Deutschlandradio Kultur Kultur und Gesellschaft Reihe : Forschung und Gesellschaft Titel : Geister und Seele Die Herausforderungen transkultureller Psychiatrie Autor/in : Andrea Westhoff Redakteur/in : Jana Wuttke Sendung : 13.01.2011 Regie : Klaus Michael Klingsporn Besetzung : Victor Neumann, Viola Sauer und Adam Nümm Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Regie: Musik, darauf Sprecher: Maalik wird in eine Notfall-Ambulanz eingeliefert. Der 35-jährige Afrikaner wirkt völlig verzweifelt, hat offenbar furchtbare Angst und erzählt von "unheimlichen Ereignissen" um ihn herum: dass er plötzlich von einer unsichtbaren Hand gepackt wird, seine Mutter und ihre Schwestern ihm im Schlaf erscheinen, ihn fesseln und quälen. "Meine Seele ist entführt worden", sagt der Mann. Verfolgungswahn? Angefangen hatte es, nachdem die Mutter kürzlich zu Besuch bei ihm war, um den Sohn "auf den richtigen Weg zurückzuführen". Jeden Tag vollzog sie verschiedene Rituale in seiner Wohnung, versteckte Amulette und andere magische Gegenstände, warnte ihn vor dem Zorn der Ahnengeister und verfluchte ihn schließlich sogar. Eigentlich, sagt der Maalik, der seit 20 Jahren in Deutschland lebt, glaube er nicht daran, "aber dann sind da diese Träume und die Angst..." Regie: Musik-Ende Sprecherin: Etwa 18 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben derzeit in Deutschland. Migration - das ist nicht nur der Wechsel von einem Ort zum anderen. In die Fremde gehen bedeutet auch Verlust - der Heimat, der Verwandten und Freunde, der eigenen Sprache; die rechtliche Situation vieler Migranten ist unsicher, sie haben Angst, werden häufig diskriminiert. Dr. Meryam Schouler- Ocak von der Arbeitsgruppe psychiatrische Migrations- und Versorgungsforschung an der Charité: O-Ton 1: Schouler-Ocak (0'26) Migration per se macht ja nicht krank, Migration ist etwas völlig normales, natürliches, hat es immer schon gegeben, was vielleicht krankheitsfördernd ist, sind diese Belastungsfaktoren, sozio-ökomomische Stressfaktoren im Rahmen des Migrationsprozesses, die die psychische Vulnerabilität erhöhen und dadurch wahrscheinlich bei der Entwicklung oder auch bei der Verstärkung einer bestimmten Erkrankung mitwirken können. Sprecherin: Vor allem "Identitätsprobleme" bedrohen die seelische Gesundheit: Manche Migranten kommen aus angesehenen Familien und finden sich hier auf der untersten sozialen Stufe wieder. Die Rollen innerhalb der Familie verändern sich, wenn etwa der Vater nicht mehr für den Unterhalt sorgen kann oder Kinder ihre Eltern als Übersetzer zum Amt oder Arzt begleiten müssen. Und unser Gesundheitssystem stößt in dieser Situation schnell an seine Grenzen: O-Ton 2: Schouler-Ocak (0'40) Die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund ist ja sehr sehr heterogen, und auch wenn sie die Sprache, d.h. die deutsche Sprache gut beherrschen, heißt das noch lange nicht, dass ich sie, weil ich mit ihnen verbal kommunizieren kann, auch verstehe und da abholen kann, weil die können ja unheimlich unterschiedliche Vorstellungen von Gesundheit, von Erklärungsmodellen haben, einfacher gesagt: Ich als Arzt habe zwar eine bestimmte Kultur, aber der Patient ja auch. Sprecherin: Viele Migranten finden erst gar nicht den Weg in unser Gesundheitssystem, und das gilt umso mehr bei psychischen Leiden! - Aber seelische Gesundheit ist eine wesentliche Voraussetzung für Integration, weil nur so genügend Ressourcen zur Bewältigung all des Fremden vorhanden sind. Deshalb brauchen wir heute