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Beißend ist sein poetischer Sarkasmus und beängstigend seine Kritik an der Krönung der Schöpfung: am Menschen. Dieses Schlachtfeld - zwischen Teufel und Gott - ist Sigitas Gedas innere und äußere Heimat. Wie ein Leitmotiv durchzieht es seine Gedichte, sein Leben ? das geprägt ist von Diktatur, innerem Exil, von Familientragödien und vom Alkohol. Und es steht für die Stadt, in der er lebt - für Vilnius, die Hauptstadt Litauens. Zuspiel Sigitas Geda Litauisch Zitator 2 Übersetzung Wissen Sie, ich bin trotz allem ein gottesfürchtiger Mensch und ich habe Angst vor Gott. Ich glaube fest an ihn. Trotzdem erscheint mir das Leben sinnlos. Nichts als ein atemloser wilder Moment zwischen dem Geborenwerden und dem Sterben. Deshalb ist Optimismus meiner Meinung eine Art Dummheit. Sprecherin Vilnius nennt er die "Stadt der Fremden". Denn zwischen 1386 und 1918 war Litauen kein autonomer Staat. Seine ständig wechselnden Grenzen zwischen Polen, Russland und dem Deutschen Reich machten aus ihm eine Vielvölkergegend, in der die litauische Sprache nie Staatssprache war. Alle, die hier leben, waren irgendwann einmal zugezogen: Litauer, Polen, Russen, Weißrussen, Ukrainer, Karäer, Roma und Juden. Darum trägt diese Stadt so viele unterschiedliche Namen, darum hat sie so viele Gesichter und nationale Vergangenheiten. Und ihre Geschichte ist gezeichnet von Blut, Leid, Terrorherrschaft, Verfolgung, Diktatur und Freiheitskämpfen. In Vilnius anzukommen ist immer noch ein Schattenspiel - zwischen dem Gestern, Heute und Morgen - zwischen Erinnerung, Enttäuschung und Hoffnung, zwischen Traum, Wort und Klang. ATMO.... leise Klänge anspielen... da hinein Zitatorin. Zitatorin Sprich? zu mir, Tula. Flüster? mir etwas, wenn das Abendrot die hohen, auch so schön roten Wände der Bernhardiner-Gasse immer röter werden lässt. denn nur Du kannst wie jene Wolke am Himmel hängende Fragen beantworten. Ich höre das Flattern der Flügel über mir und sehe Augen, die geheimnisvollen Augen des Vogels, der Finsternis in deinem Gesicht, weiß wie Laken. Deine Augen, Tula, sind Vogel-Augen und Wolken-Augen. Ich komme im Mondschein und werfe einen schweren Schatten auf den vergangenen Tag, auf den kommenden Tag und unsere gemeinsame Nacht. (aus dem Roman Tula von Jurgis Kuncinas, Verlag des litauischen Schriftstellerverbandes,Vilnius 1993 /Übersetzer Jurgis Kuncinas) Zuspiel Sigitas Geda Litauisch Zitator 2 Übersetzung Aus dem vielen Leid, aus all den Tränen, der Hoffnung und Verzweiflung wurde Kunst. Ich glaube, genau das macht Vilnius künstlerisch heute so lebendig. Weil hier so viel geschehen ist. Und die Menschen so viel verarbeiten müssen. Hier fließt alles zusammen. Wie die unterschiedlichen Kulturen so auch alle Kunstrichtungen. Worte sind Musik in Silben. Ein Bild ist die Ansammlung von Farbtönen. Das alles ist irgendwie Dämonisch. Und das Dämonische ist universell. Mich fasziniert dieses Dämonische am Denken und Schaffen der Menschen hier. Und das beeinflusst auch meine Poesie. Sprecherin So bleibt Sigitas Gedas Pessimismus dann letztlich doch ein wenig widersprüchlich. Weil selbst dort, wo er scheinbar an nichts mehr glaubt, immer noch Hoffnung anklingt. Ein Erahnen, das etwas Undefinierbares, noch nicht Greifbares heraufkommen fühlt und das auf etwas wartet, selbst wenn es nicht sagen kann, ob es wirklich kommt. Wie es der junge Dichter Antanas Gailius in seinem Gedicht "Hier" andeutet. Zitator 1 Heute Abend - ein Engel - schritt durch den Garten: riesig - wie eine Wolke. Die