Die Blumen des Koran Eine Lange Nacht über das heilige Buch der Muslime Autor: Manuel Gogos Redaktion: Monika Künzel Regie: Claudia Mützelfeldt Sprecherin: Barbara Stoll Zitator: Jonas Baeck Zitator (Suren): Josef Tratnik Zitatorin: Edda Fischer Sendetermin: 16. März 2019 Deutschlandfunk Kultur 16./17. März 2019 Deutschlandfunk ___________________________________________________________________________ Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - insofern zutreffend. 1. Stunde Das Buch mit sieben Siegeln Adhan / Der Ruf des Mu'ezzins Musik: Abdullah Ibrahim, „Ishmael“ Sprecherin Barbara Stoll In den Augen gläubiger Muslime gilt der Koran als das eigentliche Wunder des Islam. Eines Nachts soll der Analphabet Mohammed ihn in seinem Herzen empfangen haben, vom Himmel herab, in nur einem einzigen Augenblick. In der ersten Stunde der langen Koran-Nacht lässt die Islamwissenschaftlerin Angelika Neuwirth die Geisteswelt zur Zeit der Koranentstehung wiederaufleben. Auch der Kölner Autor Stefan Weidner und der Münsteraner Theologe Mouhanad Khorchide helfen, den Koran als gemeinsames Erbe Europas zu verstehen. Aber der Koran ist nicht bloß ein Lesebuch. Er ist auch ein Lebensbuch. Viele Konvertiten haben über ihn ihren Weg zum Islam gefunden. Zu ihnen gehört der Frankfurter Underground-Schriftsteller Hadayatullah Hübsch, der in der Wüste Marokkos den Ruf des Korans vernahm; oder der Wiesbadener Gefängnis-Imam Hossamuddin Meyer, der versucht, durch Vertiefung in die Barmherzigkeit des Koran jugendliche Gefangene gegen den Salafismus zu wappnen: Die zweite Stunde erzählt ihre Geschichten. Die dritte Stunde steigt mit den Sufi-Dichtern Dschallaledin Rumi und Fariduddin Attar zu mystischen Höhen auf: Von derartiger Schönheit ist der Klang der Koranrezitation in den Ohren mystischer Lauscher, das kann auch manchmal tödlich enden. Zitator (Josef Tranik) Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers. Siehe, wir sandeten ihn hernieder in der ‚Nacht der Bestimmung’. Und was lässt dich wissen, was die ‚Nacht der Bestimmung’ ist? Die ‚Nacht der Bestimmung’ ist besser als tausend Monate Es steigen in ihr nieder die Engel und der Geist – Mit der Erlaubnis ihres Herrn zu jeglichem Geheiß. Friede ist sie, bis zum Anbruch der Morgendämmerung. Sprecherin Barbara Stoll So lautet die Sure, die der Koran der besonderen „Nacht der Herabsendung“ widmet, der Laylat al-Quadr, hier in der Übersetzung Hartmut Bobzins wiedergegeben. Mohammed hat nicht wie Moses den Befehl erhalten: „Nimm eine Tafel und schreib.“ Stattdessen war das erste Wort, das Gott durch den Engel Gabriel an Mohammed richtet: iqra, trage vor! Rezitation: Ali Taha, 97. Sure, Die Nacht der Macht (Hofmann & Campe Hörbücher, Der Koran) Zitator Josef Tratnik Und wir sandten dich als Heilverkünder und Warner nur, und einen Koran, den wir unterteilten, dass du ihn den Menschen stückweis vorträgst, und wir sandten ihn herab als eine Offenbarung. Damit zu kräftigen dein Herz Und sangen ihn dir sangesweis. Sprecherin Barbara Stoll Seither wird der Koran interpretiert. Er ist nichts ohne die, die auf ihn hören. Ohne die, die ihn zum Sprechen bringen, ist er stumm. Zitator Jonas Baeck ‚Na, dann sitzen wir ja ganz schön in der Kacke! Und in Ihrem Koran steht nichts darüber, was uns helfen könnte, Monsieur Ibrahim? – „Ich bitte dich, mein Junge, der Koran ist doch kein Handbuch für Mechaniker! Er ist für geistige Sachen da. Wohin du auch deine Augen wendest. Die Schönheit ist überall. Das steht in meinem Koran.“ Sprecherin Barbara Stoll Wie wäre der Koran also zum Sprechen zu bringen? Wie wären die „Blumen des Koran“, von denen der belgische Autor Eric-Emmanuel Schmitt in seinem Buch über „Monsieur Ibrahim“ spricht – wie wären diese Blumen zum Blühen zu bringen? Der Islamwissenschaftler Milad Karimi: O-Ton Milad Karimi Ich bin der festen Überzeugung, dass es Blumen im Koran gibt. Nicht nur die Blumen, die man in den Koran hineinlegt. Es gibt auch Blumen, die aus dem Koran herausragen, blühen, riechen und uns anziehen. Aber uns oft auch stehen lassen. Wir bleiben oft auch außerhalb des Korans. Dennoch gibt es einen Zugang, eine Öffnung zur Offenbarung. Was sind das für Blumen? Welche Themen werden angesprochen, was sind die ersten Begegnungen auf ästhetischer Ebene. Wie lesen eigentlich Muslime ihre heilige Schrift? Und worin besteht diese Heiligkeit? Was ist das Anziehende, das Bewegende, der „Duft“ des Koran, der Duft der Offenbarung, ein Geschmack Gottes? Sprecherin Barbara Stoll Aber müsste man nicht auch den französischen Dichter Charles Baudelaire mit seiner berühmten Gedichtsammlung „Die Blumen des Bösen“ bemühen? Gibt es nicht auch „Blumen des Bösen“ im Koran? O-Ton Milad Karimi In der Tat. All jene die Stellen, die es mit der Gewalt haben. Die eine Geste, eine Sprache haben, in der es um das Böse geht. In denen es um Bestrafung und Hölle geht. Sprachbilder, die uns in Ehr-Furcht zurück lassen. Auch für mich als zutiefst gläubigen Muslim ist es interessant, dass der Koran auch diese Stellen hat. Dass er nicht glattgebügelt ist. Dass ich nicht einfach meinen eigenen Koran zusammenbastle. Ich erwarte auch vom Koran, dass er mich herausfordert. Mich anwidert und wieder anzieht. Ich hadere mit meinem Gott, indem ich mich mit dem Koran beschäftige. Sprecherin Barbara Stoll Über den Koran sind ganze Bibliotheken verfasst worden. Darunter Autoren, die der Koran begeistert; Darunter auch Autoren, die den Koran verachten und die islamische Kultur, die er begründete. Doch genau dieser Deutungsstreit macht die Geschichte des Islam aus. Der Islamexperte Stefan Weidner: O-Ton Stefan Weidner Der Koran ist auch seine Rezeption. Es ist völlig unsinnig, irgendeine Meinung über den Koran zu äußern, und nur den Korantext zu Grunde zu legen. Der Koran ist die Koraninterpretation und sonst gar nichts, würde ich sogar sagen. Der Koran ist nichts anderes als seine Interpretationen. Die füllen Bibliotheken. Die Interpretationen sind unendlich. Wenn wir den Koran von seiner Rezeptionsgeschichte abschneiden, dann ist er sinnlos. Denn die Muslime haben sich nie nach dem gerichtet, was da drin stand, sondern danach, wie der Koran verstanden wurde. Sprecherin Barbara Stoll Schlägst du den Koran auf, eröffnet sich dir eine ganze Welt – oder besser: ganze Welten. Der Koran enthält Aussagen über Gott und die Geister, das Universum und die verborgenen Seiten von Mensch und Gesellschaft. Der Koran gilt den Muslimen als heilig. Er wird bei allen Anlässen rezitiert, bei Beschneidung, Hochzeit, Totengedenken. Man traut ihm zu, Patienten für ihre Operation in Narkose zu versetzen oder Feinde tödlich zu verletzen. Ob Sunnniten in aller Welt, ob Sufis im Senegal, Wahabiten in Saudi-Arabien, Schiiten im Iran oder Aleviten in Berlin: Der Koran ist ihr gemeinsames kulturelles Fundament. Die Sprache des Korans hat dazu beigetragen, die Terminologie nicht nur der muslimischen Theologen oder Juristen zu formen, sondern auch die Sprache persischer Dichter und arabischer Kalligraphen - Die Geschichte seiner ästhetischen Wirkungen liefe in weiten Teilen auf eine Kulturgeschichte der islamischen Welt hinaus. O-Ton Stefan Weidner Gerade für die Architektur und Ornamentik war der Koran mehr als nur ein Zier-Element. Es gibt keine Moschee, wo man nicht irgendwelche Koranverse lesen könnte. Das gilt auch für säkulare Architektur, da ist der Koran zentral! Und das Faszinierende ist natürlich, dass wir beobachten können, in Moscheen von Spanien, nehmen wir Cordoba, Sevilla, Granada, über Sarajewo, bis nach Sansibar, Indien, Indonesien, Pakistan, wo wir jedesmal ähnliche Koranverse finden, das selbe Gestaltungselement – woran man sieht, dass es doch eine sehr konsistente und homogene Kultur darstellte. Sprecherin Barbara Stoll Aber der Koran durchdringt die islamische Gemeinschaft und ihren Alltag bis heute als lebendige Kraft. Reiche Saudis lassen sich Nano-Suren auf ihre Herzschrittmacher gravieren, und in Marokko kann man fromme Bärtige mit Stöpseln im Ohr sehen, die ihren MP3-Koranen lauschen. Atmo / Koran-Rezitation O-Ton Stefan Weidner Man kann auch sagen, der Koran ist für viele Menschen in der islamischen Welt „Hintergrundmusik“. Was so durchsäuselt, was als Begleitmusik immer da ist. Das typische Beispiel für den Ausländer: Man hört das im Taxi, von der Kassette oder aus dem Radio. Jedes Land hat seine eigenen Religionssender. Dann hört man es natürlich nicht mehr so schön leider über die Moscheen, die Predigten, die meisten Moscheen sind ja mittlerweile ausgestattet mit Megaphonen, oft in ganz furchtbarer Qualität, die oft den Gebetsruf und auch Koranrezitationen in den öffentlichen Raum übertragen, was manchmal auch ganz furchtbar krächzt und scheppert. Ich hab das mal in einem Buch die „Schallhoheit“ des Korans über den öffentlichen Raum genannt. Sprecherin Barbara Stoll Für den Westlichen Leser ist der Koran ein nicht leicht hörbares, lesbares, verstehbares Buch – ein Buch mit Sieben Siegeln. Es ist, als gliche das Abenteuer des Koranverstehens dem Abenteuer des Lebens selbst. Wie könnte eine Reise aussehen in jene Welt, die der Koran so unauslöschlich prägte? Eine Vorstellung gibt der Autor Stefan Weidner in seinem Reiseessay „Mohammedanischen Versuchungen“ von 2004: Zitator Jonas Baeck (Stefan Weidner, Mohammedanische Versuchungen) Das Koranexemplar, in das er sich verguckt hatte, kostete fünf tunesische Dinar. Das waren damals, Mitte der achtziger Jahre, zwanzig Mark, für ihn viel Geld. Erstand er diesen Koran, musste er fünf Tage lang, bis die Fähre nach Genua ablegte, mit vierzig Mark auskommen. Er überlegte: einen stark gesüßten Pfefferminztee bekam man für umgerechnet zwanzig Pfennige, ein Kilo Orangen für fünfzig, einen Laib Fladenbrot für zehn. Kaufte er den Koran, hatte er für jeden Tag noch acht Mark, zwei Dinar. Zugegeben, das war selbst für seine Verhältnisse wenig. Der Kauf bedeutete ein echtes Opfer. Er durfte den Koran kaufen, aber er musste darauf bauen, dass ihn sein Glück nicht verließ. Da die Geldfrage geklärt war, hatte er der Versuchung durch den Koran nichts mehr entgegenzusetzen. Er war in den letzten sechs Wochen nicht unbeeindruckt geblieben von der Begeisterung, ja Schwärmerei, die all jene, denen er begegnete und die ihn freundlich aufnahmen, bezüglich ihrer Religion an den Tag legten. Den Koran zu kaufen war der Weg zur Quelle dieser Faszination. Und im Vorgefühl einer Empfänglichkeit, die er nie wieder in dieser Intensität spüren sollte, machte er sich darauf gefasst von diesem Buch begeistert, ja überwältigt zu werden. Er hatte bis dahin nur wenig gelesen, und nun stellte er sich dieses Werk als eine Art ultimativer Poesie vor, ein jeder Zeitlichkeit entrücktes, sprachliches und ethisches Totalkunstwerk. Wie eine geöffnete Hand – bereit, endlich all das herzureichen, was immer schon fehlte. In dem Moment, wo er in der französischsprachigen Buchhandlung auf den zweisprachigen Koran stieß, als sei der dort eigens für ihn ausgelegt worden, war sein Schicksal besiegelt. Sprecherin Barbara Stoll Weil das großformatige Buch nicht in den kleinen Reiserucksack passt, stellt sich der Erzähler tags darauf mit einer Plastiktüte unter dem Arm an die Schnellstraße und streckt den Daumen nach Mitfahrgelegenheiten aus. Nach seiner Ankunft in Sousse läuft er erst ziellos in dem Ort hin- und her – das heilige Buch in der Plastiktüte wie einen Talisman mit sich herumtragend –, ehe er es im Schatten von Eukalyptusbäumen zum ersten Mal aufschlägt, um wirklich darin zu lesen. Zitator Jonas Baeck (Stefan Weidner, Mohammedanische Versuchungen) Und während er so zu lesen begann, sagte er sich: Das ist also der Koran, das also ist das Buch, das also die Religion, von der all die freundlichen Araber, die mir begegnet sind, so begeistert erzählt haben. Trotz der Zweisprachigkeit musste man das Buch auf arabische Weise öffnen, dort, wo „normale“ Bücher endeten. Da stand: „Avertissement“ – Hinweis, Vormerkung, Warnung: ‚Dieses Buch ist zweifelsfrei das Wort Gottes, und verlangt daher von jedem gesitteten Menschen, mit höchstem Respekt behandelt zu werden. Niemand sollte dieses Buch anfassen, ohne sich am ganzen Körper mit der festen Absicht gewaschen zu haben, Reinheit zu erlangen, um so würdig zu werden, das Wort Gottes zu empfangen.’ Dieses „Avertissement“ war kaum mit seinem Selbstverständnis zu vereinbaren gewesen. Trotzdem spürte er nach der Ermahnung den fauligen Anhauch eines schlechten Gewissens. In einer Mischung aus Neugier und Skepsis folgte er weiter den Worten des Übersetzers: ‚Es ist eines der Wunder dieses von einem Analphabeten gemäß den Einflüsterungen des Erzengels Gabriel diktierten und keinen späteren Korrekturen unterworfenen Buches, dass man trotz des Gewichts der Themen, die es behandelt, eine durchgängige Harmonie darin findet und keinerlei Widersprüche. Die Menschheit, die wie ein Ertrinkender verloren und kopflos mit den Armen fuchtelt, um ein Seil zu fassen zu kriegen, an dem sie sich festhalten kann, wollen wir mit diesem Buch auf die Hand aufmerksam machen, die Gott allen seinen Geschöpfen hinhält.’ Sprecherin Barbara Stoll Ist es für westliche Leser womöglich so schwer, den Koran als das wahrzunehmen, was er ist - weil nicht ganz klar ist, was er ist?! Der Islamexperte Stefan Weidner versteht die Missverständnisse im Zusammenhang mit dem Koran heute besser als damals in den 1980er Jahren, als er sein erstes Exemplar erwarb. O-Ton Stefan Weidner Der Koran begegnet uns nicht in unserer alltäglichen Lebenswelt. Wir sind darauf angewiesen, den Koran zu lesen. Zu lesen wie ein Buch. Der Koran – auch wenn er uns in Buchform begegnet – ist aber kein Buch. Er unterscheidet sich darin auch von der Bibel. Der Koran ist also kein Buch und das macht ihn für uns schwer zu lesen, das fängt damit an, dass wir den Koran nicht von vorne nach hinten lesen können. Weil die Suren nach einem äußerlichen Kriterium angeordnet sind – der Länge, nicht nach einer Chronologie oder einem Erzählverlauf. Zitator Jonas Baeck (Stefan Weidner, Mohammedanische Versuchungen) Die erste Sure, die er nun las, klang schön. „Führe uns auf den rechten Weg“, das gefiel ihm, wahrscheinlich, weil es ihm vertraut vorkam und ebenso in einem christlichen Gebet hätte stehen können. Schon hatte die zweite Sure begonnen, die Sure mit dem seltsam prosaischen Titel „Die Kuh“. Es war ihm beim besten Willen unmöglich, diesen Titel nicht hässlich und unangemessen zu finden. Die Kuh, wie konnte man einen heiligen, hochverehrten Text mit „Die Kuh“ überschreiben? Hinzu kam das lächerliche Detail, dass diese Sure auf Französisch „La vache“ hieß und er sich während seiner Reise zum größten Teil von einem Käse ernährte, der „La vache qui rit“ hieß – „Die Kuh, die lacht“. O-Ton Stefan Weidner Wenn wir ihn von vorne nach hinten lesen, begegnet er uns zwangsläufig chaotisch. Der erste Eindruck wird sein, das ist ein komplett chaotisches Buch. Deswegen ist der Koran erst einmal ein äußerst unzugängliches Buch, man versteht im Grunde mehr, wenn man ein Buch über den Koran liest, als wenn man den Koran selber liest. Es kommt hinzu, dass die Sprechhaltung des Korans nicht klar ist. Die Frage ist: Wer erzählt was? Wer ist der Sprecher? Wer redet wen an, wer ist gemeint wenn es heißt „wir“? Das muss man erst mal verstehen. Deswegen kann man den Koran nicht wie ein Buch lesen, und die Muslime tun das auch nicht. Sie lernen den Koran kennen, vielleicht in der Koranschule. Einspielung: Mashary Rashid Al Afasy, Koranrezitation, 1. Sure „The Holy Qur'an“ Sprecherin Barbara Stoll Westliche Forscher werfen Muslimen oft Befangenheit in erstarrten theologischen Dogmen vor. Umgekehrt empfinden muslimische Forscher westliche Kollegen häufig als arrogant, triumphalistisch, ohne überhaupt eine grundsätzliche Bereitschaft zu zeigen, sich in den Geist des Korans einzufühlen. All das ist Angelika Neuwirth nicht vorzuwerfen. Ihre Arbeit wäre imstande, „Reiche zu wenden und Herrscher zu stürzen“, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung über die Berliner Islamwissenschaftlerin. Weil ihre Lektüre des Koran radikal neu sei. Weil sie den Koran als „universalen Text“ liest, als Teil auch unserer europäischen Geschichte, als Text, der allen gehört. Wieso ist es für nichtmuslimische Koranleser hierzulande eigentlich so schwierig, Zugang zu finden zu der Welt, die der Koran eröffnet? Wieso ist es so schwierig, im Fremden das Eigene zu erkennen? O-Ton Angelika Neuwirth Für mich ist der Koran mittlerweile etwas ganz Gewohntes. Ich bin während meiner frühen Studienzeit, einer Zeit wo man besonders empfänglich ist für Faszinosa, in Jerusalem mit den Ausdrucksformen der drei monotheistischen Religionen in Kontakt gekommen, und seitdem fasziniert mich tatsächlich auch das Verhältnis des Koran zu den anderen beiden Rezitationstraditionen sehr stark. Inzwischen ist es zu einem Muss geworden, die irrtümlichen Wahrnehmungen des Koran sachte zu korrigieren. Sprecherin Barbara Stoll Lange wurde sie in Europa nicht gehört, die Stimme des Koran. Bloß epigonal sei er, hieß es bei namhaften Autoren, bloß ein billiger Abklatsch von Thora und Evangelium. O-Ton Angelika Neuwirth Man denkt immer wenn man über den Koran nachdenkt, das Ganze habe einzig mit der arabischen Halbinsel zu tun. Aber die imaginierte Heimat, die geistige Heimat, das Zentrum, zu dem hin man sich ja auch im Gebet lange Zeit ausgerichtet hat, war Jerusalem. Das teilen wir eben auch. Darauf kommt es mir besonders an, daß wir mal unsere DNA überprüfen: sind wir wirklich verschieden? Oder gehören wir zusammen in eine engere Familie? Sprecherin Barbara Stoll In seiner berühmt-berüchtigten Regensburger Rede hat sich der damalige Papst Benedikt am 12. September 2006 auf den byzantinischen Kaiser Emanuel Paläologos den II. bezogen: Der Islam habe „außer Blutvergießen nichts Neues gebracht“. Ein Ausspruch, wahrscheinlich aus dem Jahr 1391 stammend, ist noch heute in den Köpfen wirksam. O-Ton Angelika Neuwirth Der erste, der eine Barriere gebaut hat vor den Koran, und seine Rezeption verhindert hat, ist ein alter Kirchenvater, nämlich Johannes von Damaskus, nämlich zu behaupten, die anderen – in dem Fall die Muslime – seinen nicht in der Lage, die Bibel richtig zu lesen, der Koran habe ein sehr primitives Verhältnis zu den biblischen Schriften – das ist eine Unterstellung, die - wenn man den Koran kennt - absolut unhaltbar ist, aber sie hat sich gehalten. Sprecherin Barbara Stoll Petrus Venerabilis, Abt von Cluny, war der erste, der eine Koran-Übersetzung aus dem Arabischen ins Lateinische in Auftrag gab. 1143 war das, in Toledo. Damit wollte der Abt, wie er in einem Brief an den heiligen Bernhard von Clairvaux schrieb, „den Irrglauben aufdecken“, der „schon fast die halbe Welt mit seinem tödlichen Pesthauch infiziert“ habe. Die erste deutsche Übersetzung, die Jahrhunderte später erscheint, stammt von Friedrich Megerlin, der evangelische Theologe dachte auch in Kategorien einer „türkischen Bibel“, die nicht mehr sei als ein schlechtes Plagiat. Dabei will der Koran nach Aussage der mekkanischen Suren gar nichts Neues bringen. Vielmehr kleidet er bereits Verkündetes in eine neue Sprache. Der Koran ist Korrektur und zugleich Bestätigung dessen, was vor ihm war. Anders als seine Verächter liest Neuwirth den Koran als ein Dokument jenes Zeitraums, den wir heute als „Spätantike“ bezeichnen – ein vielstimmiges Umfeld aus jüdischen Rabbinern und syrischen Christen, Manichäern und Neuplatonikern. O-Ton Angelika Neuwirth Wenn man davon spricht, dass der Koran ein Text der Spätantike ist – und eben nicht des Islam – das wird er ja erst später –, später wird er gewissermaßen zum Eigentum der islamischen Religionsgemeinschaft –, aber vorher ist er hineingesprochen in einen - wir nennen das – „Denkraum“, in dem gebildete Leute Fragen aufgeworfen haben, ich denke an Jenseits, Schuld und Sühne, Freiheit, und auch die koranische Stimme, der Verkünder, hat darauf eine Antwort gegeben. Sprecherin Barbara Stoll Neuwirth sieht den Koran als komplexen, intellektuell wie literarisch herausragenden und herausfordernden Text. Seine rhetorische Struktur, seine historische Vielschichtigkeit, sein Anspielungsreichtum sieht sie auf Augenhöhe mit den heiligen Schriften des Judentums wie des Christentums. Dabei wird der Koran weniger „hagiographisch“ als „religionsgeschichtlich“ gelesen. Ihr auf achtzehn Jahre angelegtes Forschungsprojekt „Corpus Coranicum“ will die Entstehungs- oder besser Ereignisgeschichte des Korans möglichst detailgetreu rekonstruieren. Der Koran, als Mitschrift eines Dialogs verstanden, zwischen dem Verkünder – Mohammed – und seinen ersten Zuhörern. Musik: Dhafer Yussef, „Mandakini“ + „Electric Sufi“, track 1 + 3 von der CD „Electric Sufi“ O-Ton Angelika Neuwirth Aber worauf es eigentlich ankommt, wenn man die eigentliche Bedeutung des Koran verstehen will, ist das dahinterliegende Event. Das Ereignis einer sich zweiundzwanzig Jahre lang hinziehenden Verkündigung – ein mündlicher Text. Dieser mündliche Text ist gewissermaßen die Mitschrift dessen, was verkündet worden ist. Und dokumentiert damit einen Prozess der Identitätsfindung einer neuen Gemeinde, das am Ende zu dem uns bekannten Ergebnis führt, dass eine neue Religion begründet ist. Dieser Prozess wird im Allgemeinen verschwiegen oder gar nicht zur Kenntnis genommen. Sprecherin Barbara Stoll Der Koran ist durch den Propheten Muhammad in den Jahren zwischen 610 und 632 einer wachsenden Zahl von Zuhörern geoffenbart worden. Laut Angelika Neuwirth entstand er in einer Art „Zickzackbewegung“: Einem Geben und Nehmen, wo Nachfragen der Zuhörer wieder in neue Mitteilungen oder „Offenbarungen“ des Propheten münden. O-Ton Angelika Neuwirth Gleichzeitig ist er aber auch das Zeugnis einer sich entwickelnden Frömmigkeit, die offenbar sehr viel zu tun hat mit nächtlichen Gottesdiensten, es gibt Suren, die einen solchen Gottesdienst sogar „aufführen“. Also, der Koran entsteht aus so einem Gebetskreis. Wir müssen davon ausgehen, dass es ähnliche Bräuche gab wie etwa in der mönchischen Frömmigkeit, wo man ja vorzugsweise nachts Psalmen rezitiert. Das ist das Milieu, aus dem der Koran hervorgeht. Sprecherin Barbara Stoll Mohammed stellte sich in die Tradition des Monotheismus, der neue Prophet berief sich auf den alten Stammvater Abraham, erkannte Moses wie Jesus als Propheten an. In Neuwirths Lesart wird der Koran damit zu einem Text, der Muslime und Nichtmuslime dialogisch verbindet, statt sie ideologisch zu trennen. O-Ton Angelika Neuwirth Muslim heißt, bevor der Islam als Religionsgemeinschaft sich herausbildet, einfach „Gottergeben“. Das ist ja nun ein Prädikat, dass man Abraham ohne weiteres zugestehen kann. Man würde ihn sogar als extrem „gottergeben“ betrachten, nachdem er ja sogar zu Opferung seines eigenen Sohnes bereit gewesen ist! Das ist noch keine Religion zu der Zeit. Mohammed zu unterstellen, dass er ein Projekt hat, eine neue Religion zu gründen, ist auch leichtsinnig. Man ging nur davon aus, dass der Urmonotheismus im Laufe der Zeit bei den anderen verunklärt worden sei. Sprecherin Barbara Stoll In islamkritischen Kreisen kursiert oft die Vorstellung, eine Aufklärung stünde dem Islam erst noch bevor. Neuwirth widerspricht. In ihren Augen bedeutete der Koran für den Vorderen Orient eine geistige Revolution. O-Ton Angelika Neuwirth Diese plakative Unterstellung, der Koran brauche seine Aufklärung noch, ist natürlich schief. Die Verläufe in der westlichen und der islamischen Welt sind nicht ohne weiteres synchronisierbar. Es gibt mit dem Koran selber schon eine gehörige Portion Aufklärung. Indem das Wissen den absolut ersten Rang bekommt. Anders als in der christlichen Tradition ist der Wissenserwerb nicht tabuisiert. Gott schafft den Menschen und gibt ihm damit gleich auch von seinem göttlichen Wissen ab. Der Koran hat etwas stark Aufklärerisches. Durchaus darauf bedacht, die wichtigste Gottesgabe im Wissen zu etablieren. Sprecherin Barbara Stoll Mit der Verkündigung des Koran ging im Grunde schon eine „Entmythologisierung“ einher. Und auch moralisch ging es damit einen Schritt nach vorn, hin zur Verinnerlichung der Religion. O-Ton Angelika Neuwirth Am Ende steht da der Satz: Dann weiß – weiß - jede Seele, was sie getan hat. Am Ende steht da kein Erlöser, kein Erlöser, sondern die Introspektion, das Wissen um sich selbst. Musik: Dhafer Yussef, „Mandakini“ + „Electric Sufi“ von der CD „Electric Sufi“ Zitator Joasef Tratnik Der Barmherzige. Er lehrte den Koran. Er schuf den Menschen. Er lehrte ihn die klare Rede. Die Erde machte er für die Geschöpfe. Auf ihr sind Früchte und fruchtbeladene Palmen. Und Korn auf Halmen und duftendes Gewürz. Ja, welche Gnadengaben eures Herrn wollt ihr denn leugnen? Aus Ton schuf er den Menschen, der Töpferware gleich, und aus Gemisch von Feuer schuf er die Dschinne. Ja, welche Gnadengaben des Herrn wollt ihr denn leugnen? Wir werden uns Zeit für euch nehmen, ihr Menschen und Dschinne! Ja, welche Gnadengaben des Herrn wollt ihr denn leugnen? Sprecherin Barbara Stoll Auf der Grundlage dessen, was Angelika Neuwirth in ihrem Forschungsprojekt „Corpus Coranicum“ seit 2007 ermittelt hat, entwickelt der Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide heute an der Universität Münster seine Barmherzigkeits-Theologie. O-Ton Mouhanad Khorchide Ich erinnere immer wieder, dass der Koran selber, 113 von 114 Suren mit dieser Formel beginnen: Im Namen des Barmherzigen, des Erbarmers, als würde der Koran selber nahelegen, bevor man anfängt zu lesen diese Brille der Barmherzigkeit aufzusetzen und durch diese Brille den Koran auch zu lesen. Sprecherin Barbara Stoll Seine religiöse Prägung erhielt Mouhanad Khorchide in einem Spannungsfeld zwischen Palästina, Saudi-Arabien und dem Libanon. Während Saudi-Arabien zur Zeit seiner Kindheit versuchte, mit religiösem Rigorismus auf die iranischen Revolution von 1979 zu reagieren, symbolisiert der Libanon für ihn die Vielstimmigkeit religiöser Traditionen. O-Ton Mouhanad Khorchide Meine Eltern sind Palästinenser, die 1948 in den Libanon geflüchtet sind. Später hat mein Vater Arbeit gefunden in Saudi-Arabien, meine Eltern haben Ende der 1960er Jahre in Saudi-Arabien gelebt. Aufgewachsen bin ich in Riad, wo Religion gerade in den 1970er und 1980er Jahren ein großes Thema war. Da fing auch eine neue Bewegung an, die die Gesellschaft islamisieren wollte. Als ich zur Schule gegangen bin, 70er, 80er Jahre, das war der Höhepunkt des Wahabismus. Der Wahabismus ist eine moderne Bewegung aus dem 18ten Jahrhundert, die aber politisch instrumentalisiert wurde von der saudischen Familie, weil man damit sagen konnte: der Gehorsam gegenüber der saudischen Königsfamilie ist ein Teil des Gehorsams gegenüber Gott. Gleichzeitig waren wir immer im Libanon in den Sommerferien, drei Monate bei der Oma dort. Der Libanon ist, wie man weiß, eine sehr plurale Gesellschaft - die Hälfte Muslime, die Hälfte Christen, von den Muslimen die Hälfte Sunniten die andere Hälfte Schiiten, 16 oder 18 verschiedene Konfessionen, die miteinander leben im Libanon. Und diese beiden, das Leben in Saudi-Arabien und im Libanon haben mich sehr stark geprägt, vor allem weil ich schon in meiner Jugend dieses Bewusstsein hatte: es gibt nicht den Islam. Sondern es gibt diese und jene Variante. Sprecherin Barbara Stoll Barmherzigkeit war damals für Khorchide nicht Theologie. Sondern einfach etwas, was seine Großmutter ihm aus dem Geist des Koran vorgelebt hat. O-Ton Mouhanad Khorchide Meine Oma war Analphabetin, sie hat den Koran sogar falsch zitiert, hab ich ein paar mal gehört, aber das war ihr egal, wichtig war ihr die Herzensbeziehung zu Gott. Diese Erfahrung mit meiner Oma hat mich auch sehr stark geprägt. Sie wollte ja spenden, das war ihr Ritual, Brot oder Brot und Käse, und wir warteten vor der Moschee auf die, die aus der Moschee kamen, die Armen. Aber es kamen nebenan aus der Kirche auch arme Menschen, und meine Oma hat diesen Satz immer wieder gesagt: „Schau mal, die kommen aus der Moschee und die aus der Kirche, aber die sind alle Menschen und Gott will allen helfen. Wir sind die Hände Gottes, durch uns hilft Gott. Dafür sind wir da.