mehr denn je eine Transkulturelle oder Interkulturelle Psychiatrie, sagt Professor Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité, Campus Mitte: O-Ton 3: Heinz (0'37) Transkulturelle Psychiatrie versucht, den Patienten aus anderen kulturellen Hintergründen gerecht zu werden, indem man einerseits schaut, wie in jeder Gesellschaft oder Kultur zum Teil anders solche Krankheiten erklärt werden, wie man dann auch aneinander vorbei reden kann, wenn man das nicht beachtet, dazu gehören dann Sprachbarrieren, dazu gehören aber auch Verständigungsbarrieren jenseits der Sprache: unterschiedliche Gewichtung von Symptomen - wann geht man zum Arzt oder wann ist es vermeintlich ein persönlicher Fehler oder eine persönliche Eigenheit; dann die Frage, wie gestaltet man die Behandlungsverläufe so, gerade die Psychotherapie, dass sie auch den Erwartungen der Menschen gerecht werden. Sprecherin: Diesen Fragen widmet sich an der Klinik von Heinz unter anderem das "Zentrum für Interkulturelle Psychiatrie, Psychotherapie und Supervision"... Regie: Atmo "ZIPP"(bis OT 5, unter den OTs ganz leise!) Sprecherin: 2002 wurde es gegründet - ein paar Räume in einer der verwinkelten Ecken des alten Charitégebäudes, in dem sich auch die psychiatrische Klinik befindet. Auf den engen Fluren an den Wänden Kunstdrucke - Impressionisten. Viele einzelne Büros, die Türen stehen zum Teil offen; "Gruppenräume" und ein kleiner Wartebereich unmittelbar neben der Tür zur "Ethnopsychiatrischen Spezialsprechstunde" - O-Ton 4: Heinz (0'13) Unser Zentrum versucht einerseits eine Sprechstunde anzubieten, zum einen zur Diagnostik, auch zur Behandlung, aber eben auch, um zu erforschen, wie man die Kommunikation und die Auseinandersetzungen mit den Menschen verbessern kann. Sprecherin: Im Zentrum arbeitet ein interdisziplinäres Behandlungsteam aus Psychiatern, Psychologen und Sozialwissenschaftlern; viele mit Migrationshintergrund oder internationaler Erfahrung, außerdem spezielle Dolmetscher, Ethnologen oft, wie Dr. Christine Hardung: O-Ton 5: Hardung (0'27) Die Ambulanz bezieht sich nicht nur auf Personen mit Migrationshintergrund, da kommen auch Personen hin, die z.B. Probleme haben, die sich daraus ergeben, dass sie sich permanent in verschiedenen kulturellen Kontexten bewegen, es ist also kein spezifisches Klientel, es kommen Asylsuchende genauso wie Leute von Botschaften oder Personen, die im Kriegsgeschehen Erfahrungen gemacht haben, die sie eben nicht verarbeiten können, also es sind ganz unterschiedliche Personen, die das Zentrum aufsuchen. Sprecher: ...zum Beispiel Baha aus dem Kongo: Er kam im Alter von 20 als Flüchtling hierher, kann etwas deutsch, aber von seinen schrecklichen Erlebnissen spricht er meist lieber auf Französisch - O-Ton 6: Patient (0'15) Mois, j'était soldat ... ... on nous a torturé, massacré, même tué. darauf Over-Voice-Sprecher: Ich war Soldat, 13 Jahre alt, als mich die Milizen zwangsrekrutierten. Ich habe immer wieder versucht abzuhauen, aber sie haben uns ins Gefängnis gesteckt, sie haben uns gefoltert, vergewaltigt und viele getötet. O-Ton 7: Patient (0'15) Gemerkt, es geht mir nicht gut. ja. Ich hatte Angst immer, mein Leben total schon kaputt, manchmal, ich wollte selber umbringen auch, ja, war zu viel für mich. O-Ton 8: Patient (0'19) Je ne pouvais dormir... ... ici, à psychiatrie. darauf: Over-Voice-Sprecher: Ich konnte nicht schlafen, ging zum Arzt, aber die Medikamente haben nicht wirklich geholfen. Schließlich, hat man mich hierhin in die Psychiatrie