COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Die bessere Schule oder esoterischer Irrglaube? Zum 150. Geburtstag des Waldorfschulengründers Rudolf Steiner Ein Feature von Julia Eikmann Redaktion: Kim Kindermann Abteilung: Kultur und Gesellschaft Sendedatum: 23.2.2011 __________________________________________________________________ A1: Atmo: Deacon: All the things are beautiful 1'27 [2. Klasse singt englisches Lied] Englischunterricht in der 2. Klasse der Rudolf-Steiner-Schule Berlin-Dahlem. 29 Kinder sitzen auf Holzbänken im Kreis. Tische oder Stühle gibt es in dem in gelben Farbtönen gestrichenen Klassenzimmer nicht. Im Zentrum des Sitzkreises liegt ein flauschiger weißer Teppich. Auf der Fensterbank steht ein frischer Blumenstrauß. Die Tafel ziert ein großes Kreidebild der heiligen drei Könige. O1: Deacon: Englisch 0'59 Luisa, what do you do, when you get up in the morning? - I wash my hands! - Lea what do you do? - I wash my face - (alle im Chor:) When I get up in the morning, I tell you what I do... Fröhlich lächeln die Kinder ihren Klassenlehrer Jeremy Deacon zu, der aufmunternd zurück nickt. Hier scheint die Idee des Lehrers als "geliebte Autorität", wie Rudolf Steiner sie vor fast einhundert Jahren beschrieb, aufzugehen. Der Klassenlehrer begleitet eine Waldorfschulklasse von der 1. bis zur 8. Klasse. In dieser Zeit unterrichtet er alle Fächer, von Formenzeichnen über Geometrie bis Geographie. Und eben Fremdsprachen. In Berlin-Dahlem lernen die Schüler ab der ersten Klasse Englisch und Russisch. Zunächst spielerisch, durch Gesang, Gedichte und einfache Phrasen. kurz hoch kommen lassen: Deacon: Englisch 0'59 Die Grundidee hinter der Waldorf-Pädagogik: O2: Mandel: Grundidee A 0'28 Dass der Mensch indem er auf die Erde kommt vorher schon mal irgendwo gewesen ist von woher er was mitbringt. Und die Aufgabe des Pädagogen ist das, was im Kind vorhanden ist, auf eine gesunde Weise sich entfalten zu lassen. Also nicht hier das Kind und wir tun irgendwas rein, sondern es ist alles in dem Kind schon da. Und unsere Aufgabe ist das sich entfalten nicht zu behindern. Und wenn uns das gelingt sind wir gute Lehrer. sagt Thomas Mandel, von Haus aus Physiker und seit zwanzig Jahren Lehrer für Mathematik und Physik an der Waldorf-Schule. Unterrichtet wird hier mit "Kopf, Herz und Hand". A2: Atmo Eurythmie einschleichen Kognitive, musisch-künstlerische und handwerkliche Lernbereiche sollen gleichwertig behandelt werden, um die Persönlichkeit des Schülers vielfältig zu bilden. So finden sich im Lehrplan neben den Klassikern Deutsch und Mathe beispielsweise auch Haus- und Ackerbau oder das Bewegungsfach Eurythmie. Die Schüler können in der schuleigenen Schmiede den Umgang mit Hammer und Amboss lernen, Theater spielen oder im Schulorchester musizieren. A3: Atmo Orchester Grundlage des Lehrplans ist der Glaube an die Entwicklung des Kindes in 7-Jahres- Schritten. Demnach lernt der Mensch bis zu seinem siebten Lebensjahr durch Imitation eines Vorbilds. Entsprechend dominieren in den ersten zwei Schuljahren Märchen und Fabeln, Singspiele und Nachahmungen das Unterrichtsgeschehen. Mit dem siebten Lebensjahr entwickelt sich die Empfindung, ab 14 das abstrakte Denken. Der Lehrplan soll diese Entfaltung des Kindes unterstützen und nicht zu früh fordern und Leistungsdruck aufbauen. Unterrichtet wird in Epochen. Mehrere Wochen wird jeden Morgen zwei Stunden lang dasselbe Fach unterrichtet. So soll ein Schwerpunkt auf das jeweilige Thema