Apfelbäume - verneigten sich bis zum Boden - sicher, sicher. - Roter Himmel im Westen, bis Mitternacht - Mene, Tekel - im Dunkel aber - raschelt die Maus. (aus: gesammelte Lyrikübersetzungen, Verlag Books from Lithuania, Vilnius 2001/Übersetzer Antanas Gailius) Sprecherin Und wo mit Dämonischem und Grenzenlosem gerungen wird, ist Kunst mehr als nur Unterhaltung. Sie wird zur Suche nach dem Sinn des Lebens - ja manchmal sogar zum Lebenselexir selbst - meint der litauische Komponist, Theaterdirektor und ehemalige stellvertretende Kultusminister Faustas Latenas Zuspiel Faustas Latenas Litauisch Zitator 2 Übersetzung Das zeichnet die Künstler hier in Vilnius aus. Wir sprechen viel mehr von Geist, von der Seele, vom Inneren, als anderswo. Im Westen herrschen eher formelle Aspekte vor. Auch die Engländer sagen sehr oft: there is no body... aber wir fragen immer wieder: wo ist die Seele? Also der Inhalt ist für uns viel wichtiger als irgendein origineller Knalleffekt. Das gilt für alle Kunstrichtungen, ganz egal ob in der Malerei, im Theater oder in der Komposition. ATMO... ein sehr kühl-baltisch- fliessende Musik von Faustas Latenas anspielen... da hinein Zitator 1 Zitator 1 Du bist ein dunkles Amulett, litauisch eingefasst - mit alter grauer Schrift - moosbedeckt und abblätternd. - Ein Buch ist jeder Stein - Pergament jede Wand - wenn auf der alten Synagoge ein gefrorener Wasserträger mit herabhängenden Bärtchen - steht und die Sterne - zählt. (Mosche Kulback Poezie, Goldszmidt-Verlag, Vilnius 1924 /Übersetzer Anat Kalman) ATMO... Musik hochziehen.... Sprecherin So war es denn auch nicht erstaunlich, als im April 2005 ausgerechnet in Vilnius die erste Künstlerrepublik Europas ausgerufen wurde. Die Republik Uzupis - benannt nach dem Stadtteil, in dem sie liegt. Sie verfügt nun über ein eigenes Parlament - das Cafe "Uzupis Kavine" - über eine eigene Verfassung und über eigene Künstlerbotschafter. Auch einen uzupischen Ehrenbürger gibt es bereits. Es ist der Dalai Lama, der zur Unabhängigkeitserklärung von Uzupis gesagt haben soll Zitator 1 "Ihr Glücklichen! Wenn ich so etwas machen würde, gäbs richtig Ärger". Sprecherin Hier in Uzupis bei den Uzupiern ist Kunst jetzt Alltag und jeder Tag der Woche einem anderen Thema gewidmet... mit Konzerten und Lesungen - soweit das Repertoire eben reicht. Am Tag des "Windes", am "Tag der weißen Tische", oder am "Tag des Trompetenengels Gabriel". Letzterer steht hoch über den Dächern von Uzupis, bläst in eine altisraelitische Trompete - in ein Schofar - während er in die Weite blickt und einen neuen Anfang verkündet. Unter ihm wird in den Kneipen, den Cafes und in den Pausen der Konzert-und Theaterfoyers unentwegt rezitiert oder gesungen. Und irgendjemand zeigt immer irgendwo gerade seine Bilder oder gibt seine neuesten Gedichte zum Besten. ATMO...ein improvisiertes Klavierspiel während einer Pause in einem Konzertsaal... dann Straßenatmo und da hinein hört man die Dichterin Jolita Skablauskaité in einem Buch blättern ... So wie die Dichterin Jolita Skablaus-kaité, die schon auf der Straße in ihre Manteltasche greift, um ihren Gedichtband herauszukramen und eines ihrer Gedichte vorzulesen. Zuspiel Jolita Skablauskaité liest.. Zitatorin Litauisch Wo die Fahnen des Herbstes um ihre Stangen wehen - erwachen wir - erstaunt - in der Tiefe des Brunnens. - Gleißendes Licht schimmert blau zu uns herunter - und wir blicken uns an - unsere Leiber bewegungslos - wir atmen Wasser - fühlen unsere knirschenden Knochen - als sich unsere Blicke voneinander losreißen. - Nur die Haare