Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 28. Juni 2014 – 11.05 – 12.00 Uhr Schlachtfelder der Erinnerung: Serbien und der große Schatten des 1. Weltkrieges Mit Reportagen von Dirk Auer Redakteur am Mikrophon: Gerwald Herter Musikauswahl und Regie: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – Trailer MUSIK-1 Mod auf Musik O-Ton 1 (aus Reportage 4) Es ist sehr wichtig, dass sich Serbien über die Erfahrung des Ersten Weltkriegs neu erfindet. Wir sind eine demoralisierte Nation, und wir müssen der neuen Generation ein Beispiel aus unserer Geschichte geben. Dieser Mut, die Selbstaufopferung und der Patriotismus, den es im Ersten Weltkrieg gab; diese Tapferkeit, Solidarität und die Sehnsucht nach Freiheit – all‘ das ist tief verankert in der serbischen Kultur. Und wir sind sehr stolz darauf. Mod: …… gerade an diesem Tag – 100 Jahre nach dem Attentat von Sarajevo. Dieser Historiker ist Professor an der serbischen Akademie der Wissenschaften. Er will die Erfahrung des 1. Weltkriegs am Leben erhalten und so für die Zukunft Serbiens nutzbar machen. Einer der jüngeren Belgrader Historiker warnt allerdings davor, dass das in die falsche Richtung gehen könnte, wie schon häufiger in den letzten 100 Jahren: O-Ton 2 (aus Reportage 2) Der Erste Weltkrieg ist tatsächlich eine zentrale Säule der serbischen Identität. Aber wenn das instrumentalisiert wird, dann missbraucht man die ganze Energie, die damals da war. Und das sollten wir bei diesem Jubiläum wirklich nicht erlauben. Mod: Gesichter Europas: „Schlachtfeld der Erinnerung – Serbien und der große Schatten des Ersten Weltkriegs“ mit Reportagen von Dirk Auer und mit Gerwald Herter, herzlich willkommen! Mod: „Die serbische Armee hat wahre Heldentaten vollbracht, aber vor allem hat das serbische Volk unfassbare Leiden durchlebt“. Dass dieser Satz in Serbien auch heutzutage noch häufig zu lesen ist, wirkt bezeichnend. Stammt er doch von keinem Historiker, sondern vom Zeitzeugen Robert Lansing. In den Kriegsjahren war er amerikanischer Außenminister. Gemessen an seiner Bevölkerungszahl hatte Serbien im Verlauf des Ersten Weltkriegs mehr Opfer zu beklagen, als jede andere beteiligte Nation. Obwohl Österreich-Ungarn und das deutsche Kaiserreich in Serbien den Grund für den Waffengang fanden, ist das in Deutschland bemerkenswert unbekannt. Anders verhält sich das mit dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau am 28. Juni 1914 in Sarajevo - also heute vor 100 Jahren. Die Tat des bosnischen Serben Gavrilo Princip gilt als Anlass, aber nicht als tiefere Ursache des Ersten Weltkriegs. Trotzdem spielt das Attentat in den Historikerdebatten über Kriegsausbruch und Kriegsschuld immer noch eine wichtige Rolle - gerade in Belgrad. Waren Gavrilo Princip und seine Mitstreiter Helden oder Terroristen? Was wusste die serbische Regierung? Die Antworten auf diese Fragen berühren das kollektive Selbstverständnis der Nation: Serbien, unschuldiges Opfer, zunächst wehrlos, dann aber siegreich in einem gerechten Verteidigungskampf! Atmo Von der Präsenz des Ersten Weltkriegs in Serbien zeugen nicht nur viele Monumente, die an die Opfer des Krieges erinnern – auch Princip, der Attentäter von Sarajevo wird wohlwollend gewürdigt. In Belgrad gibt eine Schule, die seinen Namen trägt, die Gavrilo-Princip-Straße führt am Bahnhof vorbei. Nur wenig weiter, am Rande des Marktes Zeleni Venac, wurde vor ein paar Monaten eine altehrwürdige Kafana wiedereröffnet: Das Zlatna Moruna, der „Goldene Stör“, eins der Lieblingslokale von Gavrilo Princip, wo es vor hundert Jahren zu einem folgenreichen Treffen kam: Reportage 1 Autor Schon am frühen Abend ist das Zlatna Moruna gut besucht. An der Wand hängen historische Fotoaufnahmen vom Belgrad der 20er Jahre, und um die Tische gruppieren sich Rentner und Touristen. Auch ein paar Studenten sitzen vor ihren Biergläsern, wie Radivoje Pekovic und Damjan Filipovic. Sie sind heute zum ersten Mal hierher gekommen, und das eher zufällig, wie Radivoje betont. O-Ton 1: Radivoje Zitator-1: Aich Ich wusste, dass es in Belgrad ein Lokal gibt, in dem sich Gavrilo Princip mit den Mitgliedern einer serbischen Geheimorganisation getroffen hat, der sogenannten „Schwarzen Hand“. Hier haben sie das Attentat auf Franz Ferdinand geplant. Das Lokal war lange geschlossen, erst jetzt habe ich gesehen, dass es wieder eröffnet worden ist, unter dem alten Namen. Und alles ist so eingerichtet, dass es an früher erinnert. Autor Keine schlechte Idee, mein Radivoje. Vor allem für Touristen könnte es interessant sein, den Ort zu sehen, wo alles seinen Anfang nahm. Radivoje schaut sich um. Seltsam nur, dass es hier überhaupt keinen Hinweis auf die Verschwörer gibt, meint er. Wobei, vielleicht ist das ja auch ganz gut so. Denn generell werde das Attentat doch überbewertet, wenn es um die Gründe für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs gehe. O-Ton 