gesetzt, gründlicher und nachhaltiger gelernt werden. In den Hauptfächern wie Deutsch oder Mathe wird der gesamte Lehrinhalt des Schuljahrs in zwei Epochen untergebracht. Nebenfächer werden in einem einzigen mehrwöchigen Block behandelt. Lehrbücher gibt es an den wenigsten Waldorfschulen. Jedes Kind gestaltet sein individuelles Epochenheft, in dem es den vom Lehrer vorgetragenen Stoff mit- oder von der Tafel abschreibt. Die Zeugnisse sind schriftlich verfasste Schülercharakteristiken. Zitat Franziska hat sich in diesem Schuljahr sehr verändert. Ihr Temperament hat sie den Rubikon tief durchleben lassen und zu Schuljahresbeginn war sie sehr auf der Suche. Mit ihrem neuen Haarschnitt ist sie auch zu einem gestärkten Selbstbewusstsein gekommen und steht viel fester auf den Füßen. Franziska weiß genau, was sie will, und doch begegnet sie ihren Klassenkameraden liebevoll und zuhörend. Sie ist ein geschätzter Kamerad. Dieser Ausschnitt aus einem Zeugnis der dritten Klasse zeigt: Gemessen wird nicht am Vergleich zu Mitschülern oder einer vorgegebenen Leistungs-Norm, sondern allein am jeweiligen Kind - Arbeitsaufwand pro Zeugnis etwa acht Stunden. Auf Zensuren wird bewusst verzichtet. Reinhard Wedemeier. Wedemeier: Noten kurz 0'37 Wir müssen natürlich die Noten geben im mittleren Schulabschluss und beim Abitur, ganz klar. Aber im Prinzip verzichten wir auf Benotungen und deswegen ist das Zeugnis auch der Versuch so weit es einem gelingt den Schüler individuell in seinen Stärken, in seinen Fähigkeiten und in seinen Schwächen zu charakterisieren, nicht zu bewerten. Weil diese Art von Bewertung aus unserer Sicht das individuelle Lernen eher hindert als fördert. Weil der Zugang zum eigentlichen Lernstoff verrammelt wird durch die Note, die dann das eigentlich wichtige Anliegen wird und nicht der Stoff, um den es eigentlich geht. Sitzenbleiben ist in Waldorfschulen nicht vorgesehen. Die Klasse bleibt über zwölf Jahre in einem Verbund. Der Waldorf-Abschluss nach 12 Schuljahren ist nicht staatlich anerkannt. Wer die entsprechenden Leistungen bringt hat aber die Möglichkeit, im 13. Jahrgang bei externen Prüfern sein Abitur zu machen. Das Abitur an Waldorfschulen gilt allerdings als schwierig. Denn dann ziehen Niveau und Leistungsdruck stark an. In einem Jahr müssen die Schüler den ganzen Stoff verinnerlichen, den ihre Altersgenossen an staatlichen Schulen über Jahre gepaukt haben. Nina Asamoah weiß das. Und hat ihre drei Söhne trotzdem auf die Berliner Rudolf Steiner Schule geschickt. O5:Nina Asamoah: Abitur 0'39 Ich finde dieser ganze Grundschulbereich, sagen wir mal bis zur 8. Klasse, ist Waldorf-Pädagogik unheimlich gut. Aber ich merke, zum Abi hin wird's schwieriger, weil wirklich dann auch Fachwissen gefragt ist, man wirklich sehr gut ausgebildete Lehrer braucht und ich da nicht ganz so zufrieden bin. Ein Abitur an der Waldorfschule ist schwerer als an einer staatlichen Schule und am Ende guckt keiner, wo man das gemacht hat, sondern man hat nur den Durchschnitt und will damit studieren. Also da bin ich noch am rätseln, ob es wirklich so schlau ist, das Abitur an einer Waldorfschule zu machen Waldorf-Eltern wie Nina Asamoah entscheiden sich bewusst für diese Schulform. Die Gründe sind vielfältig. Einer Studie von Heiner Barz und Dirk Randoll zufolge gaben 47Prozent der Eltern an, ihre Kinder wegen der besonderen Pädagogik an einer Waldorfschule angemeldet zu haben. Für jeden fünften war die Unzufriedenheit mit dem öffentlichen Schulsystem ausschlaggebend. Allein