geschickt. Sprecher: Baha hatte den Ärzten auch erzählt, dass er immer wieder Visionen von seinem Bruder hat, der ihm im Schlaf, aber auch tagsüber erscheint - und dann sei er "wie ferngesteuert, willenlos". Sprecherin: Die Diagnose lautete: "Paranoid-Halluzinatorische Psychose" - denn Geistererscheinungen, Stimmen hören, sich von unsichtbaren Kräften geführt oder auch verführt fühlen - all das sprengt die hier gültigen Realitätsvorstellungen und wird somit als psychiatrische Störung eingestuft. Glücklicherweise aber kam der junge Afrikaner in das spezielle "Zentrum für Interkulturelle Psychiatrie" an der Charité, das Dr. Ernestine Wohlfart leitet: O-Ton 9: Wohlfart (0'25) Man kann natürlich nur jeweils das beurteilen, auch als Psychiater, was jetzt sozusagen die Grenzüberschreitung von der Realität ist, wenn man sich auskennt mit dem kulturellen Kontext, man muss immer so an die Grenze gehen können auch im Gespräch mit Patienten, wo man heraus findet: dieser Dämon gehört der tatsächlich zu dem kulturellen Kontext oder nicht. Sprecherin: In den meisten nicht-europäischen oder "westlichen" Kulturen steht die Existenz von parallelen Wirklichkeiten außer Frage. Es gibt die Welt oder die Welten der Geister und der Ahnen, es gibt unterschiedliche Zeitebenen, und der Kontakt damit ist normal. Aber innerhalb dieses Systems kann es auch "krankhafte Erscheinungen" geben: Die Wesen werden in gute und böse unterschieden, es gibt den freiwilligen, angenehmen Kontakt mit ihnen, etwa im Traum oder in Trance, ebenso wie den erzwungenen, Leid bringenden, wie die "Besessenheit" - O-Ton 10: Wohlfart (0'37) Wenn man zum Beispiel aus einem kulturellen Kontext kommt, wo es den Glauben an Geister und Verwünschungen und so weiter gibt, dann müssen wir feststellen, dass eben hinter diesen Vorstellungen, dass man jetzt verwünscht worden ist, normalerweise steckt, dass man eine Verfehlung gegenüber dieser Gruppe begangen hat oder nicht gläubig genug war, und dann Menschen, die ihre Krankheiten, Schmerzen am ganzen Körper haben, dass diese Symptome eben erklärt werden durch eine Verwünschung. Sprecher: Die Milizen, so erzählt Baha Ernestine Wohlfart schließlich, sind damals in sein Dorf gekommen und haben den 13-jährigen gezwungen, seinen Bruder vor den Augen seiner Familie zu erschießen. Für diese Tat ist er von allen geächtet und verstoßen worden. Sprecherin: Das anklagende Erscheinen des toten Bruders, das Gefühl, von bösen Mächten willenlos gemacht worden zu sein, von "Leere" und "Seelenlosigkeit" - das sind im kulturellen Kontext des jungen Afrikaners "normale" Reaktionen auf seine Traumatisierung, die eine Angststörung oder schweren Depressionen zur Folge haben können. Aber keine Psychose. Andere Krankheitskonzepte zu kennen und bei der Diagnose mit zu berücksichtigen, darin liegt eine der wichtigsten Aufgaben der Transkulturellen Psychiatrie. Andreas Heinz: O-Ton 11: Heinz (0'37) Beispielsweise hat mir ein afrikanischer Kollege sehr schön erklärt, warum seiner Meinung nach so häufig bei afrikanischen Menschen Depressionen fehldiagnostiziert werden. Und er sagte: Wir haben häufig ein Erklärungsmodell, bei dem es Einflüsse von außen gibt. Böse Magie oder böser Blick oder ähnliches, wie es natürlich auch in anderen Kulturen vorkommt, und wenn das der Fall ist, dann können Menschen, die an einer Depression leiden und an entsprechenden, sehr unangenehmen bedrängenden Gefühlen das nach außen projizieren, und sie sagen, "ich werde von außen beeinflusst", und dann kann man das