“ Das hat mich sehr geprägt, mein Verständnis von Religion. Sprecherin Barbara Stoll Khorchide bekämpft ein Koran-Verständnis, das die Gläubigen entmündigt und ihre „persönliche Beziehung zu Gott beschädigt“. Manchem konservativen Muslim gehen diese Freiheiten des Geschöpfs gegenüber seinem Schöpfer zu weit. O-Ton Mouhanad Khorchide Ich habe 2012 mein erstes Buch veröffentlicht mit dem Titel: „Der Islam ist Barmherzigkeit“, wo ich mich sehr stark gemacht habe für diese positive Seite des Islams. Daraufhin haben die vier großen Verbände in Deutschland, Ditib, Islamrat, Zentralrat, ein 75seitiges Gutachten geschrieben, in dem sie mehr oder weniger erklärt haben, dass das Häresie sei, seitdem kriege ich Morddrohungen und lebe ja auch unter Polizeischutz. Das macht wütend und traurig. Sprecherin Barbara Stoll Andere wiederum finden es verharmlosend, wie Khorchide unter der Zentralperspektive der Barmherzigkeit die Gewaltpassagen des Koran relativiert. Wie der Islamkritiker Hamed Abdel-Samad, der in seinem Buch „Der Koran“ den Islam insgesamt religionskritisch beleuchtet. Zitator Jonas Baeck (Hamed Abdel-Samad) Der Prophet taugt einfach nicht für das politische Handeln unserer Zeit. In einer Hadith mahnte Mohamed seine Gefährten: „Die wahrhafteste Mitteilung ist das Buch Allahs, und die beste Leitung ist die Leitung Mohammeds. Das schlechteste der Dinge sind die Neuerungen, jede Neuerung ist Ketzerei. Auch der Begriff ibda’a, Innovation oder Kreativität, leitet sich aus dem Begriff bid’a für Ketzerei oder Häresie ab. Offensichtlich wollte Mohamed eben nicht, dass die nachfolgenden Generationen ihre eigenen Wege gehen. Wissen Sie, lieber Mouhanad, wann immer die Muslime eine Öffnung der Gesellschaft wagten und einen halbwegs normalen Umgang mit Alkohol, Gesang und Nichtmuslimen pflegten, leisteten die Salafisten, die reaktionärsten Schulen des Islam Widerstand und forderten die Rückkehr zu dem, was der Prophet gesagt und getan hat. Es reicht nicht, die Schnüre dieses Korsetts ein wenig zu öffnen. Wir müssen die Menschen ermuntern, dieses Korsett abzulegen. Es ist wie bei dieser Serie von Smartphones der Marke Galaxy 7, die alle in Flammen aufgingen: Wir brauchen eine große Rückrufaktion! Sprecherin Barbara Stoll Abdel-Samad entwirft ein religionskritisches Islambild, das dem Roman „2084“ von Boualem Sansal gleicht – einer Hommage an George Orwells „1984“, einer Zukunftsdystopie, nur mit islamistischen Vorzeichen. Zitator Jonas Baeck Ich, Abi, der Entsandte durch die Gnade Yölahs, befehle, unterwerft euch ehrlich, aufrichtig und völlig den Kontrolleuren, ob sie von der Gerechten Brüderlichkeit, dem Apparat, der Verwaltung oder der freien Initiative meiner treuen Gläubigen sind. Mein Zorn wird groß sein gegen Jene, die spielen, sich verstecken oder entziehen. So sei es. Sprecherin Barbara Stoll Es ist eine von Tyrannei und archaischer Frömmigkeit geprägte Welt, die der algerische Autor Boualem Sansal entwirft. Nach dem großen heiligen Krieg gibt es auf der ganzen Erde nur noch einen Staat, „Abistan“, nach dem Propheten Abi benannt. Das Leben der Abistani wird vom Glauben, den Gebeten und den Pilgerfahrten bestimmt. Die Herrschaft Abis beruht auf Unterwerfung, individuelle Gedanken sind verboten. Das Bewusstsein der Abistani wird streng nach dem offiziellen Kanon ausgerichtet und regelmäßig justiert. Und zwar nach dem „Gkabul“ – dem Heiligen Buch Abistans, verfasst in „Abilang“, der einzigen Sprache, die in Abistan benutzt werden darf. Sollte es im Koran ein lebensfeindliches Moment geben, in Sansals Dystopie wäre es bis ans bittere Ende ausbuchstabiert. Zitator Jonas Baeck Alles, was vor der Einführung des Gkabul existierte, war falsch, schädlich, und musste zerstört, ausgelöscht, vergessen werden. Das Gkabul hatte seine Hypnose in den Körper und die tiefe Seele des Volkes verbreitet und beherrschte dieses als absoluter Herr. Das Gkabul hatte die Gegenwart und die Zukunft kolonisiert. Wie viele Jahrhunderte würde es brauchen, um es zu entzaubern, das war die einzige wirklich gute Frage. Sprecherin Barbara Stoll Es sind Korankritische Töne wie diese, die Autoren wie Hamed Abdel-Samad und Boualem Sansal auch zu Helden deutscher Islamhasser machen. Und tatsächlich, sind sie nicht perfekte Kronzeugen? Wurde der „Ägypter“ Abdel-Samad – ehemals Teilnehmer der deutschen Islamkonferenz, nicht selbst bei Kairo als Kind eines sunnitischen Imams geboren? Und beschrieb der „Algerier“ Boualem Sansal, Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, nicht selbst in seinem politischen Essay „Allahs Narren“ die Gefahr, „wie der Islamismus die Welt erobert“? Wäre der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders damit nicht im Recht mit seiner Forderung, den Koran verbieten zu lassen? Mouhanad Khorchide: O-Ton Mouhanad Khorchide Alle unsere heiligen Texte, ich erinnere auch an das Alte Testament, geben Grundlagen her, wenn man böswillig sein wollte, daraus Gewaltlegitimation herauszulesen. Der Koran in der 9ten Sure gerade gibt das her, an zwei, drei Stellen. „Tötet, bis der Islam die Religion ist“, usw. Die berühmteste Stelle, die immer wieder vorkommt, 2 Sure Vers 191, wo es heißt: Tötet sie, wo immer ihr sie findet. Aber 190, der Vers davor, da kann man nachlesen, worum es geht: Kämpft gegen die, die gegen euch kämpfen. Und im selben Vers wird erinnert: wenn sie aber aufhören, hört auch auf! Gott ist Allverzeihend allbarmherzig. (Das ist) keine Legitimation für Gewalt, sondern im Gegenteil: Eine Einschränkung. Es gibt unter Muslimen eine Lesart des Korans, die ihn reduziert auf eine Art Bedienungsanleitung, was Gott von den Menschen will. Diese Lesart macht aus dem Menschen ein Objekt des Korans, kein Subjekt. Der Mensch ist ein passiver Empfänger von Instruktionen. Das Problem das ich darin sehe: Dass sich die Gott-Mensch Beziehung reduziert, auf die Beziehung von einem Befehlshaber und einem Befehlsempfänger, das ist keine Liebesbeziehung oder Vertrauensbeziehung, wie der Koran sie selbst beschreibt, dann kann man kaum noch von Beziehung im engeren Sinne reden, da geht es nur noch um Gehorsam, das höhlt die islamische Verkündigung aus. Es bleibt kaum Raum für Spiritualität und Gotteserfahrung. Man bringt den Koran damit zum Verstummen. Aber selbstkritisch muss ich sagen, dass diese Lesart als Gesetzesbuch, die ist sehr stark verbreitet unter Muslimen. Ich bin immer erstaunt wenn ich hier, in Deutschland, heute, wahabitisches Gedankengut treffe, in Deutschland, das mich sehr stark erinnert an die 80er und 90er Jahre, als ich noch in Saudi Arabien gelebt habe. Ich möchte etwas sagen, was vielleicht provokant klingt: Pierre Vogel liest den Koran, wie die meisten muslimischen Theologen ihn lesen: Wortwörtlich! ... Das ist definitiv der theologische Mainstream in der islamischen Welt, dass man den Koran wortwörtlich liest. Sprecherin Barbara Stoll Khorchide wendet sich allgemein gegen eine verkürzende, reduktionistische Lesart des Koran. Sei es von Seiten namhafter Salafisten wie Pierre Vogel, oder sei es durch so genannte Islamkritiker. Das Buch „Feindliche Übernahme“ des Bestsellerautor Thilo Sarrazin landete gleich am ersten Tag nach seinem Erscheinen auf Platz eins der Amazon-Bestseller-Liste. Nicht, obwohl es bloß überkommene Vorurteile bedient. Sondern gerade deswegen. Meint Sonja Zekri in ihrer Besprechung in der Süddeutschen Zeitung vom 30. August 2018: Zitatorin Edda Fischer Sarrazin hat den Text gelesen, und nur den Text. Offenbarungszusammenhänge? Einordnung zumindest in die mekkanische und medinensische Phase, die den Propheten Mohammed vom Staatsgründer Mohammed trennt? Basiskenntnisse über die Arabische Halbinsel in der Spätantike? Das hat Sarrazin nicht nötig, gerade im unbelasteten Angang, so seine Argumentation, erkennt er den wahren Charakter des Koran und entlarvt ihn als „aggressiven, ungeordneten, emotionalen und wenig abstrakten Text“. Deutschland braucht dieses Buch so nötig wie einen Ebola-Ausbruch, und doch ist der Erfolg unabwendbar. Die zweitschlimmste Deutung dafür wäre, dass ein Autor auf einem gewachsenen Markt für Islamängste nur die alten Thesen in höheren Dosen anbietet. Man muss davon ausgehen, dass neben Rassisten und Rechten auch Menschen dieses Buch kaufen werden, die ehrliche Fragen an den Islam haben, die manches nicht verstehen, vielleicht fürchten und hier die schlechtesten aller Antworten finden.  O-Ton Mouhanad Khorchide Sarrazin und andere Islamkritiker lesen den Koran genau durch die selbe Brille wie unsere Fundamentalisten und Extremisten. Sie lesen ihn wortwörtlich, bleiben im Wortlaut, hier treffen sich beide, und das ist meine Kritik, dass sie ausblenden, dass es auch andere Lesarten gibt. Sprecherin Barbara Stoll Über Jahrhunderte haben muslimische Gelehrte in verschiedenen Schulen den Koran auf unterschiedlichste Weise aufgefasst und kommentiert. Bis zu siebentausend verschiedenen Auslegungen konnten die Gebildeten für einen einzigen Koranvers finden. Der Arabist Thomas Bauer hat das als „Kultur der Ambiguität“ bezeichnet, als die besonders ausgeprägte Fähigkeit im Islam, Widersprüche „auszuhalten“. Und eben dadurch zu einer Weltreligion zu werden. Heute wird Khorchide auch ins ägyptische Religionsministerium eingeladen, das Bedürfnis nach Reformen wächst. So wirkt die Islamwissenschaft an einer deutschen Universität auf die islamische Welt zurück. O-Ton Mouhanad Khorchide Es ist genuin islamisch, von Liebe zu sprechen. Der Koran selbst lädt dazu ein. Nur wir Muslime verdrängen das. Wo man meint: ein Gott der Liebe ist ein schwacher Gott. Das höre ich immer wieder von Muslimen, die dann sagen: Nein unser Gott ist ein starker, nicht wie der Christliche. Der ist ein richtig männlicher Gott. Dabei theologisch reflektiert, ist ein liebender Gott, der Freiheit schenkt – das ist gerade ein mächtiger Gott! Freie Wesen zu schaffen, das ist der Höhepunkt von Allmacht. Worauf es jetzt ankommt, ist: Lesen wir den Koran als abgeschlossen oder in dieser Offenheit? Und so verstehe ich den Koran: Meine Aufgabe heute wäre die Stoßrichtung fortzudenken, indem ich frage. Wo stehen wir heute in der Gesellschaft? ... Fatal wäre zu sagen: Der Koran sprach, aber heute spricht er nicht mehr. Ich lasse ihn heute auch zu mir sprechen. Musik: Dhafer Youssef, „Nouba“, CD „Electric Sufi“ 2. Stunde Koran-Stories Musik: Kudsi Erguner, “Tales of Ney” von der CD “Sufi Music of Turkey” Sprecherin Barbara Stoll Seit die Wissenschaftlerin Angelika Neuwirth als junge Frau nach Jerusalem reiste, war der Koran ihr Lebensthema. Auch der Islam-Experte Stefan Weidner versucht das Koran-Phänomen zu ergründen, seitdem er in den 1980er Jahren seinen ersten Koran in Marokko erwarb. Andere folgten dem Ruf des Koran tatsächlich, sich zum Islam zu bekehren. Wie der Frankfurter Underground-Schriftsteller Hadayatullah Hübsch. In seinem vierstündigen Monumentalhörspiel „Keine Zeit für Trips“ erzählte er Anfang der 1970er Jahre selbst die unwahrscheinliche Geschichte seiner Konversion. O-Ton Hadayatullah Hübsch, Keine Zeit für Trips Teil 2 / 2 Ich kurbelte das Fenster runter. Luft, Kühlung, Erbarmen. Und ich wusste, ich hatte keinen Halt. Ich hatte Angst, Angst, Angst. ... Wo war der Anfang, das Licht, der Weg, was tun? ... Da sagte ich: Halt an, ich muss hier raus, laufen, ich ersticke in dieser Hitze. Ich riss mir Hemd und Hose vom Leib, nur diesen Rosenkranz mit dem Bildnis des Gekreuzigten wollte ich anbehalten. Und ich lief die heiße Landstraße entlang, nackt und weit weg von alten teuflischen Einflüsterungen, hin zu Gott... Und ich stöhnte und war am Ende, und sagte plötzlich hinein in diese arabische Luft: ‚Oh Allah, bitte reinige mich!’ Sprecherin Barbara Stoll Hübsch, 1946 in Chemnitz geboren und auf den urprotestantischen Namen Paul Gerhard getauft, ging auf die Reise durch die Welt und zu sich selbst: von Frankfurt, als Kriegsdienstverweigerer, Atomkraftgegner, APO-Apostel und Acid-Head führte ihn sein Weg auf den Hippietrail, nach Marokko. Dann, nach einem nicht enden wollenden Horrortrip durch marokkanische Gefängnisse und spanische Irrenhäuser endlich wieder zu Hause angekommen, wird Hübsch endgültig zu einem Fall für die Rettung durch den Koran. Während andere Hippies ihr Heil im fernen Osten suchen, in indischen Ashrams oder japanischen Zen-Klöstern, fühlt sich Hadayatullah Hübsch durch den Koran unwiderstehlich gerufen. Das heilige Buch der Muslime gibt ihm Orientierung, verheißt ihm, herauszufinden aus dem verschlungenen Labyrinth seiner selbst. O-Ton Hadayatullah Hübsch, Keine Zeit für Trips Teil 3 / 1 Und was dann geschah, war so wunderbar, ich wurde hochgerissen von meinem Sitz, und er leitete mich durch dieses Zeichen hin, zu dieser Bücherwand mit hunderten von Büchern, und inmitten all dieser Bücher, diesen Gedichten, Romanen, war auch eine Übersetzung des heiligen Koran, die mir ein Onkel vor langen Jahren zu einem Weihnachten geschenkt hatte, und ich wusste es nicht. Aber der, der alles weiß, der Führer auf den geraden Weg, der führte mich in dieses Büchergewirr hinein, in das Gestrüpp der Ideen und Chiffren, er führte mich zum heiligen Koran, und ich öffnete dieses heilige Buch, und kein Zweifel war mehr möglich, und deutlich stand es vor meinen Augen, dass es Wahrheit gibt, dass Worte die innersten Regungen ansprechen, die geheimsten Gedanken berühren können. Worte, die von IHM geformt, aus dem Menschenmunde kamen, und Licht waren, und Leitung, und Barmherzigkeit. Ich las, ich spürte, dass das Wesentliche meines Lebens, das Wesentliche des Lebens aller Menschen, hier in diesem Buch zur Sprache kamen. Die vagen Vermutungen, was wahr und falsch sei, würden sie verschwinden? Das war die Hoffnung. Das Gewand, das der Koran versprach, die Befreiung von Sünden, ich musste erst hinein wachsen um Verzeihung zu finden, Leitung und Licht. Um Liebe spüren und geben zu können. Ich würde ein neuer Mensch sein, auf einer neuen Erde. (Musik) Es kamen die Tage. Eine alte Sonne mit neuen Strahlen. Es kamen die Abende. Zwielicht. Unbekannte Stunden vor der Nacht. Ich las Koran, und die Wahrheit erschreckte mich, sie war so eindeutig. Sprecherin Barbara Stoll Khola Maryam Hübsch erinnert sich an ihren 2011 verstorbenen Vater. Und wie sie in Frankfurt Höchst groß geworden ist, als Tochter des Freitags-Imams der Nuur-Moschee. O-Ton Khola Maryam Hübsch Er hat ja später den Namen Hadayatullah bekommen, das ist Arabisch und bedeutet auf Deutsch: der von Gott geleitete, der von Allah geleitete. Er hat sich nicht mit dem Islam beschäftigt und ist doch beim Islam gelandet. Darum denke ich, dass das schon so eine Art Erweckungserlebnis war. Sprecherin Barbara Stoll Anders als für Stefan Weidner scheint es aber für Hübsch keine Verständnisprobleme des Korans gegeben zu haben. Wo Weidner Zugang zum Koran suchte, der sich ihm aber auch versperrte, scheint der Koran Hadayatullah Hübsch unmittelbar einzuleuchten. Hübschs Koran hat eine beachtliche Autorität und Zwingkraft. Doch gleichzeitig dreht sich um seine Koran-Lesart eine ganz sanfte, vielstimmige Bibliothek mystischer Werke aus der „Konferenz der Vögel“ des persischen Mystikers Attar oder Goethes Westöstlichem Diwan. „Stirb, bevor du stirbst“, heißt es in der islamischen Tradition; in Goethes „West-östlichen Diwan“ wird daraus „Bevor Du dies nicht hast, dieses stirb und werde, bist Du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.“ Über hundert Bücher hat Hadayattullah Hübsch geschrieben. Über Goethes West-Östlichen Diwan, islamische Mystik, oder Pop-Gedichte über die 99 Namen Allahs. O-Ton Khola Maryam Hübsch Er hat sich immer schon für eine bestimmte Lesart des Islam stark gemacht. Er hat nicht nur Sachbücher zum Islam geschrieben, schon vor 9/11, viele ganz fundierte theologische Werke, sondern er war deutschlandweit auch unterwegs und hat Vorträge gehalten zum Islam, hat versucht Aufklärungsarbeit zu leisten. Er gehörte ja einer Reformbewegung an, die der Meinung ist: es läuft etwas fundamental falsch in der islamischen Welt, eine gefährliche Lesart, diese Buchstabengläubigkeit und dagegen seine Auffassung von der Metaphorik der Koranverse. Dass das so aktuell geworden ist, dass sich das so zugespitzt hat durch den islamistischen Terror, das hat es natürlich nochmal sehr viel mehr befeuert. Sprecherin Barbara Stoll In seinem Buch „Fanatische Krieger im Namens Allahs“ versuchte Hadayatullah Hübsch vielleicht als Erster, den Koran gegen die Lesart der Hasserfüllten Terroristen des 11. September 2001 zu verteidigen. Zitator Jonas Baeck (Hadayatullah Hübsch, Fanatische Krieger im Namens Allahs) Religiöses Denken und Empfinden sind zumindest ansatzweise wichtige Bestandteile terroristischer Überlegungen. Theologie wird zur Rechtfertigung für Terrorakte, wie sie in Amerika am 11. September durchgeführt wurden. Dabei geht es aber eigentlich mehr um die psychologische Befindlichkeit derer, die Terroristen werden. Ihre Sehnsüchte und Utopien, wovon sie träumen, was sie sich versprechen, welche Ideale und Wunschvorstellungen sie haben. Ausgeprägte Züge von Größenwahn prägen ihr Denken. Sie steigern sich in einen fast psychiotisch zu nennenden Zustand hinein und betrachten sich als Auserwählte, als Märtyrer, also Heilige, dazu auserkoren, den Zorn Gottes über die sündige Welt, den großen Satan, die Hure Babylon zu bringen. Innerlich leben sie in einem Wahngebilde, während sie nach außen hin zu Maschinen werden. Sprecherin Barbara Stoll Hübsch analysiert das Testament des Attentäters Mohammed Atta, der sich – als erster einer ganzen Reihe islamistischer Terroristen bis heute – bei seiner Tat auf den Koran bezieht. Den er aber laut Hübsch damit in blasphemischer Weise entstellt. Wie kann eine Religion der „liebenden Hingabe“ zur menschenverachtenden Ideologie werden? Khola Maryam Hübsch: O-Ton Khola Maryam Hübsch Ich glaube das hat vor allem politische Gründe. Dieser politische Islam ist ein neues, junges Phänomen. Die ist im 18. Jahrhundert erst entstanden, diese wahabitische Ideologie. Es hat auch mit der Auseinandersetzung mit den politischen Ideologien des Westens zu tun. Es hat etwas mit der Kolonialisierung zu tun – dass man dagegen halten wollte, gegen diese Demütigungserfahrungen, und einen politischen Islam konstruiert hat, der die Antwort sein sollte. Und diese neue Lesart, also dass man den Dschihad gar nicht mehr als spirituellen Weg versteht, als Kampf gegen das Ego, sondern nur noch als Kampf gegen die Ungläubigen, das ist eine neue Exegese. Und ich glaube auch heute, wenn wir uns ansehen, wo kommt der islamistische Terror her, da ist ein Nährboden, der natürlich durch die westliche Außenpolitik auch mit gelegt wird, das kann man nicht ausblenden, dass eben auch sehr viel an Ungerechtigkeit erfahren wird, an Doppelmoral. Musik: Pink Floyd - „Cirrus Minor“ Sprecherin Barbara Stoll Als Kind hörte Khola Maryam Hübsch im Nebenzimmer ihren Vater mit Beatles, Stones oder Pink Floyd die Nacht durchwachen; hörte ihn, wie er unermüdlich, fast manisch an seinen Büchern arbeitete. O-Ton Khola Maryam Hübsch Ich bin immer so eingeschlafen: Diese Musik, diese abgefahrene Musik, auch wenn ich Lieder heute höre, die sind mir so vertraut, und dann immer dazu dieses Tacktacktack der Schreibmaschine. Wahnsinnig schnell mit zwei Fingern. Sprecherin Barbara Stoll Heute ist Khola Maryam Hübsch selbst eine namhafte Autorin. Eine wichtige Stimme in den Debatten darum, inwieweit der Islam in Deutschland heimisch werden kann. Mit ihrem Buch „Rebellion der Sehnsucht“ von 2018 wollte sie einen „Angriff auf den atheistischen Zeitgeist“ unternehmen, sich aber gegen eine Veräußerlichung ihrer Religion durch die Muslime selbst aussprechen. Zitatorin Edda Fischer (Khola Maryam Hübsch, Rebellion der Sehnsucht) Die Krise der so genannten islamischen Welt ist eine moralische, eine theologische, eine spirituelle Krise. Eine Krise, die der Prophet übrigens vorausgesagt hat. In einer Überlieferung Mohammeds heißt es: „Es wird eine Zeit kommen, wenn vom Islam nichts anderes mehr übrigbleiben wird, als seine Schrift. Die Moscheen werden voll von Betenden sein; die Rechtschaffenheit jedoch wird sich verflüchtigt haben, sie werden der göttlichen Leitung beraubt sein. Ihre Gelehrten werden die schlimmsten Kreaturen unter dem Firmament des Himmels sein. Üble Verschwörungen werden von ihnen ausgehen.“ Die islamische Welt krankt tatsächlich an einer obsessiven Betonung von Äußerlichkeiten. Die Aushöhlung der Spiritualität, die Reduzierung des Glaubens auf Gesetze und Formen, auf halal und haram, erlaubt und verboten, hat ein Ausmaß erreicht, das nach einer grundlegenden inneren Reform schreit. Darum beschrieb mein Vater das Gebet als die eigentliche Revolution: „Ich bin nicht ich, ich werde gedacht, die Revolution passiert im Kopf. Ade du schöne neue Welt, der weg ist frei und atemlos das glück, wenn ich den heiligen Quran zur nichterschütterbaren Basis mir erwähle.“ Musik: Cat Stevens, “On the road to find out” Sprecherin Barbara Stoll Hübsch hat auch eine Biographie des englischen Pop-Sängers und Islam-Konvertiten Cat Stevens verfasst. Einmal sind sich die beiden bei einer Recherchereise Hübschs in London begegnet – der Biograph aus Frankfurt, sein Haupt mit einem Turban umwickelt; und der Star Cat Stevens, sich auf einer Couch räkelnd wie eine gezähmte Wildkatze; dandyhaft auf einen Hirtenstab gestützt, zu seinen Füßen in Nerz gehüllte Girls – wie sich Hübsch in seinem Popgedicht „Immer noch unterwegs“ erinnert. Zitator Jonas Baeck (Hübsch) Wie eine vom Meer verwundete Katze bist du aufgetaucht, Aus der Nische der Regent’s Park Moschee, Du trugst grüne Socken, am rechten Fuß lugte der große Zeh aus dem Loch. Ich hatte einen weißen Turban an, Wir erkannten uns sofort, Du nahmst mich mit in deinen Bentley, eine kühle Frau am Steuer. Wir im Fond, so abgeschirmt von der Außenwelt Londons, Gab ich dir die Bücher, Die als Geschenk für dich ausersehen waren, Du legtest sie schweigend neben dich. Und ich begann zu reden, fast Ohne Atempause, Um dir die Schönheit zu vermitteln, Die ich gefunden habe, Lange bevor dich bei Malibu Eine Welle beinahe in den Tod riss. Sprecherin Barbara Stoll Auch in Cat Stevens’ Bekehrung spielte ein Koran eine wundersame Rolle. Es war im Jahre 1977, als Stevens bei einem Bad im Pazifik vor der Küstenstadt Malibu nach einem Stoßgebet und nur dank einer Welle im letzten Augenblick vor dem Ertrinken errettet wurde. Und es war ein Koran aus der Hand seines Bruders, der ihm die Augen dafür öffnete, wem er dafür zu danken hatte: nämlich Allah... O-Ton Portrait des Popmusikers und Sängers Cat Stevens I said „Oh God, if you save me, I work for you.“ And at that moment a wave came from behind me and suddenly the tide had turned and I was swimming back to shore with all the energy I needed and with the Help of the Koran. (Overvoice) Josef Tratnik Ich sagte, Gott, wenn Du mich aus dieser Situation rettest, werde ich dir mein Leben widmen. Da plötzlich kam eine Welle, sie erfasste mich und mit ihrer Hilfe konnte ich wieder zum Strand zurückschwimmen – und mit der Hilfe des Koran. Sprecherin Barbara Stoll Cat Stevens wurde unter dem Namen Steven Demetre Georgiou in London geboren. Seine Mutter Ingrid war eine Baptistin aus Schweden, der Vater Stavros Georgiou stammte aus Südzypern und gehörte der griechisch-orthodoxen Kirche an. Die Familie führte ein griechisches Lokal, direkt im Rotlichtdistrikt von Soho, zwischen unzähligen Bars, Clubs, Kinos und Theatern. Die Faszination, die das Nachtleben und die Jagd nach Vergnügung und Zerstreuung ausüben, hat Cat Stevens von Kindheit an miterlebt. Durch seine Konversion wird aus dem berühmten Softrocker und Mädchenschwarm ein muslimischer Hardliner und Glaubenseiferer, der – einer Weisung des islamischen Theologen, Philosophen und Rechtsgelehrten Al-Ghazali aus dem Jahre 1111 gehorchend – die Gitarre an den Nagel hängt und jeder Musik, insbesondere der von Saiteninstrumenten begleiteten – abschwört. Er wählt den Namen Yusuf - nach der Josefsgeschichte, wie der Koran sie überliefert. Zitator Josef Tratnik Nach einer Weile las ich das Kapitel, das Jusef oder „Yusuf“ heißt. Mein Leben schien in dieser Geschichte in einem Spiegel zu zerschmelzen. Bis zu diesem Augenblick war auch ich, wie Josef, durch viele Stadien gegangen und auf dem Markt verkauft worden. Sprecherin Barbara Stoll Yusuf nennt sich nach der Josephsfigur – jenem gottesfürchtigen Mann, der den Verführungen der Frau des ägyptischen Herrschers Potiphar widerstand. Yusuf gibt sein berauschendes Stardom-Leben auf, wandelt sein Hippie-Image zum langen Kaftan und Bart-des-Propheten-Look und besucht nun regelmäßig die Moschee im Londoner Regent’s Park. In Swinging London gründet Yussuf die Islamia, die erste englische Koranschule für Mädchen. Statt Lieder nimmt Yussuf nun Koranrezitationen auf, statt nach „Katmandu“ pilgert er nach Mekka. Selbst die Fatwa gegen Salman Rushdie und dessen „Satanischen Verse“ soll Yusuf in der ersten, heißen Phase seiner Bekehrung unterstützt haben. Musik: Yusuf Islam, “Turn to Allah” von der CD “A is for Allah” Sprecherin Barbara Stoll Der „Mann, der einmal Cat Stevens war“, ist heute kein Hardliner mehr. Stark betroffen vom Ansehensverlust seines geliebten Islam nach dem Anschlag auf das World-Trade Center am 11. September 2001 hat sich Yusuf der mystischen Strömung des Islam zugewandt, Jahr für Jahr besuchte er auf Zypern Nazım Kıbrısi, den Großmeister des Naqschbandi-Ordens. Der Sufismus ist die Spielart des Islam, die in der Musik regelrecht einen Königsweg zu Gott sieht. Entsprechend begreift Yusuf Musik heute nicht länger als „haram“ – unrein; er preist sie als eine der Schönheiten von Allahs Schöpfung. In seinen Alben „An Other Cup“ von 2006 und auf „Roadsinger“ von 2009 zeigt sich Yusuf einem Gottesbild verpflichtet, welches Allah nicht nur mit Attributen der Macht, sondern vor allem auch der Schönheit versieht. Musik: Yusuf Islam, „The Beloved“ von der CD „An Other Cup“ Sprecherin Barbara Stoll Der Koran ist nicht Tausendundeine Nacht. Und doch entspinnen sich in seinem Bannkreis immer wieder wundersame Geschichten. Geschichten schicksalsmäßiger