die Tatsache, dass sich die Eltern mit verschiedenen Schulformen auseinander gesetzt und letztlich der Waldorf-Pädagogik den Zuschlag gegeben haben, sorgt für eine ausgesprochen homogene soziale Zusammensetzung der Schülerschaft. Der überwiegende Teil stammt aus gehobenem, akademisch gebildetem Elternhaus, dem früheren "Bildungsbürgertum". Für die meisten ist Deutsch die Muttersprache, so genannte "Problemgruppen" gibt es kaum. Diese Homogenität kommt auch dadurch zustande, dass die Eltern Schulgeld zahlen müssen. Ein enger Kontakt zwischen Schülern, Eltern und Lehrern ist gewünscht. Eltern bringen frische Blumen oder engagieren sich beim Bau eines Hühnerstalls, besuchen die öffentlichen Tanz-, Theater- oder Orchesteraufführungen. Trenner/Musik-Akzent Das öffentliche Bild der Waldorf-Pädagogik als eine am Kind orientierte, die Eltern einbeziehende Erziehungs-Methode, greift allerdings zu kurz. Die Pädagogik, ihre Normen und Werte, fußen auf einem größeren Weltbild, der auf Rudolf Steiner zurück gehenden Anthroposophie. O7: Wedemeier: Anthroposophie bestimmt Menschenbild 0'14 Die Anthroposophie ist für die Lehrer, die sich damit beschäftigen, der Hintergrund, aus dem heraus sie arbeiten und bestimmt ihr Menschenbild. Und von daher auch Art und Weise, wie man Schülern gegenübertritt und Art und Weise, wie man mit Schülern innerlich und äußerlich umgeht. Besonders in den ersten acht Jahren, den Klassenlehrer-Jahren, basieren der Lehrplan, die Form der Lehre, sogar die Form des Klassenzimmers - auf rechte Winkel wird hier weitgehend verzichtet - auf der Anfang des 20. Jahrhunderts von Rudolf Steiner begründete Anthroposophie. Unterrichtsfach ist sie allerdings nicht. Was aber steckt hinter dieser Weltanschauung? Der Historiker Helmut Zander hat ein 2000 Seiten starkes Kompendium über die Geschichte der Anthroposophie geschrieben. Zusammengefasst: O8: Zander: Anthroposophie kurz 0'08 1. Es gibt eine geistige Welt. 2. Man kann sie erkennen. 3. Man kann die geistigen Kräfte nutzbar machen. Rudolf Steiner hat also Wege gewiesen, eine immaterielle, eine geistige Welt zu erkennen. Über Meditationstechniken, freimaurerische Zeremonien oder den Schulungsweg. Diese geistigen Kräfte lassen sich dann nutzbar machen. Steiner war der festen Überzeugung, mit dem Wissen um diese übersinnlichen Kräfte könne man besser erziehen, wisse man, wie Möhren gedüngt werden müssen oder welche Medikamente gegen Krebs helfen. Und nicht nur Steiner selbst. Der Mann, der als begabter Student im späten 19. Jahrhundert aus einem entfernten Winkel des Habsburgerreiches, der heute in Kroatien liegt, nach Wien kam, um Naturwissenschaften zu studieren, dieser Mann war bald vielen überzeugten Anthroposophen ein geistiger Führer. 09: Zander: Alphatier 0'22 Steiner war ein charismatischer Mensch, den seine Anhänger zutiefst verehrt haben. Sie haben ihm die Worte von den Lippen abgelesen. Er war das Alphatier für Anhänger, das hat er und haben sie so gewollt. Was war passiert? Sein ungeliebtes Studium der Mathematik, Chemie und Naturgeschichte hat Steiner nie abgeschlossen. Der dominante Vater, Telegrafist bei der Bahn, hatte für ihn eine Karriere als Ingenieur vorgesehen. Aber obwohl der Filius sich fleißig seinen Studien zuwendet und ausgezeichnete Noten hat: Seine wahre Leidenschaft gilt der Philosophie und der Literatur. Mit riesigem Wissensdurst eignet er sich den neuen Geist seiner Zeit an, verehrt Nietzsche und Haeckel leidenschaftlich, wird später Goethes