2: Radivoje Zitator-1: Aich Österreich-Ungarn hat doch nur einen Anlass gesucht, um Serbien anzugreifen. Hätte es das Attentat nicht gegeben, sie hätten sicher einen anderen Grund gefunden. Autor Da ist sich nicht nur Radivoje sicher, auch sein Freund Damjan stimmt entschieden zu: Es sei absurd anzunehmen, dass Serbien damals irgendein Interesse am Krieg hatte. O-Ton 3: Damjan Zitator-2: Höfs Serbien als Staat hatte mit dem Attentat nichts zu tun. Es hatte überhaupt keinen Sinn, den Krieg zu provozieren. Serbien war dafür viel zu schwach. Autor Sicher, fügt Damjan hinzu, es gab einzelne Personen – Offiziere und Geheimdienstler – die für den Krieg waren. Sie waren es, die sich mit den Attentätern hier trafen, die die Waffen besorgten und den heimlichen Grenzübertritt ins österreichisch besetze Bosnien organisierten. Daraus aber eine Mitverantwortung der serbischen Regierung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs abzuleiten? Die beiden Studenten können verstehen, wenn viele Serben darauf empfindlich reagieren. O-Ton 4: Radivoje Zitator-1: Aich Serbien hat ein Viertel seine Einwohner verloren, das sind riesige Opferzahlen. Es war ein großer Befreiungskrieg Serbiens und des serbischen Volkes. Und Serbien stand dabei auf der richtigen Seite: Auf der Seite der Sieger, der Guten, die ein anderes Europa wollten - und nicht ein Europa, wie es Österreich-Ungarn, Deutschland und ihre Verbündeten im Sinne hatten. Autor Radivoje und Damjan bestellen sich noch ein Bier. Es ist interessant darüber zu reden, sagen sie, vielleicht auch unterschiedliche Meinungen auszutauschen. Aber letztlich sei die Geschichte doch Geschichte. O-Ton 5: Damjan Zitator-2: Höfs Was haben wir damit zu tun, was ein Staat vor 50 oder 100 Jahren gemacht hat? Es ist Unsinn zu sagen, dass wir stolz darauf sein oder uns schämen sollten - totaler Blödsinn! Das betrifft Leute, die damals gelebt haben. Autor Ein paar nationalistische Historiker und Politiker mögen das anders sehen, und leider bestimmen sie auch die Schlagzeilen im Westen. Aber, sagt Damjan abschließend: O-Ton 6: Damjan Zitator-2: Höfs Die Menschen hier sind ein bisschen klüger geworden. Sie wissen, dass die Geschichte nicht schwarz-weiß ist. Es wird einfach nicht mehr dieser große Lärm wegen irgendwelcher geschichtlicher Ereignisse gemacht. Ich weiß, dass es früher so war. Aber heute ist es definitiv anders. MUSIK-2 Musik-Literatur-Thema Literatur „Am schwierigsten war es nachts den unendlichen Kolonnen und Flüchtlingskonvois zuzusehen. (…) Das Dorf, das wir passieren war voller Flüchtlinge und jetzt mussten sie weiterziehen. Wohin? (…)Die Armee rückte an den Flüchtlingen vorbei, die auf der Straße, am Straßenrand, in den Wäldern dieser zerklüfteten Gegend warteten, vor Schmerz schrien und litten. Tote Kinder lagen am Straßenrand; weggelegt und verlassen von Müttern, die nicht wussten, wohin mit ihnen; sie starben an Kälte und verreckten im Schlamm. Andere Kinder wiederum wälzten sich durch die Menge und winselten nach ihren verlorenen Müttern“. MOD …..die letzten Tagebucheintragungen eines serbischen Soldaten aus dem Herbst des ersten Kriegsjahres. Der erste Schuss des Ersten Weltkriegs – er wurde Monate vorher, im Sommer 1914 von einem österreichisch-ungarischen Kanonenboot aus auf die Belgrader Festung abgegeben. Sie erhebt sich auf einem Hügel, an dessen Fuß die Save in die Donau mündet. Diese Festung war über Jahrhunderte umkämpft - zwischen Christen und Muslimen, Europäischen Mächten und dem Osmanischen Reich, Serbien und Habsburg. Immer wieder wurde sie zerstört und immer wieder aufgebaut. Heute erstreckt sich hier ein schöner Park, den die meisten Belgrader zur Erholung nutzen. Touristen und historisch Interessierte können sich dagegen mit der bewegten Geschichte der Stadt befassen - auch mit dem Ersten Weltkrieg. Atmo Ein beliebter Aussichtspunkt ist der Pobednik, der „Sieger“. Eine überlebensgroße Figur, die an das Ende des Ersten Weltkrieges, den 11. November 1918 erinnert und als Wahrzeichen von Belgrad gilt. Von hier aus lässt sich jene Stelle in der Save erblicken, wo das Kanonenboot unterwegs war, um in der Nacht vom 28. auf den 29. Juli 1914 Belgrad unter Feuer zu nehmen: Reportage 2 Autor Es ist früher Vormittag, wie immer um diese Zeit haben sich am Sieger-Denkmal viele Schulklassen aus ganz Serbien versammelt. Auch Danilo Sarenac ist heute hier, ein junger Historiker, der gerade seine Doktorarbeit abgeschlossen hat. Sein Thema: Wie wurde und wird an den Ersten Weltkrieg in Serbien erinnert? Danilo Sarenac blickt auf den Zusammenfluss von Save und Donau, dann lässt er seinen Blick über das am anderen Ufer liegende Häusermeer von Neu-Belgrad schweifen. Vor 100 Jahren erstreckte sich dort noch eine grüne weite Ebene. O-Ton 1 Zitator-3: Pelzer Wir schauen jetzt direkt auf das Gebiet der früheren Habsburger Monarchie. Wie man sieht, lag alles ziemlich