COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandrundfahrt Grenzfall ?Dinxperwick? Warum sich Westfalen und Holland manchmal näher sind als gedacht Von Michael Frantzen Sendung: 29. September 2012, 15.05 Uhr Ton: Inge Görgner Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2012 Kennmusik 1. O-Ton (Schlütter) ?Wird datt ausgesendet auffen Radio? (Autor) Genau! Am 29. September...(Schlütter) Ja?!...(Autor) Und zwar auf Deutschlandradio Kultur.? (betont gesprochen) 2. O-Ton (van Reken) ?Was ist das denn um Gottes Willen?? (betont gesprochen) Autor Na, das kann ja heiter werden. 3. O-Ton (Frau aus Chor) ?Deutschlandradio? Is das das, was man unter Deutschlandfunk kennt auch? (Autor) Das ist unsere Schwester sozusagen. (Frau) Die große Schwester wahrscheinlich?! (Autor) Die ist älter, sagen wir mal so.? (Frau lacht laut) Autor Müssen wir uns auch gleich mal abgrenzen. Das allerdings ist leichter gesagt als getan - in der Münsterländer Provinz. 4. O-Ton (Schlütter) ?Der Bordstein ist die Grenze.? Autor Zwischen hüben und drüben. 5. O-Ton (Schlütter) ?Da gibt?s noch ne richtige Grenze, watt meinen Sie denn?? Autor Tief im Westen. 6. O-Ton (Schlütter) ?Mittem Auto oder dem Fahrrad: Müssen wa auffe Straße, sind wa schon in Holland.? Sprecher vom Dienst: Grenzfall Dinxperwick Warum sich Westfalen und Holland manchmal näher sind als gedacht Eine Deutschlandrundfahrt von Michael Frantzen 7. O-Ton (Schlütter) ?Ich bin Ursula Schlütter. Geborene Jansen. (Holländisch) Ik been Ursula Slütter, jeboren Jansen. Und daan opp Platt?! (lacht) Ick been Ursel Schlütta, ik bin jeborne Jansen. Ich wohne in Suderwick auf dem Hellweg. Und da is: Die Straße is an der linken Seite, is deutsch. Und rechts is Holländisch.? Autor Dinxperlo, um genau zu sein. 8600 Einwohner. Auch eine Art große Schwester ? der kleinen Deutschen. Doch das hören sie in Suderwick, dem 1800-Seelen-Nest, nicht so gerne. Da gibt es summa summarum zwei Kirchen, einen Edeka ? und gefühlt mehr Kühe als Menschen. Ein Dorf halt. Dinxperlo dagegen hat schon eher was von einer Stadt. Das bleibt nicht ohne Folgen ? im ?Zonenrandgebiet?. 8. O-Ton (Schlütter) ?Wenn mich jemand auf Holländisch anspricht, dann geb ich auch holländisch Antworten.? Autor Da kennt Ursula Schlütter nichts. Zwar ist die Rentnerin nicht mehr ganz so gut auf den Beinen, aber im Kopf, meint sie und tippt sich an die Stirn ? da läuft alles noch seinen rechten Gang. 9. O-Ton (Schlütter) ?Wir haben alles schon mitgemacht.? Autor Das kann man wohl laut sagen: Zwei Weltkriege; ein Dasein hinterm Stacheldraht; wahre Odysseen durchs halbe Münsterland, weil die Grenzstation am Hellweg mal wieder zu war und die nächste offene Jott-We-De. Seit dem ersten Januar 1993 ist das anders; seit Schengen. Keine Schlagbäume mehr, keine Kontrollen. Stattdessen: Offene Grenzen. 10. O-Ton (Schlütter) ?In Suderwick. Oder in Dinxperlo. Datt is hier so nen bisschen eine Einheit hier. Man nennt's auch manchmal Dinxperwick. Weil datt so anander sitzt.? Autor Besonders am Hellweg, der an der holländischen Bordsteinkante zum ?Heelweg? wird. Gehört irgendwie alles zusammen. Wenn Ursula Schlütter Aufschnitt braucht oder ?Würskes?, wie sie in Westfalen sagen, Würstchen, geht sie quer über die Straße, zum ?Slachter?, dem holländischen Metzger. Verstehen sich bestens ? die beiden. 