ganz schnell als Schizophrenie fehldiagnostizieren, weil man sagt: typisch Verfolgungswahn, das gehört eigentlich jetzt in ein ganz anderes Krankheitsbild. Sprecherin: Die richtige Diagnose ist natürlich wichtig für eine wirksame Therapie. Deshalb wird mit speziell geschulten Übersetzern gearbeitet. Denn sie müssen nicht nur sprachlich professionell, sondern vor allem mit der jeweiligen Kultur gut vertraut sein, betont Meryam Schouler-Ocak, die auch Vorsitzende der Deutsch- türkischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie ist: O-Ton 12: Schouler-Ocak (0'34) Im Türkischen gibt es z.B. (türkisch...) d.h. "Ich habe mir den Kopf erkältet". Und wenn ich das wörtlich übersetze, dann äh? Was hat die gemacht? Das gibt keinen Sinn. Ein professioneller Dolmetscher wird dann sagen, "Ich glaub, ich dreh durch" oder "werde verrückt" oder so. Also ein professioneller Übersetzer würde das dann sinngemäß übersetzen, auch im Deutschen gibt's ja nette Organchiffren, z.B. "Mir ist eine Laus über die Leber gelaufen", wenn ich das jetzt übersetze ins Türkische oder ins Arabische, Russische ist völlig egal, dann werden die sagen, äh, was erzählt die denn da? Man muss die Bedeutung dieser Chiffren auch verstehen, um sie inhaltlich wiederzugeben. Sprecherin: Auch die Forschung in der Transkulturellen Psychiatrie ist in gewisser Weise ein "Übersetzungsprozess". Die Ethnologin Dr. Christine Hardung arbeitet am Charité-Zentrum unter anderem als praktische Sprach- und Kulturmittlerin in Therapiesitzungen, außerdem in einem internationalen Forschungsprojekt mit Psychiatern und Therapeuten aus verschiedenen afrikanischen Ländern, Senegal, Marokko, und jetzt auch Brasilien. Es geht um "transkulturellen Wissenstransfer" - O-Ton 13: Hardung (0'31) Dadurch, dass wir ja heute in so einer globalisierten Welt leben, sind die Mediziner, Therapeuten, transkulturelle Psychoanalytiker auch eben auch oft mit dieser Reimmigration konfrontiert, d.h. es gibt auch bestimmte Krankheitsbilder, die sie dort auch wieder entschlüsseln müssen, die möglicherweise ihre Ursachen in unserer Kultur haben, und uns geht es dabei einfach um einen Austausch zwischen Fachkräften und um die Frage, was sind universalisierbare Gegebenheiten und was sind kulturelle Bedingtheiten im Krankheitsverständnis. Sprecherin: Lange Zeit war das das Hauptforschungsthema in der Transkulturellen Psychiatrie. Inzwischen geht es mehr noch um die Frage: Wie kann man daraus Konzepte für die Behandlungspraxis hierzulande gewinnen? An der Charité gibt es außerdem ein internationales Forschungsprojekt "Seelische Gesundheit und Migration". Es untersucht erstmals das genaue Ausmaß und die Ursachen von psychischen Erkrankungen bei Menschen mit Migrationshintergrund, welche Hürden es für sie im Gesundheitssystem gibt und welche konkreten Maßnahmen die Situation verbessern können. Regie: Musik (?) darauf Sprecher: Meryam Schouler-Ocak leitet die psychiatrische Spezialambulanz für türkische Patienten an der Charité und erfährt hier tagtäglich, wie diese Migranten psychische Leiden erleben und damit umgehen. Zum Beispiel Emine: Sie war als 14-jährige aus einem kleinen Ort in Anatolien nach Deutschland gekommen, hatte sich gut integriert, die Schule abgeschlossen, eine Ausbildung angefangen - aber eines Tages wollte sie plötzlich nicht mehr aus dem Haus gehen, kam in ihrem Alltag überhaupt nicht mehr zurecht: O-Ton 14 Schouler-Ocak (1'05) Die kam dann mit der Idee, dass sie verhext worden sei, weil: sie sollte jemanden heiraten, den