucht Aysun schon seit 9 Jahren! O-Ton 18 Aysun Erstmal, man achtet da nicht so drauf. Aber wenn du was am suchen bist. Wenn du sagst, ich will jetzt mal das und das essen, das findest du nirgends. Groß, klein der Supermarkt, das ändert gar nichts dran. Du findest voll viele Sachen nicht, so diese Kleinigkeiten, die stören einen dann. Aysuns Blick wandert vorbei an italienischem Parmesankäse, an Regalen voller Schweizer Schokolade und Pumpernickel. Mit 16 kam sie mit ihren Eltern in die Türkei - Deutschland kennt sie seitdem nur noch vom Telefon. Dennoch ist sie - wie so viele Deutschtürken - im Herkunftsland ihrer Eltern nie wirklich angekommen. "Es gibt Dinge", sagt sie, "nach denen sehne ich mich fast jeden Tag". O-Ton 19 Aysun Knäckebrot, und Kräuterbutterbaguette beim Frühstück ... Letztens hat ein Arbeitskollege von mir Knoppers mitgebracht, das war so himmlisch. Man vermisst das total! Gouda, Emmentaler ... Obwohl ich die so satt hatte in Deutschland. Jetzt vermiss ich die total beim Frühstück. Teilchen, von der Bäckerei, die gibt's hier überhaupt nicht. Ich hab die nirgends gefunden. Ich hab auch alle ausgehorcht - habt ihr irgendwo mal Teilchen gegessen, gesehen, gerochen ... ? Nee. Keine Teilchen. Atmo 8 Café, leise Musik, Stimmen Ein paar Stunden später sitzt Aysun mit zwei Freunden im Istanbuler Szeneviertel Taksim vor einem Glas Latte Macchiato. Türkischen Cay, wie ihn hier sonst alle trinken, mag sie bis heute nicht ... Aysun wurde nicht abgeschoben, wie Ömer. Aber sie ist auch nicht ganz freiwillig hier, wie viele ihrer Kollegen, die einfach mal das Leben am Bosporus ausprobieren wollten. Aysun ist in Istanbul, seit ihr Vater in Deutschland pensioniert ist. Seine Heimat war immer die Türkei. Dass seine Tochter einmal anders fühlen würde, war nicht vorgesehen ... O-Ton 20 Aysun Ich konnte mir das auch gar nicht vorstellen, von Deutschland wegzuziehen. Und die haben das auch bemerkt, die hatten irgendwie Angst vielleicht, dass ich abhaue oder so und dann haben die gesagt, ja, wir gehen Sommerferien, Urlaub machen. Nach 2 Wochen habe ich die gefragt, wann fliegen wir zurück? Und dann hab ich die Antwort bekommen, nee, du fliegst nicht mehr zurück. Und mein Perso wurde versteckt ... Das war alles so schrecklich für mich, weil ich wollte das erstmal nicht, ich hab mich überhaupt nicht wohl gefühlt, ich hatte keine Freunde, keiner der mich verstanden hat, ich konnte kein Türkisch. Aysun ist 16 - geht in Köln aufs Gymnasium - als ihre Eltern ihr Leben nach Istanbul verlegen, vom Rhein an den Bosporus. Sie beendet die Schule und beschließt so schnell wie möglich ihr eigenes Geld zu verdienen, um in Zukunft allein über ihr Leben zu entscheiden. Da plötzlich wird das Kopftuch, das sie seit ihrem 12. Lebensjahr trägt, zum Problem. Trotz gutem Schulabschluss, Deutsch, Englisch und Türkisch - Aysun findet keinen Job. O-Ton 21 Aysun Das war die schlimmste Zeit meines Lebens. Und mit so was konfrontiert zu werden, in der Türkei. Die Leute im Ausland denken immer, das ist hier irgendwie zu religiös, wie im Iran. Das ist es überhaupt nicht, es ist ein Problem ein Kopftuch zu tragen hier! Sogar bei der Jobsuche, als würde das die Qualität senken oder so. Die wollten nicht, dass gesehen wurde, dass die eine Angestellte die Kopftuch trägt haben und mir wurde auch gesagt, dass die keine Hintertür haben, wo ich rein kann. Wenn ich vorne rein gehe, dann würde das jeder sehen ... Aysun guckt trotzig, zündet sich eine Zigarette an. "Ich lasse mir doch nicht vorschreiben, was ich anziehen soll!", schnaubt sie zwischen zwei Schluck Kaffee ... Das Call-Center ist am Ende der einzige Ort, an dem ihr Kopftuch niemanden stört. Schließlich, sagt sie noch, können die deutschen Kunden am anderen Ende der Leitung sie ja ohnehin nicht sehen. Atmo 9 Straße Dann macht sie sich auf den Weg zur Arbeit, neuneinhalb Stunden Telefonieren liegen vor ihr. Den Wetterbericht für Berlin hat sie heute schon studiert: für den Nachmittag ist Regen angesagt. In Istanbul scheint die Sonne ... 1 Reportage: "Anruf aus Istanbul - deutsche Callcenter in der Türkei" Von Luise Sammann