fliegen nach oben - mit dem trockenen Wind - dort, wo er ewig bläst - um die Stangen des Herbstes. (?viesa, tyla ir ilgesys: eil?ra??iai. - Vilnius: Vaga, 1989. /Übersetzung Anat Kalman) Sprecherin Jolita Skablauskaité ist ein elfenhaft zartes Wesen. Ihr Leben hat sie auf dem Land im Norden Litauens verbracht. Die Stadt fürchtet sie, ebenso wie die schweren Jahrzehnte unter sowjetischer Besatzung, die sie in ihren Gedichten immer wieder thematisiert. Als bleierne Jahre - als die Zeit einer nasskalten erdrückenden Lähmung. In Vilnius - so erzählt sie - hat sie ein Zimmer zur Untermiete und einen Koffer. Dort verbringt sie nur wenige Tage im Monat. Ansonsten lebt sie zurückgezogen auf dem Land. Als Illustratorin und Dichterin, berühmt für ihre schwermütigen Worte und ihre zart schwarzen Bleistift -Wesen, die viele Lyrikbände und Kinderbücher schmücken. Halb Mensch, halb Elementargeister - scheinen diese Wesen aus einer Welt zu kommen, die es ihnen nicht erlaubte gesund, rund und bunt zu werden. Wie Jolita Skablauskaite selbst, die verschwiegen, verletzlich und sehr leise erscheint. Zuspiel Jolita Skablauskaité Litauisch Zuspiel Zitatorin: Übersetzung Zuerst habe ich immer eine Vision... die setze ich in Bilder um, oder in Wortbilder. Das sind für mich Gedichte. Eigentlich sollte ich nun endlich auch mal einen Roman schreiben, aber ich glaube, dafür bin ich nicht gemacht. Das ist eine ganz andere Arbeit. Ein Roman ist eine schwere Arbeit, man muss jeden Tag daran denken. Nicht eine Woche, nicht zwei, sondern viel länger. Ich male lieber, träume und schreibe Gedichte. Sprecherin Jolita Skablauskaité ist Dichterin und Illustratorin in einem, in der Künstlerstadt Vilnius ist das keine Seltenheit. Hier ist man nicht nur Dichter oder Illustrator, nicht nur Theaterautor oder Komponist, sondern sehr oft beides zugleich. Sigitas Geda ist zwar ausschließlich Dichter, doch er lässt sehr viele Poesien von seinem Lieblingskomponisten und Freund Anatolij Senderovas vertonen.. Gemeinsam bringen sie so musikalisch philosophische Inszenierungen auf die Bühne - wie das Zauberlied des Kindes, den halb gesungenen, halb gesprochenen Dialog eines kleinen Jungen, der mit sich selbst über die Welt als großes unerklärliches Wunder spricht - eingetaucht in einen musikalisch kühlen baltischen Pantheismus. ATMO.... die Aufnahme anspielen.... eine Sopranistin und eine Schauspielerin sprechen abwechselnd. Zitatorin Sag, warum fließt die Zeit wie ein ewig langer Fluss dahin? Warum schmückt das Blau des Himmels die Erde? Warum hält der Winter sich friedlich über dem Teiche auf? Wie kam unser Planet eigentlich auf die Idee, sich um sich selbst drehen zu müssen? (Autorisierte Übersetzung des Verlages Books of Lithuania, Vilnius 2001/Übersetzerin: Dalia Dylité) ATMO.... eine Violine spielt auf... Zuspiel Anatolij Senderovas Litauisch Zitator 2 Übersetzung Ich bin ein Kind des 20. und 21. Jahrhunderts und ich nutze eben gerne alle Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks. Sprecherin Anatolij Senderovas ist litauischer Komponist und Preisträger des europäischen Kompositionspreises Young.euro.classic 2002 Zuspiel Anatolij Senderovas Litauisch Zitator 2 Übersetzung Darum binde ich meine Musik zumindest thematisch immer an eine Idee, an einen Namen oder an ein Thema. Worte, Ideen werden so zu klassischen, modernen oder gegenständlichen Klängen. Sprecherin Anatolij Senderovas stammt aus einer russisch-jüdischen Musikerfamilie. Sein Großvater war Klezmer Musiker. Seine Mutter Sängerin, sein Vater Orchestercellist. Er