Berufung, Geschichten der Vorsehung. Sprecherin Barbara Stoll In den Geschichten Hadayatullah Hübschs und Yussufs war es die wunderbare Strahlkraft des Koran, die ihnen den Weg zu einem neuen, besseren Leben wies. Imam Meyer hat Islamwissenschaften studiert, ehe er als Gläubiger ganz in den Koran eintauchte. O-Ton Imam Meyer Der Koran ist unheimlich faszinierend, wenn man den auf Arabisch liest. Der Koran hat eine unheimlich starke Wirkung. Wenn man ihn nicht intellektuell liest. Ich hab meinem Sohn, als er acht Jahre alt war, in zwei Tagen das Lesen beigebracht. Also in zwei Tagen kann man Koran lesen lernen! Wenn man dann genügend liest, sich ein bisschen durchbeißt, dann kann man ihn lesen. Man versteht zwar nichts, aber das ist nicht so wichtig. Der Effekt ist trotzdem da. Man verbindet sich ja mit dem Autor eines Buches durch das Lesen. Und es gibt kein anderes Buch, das so viel gelesen wird wie der Koran. Ich hab ihn vielleicht 150 Mal gelesen. Man kann ihn nicht oft genug lesen. Umso öfter man ihn liest, desto mehr fasziniert er einen. Sprecherin Barbara Stoll Meyer ist mit dem Vornahmen Hans Martin aufgewachsen. Wie aber ist der Weg hin zum Koran verlaufen, der Weg der Vorsehung, wie er selber heute sagen würde? O-Ton Imam Meyer Dann war das göttliche Fügung. Ich habe mit meinem Bruder geplant, eine lange Reise zu machen in ein exotisches Land, und dann war Jamaika aber ausgebucht, und es gab nur noch Ägypten. Dann haben wir gesagt, gut, fliegen wir nach Ägypten. Dann sind wir mit dem Bus nach Assuan gefahren, und haben in Assuan im Hotel übernachtet, was direkt neben einem Minarett war. Und als der dann um Viertel nach Fünf eine gefühlte halbe Stunde geschrien hat, dachten wir, die Welt geht unter, das war damals nicht so bekannt, wir kamen aus dem Dorf. Und das war natürlich auch ein „Erweckungserlebnis“ im wahrsten Sinne des Wortes. Sprecherin Barbara Stoll Nach dem Zivildienst fuhr Meyer mit dem Motorrad monatelang durch die Sahara: Tunesien, Algerien. Und dann kommt er dorthin, wo es auch Hadayatullah Hübsch und später Stefan Weidner hin verschlug: nach Marokko. O-Ton Imam Meyer Und dann war ich in Marokko und bin da alleine in der Wüste rumgefahren, hab auch zum ersten Mal Todesangst gehabt: vielleicht habe ich mich verfahren, vielleicht verdurste ich, das sind so Dinge, die so einen Prozess in Gang setzen können – tatsächlich eine tiefere spirituelle Reise... Sprecherin Barbara Stoll Noch mehr als vom arabischen Nordafrika fühlt sich Meyer von der Lebensweise im islamischen Schwarzafrika angezogen. 8 Monate ist er mit dem Motorrad in Burkina Faso, Kongo, Tansania und Kenia unterwegs. In einer Familie im Senegal findet er jene Güte und „Barmherzigkeit“, die ihn bis heute unwiderstehlich zum Islam zieht. O-Ton Imam Meyer Zu mir sagte dann diese Frau, wo ich lebte: Sag mal, welcher Religion gehörst du denn jetzt eigentlich an? Und ich sagte: ich bastle mir selbst meine Religion, und sie sagte: nee, das führt zu nichts, du musst eine Religion auswählen, nimm den Islam, das ist die beste Religion! Da hab ich mir schon gesagt, oh je, das wird nicht so einfach sein, wollte sehr stark nachforschen, bevor ich diesen Schritt mache. Sprecherin Barbara Stoll Nach islamischem Verständnis sind alle Menschen als Muslime geboren. Nur müssen sie sich erst wieder daran erinnern. Statt von einer Lebenswende sprechen viele Konvertiten darum lieber von einer kontinuierlichen „Rückkehr“ zu Gott. O-Ton Imam Meyer Deshalb habe ich erst mal darauf vertraut, dass diese Instrumente, diese Befehle von Gott, zu beten, zu fasten, mich weiter bringen in der Hinsicht. Und dann hab ich das erst mal gemacht. Hab die befolgt. Und war auf ne Art abhängig davon, im Koran zu lesen, zu beten, das war wirklich ne Art Sucht, das ist so schön. Das mohammedanische Licht wird entwickelt durch die richtige Praxis. Das entwickelt man, indem man den Propheten imitiert. Man sagt sogar, wenn man den falschen Glaubensgrundsätzen anhängt, wie z. b. dem Wahabismus, dann entwickelt es keine Wirkung. Auch die Gottesdienstlichen Handlungen, die ohne Liebe gemacht werden, werden nicht angenommen. Sprecherin Barbara Stoll Heute ist Imam Meyer Gefängnisseelsorger in der JVA Wiesbaden. Er bemüht sich darum, zornige junge Männer durch ein vertieftes Koranverständnis gegen den Salafismus und Dschihadismus zu immunisieren. O-Ton Imam Meyer Es ist ja schon so, dass im Gefängnis viele Leute konvertieren, Muslim werden (lacht) und dann frage ich mich manchmal schon, werden die jetzt Muslim oder werden die jetzt Salafist? Das ist ein großer Unterschied! Es gibt alle Sorten. Es gibt deutsche Konvertiten, es gibt russische Konvertiten, es gibt Leute, wo vielleicht ein Elternteil muslimisch war, was nicht mehr vorhanden ist, oder wo die Eltern zwar dem Namen nach Muslime waren, aber nicht praktiziert haben. ... Es gibt natürlich auch das, dass man mehr nachdenkt, wenn man im Gefängnis ist, dass man versucht, sein Leben zu ändern, dem Leben einen Sinn geben. Es gibt Reue. Manche haben Wut in sich und kanalisieren dann diese Wut in diese Richtung, weil ein Ideologe kommt, der ihnen sagt: Das sind die Bösen, und die müssen wir bekämpfen. Nehmen dann irgendwas aus dem Zusammenhang, und instrumentalisieren das für ihre Zwecke, um die Leute hinter sich zu bringen. Es gibt Korane, die wollen sie auch lesen, ich hab immer gesagt ich bin dafür, dass man ihnen den Koran gibt, aber es muss jemand da sein, der da ist und den man fragen kann. Ich finde es sehr bedauerlich und unklug, dass man keine Imame in die Gefängnisse schickt. Dass das so eine einmalige Sache ist in Wiesbaden und Frankfurt, dass das nicht schon längst Deutschlandweit erkannt worden ist. Man muss da vorsorgen, man muss das beibringen, man muss den Leuten den Islam beibringen, sonst lernen sie den von den falschen Leuten und lernen falsche Dinge. Musik: Dhafer Youssef, „Man of Wool“ von der CD „Electric Sufi“ Sprecherin Barbara Stoll In der salafistischen Tradition wird der Koran als Manifest der eigenen religiösen Überlegenheit gelesen. Spuren dieser buchstäblichen, stark verkürzenden und verzerrenden Lesart finden sich zuhauf im Internet. O-Ton Imam Meyer Da muss man nur schauen, das ist ganz simpel. Da gibt’s diesen berühmten Schwert-Vers, der ständig zitiert wird, der wurde offenbart in dem Zusammenhang, wo es darum ging, ob die Leute von Medina aus unbewaffnet Hadsch machen können. Dann besteht natürlich die Gefahr, dass die Mekkaner sie abschlachten, im heiligen Bezirk. Kein Mensch hat früher diesen Vers so interpretiert, dass man rumlaufen soll und irgendwelche vermeintlich Ungläubigen töten soll. Wenn das so wäre, wäre die islamische Geschichte ganz anders verlaufen. Sprecherin Barbara Stoll Meyer kennt die Schriften Angelika Neuwirths. Er weiß: Bei der Schlacht bei Badr ließ der Prophet sich durch Gewalt nicht provozieren. Die medinensische Gemeinde wird nur notgedrungen zu einer kämpferischen Gemeinschaft. So ist der Kampf keine theologische Forderung. Darin stimmt Imam Meyer auch mit dem Münsteraner Islam-Theologen Mouhanad Khorchide überein: Der Islam ist Barmherzigkeit. Aber das wollen die Salafisten so nicht sehen. O-Ton Imam Meyer Das ist eine andere Religion sozusagen eigentlich. Es gibt so berühmte Aussprüche des Propheten, Friede sei mit ihm, der sagte: Am weitesten entfernt von Gott ist derjenige, der ein hartes Herz hat. Ganz einfach. Es geht im Islam um Barmherzigkeit, ganz klar. Wer das bestreitet, da frage ich mich, haben die schon jemals den Koran aufgeschlagen. Bei den Wahabiten oder Salafisten frage ich mich das wirklich manchmal: Haben die schon jemals den Koran gelesen? Da steht drüber, im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Allerbarmers. Das ist die Überschrift vom Koran. Meine Barmherzigkeit umfasst alles. Und wir haben dich als Propheten gesandt als die Barmherzigkeit für die Welt. Und wenn jemand dann in der Lage ist, so Sachen zu machen wie der so genannte „Islamische Staat“, den man ja besser „Antiislamischen Staat“ nennen sollte, da muss schon viel Verrohtheit stattgefunden haben, was ein Zeichen dafür ist, dass man sich entfernt hat von Gott. Sprecherin Barbara Stoll Bei dem Imam ist etwas wie Bekümmerung zu spüren: Die Trauer des Seelsorgers um verirrte Seelen. Wie die Zwillinge Kevin und Mark K., die sich bei der Eroberung der irakischen Stadt Ramadi im Mai 2015 in die Luft sprengten. Auf einem Bild im Internet posiert einer der beiden „Märtyrer“ mit erhobenem Zeigefinger, der andere hält einen Koran. Dem Imam Meyer wird übel, wenn er sieht, wie die Dschihadisten im Namen seines geliebten Korans solche Blasphemien begehen. Einspielung/ Quelle: Pierre Vogel, 05.05.2014 via you tube Konversion bei einer Open Air Veranstaltung mit Piere Vogel am 02.05.2014 in Nürnberg Sprecherin Barbara Stoll Nicht alle Salafisten sind Dschihadisten, aber alle Dschihadisten waren vorher Salafisten. Der Salafistische Prediger Pierre Vogel hatte wie Imam Meyer Islamwissenschaften studiert, ehe er nach seiner Konversion nach Saudi-Arabien ging, um sich an der Universität von Mekka in der rigoristischen, fundamentalistischen Spielart des Islam zu schulen. Er kommt als „Abu Hamza“ aus Saudi-Arabien zurück. Im Arabischen nennt sich Vogel auch „Saladin“, von seinen Bewunderern wird er als der „muslimische Eroberer Deutschlands“, fatih almanya, bezeichnet. Er gilt als Koran-Autorität. Völlig zu Unrecht, findet Imam Meyer. O-Ton Imam Meyer Man muss schauen, was für eine Wirkung hat dieser Mensch. Was für eine Wirkung hat das auf ein Herz, wenn man mit ihm zusammen ist. Da gibt es die Aufputschenden, das ist nicht religiös in dem Sinne. Sprecherin Barbara Stoll Hierzulande verteilen Salafisten in ihren berüchtigten „Lies mich“ – Aktionen den Koran, filmen Übertritte junger Deutscher – wo nur möglich, als Massenübertritte, vorzugsweise auf öffentlichen Plätzen – und stellen die Videos ins Internet, als Zeichen des Sieges der „einzigen wahren Religion“. Machtdemonstrationen wie diese haben für Imam Meyer aber nichts mit der spirituellen Dimension des Islam zu tun. Sprecherin Barbara Stoll Imam Meyer muss sich im Gefängnis täglich mit dem salafistischen Zerrbild des Islam auseinandersetzen. O-Ton Imam Meyer Das hat die Islamwissenschaft wahrscheinlich wirklich erst im 21. Jahrhundert gemerkt, dass der Wahabismus nicht der Urislam ist. Das hat auch die Annemarie Schimmel noch vertreten: Dass der Wahabismus am nächsten dran ist am Ursprung, und der Sufismus so eine Randerscheinung ist. Das seh ich komplett anders. Sprecherin Barbara Stoll Dagegen hält Meyer den Sufismus, diesen mystischen Weg der liebenden Hingabe, für die eigentliche Herzkammer, die Seele des Islam. O-Ton Imam Meyer Und deswegen waren am Anfang natürlich alle Gelehrten Sufis. Die Sahābas, die Gefährten des Propheten. Darum haben die Gelehrten, wenn sie eine Fatwa gegeben haben, immer dran geschrieben: „Allahu Alam, Allah weiß es besser“, und nicht: Wir wissen alles, und ihr wisst nichts. Das ist ein wichtiger Punkt. Man hat Gott gefürchtet. Sprecherin Barbara Stoll Gegenüber der hasserfüllten Ideologie des Salafismus und seiner Lehre vom „heiligen Glaubenskrieg“ gegen die Ungläubigen hält Meyer den Sufismus gewissermaßen für so etwas wie ein Gegengift. O-Ton Imam Meyer Wenn das Herz nicht gereinigt ist, versteht man den Koran nicht. Wichtig ist, das Herz zu reinigen. Das ist das Zentrum in der Religion. Das ist der „große Dschihad“, so nennt man das. Wir kehren zurück vom kleinen Dschihad zum großen Dschihad, das ist ein großer Ausspruch des Propheten, Friede sei mit ihm. Und der große Dschihad besteht darin, seinen inneren Schweinehund zu bekämpfen. Ist ja auch schwierig, Nachts aufzustehen zum Gebet. Musik: Kudsi Erguner, „Zikr“ von der CD „Sufi Musik from Turkey“ Sprecherin Barbara Stoll Gott wird im Koran als der „Besitzer der Schönsten Namen“ beschrieben. Die Anrufung der berühmten 99 Gottesnamen wie „strenger Richter“, „Barmherzigster“, oder aber auch „bester Ränkeschmied“ spielen in der sufischen Frömmigkeit eine kardinale Rolle. Die meditative Übung des Gottgedenkens, „Dhikr“ genannt, ist für Imam Meyer im Grunde nur das, wonach es ihn selbst verlangt: Den Namen des Geliebten zu wiederholen. O-Ton Imam Meyer Natürlich, Dhikr ist ständige Praxis, eine der Hauptbestandteile. Morgens vor Sonnenaufgang eines Stunde. Jedes Gebet ist nährend, keine Pflicht. Gebet und Dhikr, das heißt ja „Erinnerung an Gott“. Und dann gibt es immer noch Rezitationen einer Sure oder der Gottesnamen. Und dann das wöchentliche Dhikr in der Freitagsnacht. Das sind die Werkzeuge für das tägliche Leben auch. Sprecherin Barbara Stoll Meyer trägt den Turban und das Gewand des Naqschbandi-Ordens, und den muslimischen Namen Hossamuddin, d.h. „der, der die Geister unterscheiden kann wie ein scharfes Schwert“. O-Ton Imam Meyer Namen sind eine sehr wichtige Sache im Islam. ... Ich hatte mal ne Bekannte, die hieß Dolores, und der ging es immer schlecht. Deswegen soll man immer gute Namen nehmen. ... Im Islam sagt man, jeder Mensch hat in der himmlischen Gegenwart sieben Namen. Und wenn man mit einem dieser Namen angesprochen wird, spürt man die Verbindung zu den Himmeln. Lustigerweise, wenn man jetzt sieht, in meinem Pass steht Horst Martin. Und jetzt heiße ich Hossamuddin, das ist ja fast gleich. Sprecherin Barbara Stoll Verliehen hat ihm den muslimischen Namen Scheik Nazım Kıbrısi, eben jenes legendäre Oberhaupt der Naqschbandis. Bis zu seinem Tod 2012 zog er Pilger aus der ganzen Welt an. In seiner Gemeinschaft genoss er dieselbe herausragende