COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Regie: Musik 1 (düster), darauf Sprin Sprin: Am 2. März 1998 wird die zehnjährige Natascha Kampusch in einen Lieferwagen gezerrt. Der Entführer hält das Mädchen acht Jahre lang in einer Grube unterhalb seiner Garage in einem kleinen niederösterreichischen Ort gefangen, wo er sie immer wieder misshandelt. Sehr viele Menschen wären an einem so furchtbaren Schicksal zerbrochen. Doch Natascha Kampusch sagt schon zwei Wochen nach ihrer Flucht in einem Interview mit dem Österreichischen Fernsehen, zwar habe sie auch psychologische Hilfe bekommen, aber im wesentlichen bekomme sie die Situation selbst in den Griff. Sie habe Vertrauen in ihre Familie und vor allem in ihre eigenen Fähigkeiten. 2010 veröffentlicht sie ein Buch über Gefangenschaft und Torturen und zitiert daraus selbst: Regie: Musik wegblenden O-Ton 1: Kampusch (0'10") Der menschliche Verstand kann Erstaunliches leisten, indem er sich selbst austrickst und zurückzieht, um vor einer Situation nicht zu kapitulieren. Sprin: Auch wenn der "Fall" Natascha Kampusch extrem ist: Er ist dennoch ein Beispiel für das, was Wissenschaftler als Resilienz bezeichnen. Immer wieder beobachten sie, dass es Menschen gibt, die ertragen, woran andere zerbrechen, die ihr inneres Gleichgewicht auch nach großer Erschütterung wieder finden. Spr: Das Wort für diese psychische Widerstandskraft geht auf das lateinische resilire zurück, was so viel heißt wie abprallen. In der Werkstoffkunde werden damit Materialien von großer Spannkraft bezeichnet, die trotz extremer Belastungen immer wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückkehren. Regie: Musik 2 Sprin: Kauai, eine der Hauptinseln Hawais, regenreich, fruchtbar, noch in den 1950er Jahren mit einer mehr oder minder abgeschirmten Bevölkerungsstruktur. Die amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy Werner beobachtete fast 40 Jahre lang den Werdegang sämtlicher Menschen, die 1955 auf der Pazifikinsel geboren wurden. Etwa 200 der Untersuchten hatten das, was man eine "schwierige Kindheit" nennt: in äußerst ärmlichen Verhältnissen lebend, oft sexueller Gewalt ausgesetzt, die Eltern krank oder drogensüchtig, die Familien zerrüttet. Und viele von diesen Kindern wurden im Laufe ihres Lebens selbst süchtig, gewalttätig, psychisch krank oder straffällig. Regie: Musik wegblenden Spr: Emmy Werner wunderte sich aber über gar nicht so seltene Ausnahmen, erzählt Herbert Scheithauer, Professor für Entwicklungspsychologie an der Freien Universität Berlin: O-Ton 2: Scheithauer (0'18") ... dass sie Kinder gefunden hat, die sich trotz massiver Risikobedingungen relativ normal entwickelt haben. Also zum Beispiel nicht delinquent wurden, einen Beruf ergriffen haben, und sich ganz normal weiter entwickelt haben. Und das fand sie schon ganz bewundernswert und hat dort versucht herauszufiltern, wodurch zeichnen sich diese Kinder eigentlich aus? Sprin: Emmy Werner ist noch davon ausgegangen, dass es sich um eine den Kindern innewohnende "Robustheit" handelt, sprach auch von "Unverwundbarkeit". Aber sie sah zugleich, dass ein erheblicher Teil der Widerstandskraft durch die sozialen Lebensumstände bestimmt wird. Bei den resilienten Kindern von Kauai zeigte sich vor allem: Spr: Erstens eine stabile emotionale Beziehung zu mindestens einem Erwachsenen, einem Lehrer, einem Nachbarn oder einer Tante etwa. Zum Zweiten im Umfeld mindestens einen Menschen, der als soziales Vorbild diente und zeigte, wie Probleme konstruktiv gelöst werden können. Und schließlich "Selbstwirksamkeit": Die widerstandsfähigeren Kinder haben früh die Erfahrung gemacht, dass sie eine wichtige Aufgabe bewältigen konnten, indem sie zum Beispiel jüngere Geschwister versorgten oder ein Amt in der Schule übernahmen. < O-Ton 3: Staudinger (0'24") Resilienz, Widerstandsfähigkeit, entsteht aus den Ressourcen und Möglichkeiten, die eine Person in sich selbst trägt, sei es nun ihre geistige Leistungsfähigkeit, ihre Bewältigungsmechanismen, ihre Charaktereigenschaften, die aber dann in Wechselwirkung treten mit weiteren Ressourcen, die sich in der Umgebung der Person