11. O-Ton (Schlütter) ?Hier wird Platt gesprochen. Auch die hier gegenüber: Die sprechen auch noch alle Platt. Denn man kann sich viel besser oft mit Platt verständigen, als mit Hoch-Deutsch und Hoch-Holländisch.? 12. O-Ton (Elting) ?Wir prot hier alle Platt.? Autor Tönt es vom anderen Ende des Hellwegs. 13. O-Ton (Elting) ?Ich bin Gerald Elting. Wohn Hellweg 74. Wo sie hier gerade sind. Ja, watt muss ich sagen? Die Grenze ? mitten über nen Bürgersteig. Hier hab ich immer gewohnt, hier bin ich geboren. Meine Vorfahren ? die kommen hier aus Suderwick. Von Vaters Seite. Von Mutters Seite ? die kommen alle aus Holland.? Autor Gutes Stichwort: 14. O-Ton (Elting) ?Do kömmt mine Frau an. Jetzt wird?s spannender. (Anni Elting kommt näher) (Anni Elting) ?Anni Elting! Die Frau von Gert. (lacht) Man fällt immer so auf. Komis. Da tut man sein Bestes. Und will man Deuts reden. Und da sprechen se sofort Holländisch.? Autor Komisch aber auch. 15. O-Ton (Anni Elting) ?Datt hören se sofort. Kann man nix dran tun, nä?! (Herr Elting) ?Wir reden so. Datt is so. (Anni Elting) ?Von Mund zu Mund.? 16. O-Ton (Opping) ?Hier is man sofort an unserem deutschen Nachbarn dran. Man geht über die Straße und da sind schon die Deutschen.? Autor Ist aber keine Einbahnstraße ? das nachbarschaftliche Miteinander. Die Deutschen schauen auch ganz gerne bei Ria Opping vorbei, besonders die nicht ganz so Alten. 17. O-Ton (Opping) ?Mein Laden heißt Busy Bee. Wir verkaufen Second-Hand Marken- Kinderkleidung. Autor Der Kunde ist König ? bei ?Busy Bee?, der fleißigen, holländischen Biene. 18. O-Ton (Opping) ?Solange wir hier sind, werden wir sie bedienen.? Autor Das kann dauern. Zwar besteht der Second-Hand Laden am ?Heelweg? nur aus zwei kleinen Räumen, aber die sind von oben bis unten vollgestopft mit Kindersachen: Hosen, Röcke, über der Kasse: Thront eine braune Jacke aus Kaninchen-Fell. Wohl eher was für die holländische Kundschaft, meint die ganz in lila gekleidete Frau mit den funkelnden Augen lachend. Gibt nämlich Grenzen ? des ?guten? Geschmacks. 19. O-Ton (Opping) ?Ich denke, in Deutschland trägt man nicht so schnell ein Kleid mit Hose drunter. Wir sagen immer: Wenn das Kleid zu kurz wird und passt weiter noch, kann man auch ne Hose drunter tragen. Natürlich sön kombiniert. Ja. Doch. Schon anders als in Deutsland. Sie sehen es jetzt: Viele bunte Farben. Viel Pink. Lila. Grün. Rot. Und das is noch ein bisschen swierig in Deutsland. Sagt die deutse Kundschaft: Nee. Doch lieber nich!? Autor Fündig werden die meisten trotzdem. Besonders freitags, wenn die deutschen Shopping-Touristen auf dem Weg zum Markt in Dinxperlo am rot-geklinkerten Laden mit den hohen Fenstern Station machen. 70 Prozent der Kundschaft kommt von jenseits der Grenze. 20. O-Ton (Opping) ?Wenn hier Leute rein gekommen sind und sagen dann: Bin ich jetzt in Holland? Die haben wohl gehört: Da is was. Irgendwo. Aber wo is denn die Grenze? Wo kann ich datt sehen? Dann haben wir immer gesagt: Dann gucken se mal: Auf der anderen Seite ? da sind die Straßenlaternen kürzer und hat so eine runde Form. Und hier sind die ganz hoch und haben ne ganz andere Form. Also, da konnte man schon sehen: DAS ist Deutschland. Und DAS is Holland. Leider haben die die Laternen an der Seite weggeholt, weil die haben sich wahrscheinlich gedacht: Die holländischen Laternen sind eh viel größer: Wir haben auch genuch Licht von ner anderen Seit.? 21. O-Ton (Schlütter) ?Ja. Und dann...ich erzähl ihnen gleich... (Autor) Ja?! (Schlütter)...weiter. Ich kriech ne Tasse. Und dann können wir schön Kaffee trinken.? 