nah beieinander, die Gegner konnten sich mit dem bloßen Auge erkennen. Und nachdem Osterreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärt hatte, haben sie zuerst Kalemegdan bombardiert, also den Ort, wo wir jetzt gerade stehen. Autor Doch der eigentliche Sturm auf Belgrad sollte erst ein gutes Jahr später erfolgen - als die Mittelmächte Deutschland, Österreich-Ungarn und Bulgarien eine neue Offensive einleiteten, um den bis dahin erfolgreichen Widerstand Serbiens zu brechen. O-Ton 2 Zitator-3: Pelzer Es war ein furchtbarer Kampf. Wir sehen zum ersten Mal in der Geschichte diese großflächige Bombardierung, dann ein paar Stunden später Infanterieangriffe. Es gab Straßenkämpfe. Und dieser Ort hier war voll gepackt mit Kasernen und Gebäuden der Armee. Jetzt ist es ein schöner Park, aber wenn Archäologen hier graben, dann finden sie manchmal immer noch Dinge aus diesem Krieg: Patronenhülsen etwa oder Teile von Uniformen. Autor Belgrad fiel schließlich am 9. Oktober 1915, der Beginn der 3jährigen Besatzung. Atmo: Schritte Danilo Sarenac läuft weiter durch den Park Richtung Altstadt. Viele Buchläden haben ihre Schaufenster jetzt mit Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg dekoriert. Schon die Anzahl der Bücher wirkt tatsächlich beeindruckend. Aber: Es gibt nichts Neues, und an der Interpretation der Ereignisse hat sich in Serbien seit 100 Jahren im Grunde genommen nichts geändert, klagt Sarenac. O-Ton 3 Zitator-3: Pelzer Alles fängt mit Gavrilo Princip an, dem Attentat, dass er ein Held war, der sich gegen Unterdrückung auflehnte. Dann natürlich, dass der Krieg Serbien aufgezwungen war, und weiter geht es mit dem heroischen Kampf der serbischen Armee, die Niederlagen, die Verteidigung von Belgrad, und natürlich das Leiden der Menschen unter der Besatzung. Autor Es ist ja noch nicht einmal so, sagt er, dass daran so viel falsch wäre. Aber 100 Jahre später - und noch immer keine Ergänzungen oder gar Zwischentöne? Keine Hinweise auf Ereignisse, die vielleicht nicht in die gängige Erzählung passen? O-Ton 4 Zitator-3: Pelzer Ich denke, dass das zum großen Teil die Verantwortung der Kommunisten ist, die im sozialistischen Jugoslawien die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg an den Rand gedrängt haben. Mit dem Kommunismus sollte ein ganz neues Zeitalter beginnen, also waren 90 Prozent der Geschichtsschreibung dem Zweiten Weltkrieg und der Revolution gewidmet. Und der Erste Weltkrieg wurde vergessen. Autor Doch das Verdrängte sollte wieder kommen, in den 1980er Jahren, als der Slogan von „Brüderlichkeit und Einheit“ schon brüchig geworden war, und sich die Völker Jugoslawiens wieder auf ihre eigenen Nationalgeschichten besannen. O-Ton 5 Zitator-3: Pelzer Der Erste Weltkrieg war tatsächlich von sehr, sehr großer Bedeutung für das Aufkommen des serbischen Nationalismus. Durch die Verdrängung unter den Kommunisten ist nachträglich ein riesiges Bedürfnis nach Informationen entstanden. Und das wurde in den 1980er Jahren unkontrollierbar: Plötzlich gab es eine Flut von Publikationen, Vorträgen und Romanen. Was Mythos ist, was Wahrheit – das zu entscheiden, war völlig unmöglich geworden. Und alles hat sich direkt mit der Politik verbunden. Autor Tatsächlich tauchten damals Bilder mit serbischen Generälen aus dem Ersten Weltkrieg auf Versammlungen zur Unterstützung von Slobodan Milsosevicauf. Im Bosnienkrieg trug Ratko Mladic eine Kopfbedeckung nach einem Modell der Uniformen aus dem Ersten Weltkrieg. Und bis heute schmücken sich rechtsradikale Gruppen mit solchenDevotionalien. O-Ton 6 Zitator-3: Pelzer Unglücklicherweise, denn das beschädigt alle Bemühungen sich an das zu erinnern, was wirklich ein Kampf für die Freiheit und die Verteidigung des eigenen Lands war. In diesem Sinne ist der Erste Weltkrieg tatsächlich ein zentrale Säule der serbischen Identität. Aber wenn das instrumentalisiert wird, dann missbraucht man die ganze Energie, die damals da war. Und das sollten wir bei diesem Jubiläum wirklich nicht erlauben. Atmo: Gespräch mit Portier Autor Ankunft im Institut für zeitgenössische Geschichte. Hier hat Danilo Sarenac seinen Arbeitsplatz. Als Spezialist für den Ersten Weltkrieg gilt er fast schon als Exot und ist dementsprechend gerade ein gefragter Interviewpartner und Vortragsredner. Atmo: Aufzug Aber, klagt Sarenac, noch weiß ja eigentlich niemand, woran und wie in Serbien überhaupt offiziell erinnert werden soll. Es gibt zwar ein Komitee, das mit der Vorbereitung und Auswahl von Veranstaltungen beauftragt wurde. Aber von einem Programm, für die nächsten vier Jahre gar, ist noch immer nichts bekannt. Über die Gründe kann er nur spekulieren. Schlechte Organisation, ja, einseits. O-Ton 7 Zitator-3: Pelzer Aber es gibt bestimmt auch die Angst, vor den Reaktionen des Auslands. Wie stellt sich Serbien da? Fällt es in den Nationalismus der 90er Jahre zurück? Es besteht ja