Schriften editieren. Musikakzent Es ist eine Zeit des Umbruchs, in der sich Europa seiner kulturellen Grundlagen unsicher geworden ist. In der unzählige Texte aus anderen Kulturen gesammelt, übersetzt und publiziert werden, die Upanischaden, buddhistische Suren oder die jüdische Kaballa. Und die eigene Hochkultur als eine unter vielen wahrgenommen wird. Rudolf Steiner kommt nicht nur in Kontakt mit dem intellektuellen Wien, sondern auch mit dem okkulten: der theosophischen Gesellschaft. Z2: Zitator: Um diese Zeit tauchte in unserem Kreise ein völlig bartloser Jüngling auf, ganz schlank, mit langem Haar von dunkler Färbung. Eine scharfe Brille gab seinen Blick etwas stechendes und mit seinem langen, bis über die Knie reichenden schwarzen Tuchrock, der hochgeschlossenen Weste, der schwarzen Lavallière und dem ganz altmodischen Zylinderhut, machte er durchaus den Eindruck eines schlecht genährten Theologiekandidaten. Bis Rudolf Steiner ganz zur Theosophie konvertiert, sich dem Glauben hingibt an ein höheres Bewusstsein, eine geheime Weisheit, an den Geist, der über die Materie herrscht, bis dahin werden noch einige Jahre vergehen. Zu den Theosophen zählten sich viele bekannte Persönlichkeiten seiner Zeit, etwa der Maler Piet Mondrian, der Erfinder Thomas Alva Edison oder die Reformpädagogin Maria Montessori. In seiner unvollendeten Autobiografie beschreibt Steiner sein Umdenken von der Welt der Naturwissenschaften in die der Geistgebiete: Z3: Zitator: Während dieser hatte ich noch die naturwissenschaftliche Anschauung vor dem Seelenauge, die aus der Darwin'schen Denkart hervorgegangen war. Aber diese galt mir nur als eine in der Natur vorhandene sinnenfällige Tatsachenreihe. Innerhalb dieser Tatsachenreihe waren für mich geistige Impulse tätig, wie sie Goethe in seiner Metamorphosenidee vorschwebten. Steiner steigt in der weltweiten theosophischen Gesellschaft schnell auf, wird in den innersten Kreis aufgenommen. Der inzwischen promovierte Philosoph hält hunderte von Vorträgen. Und seine Anhängerschar, die ihn als geistigen Führer verehrt, wächst. Sie bleibt ihm auch treu, als Steiner mit der Theosophischen Gesellschaft bricht und seine eigene, die Anthroposophische Gesellschaft, aufbaut. Deren geistige Welt ist Erbe der Theosophie, angereichert mit christlichem Kult, einer starken Betonung von Goethe und dem Deutschen Idealismus. Steiner selbst ist das Medium, der Hellsichtige, der das geheime Wissen direkt aus dem Kosmos empfängt. Damit trifft er den Geist der Zeit. Musikakzent 1919. Die Monarchie ist hinweggefegt, das Deutsche Reich steckt mitten in den Revolutionswirren. Die politischen und gesellschaftlichen Strukturen sind teilweise zusammengebrochen. Ohne Revolution, ohne den Pulsschlag dieses Jahres, hätte es keine Waldorfschule gegeben, sagt der Historiker Helmut Zander. O10: Zander: Zeitgeist kurz 0'30 In dieser Situation gab es Reformbedarf an allen Ecken. Eine Antwort Steiners war: Wir gründen eine neue Schule. Und das passiert im Kontext einer zweiten Welle von reformpädagogischen Schulgründungen. Die erste Welle um 1900, auf die konnte Steiner schon zurück blicken. Und in diese zweite Welle in der Revolutionszeit des Jahres 1919, da geht auch Steiner auf die Suche nach einem neuen Schulmodell. Eigentlich war die Schulgründung gar nicht seine Idee: Emil Molt, Inhaber der Waldorf- Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart, ist auf Rudolf Steiner zu gekommen. Er wollte eine bessere Ausbildung für seine Arbeiter und