22. O-Ton (Gruppe) ?Ah! Oh! Ah!? 1. Atmo: Tusch Regie: Hart an Zitator ran 01 Zitator ?Die Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei ist nur schwer zu ziehen: Stecken Sie sich einen Ring in ihre Nase, und Sie sind eine Wilde; stecken Sie sich zwei Ringe in Ihre Ohren, und Sie sind zivilisiert.? Pearl S. Buck Regie: Hart an Musik ran 1. Musik Titel: Die Grenzen des guten Geschmacks Interpret: Tocotronic Komponist: Tocotronic Label: Motor, LC-Nr.: 04909 23. O-Ton (Schritte auf Kies) (Autor geht in Halle rein, ruft) Guten Tag?! Hallo?! (Verena Winter) Ja! Haaaloo! Moment! (Autor) Ja. (Stille) (Autor) Guten Tag. (Winter) Hallo! (Autor) Hallo! (Winter) Moment! (lacht) (Autor) Ja. (Stille) (Autor) Ich bin sogar wider meine Natur fast überpünktlich. (Winter lacht) Gehen wir doch... (van Reken) Hallo! (Autor) Hallo! Michael Frantzen. (van Reken) Joop van Reken. Guten Tag. (Autor) Guten Tag. (Winter) Im Moment haben wir ja keine Ausstellung laufen...geht das schon los? (Autor) Jo. Ich hab gedacht: In Medias Res. (Winter) In Medias Res?! (Autor) Ja. (Winter) Himmel, wir sind überhaupt nicht vorbereitet. (lacht) (kommt näher) Ich bin Verena Winter. Vom Grenzblick-Atellier in Suderwick-Dinxperlo. Sprich: Wir sind auf der deutschen Grenze und schauen auf die niederländische Seite. Die ist hier hundert Meter weiter. (van Reken) Das Aussicht hier von meinem Arbeitsplatz: Das ist Land, das ist Feld, das sind schöne Bauernhöfe. Ich als Fotograph bin da natürlich sehr empfindlich da für. Jede Stimmung sieht man hier aus dem Fenster mit. Mal Sonne, mal Abendsonne, mal Regenschauer. Mal dunkel, mal Gewitter. Ich komm aus die Großstadt. ? (Autor) Aus welcher Stadt kommen sie denn? (van Reken) Aus Den Haag. Für mich ist das pure Erholung, hier arbeiten zu dürfen. (Winter) Ich komm aus Wien übrigens. Hört man vielleicht. Komm ja auch nicht vom Niederrhein. (Autor) Nicht ganz. (beide lachen) (Winter) Aber: Wir sind ja an der Grenze und international und mitten in Europa. Was will man mehr!? (lacht) Und deswegen: Wir wollen über Grenzen gehen. Sprich: Mit der Kunst. Wir wollen keine Grenzen setzen. (Autor) Würde Ihnen das was ausmachen, wenn wir vielleicht kurz mal raus gehen? Ich hab die Grenze natürlich schon gesehen, aber mit Ihnen als zwei geschulten oder vier geschulten Augen is das ja mal interessanter. (Winter) Ja. Meinen Sie, bis zur Straße hin? (Autor) Genau. (gehen raus) (Winter) Man sieht: Der Eingang ist noch ein bisschen romantisch. Die eine Seite hat noch dichten Busch. (van Reken) Wollen wir mal zum Grenz-Posten laufen? (Autor) Gerne. (Laufgeräusche) (Winter gehend) Es ist auch interessant: Wir haben Freunde auf der deutschen Seite, auf der niederländischen Seite. Kennen einen biologischen Bauern, mit hervorragendem Käse. (lacht) Aber natürlich gehen wir auch weiter als nur