die Gefahr, dass jegliches Gedenken mit dem Milosevic-Erbe in Verbindung gebracht wird. Autor Dabei gibt es wirklich ein ernsthaftes Interesse der Bevölkerung, erzählt der junge Historiker vor seinem Büro, das er sich mit zwei anderen Wissenschaftlern teilen muss. Regelmäßig erhält er Anrufe aus ganz Serbien, von Menschen, die einfach etwas machen wollen, ein Projekt oder eine Dokumentation, und um fachliche Unterstützung bitten. Atmo Am Abend hat Danilo Sarenac dann noch einmal einen Auftritt. Vor ein paar Tagen ist seine Dissertation als Buch erschienen – und weil 100 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein solches Ereignis nicht nur von akademischem Interesse ist, hat man dafür einen Saal in der Innenstadt bezogen. Tatsächlich ist der Raum gut gefüllt: Drei Professoren sprechen nacheinander über das Buch. Es sind Lobeshymnen. Atmo Bald wird sich der Trubel wieder gelegt haben – und Danilo Sarenac wird sich wieder seinen eigentlichen Aufgaben widmen können. O-Ton 8 Zitator-3: Pelzer Wir, die für und von der Geschichte leben, wir müssen noch so viele offene Fragen angehen. Die Menschen haben so viele Fotos, Tagebücher und Dokumente zu Hause – all das wartet noch darauf, erforscht zu werden. Das ist wirklich ein Schande , denn die Erfahrung und Nachwirkung des Ersten Weltkriegs in Serbien ist so riesig und komplex, dass es jedes Jahr mindestens fünf Dissertationen über dieses Thema geben könnte. Musik-3 Musik-Literatur-Thema Literatur „Heute ist Ostern, hieß es. Unser freudigster Feiertag. (…) Und jetzt? Für unsere Familien ist es jetzt der traurigste Tag. Die Tränen, so es sie überhaupt noch gibt, verschwinden dieser Tage. Wer sich die Augen noch nicht ausgeweint hat, der weint heute. Haben unsere Liebsten heute Brot? Haben sie, sofern sie überhaupt noch am Leben sind, für den heutigen Tag ein Stück Brot erbettelt? Werden meine Kinder an diesen Tagen satt werden? Sollen sie um mich weinen, oder soll ich um sie weinen? Armes Volk, ödes Serbien! Wirst Du jemals Richter spielen können?! Wirst Du den Schuldigen finden können? Wirst Du das Recht bekommen, die Schuldigen zu verurteilen? Wirst Du in der Lage sein, die Schuldigen zu bestrafen? Wirst Du endlich zu Verstand kommen können! … Es ist Ostern, im öden, toten Serbien.“ MOD In Deutschland wird die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg vor allem von den unzähligen Opfern an der Westfront geprägt, vom Wahnsinn des Stellungs- und Gaskriegs in Flandern und Frankreich. In den Balkanländern wurde der Erste Weltkrieg aber selten in Schützengräben zwischen Soldaten ausgefochten, die Zivilbevölkerung hatte sehr häufig darunter zu leiden. Das gilt vor allem für das erste Kriegsjahr: Am 12. August 1914 überschritten 200-Tausend Soldaten der k.u.k.- Armee die Grenzflüsse Save und Drina und drangen in nordserbisches Gebiet ein. Hier wurden bedeutende Schlachten geschlagen, Orte, wie Lesnica und Sabac stehen jedoch für fürchterliche Kriegsverbrechen: Atmo: Gespräch In diesen serbischen Städten bereitet man sich seit langem auf das 100. Gedenkjahr vor. Mit Publikationen, Vorträgen, restaurierten Denkmälern und Sonderausstellungen in den städtischen Museen. Besonders die Verbrechen in Sabac sind zum Symbol des Leidens der serbischen Bevölkerung im Ersten Weltkrieg geworden. Reportage 3: Autor Im Stadtmuseum von Sabac sitzt Branislav Stefanovic vor einem alten Computer. Zusammen mit einem Kollegen schaut er noch einmal das digitale Foto-Archiv des Museums durch. Was soll in der geplanten Ausstellung zu sehen sein, was fehlt noch und muss von anderen Archiven angefragt werden? Atmo Das ist das zerstörte Zentrum, zeigt Stefanovic auf den Bildschirm. Er ist Mitte Dreißig, hat in Belgrad Geschichte studiert und ist dann wieder in seine Heimatstadt zurückgekehrt. O-Ton 1 Branislav Zitator-4: Pede Die ersten Soldaten sind am 12. August 1914 in Sabac einmarschiert. Das serbische Militär hatte sich aus der Stadt zurückgezogen, die zurückgebliebenen Bewohner hissten weiße Fahnen. Sie sind in der Stadt geblieben, weil sie ja dachten, die Soldaten kommen aus einem zivilisierten Land. Autor Doch kaum war die Stadt besetzt, begannen systematische Plünderungen: Zahlreiche Häuser wurden ausgeraubt und demoliert, Geldschränke wurden aufgebrochen und geleert. Der Krieg in Serbien war bereits in den ersten Tagen ein brutaler Straf- und Vergeltungskrieg. O-Ton 2 Branislav Zitator-4: Pede Autos, Geldschränke, Möbel – alles haben die Soldaten mitgenommen. Dann wurden die Häuser in Brand gesteckt, und Sabac vollständig zerstört. Dabei sind auch viele Menschen umgebracht worden. 