deren Kinder. Die Waldorfschule sollte das Heilmittel gegen die "absterbende Kultur" werden, wie Steiner später sagen wird. Anders sein als die öffentlichen Schulen, in denen die Kinder gedrillt wurden, die Arbeiterklasse ausgeschlossen war und Musik und Handwerk keine Rolle spielten. Für den Pädagogen Rudolf Steiner sprach indes nicht viel: In Wien hat er zwar als Hauslehrer gearbeitet und sich in einigen Stellen als Theosoph zu pädagogischen Fragen geäußert. Aber im Prinzip ist er ein unbeschriebenes Blatt. Molt geht auf ihn zu, weil er Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft ist und Steiner zutiefst verehrt. Als Hellsichtiger, davon geht Molt aus, hat Steiner auch das Rüstzeug eine Schule zu gründen. O11: Zander: Working by doing `25 Er war ein Mann, der solche Praxisfelder angegangen ist. Der sich auf die Suche nach Konzepten gemacht hat, der gelesen hat, der Gespräche geführt hat, und working by doing ist im Laufe der Jahre das Konzept der Waldorfschule gewachsen. Das ist nie wirklich fertig geworden, weil Steiner 1925 starb und die Schule mitten in ihrem Entwicklungsprozess war. Es gab noch keine Oberstufe beispielsweise. Wenn man diese sukzessive Entwicklung im Hinterkopf hat, versteht man besser, warum Waldorfschulen sehr verschieden sein können. Und warum man über das, was Waldorfpädagogik ausmacht, gut streiten kann. Musikakzent Und die Waldorfschulen sind in der Tat umstritten, polarisieren wie wohl keine zweite Schulform. Der Grafiker Andreas Lichte wird zum entschiedenen Gegner der Schulen, als er an einer über das Arbeitsamt vermittelten einjährigen Ausbildung zum Waldorf- Lehrer teilnimmt. O12:Lichte: Gehirnwäsche 0'25 Es war wie eine Gehirnwäsche in Sachen Steiner. Wir haben keinerlei wissenschaftlichen Unterricht gemacht, das heißt, wir haben keine pädagogische Fachliteratur gelesen, wir haben nur Steiner gelesen. Der ganze Unterricht war nur Anthroposophie. Auch normale Fragen waren schon unerwünscht, also Hintergrundfragen. Wie meint Rudolf Steiner das denn nun, kann man das so sehen, wie zum Beispiel indische Philosophen die Welt beschreiben, gibt es da Ähnlichkeiten, also so eine Frage war schon Ketzerei, ja. Ein anderer Teilnehmer des Lehrerseminars bittet den Senator für Bildung, Wissenschaft und Forschung in Berlin in einem Brief um staatliche Überprüfung der dortigen Lehrerbildung und Lehrinhalte. Er schreibt: Z4: Zitator: Ich besuchte die Oberstufenmethodik. Auch hier war die Grundlage jeglicher Betrachtung seitens der Dozenten Rudolf Steiner: Alles beginnt und endet mit ihm. Jede Empfehlung, jedes Betrachten des Schülers und des Unterrichts wird durch die Texte Steiners erklärt und interpretiert. Da bleibt kein Raum für Veränderungsvorschläge oder eine wissenschaftliche Auseinandersetzung - ein Vergleich mit pädagogischen Standardwerken findet nicht statt. Um an einer Waldorfschule zu unterrichten, ist sowohl eine waldorfpädagogische Ausbildung erforderlich als auch eine Unterrichtsgenehmigung durch die staatliche Schulaufsicht. Die Voraussetzungen für diese Genehmigung sind je nach Bundesland verschieden Während man in Berlin das 2. Lehrer-Staatsexamen benötigt, können in Baden-Württemberg oder Hessen auch Bewerber ohne Staatsexamen eingestellt werden, wenn das Schulamt gleichwertige Qualifikationen feststellt. O13: Kraus: Grundgesetz 0'16 Die Genehmigung zur Errichtung von privaten Schulen ist zu erteilen, wenn - erster Punkt - die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und -Einrichtungen - zweiter Punkt - sowie der wissenschaftliche Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurück stehen. Grundgesetz. Und diesem Passus des Grundgesetzes, so findet Josef Kraus, Leiter eines Gymnasiums in Bayern und Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, würden die Waldorfschulen nicht gerecht. O14: Kraus: Lehrerausbildung 0'16 Das ist alles andere als wissenschaftlich. Was in der Waldorflehrerausbildung vermittelt wird, das ist voraufklärerisch und es hat mit den Fortschritten moderner Wissenschaft, der Bildungswissenschaft, der Pädagogik, der Didaktik und natürlich auch der Fachwissenschaften sehr wenig zu tun. Neben den Waldorf-Lehrerseminaren bildet auch die Freie Hochschule Stuttgart Waldorfpädagogen aus. In drei Jahren können Studenten dort einen Bachelor in Waldorfpädagogik, in zwei weiteren einen Master als Klassenlehrer erlangen. Zugangsvoraussetzung zum Studium kann neben der allgemeinen Hochschulreife auch eine Berufsqualifikation, der Meisterbrief, eine Eignungsprüfung oder ein Probestudium sein. Josef Kraus hat einige Diplomarbeiten vorliegen, die vor der Umstellung auf das Bachelor/Master-System an der Freien Hochschule Stuttgart angefertigt wurden. O15: Kraus: Diplome 0'53 Also, da heißt es dann beispielsweise dass ein Kind, das sich mit Grammatik, mit Indikativ oder Konjunktiv beschäftigt, in die Lage versetzt wird, dass es dazu sein ganzes Frühstück von der Seele unbeeinflusst in seinem Organismus kochen lässt. Oder es heißt dort, die Gedärmkrankheiten kommen sehr häufig von dem Unterricht in Grammatik. Die betreffende Diplomandin hat auch entdeckt oder meint entdeckt zu haben, dass die sprachliche Umsetzung und dass das Begreifen des Modus eng an das Gleichgewichtsystem gebunden ist. Ja, mit Wissenschaft hat das herzlich wenig zu tun und das sagt auch jeder halbwegs renommierte Bildungswissenschaftler. Und warum wird nicht genauer hingeschaut, wenn die notwendige Gleichwertigkeit der Lehrerausbildung für freie und öffentliche Schulen sogar im Grundgesetz verankert ist? Josef Kraus. O16: Kraus: Ausbildung 0'15 Es wundert mich sehr, warum man nicht schon überprüft hat, ob die Waldorflehrerausbildung an der dortigen Freien Hochschule Stuttgart Seminar für Waldorf-Pädagogik dem Grundgesetz entspricht. Das staatliche Wächteramt schläft da, das muss man wirklich sagen. Als Vorbild wie man es auch machen könnte, führt Kraus die Niederlande an. O17: Kraus: Holland 0'42 Dort hat man wirklich das Konzept und auch die Verbindung mit Steiner sehr kritisch unter die Lupe genommen; diese Selbstreflexions- und Aufklärungsprozess vermisse ich in der deutschen Waldorfpädagogik noch sehr. Irgendeine Form von Distanzierung von Steiner habe ich bislang kaum gefunden. Allenfalls, aber das ist ja ne windelweiche Erklärung, den Hinweis darauf, dass die rassistischen Äußerungen von Steiner, dass die weiße Rasse natürlich die überlegene, die kreative sei, und dass der Neger triebhaft sei, wie man ja an der Hautfarbe erkenne, weil er ja das ganze Sonnenlicht in sich gebündelt habe, diese Distanzierung fehlt mir. Tatsächlich hat sich Rudolf Steiner rassistisch geäußert. Zum Beispiel in seinem Vortrag "Vom Lebens des Menschen und Erde", den Steiner 1923 in Dornach gehalten hat. Z5: Zitator: Der Neger hat also ein starkes Triebleben. Und weil er eigentlich das Sonnige, Licht und Wärme, da an der Körperoberfläche in seiner Haut hat, geht sein ganzer Stoffwechsel so vor sich, wie wenn in seinem Innern von der Sonne