Suderwick-Dinxperlo. Es liegt ja günstig. Wenn man überlegt: Die A3 is sehr nah. Man is in anderthalb Stunden in Amsterdam. Man ist in anderthalb Stunden in Köln. Münster ist nicht weit. (Laufgeräusche) (Winter) Das Schild: Grenzblick-Atellier, das hier an der Straße steht und zur Galerie weist, ist gerade mit Brennnesseln zugewachsen. Wir müssen da mal wieder mit der Machete durchgehen. (van Reken) Ja! Überwachs sehr schnell. Pflanzen. Tiere. Die setzen alles wieder schnell zurück, was man...(Auto kommt an)...Oh! Pass auf! (Auto fährt vorbei) (Winter) Da sind...(Laufgeräusche) die Kreuzchen von der Grenze. Deutschland! Nen bisschen verwaschen. Man sieht's. (van Reken) Das machen die Kinder immer gern. Mit einem Bein auf der holländischen Seite, mit anderen Bein auf der deutschen Seite. (Autor) Und Sie machen das gerade auch? Sagen Sie mal kurz: Wo sind Sie jetzt? Ihr rechtes Bein... (van Reken) Ja, mein rechtes Bein ist jetzt auf die deutsche Seite. Und links is die Koeperstraat. Das klingt auch eindeutig Achterhoek, holländisch. Dinxperlo. (Winter) Und dieser alte Stein hier weißt eben auf das Jahr 1766 hin. Es ist schon grün angelaufen, aber man sieht die Krone über dem Wappen. (van Reken) Das ist ein holländisches Wappen. Wissen tu ich's nicht. Es gibt hier mehrere alte und neuere Steine entlang das ganze Koeperstraße, die jetzt teilweise im Mais versteckt sind. (Autor) Wollen wir vielleicht wieder zurück? (Winter) Ja, gehen wa zurück. Es is nämlich alles offen. (Autor) Und viel Verkehr heute. (Auto kommt) (Winter) ?Ah! Die Post! Danke schön! (Postbotin) Tschüss! (Winter) Tschüss! (Auto fährt weg) (Winter) So geht das auch hier! (lacht) 2. Musik Titel: Border Zone (Teil 1) Interpret: Jacob de Haan Komponist: Jacob de Haan Regie: Musik schon unter vorherigen O-Ton blenden, circa 30 Sekunden oder länger frei stehen lassen und dann unter folgenden O-Ton blenden 24. O-Ton (Autor) ?Haben Sie denn noch ne Erinnerung, wann Sie das erste Mal bewusst Grenzen überwunden haben? (Winter) ?Grenzen überwunden?! Ja stimmt. Ich hatte eine Grenze überwunden, da hatte ich geschäftlich in Bad Reichenhall zu tun und hatte ein Gespräch mit dem Kunden. Das war nen Mann so um die vierzig. Er meinte dann: Oh, jetzt muss er Schluss machen. Und sag ich: Ja, warum? Ja, ja, ich geh jetzt noch Paragliding. Ah! Wahnsinn! Toll! Interessant! Ja, ich bin Tandem-Paraglider. Wollen Sie mit? Sag ich: Ja, ich hab in meinem Auto zum Glück immer Wanderschuhe und Jeans dabei. Ich war ja im Business-Outfit. Und das war eine unglaubliche Grenze, die ich überschritten hab, in mir selbst. Wir sind dann auf den Berg geklettert, auf 1400 Metern. In den Tandem-Paraglider eingestiegen. Und dann sind wir abgehoben. Sind eine Stunde 45 Minuten in der Luft geflogen. 