Stellung wie der Prophet in seinem Volk. O-Ton Imam Meyer Der Mann war sicherlich der beeindruckendste Mensch meines Lebens überhaupt. Für viele Tausende auch, ich weiß nicht, ob es so einen Menschen in diesem Jahrhundert überhaupt noch einmal gab. Ein Mensch, der den Propheten – Friede sei mit ihm – repräsentiert hat. Der bis ins letzte Detail das gelebt hat, der dem Propheten so verbunden war, daß sich um ihn herum alles so manifestiert hat, wie es bei dem Propheten war, Friede sei mit ihm. Also erstaunlich, unglaublich. Selbst mein Vater der war dort, für den war das der lebendige Jesus, auch mein Vater hat gesagt: Ich hab noch nie einen so beeindruckenden Menschen gesehen. Das war so ein starkes Ladegerät, daß man den Eindruck hatte, man schließt sich an ein Elektrizitätswerk an. Man kommt da an, sein Haus ist direkt neben der Moschee, er kam damals zu allen Gebeten runter, hat am Anfang sogar noch mit den Leuten gegessen in der Moschee, die Leute kamen von überall: Chile, Japan, Malaysia, Pakistan, England. Einfach nur, um ihm einmal in die Augen zu schauen, und dann beglückt wie nie zuvor im Leben wieder nach Hause zu fahren. Ich hab das mehrmals beobachtet, auch am Schluss noch, da konnte er nicht mehr so dabei sein bei den Gebeten, das konnte er körperlich nicht mehr, er war schon über 90, man durfte aber am Ende seines Aufenthalts kurz in sein Zimmer, mit ihm noch ein paar Worte wechseln, und wenn man dann die Leute beobachtet hat, wie die reingegangen sind und wie die wieder rausgekommen sind. Die sind besorgt reingegangen und total erleichtert wieder rausgekommen. Einer sagte zu mir, ein Muslim aus Libyen, der in London wohnt, es ist als ob eine Paranoia, die immer in meinem Leben vorhanden war, komplett weg ist. Das hat man ihm im Gesicht angesehen. Und da konnte man sehen, wie er aus verschiedenen Sphären sprach. Einmal persönlich, einmal göttlich, und er hat dadurch die Leute natürlich auch abliften können. Sprecherin Barbara Stoll Die erhebende Begeisterung, die aus Imam Meyer spricht, wenn er von nächtlichen Gebeten oder mystischen Begegnungen erzählt, ist dieselbe Begeisterung, die Hadayatullah Hübsch bei seiner Nacherzählung der „Nacht der Herabsendung“ empfunden haben muss. Zitator Jonas Baeck (Hadayatullah Hübsch, Keine Zeit für Trips) Darauf nahm er sein Herz heraus, um es mit dem Wasser des Brunnens Zamzam zu waschen. Daraufhin weckte der Engel Gabriel den Propheten, nahm ihn bei der Hand und führte ihn zur Kaaba. In der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem trifft sich Muhammad mit den Propheten Moses, Abraham und Jesus zum Gebet – ist der Islam doch die Religion aller Propheten, keiner von ihnen hatte je eine andere Religion verkündet. Der Prophet schoss in die Himmel. Der Engel Gabriel und der Prophet rasten durch weitere Galaxien, bis sie das Ende des Universums erreichten. Allah erlaubte dem Propheten, die Grenze zu den höchsten Himmeln zu überschreiten, um direkt mit Ihm sprechen zu können. Nachdem sie die sieben Himmel durchmessen hatten, kehrte der Prophet wieder in sein Bett zurück, das er noch immer gewärmt vorfand. Musik: Dhafer Youssef, „La Nuit Sacrée“ von der CD „Electric Sufi“ 3. Stunde Musik: Kudsi Erguner, „Camel“ von der CD „Islam Blues“ Sprecherin Barbara Stoll Der Münsteraner Theologe Mouhanad Khorchide betont in seiner Koran-Lesart die Beziehungsqualität zwischen Gott und Mensch. Ähnlich haben muslimische Mystiker den Koran schon immer verstanden: als Einladung zu einer intensiven Freundschaftsbeziehung. Ja mehr noch, als das Versprechen auf eine Liebe, die auf Gegenseitigkeit beruht. In dem Nachtgebet des persischen Sufi-Dichters Dschellaledin Rumi wurde diese mystische Gottesliebe schon im 13. Jahrhundert auf die Spitze getrieben. Zitator Josef Tratnik (Rumi Gebet) ‚O Gott!’ rief einer viele Nächte lang, Und süß ward ihm der Mund von diesem Klang. ‚Viel rufst du wohl’, sprach Satan voller Spott. ‚Wo bleibt die Antwort ‚Hier bin ich’ von Gott? Nein, keine Antwort kommt vom Thron herab! Wie lange schreist du noch ‚O Gott!’? Laß ab!“ Als er betrübt, gesenkten Hauptes schwieg, Sah er im Traum, wie Khidher nieder stieg Und sprach: „Warum nennst Du Ihn nicht mehr? Was du ersehnst, bereust du es so sehr?“ Er sprach: „Nie kommt die Antwort: „Ich bin hier.“ So fürchte ich, er weist die Türe mir!“ „Dein Ruf „O Gott“ ist Mein Ruf ‚Ich bin hier!“ Dein Liebesschmerz ist Meine Huld für Dich - Im Ruf „o Gott! Sind hundert „Hier bin ich!“ Sprecherin Barbara Stoll Die Bedeutung des Wortes „Islam“ ist „ausschließliche und vollkommene Hingabe an Gott“. Und es waren immer die Mystiker, die sich in dieser totalen Hingabe übten: Tintenfässer zerbrechen, jenseits der Worte kommen, Entwerden, sich vom himmlischen Geliebten ganz absorbieren lassen wollten. Feststellungen wie „Er liebt sie und sie lieben ihn“ aus Koran 5, Vers 54; Aufforderungen wie „Wirf dich nieder und komm näher“, wie in Sure 96, Vers 19 gefordert wird; oder das Versprechen aus Sure 50, Vers 16, Gott wisse, was sich der Mensch im Innersten selbst zuflüstere, denn Gott sei dem Menschen „näher als seine eigene Halsschlagader“ – Koranverse wie diese werden den Mystikern mit Vorliebe zum Gegenstand ihrer Meditation. In ihrem Standardwerk „Mystische Dimensionen des Islam“ schreibt die große Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel: Zitatorin Edda Fischer Der Sufismus gewinnt seine Inspiration aus dem göttlichen Wort, wie es im Koran geoffenbart wird. Für jeden Muslim, und ganz besonders für die Mystiker, war der Koran das „einzigartige Lexikon, das grundlegende Textbuch“. Die Worte des Korans haben den Eckstein für alle mystischen Lehren gebildet. Die Mystiker haben eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der koranischen Wissenschaften gespielt; ihre hermeneutischen Methoden reichen von einfacher wörtlicher Interpretation zu symbolischer und allegorischer Exegese, ohne jedoch den Wert des äußeren Sinnes der koranischen Worte zu leugnen. Sprecherin Barbara Stoll Die Sufis wähnen sich ganz in der Tradition des Koran - und seines Verkünders. Aussprüche wie „Sterbt, bevor ihr sterbt“, die Mohammed zugeschrieben werden, lassen den Religionsstifter in den Augen der Mystiker auch als Mystiker erscheinen. Mehr noch, als Vater aller Mystik. Mohammed wird als erstes Glied in der geistigen Kette des Sufismus interpretiert, als schönstes Beispiel, als idealer Führer. Denn wie er als Analphabet den Koran empfangen haben soll, als leeres Gefäß, ganz ohne sein Zutun, so wollen sich auch die Mystiker entleeren und Gottes Offenbarungen empfangen. Milad Karimi, Islamwissenschaftler in Münster, sieht die persische, nicht die arabische Literatur als den wichtigsten Vermittler des Sufismus nach Europa. In seinen Augen spielt das Gesamtwerk des persischen Dichters Hafiz – mit dem Goethe in seinem „West-Östlichen Diwan“ einen Wechselgesang anstimmte – oder auch Rumis „Mathnawi“ insgeheim ständig auf den Koran an. O-Ton Milad Karimi Die gesamte mystische Tradition, der berühmte Rumi, sein Werk hat den Titel „Persischer Koran“. Weil er eigentlich alles koranische in einer völlig anderen Sprache wieder vermittelt: In persischer Poesie. Das ist, was Sie in der islamischen Mystik überall sehen. Jedes Werk islamisch-mystischer Prägung ist Zwiesprache mit dem Koran. Von seinem ersten Wort seines Opus Magnum von Rumi bis zum letzten Wort ist das eine Anspielung auf den Koran. D.h. nur wer den Koran kennt, kann diese gesamten literarischen Traditionen im Islam lesen. Ob es Uigurisch, Urdu ist, Paschtu ist, Persisch ist, Arabisch ist: ein internalisierter Koran ist immer dabei. Sprecherin Barbara Stoll Dschellaledin Rumi hat über die äußere und die innere Dimension des Korans geschrieben: Zitator Jonas Baeck (Dschellaledin Rumi) Der Koran ist ein doppelseitiger Brokat. Einige genießen die eine Seite, andere die andere. Beide sind wahr und richtig, in gleicher Weise, wie eine Frau einen Gatten und einen Säugling hat. Der Säugling hat Genuss an Brust und Milch, der Gatte an Kuss und Umarmung. Manche Menschen sind Säuglinge auf dem Pfad, und Milchtrinker; sie haben Freude am wörtlichen Sinn des Korans. Aber jene Männer, die Vollkommenheit erreicht haben, genießen den Koran von seiner inneren Bedeutung her. Sprecherin Barbara Stoll Das „Mathnawi“, das Hauptwerk Maulana Dschelaleddin Rumis, gehört zu den wichtigsten Werken innerhalb der sufischen Tradition. Es beginnt mit dem berühmten Klagelied der Ney – dem Motiv des Trennungsschmerzes von Gott, für das er in seinem dichterischen Werk unzählige Variationen gefunden hat. Musik: Kudsi Erguner, „Moonrise” von der CD “Islam Blues” Zitator Jonas Baeck Hör auf der Flöte Lied, wie es erzählt / Und wie es klagt, vom Trennungsschmerz gequält: Seit man mich aus der Heimat Röhricht schnitt / weint alle Welt bei meinen Klagen mit. Die Flöte ist der Freund all derer, die von ihrem Freund getrennt; die Flötentöne sind aus Wind nicht, sind aus Feuer, die Melodien zerreißen alle Schleier. O meine Freunde, hört: dies ist in Wahrheit unser Wesen. Sprecherin Barbara Stoll Laut Überlieferung wurde Rumi vor 800 Jahren in Balch im heutigen Afghanistan geboren. Er wirkte im heutigen Zentralanatolien. Das Mathnawi – der „persische Koran“ - ist ein Gebilde spontaner Wucherung. Es ist nicht systematisch aufgebaut, besteht aus zahllosen kunstvoll ineinander verschlungenen Parabeln. Die Verse gleiten ineinander, Gedanken werden durch Wortassoziationen weitergesponnen. Im Persischen Original klingt das wie Musik. Die Vielschichtigkeit der 26.000 Verse macht das Mathnawi aber vor allem für den abendländischen Leser schwer durchschaubar. Rumis Werk ist durch einen gewissen Synkretismus gekennzeichnet. Der überkonfessionell orientierte Sufismus war auch einer der Gründe, warum der Islam bei seiner Ausbreitung von anderen Kulturen bereitwillig aufgenommen wurde. Noch heute kann man sehen, wie stark seine spirituellen Lehrgedichte im Alltag der Gläubigen verwurzelt sind. Zitator Jonas Baeck Dreh mich, wie ein Wasserrad den Mühlstein dreht. Wasser in Hülle und Fülle, ein lebendiger Fluss. Halt mich fest an einem Ort, und streu die Liebe ziellos aus. Ich falle hinauf in die Himmelsschüssel. Die Schüssel zerbricht. Überall fällt überallhin. Alle Teile der Welt sind verliebt. Aber sie verraten ihre Geheimnisse nicht: Kühe, die auf einem Altartisch grasen, Ameisen, die in Salomos Ohr flüstern, Berge, die ein Echo murmeln. Wär die Sonne nicht verliebt, dann hätte sie keine Helligkeit. Blicke unverwandt auf zu ihr. Sei ein Liebender wie sie, damit du allmählich deinen Geliebten kennen lernst. Musik: Kudsi Erguner, „Camel“ von der CD „Islam Blues“ Sprecherin Barbara Stoll Für Sufis ist ein Augenblick der wahren Gotteserkenntnis mehr wert als ein ganzes Leben bloßer religiöser Pflichterfüllung. Dazu praktizieren Sufis eine tiefere, allegorische, manchmal beinahe „spekulative“ Lesart des Koran. Letztlich blieben „Worte an der Küste“, sagt der andalusische Sufi-Meister Ibn Arabi, es gelte, hinauszuschwimmen und jenseits selbst noch der Worte „Gott“ oder „Islam“ zu kommen. Selbst das offenbarte Wort kann also letztlich nur auf eine Erlebnisdimension verweisen. Zitator Jonas Baeck Tauche ein in das Meer des Koran, wenn dein Atem kräftig genug ist. Wenn nicht, würdest du ertrinken. Denn das Meer des Koran ist tief, und wenn derjenige, der in ihn eintaucht, nicht nahe dem Ufer bliebe, er kehrte niemals wieder zurück. O-Ton Stefan Weidner Ibn Arabi hat sich natürlich ständig auf den Koran bezogen, hat einen eigenen Koran-Kommentar geschrieben, sein Hauptwerk ist praktisch immer inspiriert von bestimmten Koranversen, er ist der Kabbalist des Islam, könnte man sagen, seine Verse sind wie der Koran in Reim-Prosa abgehalten. Es wird auch die sprachliche Gestalt des Korans nachgeahmt. Sprecherin Barbara Stoll Ibn Arabi hat auch die Nachtreise des Propheten Mohammed nacherzählt, auf liebenswürdige, fast verschmitzte Art. Stefan Weidner: O-Ton Stefan Weidner Ich kann mich an eine Szene erinnern, die traditionelle Nachtreise im Islam ist ja, dass Mohammed mit Burak, dem geflügelten Pferd, von Mekka nach Jerusalem reist und bei Gott eine Zwischenlandung einlegt, und dann kommt er nach Jerusalem, und landet dort, so erzählt es Ibn Arabi, das ist also die phantastisch ausgemalte Himmelsreise, landet dort mit seinem Pferd und muss sich jetzt fragen, dieses Himmelspferd muss ich doch nicht festmachen, oder? Und dann sagt eben Ibn Arabi: natürlich musst du es nicht festmachen, aber es ist üblich, es festzumachen, also mach es doch einfach fest...! Sprecherin Barbara Stoll Die Lehre vom idschaz, der Schönheit und Vollkommenheit der Koranischen Sprache, ist ein Topos in der islamischen und besonders in der mystischen Tradition. Nicht nur in der inhaltlichen Botschaft, sondern gerade in der formalen Unübertrefflichkeit des Korans sieht man auch einen Beweis für die Echtheit der Offenbarung. Einspielung: Koranrezitation, 1. Sure, Mishary Rashid Al Afasy „The Holy Qur'an“ Sprecherin Barbara Stoll Natürlich wurde auch dem Propheten selbst eine besonders schöne Stimme zugeschrieben. Laut einer Hadith-Überlieferung soll er an der Kaaba mit weicher Stimme gesungen haben, tremolierend, Buchstabe für Buchstaben, mit besonders gedehnten Vokalen. Es heißt, bis dato noch unbekehrte altarabische Dichter hätten sich von Mohammeds Gesang unwiderstehlich angezogen gefühlt. Und heimlich damit begonnen, in der Nähe von Mohammeds Haus herumzuschleichen, um etwas von seiner Koran-Rezitation zu erhaschen. Der Autor Navid Kermani erzählt die Anekdote in seinem Buch „Gott ist schön“: Zitator Jonas Baeck (z.n. Navid Kermani, Gott ist Schön) Eines Nachts kamen Abu Gahl, Abu Ufyan und al-Ahnas ibn Sariq unbemerkt voneinander zum Haus des Gesandten Gottes und versteckten sich, um der Rezitation des Koran zu lauschen, denn der Gesandte Gottes pflegte in seinem Haus das Nachtgebet zu verrichten. Die ganze Nacht verharrten die drei an ihrem Platz hinter der Mauer. Als der Morgen graute, verließen sie ihr Versteck, um aufzubrechen, doch auf der Straße stießen sie aufeinander. Schließlich sagten sie: „Es bleibt uns nichts übrig, als ein Gelübde abzulegen, dass wir das nie wieder tun.