1000 Menschen wurden in der Kirche eingesperrt. Sie haben nichts zu trinken und zu essen bekommen, haben sich übergeben, geweint und sind in Ohnmacht gefallen. Auf dem Altar haben sie die jungen Frauen vergewaltigt. Autor Und dann kam schließlich der 17. August 1914: Über sechzig Zivilisten wurden vor die Kirche gebracht. Soldaten marschierten auf, dann fielen Schüsse. Atmo Das sind die Gräber bei der Kirche, sagt Stefanovic. Auf einem weiteren Foto ist die Exhumierung der Opfer zu sehen. Ein schweizerischer Kriminologe, Archibald Reiss, war auf Einladung der serbischen Regierung im Oktober 1914 nach Serbien gekommen, um österreichisch-ungarische Kriegsverbrechen zu untersuchen. Herausgekommen ist eine detaillierte Dokumentation, im Jahr darauf wurde sie weltweit publiziert – in Österreich und in Deutschland allerdings nicht. Weshalb man dort zwar vielleicht von Massakern der Deutschen in Belgien gehört hat, aber nichts von den Verbrechen in Serbien weiß, wie Stefanovic beklagt. O-Ton 3 Branislav Zitator-4: Pede Sabac war einmal Klein-Paris bekannt. Es gab ein entwickeltes Bürgertum, ein reiches kulturelles Leben, und es bestanden Verbindungen nach Wien, München und Prag. Nach dem Krieg sprach man dagegen von Sabac als dem serbischen Verdun. Autor Und in der Ausstellung soll nun die schreckliche Geschichte gezeigt werden, die dazwischen liegt – multimedial: mit Fotos, Film und Tondokumenten. Atmo: Lied (bis hinter O-Ton 4) Branislav Stefanovic spielt eines jener traditionellen Lieder vor, wie es sie in Serbien zuhauf über die Zeit des Ersten Weltkriegs gibt – meistens sind es Heldenlieder, über Tapferkeit und heroischen Widerstand. In diesem jedoch wird das Leiden der Menschen in Sabac besungen. Atmo: Telefon Dann klingelt das Telefon. Vor ein paar Tagen ist Branislav Stefanovic mit dem Ausstellungsprojekt an die Öffentlichkeit gegangen. O-Ton 4 Branislav Zitator-4: Pede Wir haben die Leute aus Sabac und Umgebung aufgerufen, uns Fotos zu bringen, Briefe, authentische Erzählungen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Denn wir wollen möglichst viele Menschen mit einbeziehen, so dass die Ausstellung tatsächlich in einen Dialog mit den Leuten hier mündet. Atmo Autor Eine Stunde später wird der Anrufer schon ins Besucherzimmer geführt. Dort wird türkischer Kaffee serviert. Atmo: Ein bisschen deutsch, ich habe gelernt. Vier months i've been in Germany. Ein Hobbyhistoriker sei er, stellt sich Tomislav Puretic vor. Wobei: Hobby - das sei vielleicht doch zu wenig. Atmo: Ljubav, Sdrast .. Es ist Liebe, eine Leidenschaft, und weil er seit kurzem im Ruhestand ist, kann er sich jetzt endlich 25 Stunden am Tag seiner Obsession hingeben, wie er augenzwinkernd erzählt. Was etwa heißt: Stundenlang entlang der ehemaligen Frontlinien zu spazieren, ausgerüstet mit einem Metalldetektor, immer in der Hoffnung, das ein oder andere Fundstück aus der Vergangenheit ans Tageslicht zu holen. Atmo: Kraschbeln O-Ton 5 Puretic Zitator-5: Laake Ich habe etwas mitgebracht. Das ist Munition aus dem Ersten Weltkrieg, das sieht man ganz deutlich, weil hier hinten die Jahreszahl eingraviert ist. Damit haben sie auf uns geschossen, auf Serbien. Und das hier haben sie von uns bekommen! Autor Weitere Fundstücke werden auf dem Tisch ausgebreitet. Atmo porcija, original, autenticno … Eine kleine verbeulte Metallschüssel, die die Soldaten zum Essen benutzt haben, einige Granatsplitter – und dann etwas ganz Besonderes: eine Patronenhülse. Aber die, so betont er, wird er ganz bestimmt nicht aus der Hand geben. O-Ton 6 Puretic Zitator-5: Laake Hier unten steht: Juli 1913, Düsseldorf. Die hat mein Vater gefunden. Welch ein Zufall: Denn meine Mutter heißt Jula, geboren 1913. Und so hat er es ihr geschenkt. Autor Tomislav Puretic ist froh, dass es jetzt dieses neue Interesse am Ersten Weltkrieg gibt. Zu jugoslawischer Zeit wurde in der Schule kaum darüber gesprochen. Selbst über das Massaker in Sabac nicht. Atmo: All whipped of. Not from the memories of people, its impossible to whip it off. Immer nur Zweiter Weltkrieg, der Kampf der kommunistischen Partisanen gegen die Besatzer. Nur zu Hause, da wurden immer auch andere Geschichten erzählt. O-Ton 7 Puretic Zitator-5: Laake Mein Großvater hat darüber gesungen. Er hat über seine eigene Geschichte im Ersten Weltkrieg gesungen. Was ist das, haben wir als Kinder gefragt, der Erste Weltkrieg? Irgendwie klang das alles märchenhaft. Aber in der Schule? Ich kann mich nicht erinnern, dass die Lehrer uns irgendetwas davon beigebracht hätten. Autor Mit der geplanten Ausstellung wird nun zum ersten Mal das Leiden der Zivilbevölkerung von Sabac in konzentrierter Form dargestellt. Atmo: Tür, Schritte Dabei gibt schon jetzt ein außergewöhnliches Interesse der Bürger, sagt Branislav Stefanovic. Und dann wird der sonst so nüchterne junge Mann doch noch einmal kurz pathetisch: O-Ton 8 Branislav Zitator-4: Pede Wir haben einfach die Verpflichtung, moralisch und menschlich, dass wir uns auch an diesen Krieg erinnern. Aus Verpflichtung gegenüber unseren Vorfahren. Wir trinken Kaffee und Coca Cola in Freiheit. Und für diese Freiheit mussten Menschen sterben. Autor Branislav Stefanovic