sie abgelehnt hat, jetzt nahm sie an, dass die Mutter dieses Jungen, eine ferne Verwandte, sie verhext habe, und seitdem könne sie nicht schlafen, habe Angstzustände, Unruhe usw., sie war sehr überzeugt davon, dass die irgendwas gemacht haben, dass sie keinen anderen Mann mehr lieben könne oder auch solle, und die Familie dieser jungen Frau war dann bei verschiedenen traditionellen Heilern, sowohl in Berlin, als auch in der Türkei, in Istanbul. Die haben mehrere Amulette geschrieben bzw. gesagt, "wenn du die Amulette immer auf deinem Herzen, immer rund um die Uhr bei dir trägst, dann wird der Fluch, der auf dir ruht, aufgelöst werden". Wir haben bei der Untersuchung gesehen, dass sie wirklich nicht nur dieses eine Amulett im BH hat, sondern viele andere auch noch bei sich, sie berichtete auch, dass sie viele andere Zeremonien habe über sich ergehen lassen, aber es hatte sich nichts bewegt, ja - das ist eine junge Frau, die eine Angststörung hat, die aufgrund dessen in Behandlung war. Regie Musik-Ende Sprecherin: Solche Angststörungen und auch Depressionen kommen häufig bei jungen türkischen Migrantinnen vor, sagt Meryam Schouler-Ocak, weil diese hier einem besonderen Druck ausgesetzt sind. O-Ton 15: Schouler-Ocak (0'45) Verbote - also man darf keinen Freund haben, weil das gehört sich nicht, Verbote, sich zu schminken, tanzen zu gehen oder sich entsprechend zu kleiden oder so sich einfach zu verhalten wie die Freundinnen, kaum Selbstbestimmungsrecht, also ich darf über mein Leben nicht entscheiden, ich darf nicht das machen, was ich will, also ich darf auch nicht vielleicht meinen Beruf auswählen wie ich möchte, ich darf meinen Partner nicht auswählen oder ich muss irgend jemand heiraten, also Zwangsverheiratung oder arrangierte Ehen sind auch Themen, oder weitere Themen waren z.B. sich so fühlen, wie die Marionette der Familie - dieser Spagat zwischen den kulturellen Kontexten, also die tradierten Wertsysteme innerhalb und außerhalb der Familie passen nicht zueinander und dann gibt Reibungen, Konflikte. Sprecherin: Manchmal enden solche Konflikte auch in einer Katastrophe: Untersuchungen haben gezeigt, dass die Suizide und Selbsttötungsversuche bei jungen Frauen mit türkischem Migrationshintergrund um vieles höher liegen als bei gleichaltrigen deutschen. Mit den genauen Hintergründen und Präventionsmöglichkeiten befasst sich an der Charité deshalb jetzt das Forschungsprojekt "Beende dein Schweigen, nicht dein Leben". Außerdem wird versucht, den jungen Frauen konkret zu helfen - über eine Krisenhotline, anonym und in türkischer Sprache. Vor allem gilt es, eine "kultursensible Lösung" zu finden: O-Ton 16: Schouler-Ocak (0'09) Das, was ich vielleicht im Kopf habe: "Raus mit dem Mädchen, Selbstverantwortlichkeit" - alles gut und schön, aber ich muss gucken, ist das in diesem Kontext auch umsetzbar. Sprecherin: ... das bedeutet jedoch keineswegs "zu kapitulieren", betont Meryam Schouler-Ocak. Oft geht es nicht anders, als die Mädchen 'raus aus der Familie zu holen. O-Ton 17: Schouler-Ocak (0'38) Man muss, wenn man keinen Kompromiss findet, ganz klar kommunizieren, dass das zu einem Bruch führen würde. Und in der Regel - meine persönliche Erfahrung bisher sieht so aus, die wollen ja ihre Töchter nicht unbedingt verlieren, die wollen ja nur, dass die in der Spur bleiben. D.h. also, wenn so was bekannt wird und man da Krisenintervention startet, dann ist es manchmal sehr hilfreich, erstmal zu gucken, dass man die Eltern oder Mütter oder Väter oder