“ - Doch am nächsten Abend kehrten alle drei Männer unbemerkt von einander wieder zu ihrem Versteck zurück und lauschten bis zum Morgengrauen der Rezitation. Sprecherin Barbara Stoll Ist der Koran der Sufis also kein Gesetzbuch, sondern vor allem ein ästhetisches Gebilde, so etwas wie Poesie? Milad Karimi: O-Ton Milad Karimi Ich würde das bejahen. Der Koran ist durch und durch poetisch. Aber keine Lyrik. Der Koran ist kein Gedicht. Aber gedichtet. Im Arabischen Kontext gibt s ganz klare Definitionen, was ein Gedicht ist, wie es aufgebaut sei muss, der Koran ist etwas anderes, der passt sozusagen in kein Gefäß, der Koran lässt sich nicht einfangen. Dennoch ist die ganze Stimmung lyrisch. Sprecherin Barbara Stoll Es gibt Verse im Koran, die sind dunkel, geradezu mysteriös. Der vielleicht berühmteste und vieldeutigste von ihnen ist der „Lichtvers“, Sure 24, Vers 35: Rezitation: Ali Taha, 24. Sure, Lichtvers, Der Koran, Hoffmann & Campe Hörbuch, CD2, track 2 Zitator Josef Tratnik Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. Das Gleichnis Seines Lichtes ist das einer Nische In der eine Lampe brennt, Eine Lampe in einem Glas Und das Glas funkelt wie ein Stern Angezündet von einem gesegneten Baum Einem Ölbaum, weder östlich noch westlich Dessen Öl beinah leuchtet Auch wenn kein Feuer es berührt „Licht über Licht!“ Gott leitet zu seinem Licht, wen er will Und Gott prägt die Gleichnisse für den Menschen. Und Gott ist aller Dinge wissend. Sprecherin Barbara Stoll Sie mag leicht verstörend wirken, die rätselhafte Bildlichkeit von einem Licht, das zunächst nur in einer Nische leuchtet, oder das surrealistische Bild vom „gesegneten Baum“, der das Licht „angezündet“ hat. In den „Lichtvers“ ist viel hineingedeutet worden, die Lichtmetaphorik beschäftigte vor allem Mystiker, die davon träumten, in Gott zu vergehen wie die Motte in die Flamme stürzt. Ein anderes, ganz kurzes Beispiel für die Dunkelheit des Korans, seine Suggestivkraft und Tiefe, die nicht auf den Begriff zu bringen ist, ist Sure 101, „Die Pochende“: Zitator Josef Tratnik Die Pochende. Was ist die Pochende? Was macht dich wissen, was die Pochende ist?“ Sprecherin Barbara Stoll Es mag ein Leben dauern, Zugang zu diesen Versen zu finden. Immer wieder gibt es im Koran solche unvollendeten Sätze, Sprachsplitter, Redundanzen. Manchmal wirkt das Sprechen wie Stammeln, unendliche Anläufe gegen die Unmöglichkeit, etwas Unsagbares zu sagen, wie ein sprachlich verfasstes „Traumgewirr“. Das ist wahrlich nicht leicht zu übersetzen. Oft hat man schon versucht, den Koran ins Deutsche zu übertragen. Doch scheint es Karimi, damit sei er bei weitem nicht ausgeschöpft. O-Ton Milad Karimi Die gängigste Übersetzung, die bis heute in der Islamwissenschaft Geltung hat, ist die von Rudi Paret. Ein unglaublich wichtiger und kluger Arabist, übersetzt aber den Koran unglaublich langweilig. Ich wette mit ihnen, dass Sie nicht zwei Seiten des Korans lesen, ohne drei mal gegähnt zu haben. Nach jedem Wort eine Klammer, ein Fragezeichen. Möglichkeiten, Schwierigkeiten, Sie stolpern bei jedem Wort. Da wird das Lyrische, da wird das poetische, das fließende Moment vollkommen verloren. Da haben Sie philologisch viel herausgearbeitet, aber was verloren geht, ist der Geist dieser Sprache. Sprecherin Barbara Stoll In der deutschen Orientalistik galt die Lehre von der „einzigartigen Schönheit“ des Korans lange als Kuriosum. Was auch der sprachlichen Sprödigkeit der ersten Koran-Übersetzungen liegen mag. Am ehesten ließ noch die bruchstückhafte Übertragung des Dichter-Orientalisten Friedrich Rückert seine ästhetische Faszination im Deutschen nachempfinden. Z. b. in der Sure: Zitator Josef Tratnik Bei den schnaubend Jagenden, Mit Hufschlag Funken schlagenden, Den Morgenangriff Wagenden, Die Staub aufwühlen mit dem Tritte Und dringen in des Heeres Mitte! Ja, der Mensch ist gegen Gott voll Trutz, Was er sich bezeugen muß Und liebet heftig seinen Nutz. O weiß er nicht, wann das im Grab wird aufgeweckt, und das im Busen aufgedeckt, dass nichts vor ihrem Herrn dann bleibt versteckt? O-Ton Milad Karimi Rückert ist natürlich ein Meister. Weil er als Romantiker genau den Sinn für Form entdeckt. Er merkt: der Koran klingt! So legt er eine Teilübersetzung des Korans vor, die uneinholbar schön und klug bleibt, philologisch oft fraglich, aber dafür hat er einen Klang, der sehr dem nahe kommt, was auch im Arabischen erklingt. Sprecherin Barbara Stoll Wenn es um den ästhetischen Charakter des Korans geht, gerät Karimi ins Schwärmen. Über Gewalt und Zartheit, Klage und Hymnen, Zwischentöne, Atempausen. Auch er selbst hat sich an einer Koran-Übersetzung versucht. Die entstand wesentlich vom Hören her. Mit jeder klanglichen Einheit klopfte er auf den Tisch, zählte die Hebungen, verglich sie mit dem Arabischen. Tagelang konnte ihn ein einfaches Wort wie „Nacht“ beschäftigen. Weil „Nacht“ eher dunkel klingt, fast hart und bedrohlich. Während das arabische Wort „leil“ zerbrechlich, nahezu sehnsüchtig wirkt. O-Ton Milad Karimi Ich habe den Koran übersetzt oder zumindest versucht, ihn zu übersetzen. Der Koran hat einen eigenen Rhythmus, eine eigene Melodie. Die Wortfolgen haben Sinn und Bedeutung. Darauf habe ich geachtet. Ich habe auch von der Schönheit und Reichhaltigkeit der deutschen Sprache her den Koran übersetzt. Ich habe immer wieder Hölderlin und Rilke gelesen, um zu sehen, wo sind die Grenzen der deutschen Sprache. Sprecherin Barbara Stoll Welches Wohlgefallen das Rezitieren der Suren auslösen kann, davon gibt der Koran in Sure 39 schon selbst Zeugnis. Vers 23 lautet in der erst jüngst erschienenen Übersetzung Hartmut Bobzins so: Einspielung: Mashary Rashid Al Afasy, Koranrezitation, 39. Sure, Vers 23 Zitator Josef Tratnik Gott sandte den schönsten Bericht herab, ein Buch voll Ähnlichkeiten und Wiederholungen; seinetwegen kräuselt sich die Haut derer, die ihren Herrn fürchten. Darauf wird ihre Haut geschmeidig, während sich ihre Herzen dem Gedenken Gottes zuneigen. Sprecherin Barbara Stoll Bahnbrechend für dieses gänsehautartige Gespür für eine ästhetische Dimension des Korans war in jüngerer Zeit Navid Kermanis brillante Monografie „Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran“. Dieses Buch – in der Tradition des ägyptischen Islamwissenschaftlers Nasr Hamid Abu Zaid geschrieben – lässt ahnen, warum Menschen überall in der islamischen Welt den Koran mitsingen, Wort für Wort und Ton für Ton. Atmo Straßen + Rezitation Zitator Jonas Baeck (Navid Kermani, Gott ist Schön) Verblüfft haben mich auch jedesmal die Antworten ägyptischer Taxifahrer, wenn ich sie fragte, weshalb sie mitten im Verkehrsstau und in brütender Hitze ausgerechnet eine Kassette mit Koranrezitationen aufgelegt haben. Nicht die Erbaulichkeit der Worte, nicht die eigene Frömmigkeit; vielmehr hörte ich als Antwort immer wieder: Es ist so schön! Sprecherin Barbara Stoll Was der Koran für Muslime ist, was er ihnen bedeutet, hat auch mit diesem Hörerlebnis zu tun. Selbst diejenigen, die sich der Botschaft verweigerten, kapitulieren endlich vor der sirenenhaften Schönheit des Korangesangs. Besonders in der mystischen Tradition sind Geschichten darüber beliebt, wie die Rezitation des Korans regelrecht ekstatische Reaktionen hervorruft, Erfahrungen des Hingerissenseins, der Verzückung, der Selbstvergessenheit und Entwerdung, von Zusammenbrüchen, von Tränen fast erstickt. Die Koranrezitation soll immer wieder auch zu Ohnmachten geführt haben, der Prophentengefährte al Harasi soll sogar vor Erregung tot umgefallen sein. Navid Kermani: Zitator Jonas Baeck (Navid Kermani, Gott ist Schön) Es gibt ein ganzes Buch der vom „erhabenen Koran Getöteten“. Ein Zitat aus einem Text, ein Vers, der Ton eines Instruments, selbst der bloße Ruf zum Gebet, das Marktgeschrei des Wasserträgers oder des Gurkenverkäufers, das Rufen eines Kameltreibers, das Geblöke eines Schafes oder das Rauschen des Windes soll in manchen Fällen genügt haben, einen Mystiker in Ekstase oder Ohnmacht zu versetzen. Sie weinten oder stießen Schreie des Entsetzens und der Freude aus, sie gerieten in Verzückung, warfen sich wimmernd zu Boden oder verloren wie vom Blitz getroffen das Bewusstsein. Sprecherin Barbara Stoll Natürlich haben Erzählungen wie diese auch einen wichtigen apologetischen Zweck. So wird die Koranrezitation auch zum wichtigsten Mittel der Missionierung. Während häufig politische, weltanschauliche, oder sogar militärische Gründe für die Ausbreitung des Islam verantwortlich gemacht werden, würden Muslime als Ursache dafür immer die Unwiderstehlichkeit des Koran an erster Stelle nennen, seine Schönheit, Anmut und Süße. Milad Karimi: O-Ton Milad Karimi Ein und dieselbe Sure des Korans kann ganz unterschiedlich verlautbart werden. Sehr stimmungsvoll, gewaltig und wuchtig, oder sehr zart, zerbrechlich und fragil. Ganz andere Empfindungslandschaften öffnen sich in uns, je nachdem, wie der Koran zum Vortrag gebracht wird. Um Koranrezitator zu werden, muss man schon bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Wie zum Beispiel eine schöne Stimme zu haben. Ich wäre einfach nicht geeignet dafür. Es gibt z. b. Mishary, der noch lebt, der ist ein Pop-Star, weil er das Ganze aber auch sehr leicht macht. Koran light. Das kann man immer beim Autofahren hören. Um Kinder zum Einschlafen zu bringen. Der macht so was wie ... (rezitiert) Sie hören, so ein „aah“. Sie können aber auch auf andere Art vortragen . ... (rezitiert) hier bebt etwas. Es gibt auch eine eigene Sure, wenn es um das Beben geht, dann hört es sich auch wie Beben an. Oder wenn es um den Gang eines Tieres geht, dann hört sich auch dieser Vers so an. Oder wenn es um Helligkeit geht, um Glanz geht, hört sich dieser Vers auch genauso lautmalerisch an. Wie (– rezitiert –) die Sonne, die im Glanze schreitet. Der Tag glänzt, die Nacht dunkelt. Da kommt etwas bereits auf der ästhetischen Ebene an. Der Zorn Gottes: Kahaarr! Der Bezwinger Dschabaarr! Aber der Barmherzige: Rahiim, Rahmaan. Hören Sie?! Sprecherin Barbara Stoll Der Islamwissenschaftler Bernhard Uhde hat einmal geschrieben, der Koran besitze eine Familienähnlichkeit mit der Oper, weil Text, Stimme, Melodie, Spiel, Rhythmus, Klang, Gesang, Poesie, Theatralik wie in einem Gesamtkunstwerk aufgeführt werden. So dass die Zuschauer von Emotionen, zarten Berührungen, von der Tragik und zuweilen auch Komik, Vertrautheit und Fremdheit ergriffen würden. Milad Karimi hat bei Bernhard Uhde studiert. O-Ton Milad Karimi Wenn Sie nur ein Libretto lesen, und Sie meinen zu wissen, was für ein Opernstück das ist. - Da kann man diese Inhaltsangabe kritisieren. Aber ein Opernstück kennt man nur, wenn man live dabei gewesen ist! Dieser Stimmung beiwohnt. Er wird gespielt. Das ist eigentlich der Koran. Das macht diese Rezitation aus. Etwas, was Gegenwart schafft. Einspielung Rezitation: Qari Barakatullah Saleem, 1. Sure, Sprecherin Barbara Stoll In Ägypten sind die berühmten Koranrezitatoren wahre Pop-Stars. In den 1960er Jahren hat es im Kairoer Viertel al-Madbah bei einer Schlägerei Tote gegeben, weil sich die Anhänger eines Rezitators abfällig über einen anderen geäußert hatten. Die Darbietungen der bekannten Koranrezitatoren sind bis heute gesellschaftliche Großereignisse. Einem Konzert nicht unähnlich - besucht von Christen wie Muslimen, atheistischen Kunstliebhabern wie Frommen. Navid Kermani beschreibt eine Koranrezitation, die mit all den Zurufen der Hörer, mit Händeklatschen und Seufzern des Genusses ebenso gut als Konzert hätte durchgehen können. Zitator Jonas Baeck (Navid Kermani, Gott ist schön) Wie soll man es nennen, wenn der Rezitator - angetrieben von den Zurufen der Hörer – „Allah yafih alek“, ‚Gott schütte deinen Segen über dich’, ist da schon mal zu hören, „ya bulbul en-nil“, ‚Oh Nachtigall des Nils’, oder „hudna ma’ak“, ‚Nimm uns mit – wenn der Rezitator sich zu immer neuen Klanghöhen aufschwingt, wenn er gar einen Vers wiederholt, weil die Zuhörer ihn in spontanen Freudenausbrüchen darum bitten? Ist es etwa keine Musik, wenn ein Sänger singt und die Zuhörer ihm im Chor „Allah“ antworten, so dass tatsächlich so etwas wie Rhythmus alle Anwesenden erfüllt? Sprecherin Sufis gibt es in Ägypten wie in der Türkei, in Marokko oder Pakistan. Navid Kermani hat in seinem Reportagen-Band „Ausnahmezustand“ von 2013 die große Lebenskraft dieser immer wieder angefochtenen, doch machtvollen Unterströmung des Islam eingefangen. Gerade im Grenzland zwischen Indien, Afghanistan und Pakistan haben sufische Wanderderwische auch starke eigene Musiktraditionen hervorgebracht, wie den „Qawwali“, einen Gesangsstil, der aus der homophonen Rezitation der Gottesnamen besteht. Die gottesdienstlichen Aufführungen des Qawwali finden traditionell an Sufi-Schreinen statt. Doch der pakistanische Sänger Nursrat Fateh Ali Kahn hat diese Spielart des Sufi-Gesangs auch im Westen bekannt gemacht. Musik: Nusrat Fateh Ali Khan, „Mustt Mustt“ (Lost in His