tritt auf die Straße. Ganz in der Nähesteht die Kirche, in der es zu dem schrecklichen Massaker gekommen war – und in der heute ein großes Denkmal steht. Nach dem Krieg gab es in Wien tatsächlich eine Untersuchung der Ereignisse. Doch verurteilt wurde niemand. Jetzt, 100 Jahre später, hofft Branislav Stefanovic wenigstens auf ein Zeichen. O-Ton 9 Branislav Zitator-4: Pede Es wäre wirklich gut, wenn auch ein Vertreter der österreichischen Botschaft bei der Eröffnung unserer Ausstellung anwesend wäre. Es wäre meines Wissens nach tatsächlich das erste Mal, dass jemand aus diesem Anlass von dort hierher kommen würde. Musik-Literatur-Thema Literatur „Wir schleppten uns langsam über den Schnee, und ich dachte aus irgendeinem Grund andauernd an die grünen Wiesen in Barzilovica. Mir schien, dass ich Lämmer sehen konnte, die neben einem Brunnen spielten. In solchen Augenblicken fragte ich mich, ob ich überhaupt noch bei Sinnen war. Dann sagte ich laut meinen Namen, Geburtsjahr und Geburtsort auf, ich rief mir den Namen meiner Mutter, meines Vaters und meiner Freunde in Erinnerung … Später begriff ich, warum ich es tat. Viele von den jungen Männern, die in jener stummen Kolonne gewesen waren, waren dermaßen erschöpft gewesen, dass sie nicht einmal ihren Namen aufsagen konnten. Sie blieben als unbekannte Opfer des Hungers und der Kälte namenlos im Schnee liegen.“ MUSIK-4 MOD Am Ende hatte Serbien den Krieg zwar gewonnen, aber schätzungsweise ein Viertel seiner Gesamtbevölkerung verloren, das Land war ausgeplündert worden. Die Erinnerung an den Krieg wurde in den folgenden Jahren zum Gründungsmythos des ersten gemeinsamen jugoslawischen Staates. Serben nahmen für sich in Anspruch, unter großen Opfern auch die anderen südslawischen Völker befreit zu haben. Diese Vorstellung vom „Martyrium des serbischen Volkes“ - Opfer zu sein, es aber nie gedankt zu bekommen - sie zieht sich wie roter Faden durch die ganze serbische Geschichte: zunächst unter Osmanischer Herrschaft; viel später im Kampf gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg, dann die angebliche Benachteiligung der Serben im sozialistischen Jugoslawien und schließlich die Opferrolle während der NATO-Bombardierung 1999. Atmo Jetzt wittern viele serbische Politiker und Intellektuelle wieder eine Verschwörung: Serbien, so behaupten sie, werde von einer Reihe von Historikern wieder einmal an den Pranger gestellt – Belgrad solle zumindest eine Mitschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs zugeschrieben werden. Grund genug für serbische Politiker, nicht an der heutigen Gedenkfeier in Sarajevo teilzunehmen. Selbst Wissenschaftler gehen getrennte Wege: Ein internationales Historiker-Treffen in Sarajevo fand ohne nennenswerte serbische Beteiligung statt. Stattdessen organisierten serbische Historiker eine eigene Konferenz in Belgrad, um der angeblich revisionistischen Interpretation der Geschichte etwas entgegenzusetzen. Reportage 4 Autor Schon der Auftakt der Konferenz der Serbischen Akademie der Wissenschaften sieht eher aus wie ein Staatsakt: Fotografen halten sich bereit, zahlreiche Fernsehkameras sind aufgebaut. Atmo Der serbische Präsident Tomislav Nikolic, gibt den Takt vor: Wir Serben sind konfrontiert mit dem Versuch einer Verfälschung der Geschichte. Und der serbische Kampf für die Freiheit, 100 Jahre lang ein Symbol des Kampfes für Gerechtigkeit und Wahrheit, er drohe jetzt mit Schlamm beworfen zu werden. Auch der serbisch-orthodoxe Patriarch Irinej stimmt in die Klage mit ein, dann segnet er die Konferenz, und zum Abschluss der Grußworte ertönt die Nationalhymne. Atmo Und weil dann schon zwei Stunden vergangen sind, gibt es zunächst eine Pause - und damit Gelegenheit nachzufragen: Was eigentlich ist genau das Problem, das die Teilnehmer hier umtreibt? O-Ton 1 Batakovic Zitator-1: Aich Das Problem ist, dass das Gedenken an den Ersten Weltkrieg politisiert wird, und zwar einseitig, in eine Richtung! Autor Erklärt Professor Dusan Batakovic. Er ist Historiker, hat an der Sorbonne promoviert und war jahrelang Diplomat im Dienste der serbischen Regierung. Nowadays everybody blames Serbia. Jetzt beschuldige jeder Serbien. This is a revision we have to face now. Aber die neuen Bücher, die tatsächlich die alleinige Verantwortung Deutschlands zumindest relativieren .. books which are simple propaganda! … und die jetzt den Zorn mancher Serben erwecken, sie sind ja von Historikern geschrieben worden. Worin sollte deren politisches Interesse bestehen? But politicians are behind! Politiker stehen hinter ihnen, schaltet sich Professor Dragoljub Zivojinovic ein. Er ist einer der Organisatoren der Konferenz. O-Ton 2 Zivojinovic Zitator-2: Höfs Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Wiedervereinigung Deutschlands, versuchen einige Historiker jetzt wieder, Deutschland zu rehabilitieren. Deutschland will den Vorwurf loswerden, dass