selber gekocht würde. Daher kommt sein Triebleben. Im Neger wird da drinnen fortwährend richtig gekocht, und dasjenige, was dieses Feuer schürt, das ist das Hinterhirn. [Quelle: http://bit.ly/gO06Yu] Der Steiner-Biograf Helmut Zander: O18: Zander: Rassismus 1 0'27 Nach vielen Diskussionen würde ich heute sagen: Ja, er war ein Rassist. Und dann kommt das Aber: Er war keiner der härtesten Rassisten im Kaiserreich und das war nur ein Teil seiner großen evolutionären Weltanschauung. Das wirkliche Problem ist nicht, dass Steiner rassistische Theorien vertreten hat, sondern dass man sich unendlich schwer tut zu zugestehen: Jawohl, er hat es getan. Die Befürchtung: Wenn man an einer Stelle zugibt, dass Steiners Weltgeist auch Zeitgeist war, dann könnte die gesamte übersinnliche Erkenntnis in einem Dominoeffekt zusammen brechen. O19: Zander: Rassismus 2 0'38 Das glaube ich zum einen nicht, und ich bin auf der anderen Seite fest davon überzeugt, dass sich die Waldorfschulen einen ganz großen Gefallen tun, wenn sie nicht nur sagen würden, wir wollen keine rassistischen Schulen sein und wir wollen interkulturell sein. Sondern wenn sie auch zu Steiners Erbe an dem Punkt klar Stellung beziehen würden in der Preisklasse: Okay, das war das 19. Jahrhundert, so war Steiner, aber unsere Ideale liegen an anderer Stelle und wir heften das, was Steiner zu Rassentheorien gesagt hat, einfach unter Irrtum ab. Dann wäre man einen großen Ballast einfach los. Einen ersten Schritt haben die Waldorfschulen in ihrer Stuttgarter Erklärung von 2007 gemacht. Dort heißt es: Z6: Zitator: Als Schulen ohne Auslese, Sonderung und Diskriminierung ihrer Schülerinnen und Schüler sehen sie alle Menschen als frei und gleich an Würde und Rechten an, unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, nationaler oder sozialer Herkunft, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung. Die Anthroposophie als Grundlage der Waldorfpädagogik richtet sich gegen jede Form von Rassismus und Nationalismus. Die Freien Waldorfschulen sind sich bewusst, dass vereinzelte Formulierungen im Gesamtwerk Rudolf Steiners nach dem heutigen Verständnis nicht dieser Grundrichtung entsprechen und diskriminierend wirken. Weder in der Praxis der Schulen noch in der Lehrerausbildung werden rassistische oder diskriminierende Tendenzen geduldet. Musikakzent O20: Lichte Weltanschauungsschule ganz kurz 0'33: Der hat diese Schule gegründet, um seine Weltanschauung Anthroposophie zu verbreiten, das ist der eigentliche Grund. Und so funktioniert auch die Schule. Die Kritik von Andreas Lichte, der mit den Inhalten des Lehrerseminars alles andere als einverstanden war, geht über den Rassismus-Vorwurf gegen Steiner hinaus. Es wird nicht offen missioniert, aber die Schüler werden an ein bestimmtes Weltbild herangeführt, das ist für mich Waldorfschule. Die Äußerlichkeiten, ob man Schüler im Epochenunterricht unterrichtet, ist nicht das Problem in meinen Augen, das muss man sich fragen, ob das effektiv ist oder nicht. Aber entscheidend ist, dass das Denkgebäude was dahinter steht, was passiert im Unterricht, unter welcher Prämisse funktioniert dieser Unterricht. Eine Weltanschauungsschule gegründet zu haben, gegen diesen Vorwurf hat sich Rudolf Steiner zeitlebens verwahrt. Ausdrücklich soll Anthroposophie kein Teil des Lehrplans sein. Aber das Fundament für das pädagogische Konzept durchaus. Wie passt das zusammen? Der Historiker Helmut Zander. O21: Zander: Weltanschauungsschule 0'32 Wenn man gerade