selbst hat in Vilnius und Sankt Petersburg Komposition studiert. Für seine Musik lässt er sich von althebräischen Gebeten, von Gedichten, Balladen, ja selbst von persönlichen Vornamen inspirieren. Sein Concerto in Do wurde für den Cellisten Dovid Geringas komponiert und sein größtes Opus ist das jüdische Glaubensbekenntnis "Schma Israel - Höre Israel". Ein monumentales Chor - und Symphonie-Ereignis. ATMO... ein Ausschnitt aus dem Schma Israel Diesem Werk liegt das Glaubensbekenntnis selbst und der dazu gehörende Kommentar des berühmten Vilnaer Gaon zugrunde, des Rabbi Eljiahu Schlomo Zalman, der im 18. Jahrhundert in Vilnius lebte und einer der größten europäischen Talmudgelehrten war. Beides wird gesungen: die Gebetspartien von einem Bariton, die Kommentare aus einer Synagogenatmosphäre heraus - entweder im Unisono oder als dunkles Stimmengeflecht einer alten mystischen Macht. ein Ausschnitt aus dem Schma Israel Zuspiel Anatolij Senderovas Litauisch Zitator 2 Übersetzung Lange war ich nur einer unter vielen sowjetischen Komponisten bis Mitte der Siebziger Jahre einmal ein Kollege zu mir sagte: weißt Du, eigentlich finde ich Deine Musik richtig jüdisch. Wie? - fragte ich erstaunt, denn mein Judentum spielte für mich keine Rolle. Ja, meinte er, und zwar wegen der klanglichen Spannungen, die Du schaffst. Dieses Hin-und-Her zwischen extremen Gefühlen. Diese Bemerkung brachte mich meiner Herkunft wieder näher und ich fing an, althebräische Texte zu suchen und zu vertonen. Sprecherin Vilnius war dreihundert Jahre lang das "Jerusalem des Nordens", das Zentrum einer einzigartigen jüdischen Kultur. Im 18. Jahrhundert lebte und wirkte hier der große Gaon von Wilna, dessen Schriften selbst in den Talmudschulen Nordafrikas diskutiert wurden. Im 19. Jahrhundert entstand hier die einzige jüdische Partei Europas - der Bund. Aus Vilnius kamen fast alle hebräischsprachigen und jiddischsprachigen Dichter und Gelehrten Europas. Und nur hier gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts vierzig Zeitungen in sechs verschiedenen Sprachen, sowie fünf unterschiedliche Theater: russische, hebräische, jiddische, litauische und polnische. Nur in dieser Stadt träumten die Juden davon, nicht nach Israel zurückzukehren, sondern eine "Doyigkeit" aufzubauen - eine ganz eigene europäisch-jüdische Präsenz. Diese Belle-Epoque des europäischen Judentums, die 1941 mit dem Einmarsch der Wehrmacht jäh endete - beschwört Anatolij Senderovas musikalisch ATMO... Schma Israel wieder aufblenden Sprecherin Geblieben sind davon nur Erinnerungen. 1960 wurden von den Sowjets die Synagogen geschlossen. Der Jahrhunderte alte jüdische Friedhof wurde platt gemacht und aus seinen Grabsteinen Stufen gemeißelt für Parkanlagen und öffentliche Gebäude. Wer sich heute bückt und ganz genau hinschaut, wird selbst auf den Geh-steigen der Stadt noch Umrisse von hebräischen Buchstaben erkennen. Touristen oder Geschäftsreisende nehmen heute jedoch kaum noch wahr, was ihnen die alten Fassaden zwischen Flughafen und Innenstadt wirklich zuflüstern. Für sie ist Vilnius - neben Riga und Tallinn - eine "baltische Metropole", wo im Sommer, am Tag des Johannesfestes, mit Blumenkronen geschmückte blonde Mädchen um große Feuer tanzen und baltische Folkloregruppen abends in den Stadtparks aufspielen. Die Reste des ehemals reichen jüdischen Lebens sind als Momente der Vergangenheit "in Stein geschlagen" - als viele kleine Statuen und Gedenktafeln, die die Stadt schmücken. Am Synagogenplatz steht die mächtige Gaon-Statue ? von der es heißt, sie sähe aus