befinden. Sprin: So fasst es die Bremer Entwicklungspsychologin Professor Ursula Staudinger zusammen. Mit Ressourcen meint sie: O-Ton 4: Staudinger ff (0'48") Das können soziale Beziehungen sein, soziale Unterstützung, das können aber auch Institutionen sein, also Bildungsinstitutionen, das Arbeitsumfeld; in dem Sinne spreche ich dann eben von einem interaktiven Begriff von Widerstandsfähigkeit, die eine gegebene Person in einer gegebenen Herausforderungssituation anzuwenden hat. Die Resilienzkonstellationen sind da sehr unterschiedlich: Manche Menschen schaffen das aus sich heraus, andere brauchen viel stärker auch äußere Bezüge und Hilfestellungen dabei, es ist immer wieder diese individuelle Ressourcenkonstellation, die da zu Buche schlägt. Regie: Musik 2 Sprin: Ein zweiter Pionier der Resilienzforschung ist der US-Soziologe Aaron Antonovsky, der 1960 nach Israel auswanderte. Dort begann er eine Studie zum Umgang mit Stressfaktoren am Beispiel von Frauen in den Wechseljahren. Ein Viertel der Studienteilnehmerinnen war in europäischen Konzentrationslagern gewesen. Und auch hier wieder das Staunen eines Forschers: Nicht wenige dieser Frauen meisterten trotz der schrecklichen Erlebnisse ihr Leben sehr gut. Sie entwickelten keine schweren Depressionen, litten nicht häufiger unter psycho- somatischen Erkrankungen, und sie waren so beziehungs- und arbeitsfähig wie ihre Altersgenossinnen ohne vergleichbare traumatische Erfahrungen. Sprin: Antonovsky betreute in den 1970er Jahren Studien zum Umgang mit Stress und ist dabei in Israel Frauen begegnet, die das KZ überlebt hatten. Es war zu erwarten, dass sie auch nach Jahrzehnten noch unter diesen traumatischen Erlebnissen litten, dass sie neben bleibenden gesundheitlichen Problemen vor allem auch psychische Folgeschäden hätten und in Belastungssituationen "verletzlicher" als andere wären. Bei vielen der Frauen stimmte das auch. Aber, schreibt Antonovsky in seiner Studie: Zit.: Wir fanden immer wieder Überlebende, die gut adaptiert waren. Durch irgendein Wunder hatten sie es geschafft, ihr Leben neu aufzubauen. Und so kam ich dazu, mich zu fragen: Worauf ist dieses Wunder zurückzuführen? Ich fing an mit der Suche nach generellen Widerstandsfaktoren oder, wie ich sie nannte, heilsamen Faktoren. Faktoren, die einem helfen, mit Stressoren umzugehen. Spr: Als Ursache für diese Kraft machte der Sozialwissenschaftler die Fähigkeit aus, Zusammenhänge zu verstehen, den Glauben, dass das Leben - trotz aller Beschwernisse - einen Sinn hat, die Überzeugung, das eigene Schicksal beeinflussen zu können. All das fasste Antonovsky in dem Begriff "Kohärenz" zusammen. Regie: Musik wegblenden Sprin: Alexa Franke, Gesundheitspsychologin aus Dortmund, hat sein Hauptwerk ins Deutsche übersetzt. O-Ton 5: Franke (0'13") Die Frage - sagt Antonovsky - ist eigentlich gar nicht: Warum werden Menschen in dieser Welt krank? Das liegt eigentlich auf der Hand. Das Wunder ist, dass so viele es schaffen, gesund zu bleiben, angesichts all der Bedrohungen und all der Belastungen, die sie so haben. Sprin: Die Gesundheitspsychologin schildert die drei Teile des Kohärenzbegriffs: O-Ton 25: Franke (0'48") Den einen Teil, den nennt Antonovsky "Verstehbarkeit", ich verstehe, was in meiner Umwelt passiert, ich verstehe auch, was in meinem Körper, was in meinen Gefühlen passiert, also ich habe ein Bild von der Welt, in der ich lebe, und ich kapiere die. Die zweite Variable wird genannt "Handhabbarkeit", Handhabbarkeit bedeutet, dass ich die Mittel und die Wege habe, mit den Anforderungen, die auf mich zukommen, umzugehen. Das muss nicht immer sein, dass ich für alles sofort die richtige Lösung habe, aber dass ich doch im Prinzip davon ausgehen kann, also wenn da ein Problem kommt, ich kriege die Sachen schon geregelt; Und die dritte Variable, das ist die so genannte Bedeutsamkeit, heißt, ich mache das auch, weil ich irgendwie eine Idee davon habe, dass das, was ich tue, auch einen Sinn macht. Sprin: Aus seinen Erkenntnissen entwickelte Antonovsky einen Paradigmenwechsel in der Medizin: Als "Salutogenese" bezeichnete er seinen neuen Ansatz, weg von der Pathologie, der