irgendjemand mit ins Boot holt und gemeinsam guckt: Was ist passiert, was ist der Hintergrund und wie können sich die einzelnen Leute eine Lösung vorstellen, weil viele Familien, die sind ja an einer gesichtswahrenden Lösung quasi interessiert. Regie: Atmo "ZIPP" darüber (nur bis zum OT Patient) Sprecherin: Auch im Zentrum für Transkulturelle Psychiatrie an der Charité bemühen sich die Therapeutinnen und Therapeuten, den Patienten aus unterschiedlichen Kulturen eine möglichst passende Hilfe anzubieten. Der junge Mann aus dem Kongo zum Beispiel kommt inzwischen regelmäßig und gern zu Einzelgesprächen und Gruppentherapien hierher... O-Ton 18: Patient (0'32) Je n'ai pas eu le courage d'aller à la thérapie, ... ... comment je peus dire - l a paix. darauf: Over-Voice-Sprecher: Zuerst hatte ich nicht den Mut, eine Psychotherapie zu machen, weil man dann sagt, dein Kopf ist kaputt. Beim ersten Mal habe ich gedacht, die verstehen mich sowieso nicht, was habe ich hier zu schaffen - Aber dann wollte ich mir selbst eine Chance geben, Frieden zu finden. O-Ton 19: Patient (0'06) Aber viele Leute sind auch weggegangen, aber ich war immer da, wollte meine Situation verbessern. Sprecherin: Eine wichtige Frage in der Transkulturellen Psychiatrie ist auch: Welche Art von Therapie? Wie angepasst an die kulturellen Hintergründen der Patienten kann sie sein? Andreas Heinz: O-Ton 20: Heinz (0'43) Das ist umstritten. Es gibt Versuche wie z.B. in Frankreich von Tobi Nathan, der versucht hat, eine Art eigenständige afrikanisch inspirierte Psychotherapie zu kreieren. Das Problem ist da natürlich, das ist eine künstliche Kultur. Da sind Elemente aus Westafrika drin mit Masken, dann sind bestimmte Trommelrhythmen, die aber mit den Leuten aus dem bestimmten Volk gar nix zu tun haben, das ist so, wie wenn man, sagen wir, in Afrika für europäische Migranten eine Therapie machen würde, wo man irgendwie jodelt, Alphorn bläst, Akkordeon spielt und Spätzle kocht, und dann sagt, das ist eine für Europäer kulturspezifische Therapie. Das mag dann auch welche ansprechen, aber andere vielleicht auch wieder nicht. Also da muss man glaub ich sehr vorsichtig sein. Sprecherin: Am Zentrum für Interkulturelle Psychiatrie der Charité wird mit einem anderen Konzept gearbeitet. Ein immer wiederkehrendes Motiv bei psychischen Erkrankungen von Migranten ist das Gefühl, zwischen den Welten zu sein: Sie wissen nicht mehr genau, wer sie sind, erleben das Getrenntsein von ihrer Familie oder Heimat als bedrohlich, sind irgendwie haltlos. Hier setzt die Idee des transkulturellen Übergangsraums an, die man am besten am Beispiel der Sprache erklären kann. Christine Hardung, nimmt als Übersetzerin und Ethnologin in einer therapeutischen Gruppe afrikanischer Frauen teil: O-Ton 21: Hardung (0'35) Die Frauen selber sprechen ja dann auch noch mal verschiedene Lokalsprachen, wo wir versuchen zum Teil, wenn es um bestimmte Begriffe geht, die vielleicht einen ganz zentralen Bereich ansprechen, versuchen aufzugreifen, wie eine bestimmte Emotion in einer anderen Sprache ausgedrückt wird, oder auch die Frauen selber oft untereinander sich dann wiederum verständigen, wenn was nicht klar ist, denn für viele ist ja auch z.B. Französisch oder Englisch auch wiederum die Zweit- oder Drittsprache, das ist also ein permanentes miteinander sprechen und miteinander übersetzen, in den Übersetzungsvorgang sind wir eigentlich alle einbezogen. Sprecherin: Durch die vielen Sprachen entsteht ein "Raum", in dem alle ein bisschen fremd und