Work) von der CD “Mustt Mustt” Zitator Jonas Baeck (Navid Kermani) Was ist das für ein Rhythmus? So konzentriert ich auf meine Schenkel tippe, zähle ich eine Folge mal aus neun, mal aus elf, mal aus sechzehn rasenden Schlägen, die mich, den Außenstehenden, in die Musik hineinziehen, so dass für Sekunden oder Minuten das Denken aussetzt, ich den Friedhof am Schrein des Schah Djamal in Lahore nicht mehr wahrnehme, obwohl meine Augen geöffnet sein müssen, da ich die gewaltigen Trommeln doch sehe, die sich die Musiker um den Hals gehängt haben. Die Oberkörper der vielleicht zweihundert, vielleicht dreihundert Zuschauer wippen, größtenteils Menschen aus den unteren Schichten, Malangs darunter, wandernde Derwische, die wie altgewordene Hippies aussehen. Immer wieder verläßt einer der Brüder den gemeinsamen Rhythmus, steigert sich in ein atemloses Solo, bricht ab, schert wieder ein. „Mast Qualandar“ krächzt der ältere der beiden, Gonga Sain, dessen Ruhm in pakistanischen Sufikreisen sich seiner herausragenden Kunst verdankt; aber wohl auch seiner Erscheinung, so stattlich wie aus einem Abenteuerfilm, riesige schwarze Augen, markante Wangenknochen, lange, schwarzgelockte Haare, Bart und vielfarbige Ketten über dem schneeweißen Gewand. Aus seiner Kehle einzelne Laute, Anrufungen des Heiligen Lal Schabbaz Qualander, der im 13. Jahrhundert lebte. „O berauschter Qualander“. „Dschule Lal“, antworten im Chor die Zuschauer, „roter Tänzer“. Jeder hat seinen eigenen Weg, sich der Musik bis zur Ekstase zu überlassen, schüttelt wild den Kopf oder dreht sich rasend im Kreis, stampft auf den Boden oder springt in die Luft – auf einem Hardrock-Konzert geht es geordnet zu im Vergleich. Doch das hier ist kein Vergnügen, sondern Gottesdienst. Mitgestalten darf nur, wer nicht nur die Rhythmen kennt, sondern auch die Gebete. Sprecherin Barbara Stoll Während in Saudi-Arabien die Wahabiten schon seit Jahrzehnten die Sufi-Schreine konsequent zerstören, und im Iran unter Präsident Ahmadinedschad regelrechte Sufi-Verfolgungen stattfanden, sind es heute in Afghanistan und Pakistan die Taliban, die Krieg führen gegen die mystische Schrein-Kultur. Es ist ein Krieg gegen das Herzstück der eigenen Kultur. Dabei hat Stefan Weidner in einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung am 6. August 2016 darauf hingewiesen, dass Sufismus nicht immer jedem Fundamentalismus widerspricht. Zitator Jonas Baeck (Stefan Weidner, SZ) Vom Anfang des 18. bis weit ins 20. Jahrhundert genoss die islamische Kultur einen ansehnlichen Ruf. Davon ist kaum etwas übrig geblieben. Allein der Sufismus, also die islamische Mystik, scheint noch davon zu zehren. Bereits Goethe hatte den mystischen Aspekt des Islam positiv hervorgehoben. Seither gilt im Westen die liebestrunkene islamische Mystik als positives Gegenbild zu Orthodoxie und religiöser Engstirnigkeit. Aber das Bild der islamischen Mystik als Gegner von Salafismus und Orthodoxie stellt sich komplexer dar. So soll der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gemeinsam mit seinem ehemaligen Weggefährten Fethullah Gülen eine Zeit lang den im türkischsprachigen Teil Zyperns wirkenden Sufi-Meister des Naqschbandia-Ordens, Scheich Nazim, frequentiert haben. Scheich Nazim, so wird kolportiert, habe Erdoğans neuosmanische Visionen jedoch nicht teilen wollen, sodass sich ihre Wege bald trennten. Ein Sufi-Orden ist keine sich von der Welt abschließende Gemeinschaft wie ein christlicher Mönchsorden. Den Sufi-Orden kommt eine wichtige gesellschaftspolitische Funktion zu. Den westlichen Kolonialmächten waren die Sufi-Orden noch ein Dorn im Auge, weil sich aus ihren Kreisen häufig Keimzellen des antikolonialen Kampfes herausbildeten. Heute scheint es dagegen so, als sei der Islam die Drohung und der Sufismus die Rettung — nicht nur für den Islam - vor sich selbst - , sondern auch für den Westen vor der spirituellen Verarmung. Zahlreiche deutsche Autoren der Gegenwart machen keinen Hehl aus ihrer Nähe zum Sufismus — Ilija Trojanow, Christoph Peters, Navid Kermani und Peter Handke sind nur die bekanntesten. Aber findet in dem gleichsam „feuilletonistischen Sufismus der Kultur“ überhaupt noch ein echter Dialog mit der mystischen Tradition statt? Oder dient dieser nur dazu, den eigenen labilen Seelenhaushalt auszuschmücken oder auch zu stabilisieren, ohne ansonsten ernsthafte Konsequenzen für Lebensführung und Weltsicht zu zeitigen? Sprecherin Barbara Stoll Wäre der Feuilleton-Sufismus also nichts, als eine Projektion der eigenen Sehnsüchte? Und das Koran-Verständnis der Sufis ebenso? Kann man den Koran – vermittelt über die Kreativ-Lektüren von Sufis und persischen Dichtern - nicht tatsächlich auch vollkommen zu Recht als modernen, poetischen Text ansehen? Je mehr der Koran als literarisches Werk gewürdigt wird, desto offener wäre er damit wiederum auch für Interpretationen. Stefan Weidner: O-Ton Stefan Weidner Man erkennt die Modernität des Korans insofern, als der Koran ein hermetischer Text ist, als ein hermetischer, das heißt schwieriger, deutungsoffener Text begegnet. Man kann den Koran sogar als „Hypertext“ lesen, als Text, der immer auf etwas anderes verweist, nie stehen bleibt, immer springt, aber das ist überspitzt. Für die moderne arabische Lyrik ist wichtig, dass er sich nicht an eine vorgegebene Konvention hält, wie etwa die traditionelle arabische Lyrik, es ist ein Text, der eine sehr hohe Metaphorik aufweist, eine hohe klangliche Dichte, und eine Deutungsoffenheit. Es ist nötig, dass man ihn interpretiert, er ist nicht automatisch verständlich. Und das führt zu einer bestimmten Parallele zu dem, was moderne oder avantgardistische Literatur und Lyrik machen möchten. Man findet Zitate, Wörter, ein kreatives Spiel mit bestimmten Versen, das ist ein interessantes Phänomen. Sprecherin Barbara Stoll Mit Angelika Neuwirth hat ein neues historisch-kritisches Koranverständnis Einzug gehalten. Stefan Weidner und Navid Kermani würdigen ihn als literarischen Text. Mouhanad Khorchide interpretiert den Koran als Einladung zur Barmherzigkeit. Und Menschen wie Hadayatullah Hübsch, seine Tochter Khola Maryam Hübsch oder der Wiesbadener Imam Hossamuddin Meyer leben es vor, was es heißt, wenn der Koran zum Lebensmittelpunkt wird. Damit wird der Koran zu einem Teil der europäischen Kulturgeschichte. Und zum corpus delicti für die Aussage, daß der Islam zu Deutschland gehört. Wie auch die Geschichte Milad Karimis beweist. O-Ton Milad Karimi Ich glaube, dass der Koran ein Teil des Lebens ist. Ein Teil der Biographie. Es gibt nicht „den“ Koran. Es gibt immer jeweils meinen Koran. Und ich habe eine Geschichte mit meinem Koran, wie jede andere muslimische Seele auch. Mein Leben begann in Kabul, Afghanistan. Dort gehörte der Koran zum Leben. Als Kind, bevor ich eingeschult wurde, war ich in einer Moschee, in einer Koranschule habe ich das Rezitieren des Korans gelernt. Für mich war der Koran „Gesang“. Für mich war der Koran Frieden inmitten des Kriegs. Wir blieben oft in der Moschee stecken, weil wir nicht nach Hause gehen durften, weil gerade ein Raketenangriff in Kabul war. Und als wir flüchten mussten, konnten wir auch nicht unsere Koranausgabe mitnehmen. ... Und auf der Flucht, irgendwann in Moskau, da stecken wir fest. Alles ist unsicher, wir sind in den Händen von Schleppern. In einer Ecke sitzt eine Gruppe von somalischen Frauen. Im Kreis, und rezitieren aus dem Koran. Im Transit. Eigentlich ein Unding, als ob sie im Lärm des Alltags sich einfach hinsetzen und meditieren würden. Und für sie war das keine Show. Dass sie jemandem etwas zeigen oder gefallen wollten. Für sie war das wirklich ein Augenblick des Friedens, der Hoffnung in diesem Flughafen in Moskau. Ich weiß nicht, wer sie waren und was aus ihnen geworden ist. Aber ich werde das nie vergessen, diese Gesichter voller Sehnsucht, voller Zittern, Gottesgedenken. Und da sitze ich auf einer typischen Flughafenbank, und sehe unter dem Stuhl eine ganz kleine Taschenbuchausgabe des Korans in Leder, ich konnte es nicht fassen, für mich war das nicht einfach ein Zufall, sondern erhebend. Statt zwei Wochen sind wir 13 Monate in Moskau geblieben, doch dieser kleine Koran war mein Begleiter auf der Flucht, und das ist auch die Ausgabe, die ich entgegen dem Erwarten meiner Eltern in meinem Koffer versteckt und mit nach Deutschland gebracht habe, diese Koranausgabe liegt auf meinem Nachttisch in Münster, da ist ein gewisses Leben darin. Koran bedeutet für mich Trost, Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit. Im Gedenken Gottes ruhen die Herzen, heißt es im Koran. Und diese Urerfahrung, so etwas scheint der Koran zu sein. Sprecherin Barbara Stoll Der Koran ist in Deutschland angekommen, und auch in der westlichen Populärkultur. Milad Karimi beschäftigt sich intensiv mit koranischen Reflexen in amerikanischen TV-Serien. In „Orange is the New Black“ beispielsweise bringt die Figur der Alex Vause immer wieder einen Koran ins Spiel. Er scheint auch im Gefängnis zu helfen. Oder wie in der Kultserie „Homeland“, wo ein US-amerikanischer Soldat namens Nicholas Brody nach Jahren in der Gefangenschaft von Al-Qaida aus dem Irak zurückkehrt. Er soll möglicherweise „umgedreht“ worden sein. Aber wozu? Zum Terrorismus, oder doch nur zum Islam? Nachts, heimlich, auf die Musik des polnischen Jazzmusikers Tomasz Stańko, holt er etwas aus dem Dunkel hervor, was er offenbar aus dem Irak mitgebracht hat, und was nun auch hier seine Wirkung entfaltet: Der Koran als Gefährt, mit dem es dem Exsoldaten Brody gelingt, sich zu seinem friedlichen Himmelfahrtskommando aufzuschwingen. Wie es Karimi in einem noch unveröffentlichten Text beschreibt: Zitator Jonas Baeck (Karimi) Es ist Nacht. Alles Leben ruht. So scheint es. Ein Mann wird von Unruhe ergriffen. Er betritt leise die dunkle Garage. Hinter ihm herrscht Dunkelheit. Er kehrt den Boden, versucht eine Lampe zum Leuchten zu bringen, vergeblich. Kein künstliches Licht erhellt den Raum. So lässt er aus einer Nische des Garagentores Licht hineindringen in die Finsternis, die ihn umgreift. Wasser fließt über seine Hände, die einander berühren, als wollten sie eine Lotusblume versinnbildlichen. Er legt ein Stück Teppich auf den Boden, stellt sich voller Anmut aufrecht und eröffnet mit klarer Stimme das Gebet. Es ist die erste Sure des Korans, die erklingt. Und der Atem steht still. Musik: Abdullah Ibrahim, „Ishmael“ von der CD „Good News From Africa“ Absage: Sie hörten Die Blumen des Koran, Die Lange Nacht über das heilige Buch der Muslime, von Manuel Gogos Es sprachen: Barbara Stoll, Jonas Baeck, Josef Tratnik, Edda Fischer Für den guten Ton sorgten: Wolfgang Rixius, Kiwi Eddy Die Regie hatte Claudia Mützelfeldt, Redaktion: Monika Künzel Musik Musikliste 1. Stunde Titel: Ishmael Länge: 01:40 Interpret und Komponist: Abdullah Ibrahim Label: Enja Records Best.-Nr: 2149-2 Plattentitel: Banyana Titel: Al Fatiha / 1. Sure Länge: 00:19 Interpret: Mishary Rashed Al Afasy Komponist: trad. Label: ALIF Recordings Plattentitel: The Holy Qu´ran Titel: Mandakini Länge: 02:09 Interpret und Komponist: Dhafer Youssef Label: Enja Records Best.-Nr: 9412-2 Plattentitel: Electric Sufi Titel: Electric Sufi Länge: 02:56 Interpret und Komponist: Dhafer Youssef Label: Enja Records Best.-Nr: 9412-2 Plattentitel: Electric Sufi Titel: Nouba (To A. Tang) Länge: 06:47 Interpret und Komponist: Dhafer Youssef Label: Enja Records Best.-Nr: 9412-2 Plattentitel: Electric Sufi 2. Stunde Titel: Tales from the ney Länge: 02:29 Interpret: Kudsi Erguner Komponist: Unbekannt Label: CMP RECORDS Best.-Nr: CD3005 Plattentitel: Sufi music of Turkey Titel: Cirrus minor Länge: 02:36 Interpret: Pink Floyd Komponist: Rogers Waters Label: Emi Best.-Nr: 746386-2 Plattentitel: More - Soundtrack Titel: On the road to find out Länge: 04:16 Interpret: Yusuf Islam / Cat Stevens Komponist: Cat Stevens Label: Island Records Best.-Nr: 258153 Plattentitel: Tea for the tillerman Titel: Turn to Allah Länge: 01:50 Interpret: Yusuf Islam / Cat Stevens Komponist: Yusuf Islam Label: Mountain of Light Best.-Nr: MOL 70010 Plattentitel: A is for Allah Titel: The beloved Länge: 04:52 Interpret und Komponist: Yusuf Islam Label: Polydor Best.-Nr: 1707250 Plattentitel: An other cup Titel: Man of wool Länge: 04:38 Interpret und Komponist: Dhafer Yusuf Label: Enja Records Best.-Nr: 9412-2 Plattentitel: Electric Sufi Titel: Zikr Länge: 03:02 Interpret: Kudsi Erguner Komponist: Unbekannt Label: CMP RECORDS Best.-Nr: CD3005 Plattentitel: Sufi music of Turkey Titel: La nuit sacré (To T. Ben Jelloun) Länge: 06:26 Interpret und Komponist: Dhafer Youssef Label: Enja Records Best.-Nr: 9412-2 Plattentitel: Electric Sufi 3. Stunde Titel: Camel Länge: 04:40 Interpret und Komponist: Kudsi Erguner Label: ACT Best.-Nr: 9287-2 Plattentitel: Islam Blues Titel: Moonrise Länge: 01:44 Interpret und Komponist: Kudsi Erguner Label: ACT Best.-Nr: 9287-2 Plattentitel: Islam Blues Titel: Al Fatiha / 1. Sure Länge: 01:15 Interpret: Mishary Rashed Al Afasy Komponist: trad. Label: ALIF Recordings Plattentitel: The Holy Qu´ran Titel: Az-Zumar / 39. Sure Länge: 00:38 Interpret: Mishary Rashed Al Afasy Komponist: trad. Label: ALIF Recordings Titel: Al Fatiha Länge: 03:20 Interpret: Barakatullah Saleem Komponist: trad. Label und Best.-Nr: keine Titel: Mustt mustt Länge: 03:35 Interpret und Komponist: Nusrat Fateh Ali Khan Label: Virgin Best.-Nr: 261196 Plattentitel: Mustt Mustt (Real World, Vol. 15: Pakistan) Titel: Ishmael Länge: 06:40 Interpret und Komponist: Abdullah Ibrahim Label: Enja Records Best.-Nr: 2149-2 Plattentitel: Banyana