Lehre von der Krankheitsentstehung, hin zu der Frage, was Menschen gesund erhält. Allerdings: O-Ton 26: Franke (0'27) Gesundheit und Krankheit sind nicht zwei sich ausschließende Gegensätze, man ist entweder das eine oder das andere, sondern Gesundheit und Krankheit befinden sich auf einem Kontinuum sozusagen als zwei Pole, und wir sind immer auch ein bisschen - auf irgendeiner Dimension - ein bisschen krank, auch wenn wir ganz gesund sind, und aber auch, wenn wir krank sind, gibt es immer noch vieles bei uns, was gesund ist. Sprin: Aaron Antonovsky hat übrigens den Begriff "Resilienz" nie aufgegriffen, obwohl die Übereinstimmungen mit seinem "Kohärenzgefühl" offensichtlich sind. Mitunter wurde ihm auch vorgeworfen, die Widerstandskraft vorrangig als eine Persönlichkeitseigenschaft zu sehen und damit hinter neueren entwicklungspsychologischen Erkenntnissen zurückzubleiben. Er aber betonte: Zit.: Bitte erinnern Sie sich daran, dass ich Soziologe bin, der Modelle von Konflikt und Macht als zentral für die Erklärung der menschlichen Existenz ansieht. Ich bestreite nicht die Wichtigkeit früher Kindheitserlebnisse und naher zwischenmenschlicher Beziehungen. Aber die eigentlichen Quellen des Kohärenzgefühls müssen in der Natur der Gesellschaft liegen, in der jemand lebt, in einer bestimmten historischen Periode, in einer bestimmten sozialen Rolle, in die jemand eingebettet ist. Um es konkreter auszudrücken: Die Stärke des Kohärenzgefühls hängt von den Erfahrungen ab, die eine Frau in der patriarchalischen Gesellschaft sammelt, die ein Fremdarbeiter oder ein der Diskriminierung ausgesetzter Einwanderer sammelt, oder, als Gegenstück, die ein respektierter Professor oder ein machtvoller Politiker sammeln. Sprin: Weil aber Aaron Antonovsky mehr soziologisch orientiert war, gilt Emmy Werner als "Mutter der Resilienzforschung", die sich als Zweig der Entwicklungspsychologie etabliert hat. Das wissenschaftliche Interesse am Phänomen der inneren Stärke ist nach wie vor groß, allerdings hat sich der Fokus verändert: Spr: Resilienz ist heute nicht nur ein Thema in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, sondern beschäftigt auch Altersforscher, Neurobiologen und Genetiker, sowie Traumapsychologen und Gesundheitswissenschaftler. Und nachdem die Schutzfaktoren nun weitgehend identifiziert sind, geht es in den neueren Studien zunehmend um die Frage, wie die psychische Widerstandskraft von Menschen gefördert und gestärkt werden kann. Denn immer deutlicher hat sich gezeigt, dass es sich hier nicht um ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal handelt. Herbert Scheithauer, Leiter der Arbeitsgruppe für Entwicklungswissenschaft und angewandte Entwicklungspsychologie an der FU Berlin: O-Ton 6: Scheithauer (0'18) Wir verstehen unter Resilienz eigentlich einen dynamischen Anpassungsprozess. Das heißt, das was Resilienz ausmacht, ist nicht das, was uns in die Wiege gelegt wird, sondern Resilienzfaktoren, Resilienzmerkmale sind eigentlich Eigenschaften, die wir uns mehr oder weniger in der Auseinandersetzung mit der Umwelt erarbeiten. Sprin: Der amerikanische Familientherapeut H. Norman Wright wählt dazu das Bild vom Leben als Boxkampf: Zit.: Ein resilienter Mensch wird von einem Schlag getroffen und angezählt, steht aber wieder auf und sucht danach eine neue Taktik. Menschen ohne diese Resilienzfähigkeit bleiben entweder gleich liegen oder kämpfen im genau gleichen Stil weiter und werden sehr wahrscheinlich bald wieder niedergeschlagen. Sprin: Die moderne Resilienzforschung betont, dass das "Stehaufmännchen-Phänomen" nicht immer da ist, sondern dass die psychische Widerstandskraft gepflegt werden muss, um in einer neuerlichen Belastungssituation aktiviert werden zu können. O-Ton 7: Scheithauer (0'17") Resilienz ist also nicht wie eine Art Impfung, die ich einmal bekomme, und dann bin ich immer gewappnet in allen Situationen, wir wissen natürlich inzwischen auch aus Längsschnittstudien, dass das so nicht stimmt. Wir müssen tatsächlich Resilienz zu wichtigen Entwicklungszeitpunkten immer wieder fördern und die Ausbildung dieser Resilienzmerkmale unterstützen.