wie Lenin und nicht weit davon entfernt eine Gedenktafel, die den Ausgang des Ghettos markiert. Dann die Statue eines berühmten jüdischen Arztes, dann wieder die Gedenktafel, die den Ghetto-Eingang kennzeichnet - Impressionen einer in Erinnerung erstarrten Gegenwart nennt dies der jüdische Dichter und Journalist Markas Zingeris und reimt wehmütig. Zitator 1 Oh weinendes Polnisch, traurig lächelndes Litauisch, gepfeffertes Weißrussisch und lustig spritziges Russisch. Kommt und hört aus welchen leer gebluteten Lippen strömt das Flüstern der Aschensprache - mein Jiddisch. Kommt Hand in Hand in mein Herz und entzündet es - wie den Holzscheid unter jenem Himmel, aus dem die Wolken entfliehen, wie Federn aus der farblosen Steppdecke der Zeit. ( aus: gesammelte Lyrikübersetzungen, Vilnius 2001/ Übersetzer Laimantas Jonusys) Zuspiel Markas Zingeris Litauisch Zitator 2 Übersetzung Das Jiddische ist für mich tatsächlich eine Aschensprache. Aber die Asche symbolisiert für mich nicht Tod. Sie steht für "Flüstern". Eine kleine, zarte Stimme, die einem etwas zuflüstert. Deshalb ist die Asche wie das Flüstern der Nacht. Sie sprechen die gleiche Sprache. Und sie gehen beide wieder einem neuen Tag entgegen. ATMO.... Klatschen aus einem Theater ? dann scharf einsetzend...eine lustige Tanzmusik.... Sprecherin Licht aus und Film ab - im Theater von Oskaras Korsunovas kann die Vorstellung beginnen. Mit einer ganz neuartigen Inszenierung von Der Meister und Margerita von Michail Bulgakow. Hier sind es nun Film, Theater, Akrobatik, Tanz und Gesang die ineinander greifen und zu einem aufregenden folkloristischen Zirkus-Spektakel verschmelzen. Die Hintergrund-Szenen werden filmisch auf eine Leinwand projiziert. Davor spielen, singen, tanzen die Schauspieler, begleitet von wagemutigen Figurationen der Akrobaten. ATMO?. eine lustige Tanzmusik als Aufnahme aus der Vorstellung. Da hinein? Zuspiel Oskaras Korsunovas Litauisch Zitator 2 Übersetzung Wissen Sie, ich liebe das Theater von Shakespeare. Das ist echtes Theater. Denn Shakespeare hat verstanden: das eigentlich Theatralische findet jenseits der Worte statt. Oder vor den Worten. Ich glaube ganz fest, dass man alle theatralischen Elemente vereinen kann, was viel aussagekräftiger ist, als nur Worte. Natürlich ist das Wort der Ausgangspunkt. Die eigentliche Dimension des Theaters liegt aber genau dazwischen: zwischen Wort und Handlung, zwischen Wort und Gefühl. Sprecherin Oskaras Korsunovas - der Shakespeare von Vilnius wurde 1969 in der litauischen Hauptstadt geboren. Seit zehn Jahren ist er in ganz Europa ein Star. Seine "multi-künstleri-schen" Inszenierungen sind auf allen europäischen Bühnen und Theaterfestivals zu sehen, von Avignon bis Salzburg. Er repräsentiert die junge Generation Litauens, die alles aufsaugt, was ihr begegnet. Darum inszeniert er an seinem City Theatre auch Stücke ganz junger Autoren, wie die der 1976 geborenen Theaterautorin Laura Cernauskaite. Sie gewann mit ihrer Liebeskomödie Lucy auf dem Eis sogar beim Berliner Theatertreffen 2004 den ersten Preis und verdankt ihren Erfolg einer ganz besonderen litauischen Förderkultur. Zuspiel Laura Cernauskaité Litauisch Zitatorin Übersetzung Litauen ist ein junges Land und darum sind alle daran interessiert, junge Talente zu entdecken und zu fördern. Wir sind ja erst seit 1992 unabhängig. Deshalb beginnt für unser Land erst jetzt der eigentliche kreative Aufbau. Wir wollen die Besten fördern. Es gibt viele verschiedene Stipendienmöglichkeiten für junge Komponisten, Maler und Schriftsteller. Und wer eine