es verantwortlich für den Krieg war. Und sie wollen Russland und Serbien die Schuld geben. Wir wissen das. Es liegt auf der Hand. Autor Aber wer sind die Leute, die diesen politisch motivierten Geschichtsrevisionismus betreiben? O-Ton 3 Zivojinovic Zitator-2: Höfs Oh, das ist eine andere Geschichte. Es steht mir nicht zu, von hier aus zu entscheiden, wer sie sind. Aber sicherlich gibt es verschiedene Organisationen und Leute in der Regierung, die das unterstützen. Das war immer so. Autor Die Aufregung ist doch nur verständlich, sagt Dusan Batakovic. In Serbien reagiere man eben sehr sensibel, wenn es um den Ersten Weltkrieg geht. O-Ton 4 Batakovic Zitator-1: Aich In vielerlei Hinsicht ist dieser Krieg einer der Hauptsäulen der serbischen Identität. Deshalb können wir Serben hier nicht so viel mit der Sichtweise anfangen, dass alles nur eine sinnlose Tragödie war. Es war eine epische Saga: Serbien wurde angegriffen, Österreich-Ungarn wollte Serbien von der Landkarte verschwinden lassen, und wir haben versucht unsere Souveränität zu verteidigen. Für uns war es ein Kampf ums Überleben. Autor Die „epische Saga“, das Leiden des serbischen Volkes in „biblischem Ausmaß“, der Rückzug der serbischen Armee an die Adria, das „serbische Golgota“, und dann schließlich 1918 der entscheidende Angriff an der Salonikifront – all das kommt in der europäischen Geschichtsschreibung doch praktisch gar nicht vor, klagt Batakovic. Atmo: completely forgotten, ommited from the general history of World War One. Dass Serben diese Ereignisse nicht vergessen - für ihn ist das eine patriotische Aufgabe für die Zukunft. O-Ton 5 Batakovic Zitator-1: Aich Es ist sehr wichtig, dass sich Serbien über die Erfahrung des Ersten Weltkriegs neu erfindet. Wir sind eine demoralisierte Nation, und wir müssen der neuen Generation ein Beispiel aus unserer Geschichte geben. Dieser Mut, die Selbstaufopferung und der Patriotismus, den es im Ersten Weltkrieg gab; diese Tapferkeit, Solidarität und die Sehnsucht nach Freiheit – all das ist tief verankert in der serbischen Kultur. Und wir sind sehr stolz darauf. Autor Die Pause ist zu Ende, die erste Vortragsrunde beginnt. Serben im Ersten Weltkrieg - unter diesem Titel werden zwei Tage lang Wissenschaftler aus dem In- und Ausland einen bunten Strauß an Themen abarbeiten. O-Ton Batakovic Zitator-1: Aich Ich habe es geschafft, die besten Experten hierher zu holen - aus Groß-Britannien, Frankreich, Russland und Bulgarien. Alle, die etwas zu sagen haben über Serbien und Montenegro. Und ich denke, wir werden hier alles auf eine wirklich wissenschaftliche Weise überdenken. Autor Denn wissen Sie was, fragt Batakovic abschließend. O-Ton 7 Batakovic Zitator-1: Aich Die serbische Geschichtsschreibung baut auf der deutschen historischen Schule auf. Das heißt: Fakten, Fakten, Fakten, Fakten. Musik-5 MOD Mit Geschichte lässt sich überall Politik machen, doch auf dem Balkan noch immer ganz besonders gut. Das zeigt sich gerade jetzt an der Interpretation des Ersten Weltkriegs und des Attentäters Princip. Im sozialistischen Jugoslawien galt er als Held, gleichsam als Vorläufer Titos und der Partisanen. Seine Ziele, so die offiziell verordnete Interpretation, wurden im sozialistischen jugoslawischen Staat endlich erreicht. Als Held gilt Gavrilo Princip aber auch serbischen Nationalisten, die ihn in den 1980er und -90 Jahren vereinnahmten. So trug im Bosnien-Krieg sogar eine Einheit der bosnisch-serbischen Armee seinen Namen. Auf der anderen Seite halten viele Muslime Gavrilo Princip längst nicht mehr für einen Helden, sondern für einen Terroristen. Das frühere Österreich-Ungarn betrachten sie als wohlwollende Besatzungsmacht. Die Vorteile der bosnischen Zugehörigkeit zur Doppelmonarchie wogen die Nachteile aus ihrer Sicht bei weitem auf. Ohne Tyrannei kein Tyrannenmord . Atmo In solch gegensätzlichen Interpretationen erschöpft sich die Debatte aber längst nicht mehr. Viele Belgrader Intellektuelle wollen sich der offiziellen serbischen Interpretation nicht anschließen. Sie betrachten Gavrilo Princip als anti-kolonialistischen Befreiungskämpfer: keine nationalistische, sondern eine sozialrevolutionäre Gestalt. Insbesondere Filmemacher, Theaterleute und Autoren finden so ihren eigenen Zugang zum Attentäter von Sarajevo. Reportage 5 Autor Zameubice, Drachentöter, heißt das Stück, das das Jugoslawische Dramentheater hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg aufführt. Drei Tage vor der Premiere konzentrieren sich die Schauspieler auf die Proben der musikalischen Einlagen. Atmo Iva Milosevic sitzt im Zuschauerraum und schaut auf die Bühne. Sie ist die Regisseurin des Stücks, in dem der Krieg selbst keine Rolle spielt, wohl aber der Auslöser, das Attentat von Sarajevo - für Iva Milosevic noch immer ein faszinierendes Ereignis. O-Ton 1 Milosevic Zitatorin-1:Puciata Wenn man sich damit beschäftigt: Es gibt