ein bisschen heimisch zugleich sind. Man tauscht sich aus in der Gruppe über kulturelle Symbole und Wertvorstellungen; zentrale Begriffe wie "gut", "böse", "Pflicht", "Ehre" oder "Freiheit", die sehr vielschichtig sind, werden immer wieder hin- und her gedeutet, erklärt, besprochen. Jeder pendelt zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Die Patienten finden so vielleicht zu "ihrer Geschichte", die sie sonst oft gar nicht ausdrücken können. Die Ethnologin achtet darüber hinaus dann noch auf kulturelle "Schlüsselbegriffe": Regie: Musik? darauf Sprecher: Leza, eine Patientin in der afrikanischen Gruppe, beklagt sich zum Beispiel immer wieder darüber, dass sie von der Ausländerbehörde so ungerecht behandelt wird - sehr vehement und wortreich, manchmal wütend, mal verzweifelt. Aber die Geschichte erklärt eigentlich nicht ihre körperlichen Schmerzen und Ängste - Und irgendwann, fast unvermittelt, erzählt sie plötzlich, sie sei als Kind von einer Schlange gebissen worden... Sprecherin: Über den "Schlangenbiss" sprechen die Ethnologin und die Therapeutin dann - nach der Sitzung. Denn der kann ganz unterschiedliche kulturelle Bedeutungen in Afrika haben, erzählt Christine Hardung: O-Ton 22: Hardung (0'26) Es kann also sein, dass ein Schlangenbiss mit einer bestimmten Kraft assoziiert wird, es kann aber auch sein, dass ein Schlangenbiss beispielsweise mit einer Problematik assoziiert wird, die ein Individuum z.B. aus der Gruppe ausschließt in der Herkunftsregion. Und dass dann so ein Biss, den z.B. eine Patientin als Kind erlebt hat, zu einem Ausschluss geführt hat und sie keinen Rückhalt mehr in der Gruppe hatte, weil er eben gruppenspezifisch interpretiert worden ist als ein böses Geschehen. Sprecher: Darauf angesprochen erzählt Leza nun auch, wie ihre Mutter sie nach dem Schlangenbiss an eine Missionsstation abgegeben hat, wo sie ohne Kontakt zu ihrer Familie aufwachsen musste. Und dieses Gefühl, einen schweren Makel zu tragen, ausgestoßen zu sein, hat sie bis heute... Regie: Musik-Ende Sprecherin: Das wiederum kann ein Ansatz für die weitere therapeutische Arbeit sein, die sich den kulturellen Hintergründen der Patienten zumindest annähert. Dr. Ernestine Wohlfart: O-Ton 23: Wohlfart (0'43) Normalerweise gehen ja dann solche Menschen zum Beispiel jetzt wenn sie aus dem arabischen, türkischen Raum kommen, zum Hodscha, oder im afrikanischen, islamischen Zusammenhang zum Marabu, damit der dafür sorgt, dass diese Verwünschung keinen weiteren Schaden anrichtet; und wir arbeiten ja in psychotherapeutischen Zusammenhängen jetzt nicht mit Geistervorstellungen, sondern mit eben genau diesen Dingen, dass die Leute eigene Fantasien entwickeln können, wie sie gewissermaßen in eigene beschützende Fantasien auch hineingehen können, und dann gibt's eben hier ein ganzes Repertoire, damit man diese Verwünschung wieder los werden kann. Sprecherin: Gruppentherapie, Gruppenanalyse spielen eine größere Rolle, und auch nicht-sprachliche Behandlungen wie Musik- oder Kunsttherapie. O-Ton 24: Patient (0'06) Dann haben wir angefangen mit dem Malen, ich fühlte mich schon besser, ich habe schon viel geschafft. O-Ton 25: Patient (0'16 - mit etwas Atmo vorn zum blenden) Dans mon enfance, j'ai de souvenir souvent ... ... pour moi, je trouvez que c'est bien. darauf: Over-Voice-Sprecher: Schon als Kind hatte ich Talent zum Zeichnen. Manche haben mich sogar dafür bezahlt, dass ich ihnen ein Bild zeichne. Viele Freunde im Dorf haben so etwas Ähnliches gemacht. Ich fand das gut.