gute Idee und etwas Talent hat, kann seine Arbeit einfach an mehrere Regisseure schicken Oder sogar ans Kultusministerium. Man hat gute Chancen gelesen zu werden. Zitator Wir sahn uns durch die Worte anderer - als wärs durch eine transparente Wand - und dem, der uns zu Gast geladen - war nur ein Monat Leben noch geblieben - der Geist, er kreist gleich einem Uhrzeiger - und ist von unirdischen Klängen müde -und in uns wechseln Generationen ab, wie Mnemosyne einst befohlen hat. (Wir sahn uns, aus: Tomas Venclova "Vor der Tür das Ende der Welt", ROSPO/Hanser-Verlag 2002/Übersetzer Rolf Fieguth)) Sprecherin Vilnius - die Stadt ewig webender Geister der Vergangenheit, die Stadt der Träume, der dichtenden, spielenden und musizierenden Philosophen, der Avantgarde und jungen Theaterautoren. Hier tritt eine Kunstrichtung nie alleine auf. Selbst Gemälde- Ausstellungen werden von Toninstallationen begleitet. Wie die Ausstellung "Komplexität" im Contemporary Art Center , die neben großen Gemälden auch thematische Toninstallationen präsentiert. Wie diese ?Ton-Ontologie? von Gintaras Sodeika. ATMO... Toninstallation anspielen ? die unterschiedlichen Tonfolgen fließen aus verschiedenen Richtungen zusammen und schaffen besondere Klangräume, was die Wahrnehmung der ausgestellten Bilder akustisch beeinflussen soll. Für den Komponisten und Theaterdirektor Faustas Latenas geht ein solches Ineinandergreifen von Klang und Wort auf eine alte litauische Theatertradition zurück. Zuspiel Faustas Latenas Litauisch Zitator 2 Übersetzung ja, das ist eine litauische Tradition, die in den Theatern der Stadt ihren Anfang nahm. In den achtziger Jahren. Damals gab es keine Inszenierung ohne Klang. Jeder Regisseur bestellte bei einem Komponisten die Musik zu seiner Inszenierung. Das hat nichts mit Musicals zu tun, weil entweder gar nicht oder nur wenig gesungen wird. Aber es geht immer wieder um die Verbindung verschiedener Wahrnehmungen. Auch ich habe für solche Ausstellungs - und Theaterinszenierungen schon 230 Musikstücke komponiert. Sprecherin Und dort, wo junge litauische Talente Vergangenes nicht mehr thematisieren wollen, suchen sie Grenzenloses. Weit ab von den Völkern und Kulturen Litauens und deren tragische Geschichte. So wie der 1978 geborene Komponist Marius Baranauskas, der sich zwar in die litauische Tradition der künstlerischen Verschmelzung einreiht, dabei aber zu indischer Poesie und Alltagsgeräuschkulisse greift - als Wort - und klanggewaltige Grundlage für seine symphonischen Kompositionen. Zuspiel Marius Baranauskas Litauisch Zitator 2 Übersetzung Für mich ist wichtig, mit dem Hörer emotional verbunden zu sein. Und deswegen verwende ich eben auch nicht nur Musik, sondern Texte, Poesie, vor allem die mystische Lyrik des indischen Literaturnobelpreisträgers Rabindranath Tagore und Geräusche aus dem Alltag. Ich finde, beides passt gut zusammen, gerade weil es sich scheinbar widerspricht und doch für alle gültig ist ? für uns hier in Vilnius und für alle Menschen auf dieser Welt. ATMO? die Musik setzt ein, dann Zitatorin Aus meinem Herzen steigt und tanzt das Bild meiner eigenen Sehnsucht ? die lichte Erscheinung zerfließt ? ich versuche sie festzuhalten ? doch sie entgleitet mir und führt mich irre. ? ich suche, was ich nicht erreichen kann und ich erreiche letztlich ? was ich nicht suchte. (Fünf Phantasien nach Gedichten von Rabindranath Tagore, Verlag des litauischen Schriftstellervebandes/Übersetzer Daliya Dilyté) ATMO? die Musik wird wieder aufgeblendet und die Sängerin beginnt ihr Lied?. ausblenden. 1