immer noch so viel Geheimnisvolles. Nicht in Bezug auf die Frage, wer was gemacht hat, sondern: wie war es möglich? Und die ganze Konstellation ist natürlich wie gemacht fürs Theater. Autor Ein mächtiger Staat, die Habsburger Monarchie mit all seinen Symbolen und Unterdrückungsmechanismen auf der einen Seite; auf der anderen: eine verarmte und ohnmächtige Bevölkerung - so blickt die Regisseurin auf das Bosnien-Herzegowina im Jahr 1914. Und dann ein paar Einzelne, die gegen die Gleichgültigkeit und Resignation der Mehrheit aufbegehren, die ein verzweifeltes Zeichen setzen. O-Ton 2 Milosevic Zitatorin-1: Puciata Ich möchte nicht missverstanden werden: Ich rechtfertige in keinerlei Hinsicht Gewalt. Es ist ein Stück über Freiheit, über das Heldenhafte einzelner, das unsere Zivilisation so sehr benötigt. Wenn man an diese berühmten historischen Momente denkt: der Mann, der sich vor die Panzer auf dem Tiananmen Platz in China gestellt hat. Oder Jan Palach in der Tschechoslowakei, der sich selbst verbrannt hat. All das erinnert uns daran, dass plötzlich jemand aufstehen kann - gegen etwas, das unterdrückerisch ist. Autor Für Iva Milosevic wird Gavrilo Princip so zum Zeitgenossen. Für das Stück hat sich aber noch einmal tief in die historische Materie hineingekniet, hat Bücher gelesen über das Attentat und die Zeit, sich aber auch mit den Philosophen und politischen Ideologien beschäftigt, die damals im Umlauf waren: Nietzsche, Bakunin, Trotzki sowie die ganze Literatur der Moderne: Ibsen, Dostojewski, Gorki - all das, um etwas von der damaligen geistigen Atmosphäre zu verstehen. Hätte sie damals gelebt, sagt sie, wäre sie wohl auch eine von ihnen gewesen. O-Ton 3 Milosevic Zitatorin-1: Puciata Es war eine Zeit, in der junge Intellektuelle und Studenten in der ganze Region miteinander in Verbindung traten und Ideen austauschten. Es war eine Jugendkultur, eine Art Subkultur wie auch die 68er. Ich vergleiche die Gruppe „Junges Bosnien“ auch gerne mit der britischen Punkbewegung in den 70ern. Dieser antibürgerliche Protest gegen soziale Ungerechtigkeit ist die Verbindung zu unserer heutigen Welt – das ist das, was mich an dem Stoff interessiert. Atmo Autor In der Pause sitzen die Schauspieler zusammen, rauchen und trinken Kaffee; es wird gescherzt, einige spielen Mikado, die anderen schauen auf ihre Smartphones. Iva Milosevic geht noch einmal von Tisch zu Tisch, gibt hier und da noch einmal eine Anregung. Ja, alle hier haben viel gelernt, sagt Milan Maric, einer der Schauspieler. O-Ton 4 Milan Zitator-3: Pelzer Gavrilo Princip sagte: Meine Moral kommt aus meinem Bewusstsein. Und das ist für mich das Entscheidende: Es waren keine impulsiven Knirpse, die zu viel Testosteron hatten. Sie haben viel nachgedacht, waren für ihre Zeit sehr fortschrittlich, belesen, hatten klare politische Vorstellungen. Autor Gavrilo Princip - Terrorist oder serbischer Held? Für Milan ist das beides gleichermaßen falsch. O-Ton 5 Milan Zitator-3: Pelzer Ihre Botschaft war: Wir können zusammen leben – Kroaten, Serben, Muslime. Sie waren Jugoslawen, bevor Jugoslawien überhaupt existierte. Atmo Autor Dann, die Premiere: Nach und bevölkert sich die Bühne mit historischem und fiktivem Personal: Gavrilo Pncip und die Gruppe Junges Bosnien, ein Clown, ein Richter, Bauern, und schließlich taucht auch noch Leo Trotzki auf. In immer neuen Konstellationen und Szenen werden so Vorgeschichte und Folgen des Attentats beleuchtet. Atmo Vom Richter gefragt, ob er sich schuldig bekenne, antwortet Gavrilo Princip im Gerichtssaal in Sarajevo: „Ich bin kein Verbrecher. Ich habe den beseitigt, der Verbrechen begangen hat.“ Er sei der Sohn eines armen Bauern, er wisse wie es im Land aussieht. Und: „Ich bereue nichts.“ Atmo: Applaus Am Ende ist Iva Milosevic wie immer erleichtert. Der Applaus ist ungewöhnlich lang, und immer wieder sind einzelne Bravo-Rufe zu hören. O-Ton 6 Milosevic Zitatorin-1: Puciata Ich glaube, wir haben es geschafft, die Leidenschaft herauszuarbeiten, die in diesen jungen Leuten vorhanden war. Und man kann sich wirklich damit in Beziehung setzen. Man begreift genau, wie es sich anfühlt, wenn man so unterdrückt ist, wenn Du unten gehalten wirst, wenn Du nicht atmen kannst. Und dann willst Du die Ketten sprengen. MUSIK 6 Mod Das waren die Gesichter Europas an diesem Samstag: „Schlachtfeld der Erinnerung – Serbien und der große Schatten des Ersten Weltkriegs“. Sie hörten Reportagen von Dirk Auer. Die Tagebuchauszüge stammen aus dem Sammelband „Veliki Rat – der Große Krieg – Der Erste Weltkrieg im Spiegel der serbischen Presse und Literatur“, Gordana Ilic Markovic hat ihn herausgegeben, der Band erschien in diesem Jahr im Wiener Promedia-Verlag. Axel Gottschick hat die Literaturauszüge vorgetragen. Babette Michel wählte die Musik aus und führte Regie. Die Endproduktion übernahmen Anna Dain und Hendryk Manook. Am Mikrofon war Gerwald Herter. 20