Steiners esoterisches Programm sich ansieht, mit Lehrern, die über Reinkarnationen Bescheid wissen, mit dem Konzept der anthrosophischen-Anthropologie, dem Lehrerverständnis, dann steckt natürlich sehr viel Weltanschuungsschule drin. Und es gibt inzwischen zunehmend Waldorflehrer die sagen: Lasst uns das etwas runter hängen. Die Waldorfschule ist eine Weltanschauungsschule, wir haben ein Profil, das ist die Anthroposophie, und da müssen wir zu stehen. Die Weltanschauungsschule würde Thomas Mandel, Lehrer an einer der ältesten Waldorfschulen, so nicht unterschreiben. Aber dass die meisten Schüler auf die Frage nach Rudolf Steiner, nach Anthroposophie, nur mit den Schultern zucken, das findet er auch nicht richtig. O22: Mandel: Pflichtübererfüllung kurz 0'33 Vielleicht ist das auch so ein bisschen eine Pflichtübererfüllung. Eben, wir sind keine Weltanschuungsschule und deswegen halten wir es bewusst überall hinaus, und vielleicht galoppiert man da über das Ziel hinaus. Vielleicht sollten wir es gar nicht so stark raus halten, also nicht die Weltanschauungsschule, sondern dass man auch den Hintergrund an geeigneter Stelle mal darstellt. Zunehmend wird deutlich, wie historisch die Person Rudolf Steiner heute ist. Die letzten Zeitzeugen, die seine Vorträge noch persönlich erlebt haben, sind verstorben. Jetzt beginnen die Diskussionen, wird Steiners Autorität zum Teil auch in Frage gestellt. Den Eltern, die ihre Kinder auf Waldorfschulen schicken, ist dieser Diskurs ohnehin meist egal. Auch eine Absolventenstudie bescheinigt: Die Mehrzahl der Befragten steht der Anthroposophie indifferent bis skeptisch gegenüber. Ihr Selbstwertgefühl und die Kreativität sehen die ehemaligen Waldorfschüler aber durch ihre Schulzeit gefördert. Auch die Psychologin Maja Bergfeld erinnert sich gerne an ihre Zeit in der Freien Waldorfschule Engelberg bei Stuttgart zurück. Und würde, wie viele Ehemalige, ihre Kinder auch wieder auf eine Steiner-Schule schicken. O23:Bergfeld: Kinder 2 0'21 Also, ich würde mir auf jeden Fall die konkrete Schule natürlich angucken, weil Waldorfschulen sehr unterschiedlich sind, in einem höheren Maße hängt es von den Persönlichkeiten ab, die da arbeiten, oder die sie aufgebaut haben. Weil es gibt da schon sehr verknöcherte Anthroposophen, hatten wir auch so ein paar bei uns an der Schule, da würde ich nicht wollen, dass meine Kinder von denen unterrichtet werden. Auch diese positive und dennoch kritische Einstellung der Eltern trägt dazu bei, dass sich bei den Waldorfschulen eine Menge bewegt. Helmut Zander: O24: Zander: Reform kurz 0'30 Diese 220 Schulen, die wir in Deutschland haben, das ist ja kein monolither Block, sondern das ist eine Vielfalt von Schulen mit ganz unterschiedlichen Konzepten. Es gibt versteinerte, die hoch dogmatische Steinerschulen sind, und es gibt Schulen, wo sie vor lauter Reformen kaum noch erkennen, was an denen denn noch anthroposophisch sein soll. Von daher leben wir in einer Phase, wo die Waldorfpädagogik in einer ganz spannenden Phase der Transformation begriffen ist. Dazu kommt, dass die Expansion der Waldorfschulen rasant Fahrt aufgenommen hat. Derzeit gibt es über 1000 Schulen weltweit, davon vier Mal mehr außerhalb als in Deutschland. Wie sich die Waldorfpädagogik entwickelt, wenn sie in Südafrika, Südamerika oder in Indien unterrichtet wird, das kann noch keiner sagen. Die Transformationskräfte, soviel scheint sicher, werden mindestens genau so groß sein wie die dogmatischen Beharrungskräfte. ENDE 1