2743 Meter (betont gesprochen) war die höchste Höhe. Und erst später hab ich erfahren, dass er ehemaliger Vize-Meister in Tandem-Paragliding war. Das war eine Grenze! Würd ich sagen: Das war die größte Grenze, die ich überschritten hab. (Autor) Haben Sie denn auch noch Erinnerung: Wo Sie das erste Mal für sich gesagt haben... (van Reken) Ja, ich überlege gerade. Ich denk: Die wichtige Grenze, die uns Menschen gestellt wird, ist der Tod. Und das eigene Körper. Ich bin als junger Mann sehr krank gewesen. (Autor) Was für eine Krankheit? (van Reken) Ich hatte Morbus Crohn, das ist eine Darmkrankheit. Und da war es so schlimm, dann wollt ich einen Job haben, da haben sie mich dafür unfähig befunden ? wegen der Krankheit. Und da haben sie gesagt: Na ja, wenn sie noch mal Arbeit finden, wird das vom Staat gefördert. Die Grenze, die ich da überschritten hab, ist, dass ich gesagt hab: Nä! Das akzeptier ich nicht. Ich finde es ganz schön, diese soziale Versorgung, aber ich möchte das doch selber machen. Und ich hab seitdem eigentlich alles getan, was die mir verboten haben: Selbstständig sein; unregelmäßig leben; Verantwortung tragen; Unternehmer sein. Dass eine Grenze gestellt wird: Sie sind krank, sie sollen das bleiben, ja, so ungefähr hat's geklungen. Ich bin ein religiöses Mensch. Ich denk, irgendwie wird man auch getragen im Leben. Und wenn man dafür offen ist, findet man seinen Weg.? Regie: Zitat auf 3. Musik 3. Musik Titel: Border Zone (Teil 2) Interpret: Jacob de Haan Komponist: Jacob de Haan 02 Zitator ?Es gibt keine Grenzen. Weder für Gedanken, noch für Gefühle. Es ist die Angst, die immer Grenzen setzt.? Ingmar Bergmann. 25. O-Ton (van Reken) ?Hab ich eine sehr schöne Wohnung hier gekauft, als Wochenendhaus, als Urlaubshaus. Jetzt wohn ich fast ständig hier. Das war ein Riesen- Preisunterschied. Für die Holländer is es noch immer günstig, in Deutschland ein Haus zu erwerben.? Autor War auch schon mal anders rum. 26. O-Ton (Opping) ?Was für uns ein großer Unterschied war: Dass die Deutschen an unserer Seite Häuser gekauft haben. Weil's hier billiger war. Und jetzt is es andersrum. Jetzt ziehen die Holländer nach Deutschland ? an der anderen Seite.? Autor Ria Opping, die Busy Bee, aber bleibt da, wo sie ist: Am ?Heelweg?, auf holländischer Seite. 27. O-Ton (Opping) ?Die deutse Kundschaft sagt datt immer: Dass hier alles so...? 28. O-Ton (Schlütter) ?...emm, ja, hm...wie muss ich's jetzt sagen?...nen bisschen offener. Die Holländer.? 29. O-Ton (Opping) ?Gardinen auf! Keine Rolladen...heißt datt so?.... Runter! Offen! Keine kleine, dichte Fenster mit viele Gardinen da vor. Als ob wir so ab und zu im Schaufenster sitzen und Fernseh gucken. So sieht es ein bischchen aus. Das ist schon ein großer Unterschied. Man sieht's an der Wohnung. Man sieht's am Auto natürlich. Man sieht's auch an den Leuten. Dann sieht man von weitem schon: Da kommt ein Deutscher. Sieht anders aus.? 30. O-Ton (Naves) (Gemurmel) ?Goedde Midag allemal. Ik ben Ed Naves, ik ben Lektores von et Grenslandmuseum. Herdelig Welkom! Ja, da beginnen we mit et Dinxperlo, Süderwijk vor al... Autor Mit Mentalitäts-Unterschieden kennt sich auch Ria Oppings Landsmann Ed Naves gut aus. Ein paar Mal im Monat führt der braungebrannte Rentner Interessierte durch das ?Grenzland-Museum? von Dinxperlo - wie an diesem spätsommerlichen Nachmittag, der vergessen lässt, dass es hier nicht das Verkehrteste ist, sicherheitshalber einen Regenschirm mit einzupacken. Heute aber: Strahlender Sonnenschein. Gut zwanzig Leute sind gekommen, eine Reisegruppe aus Achterhoek, alles Holländer. Die wissen wollen, wie das damals war, als die Schlagbäume noch hinter einem zuschnappten. Deutsche sind keine dabei, die kommen morgen, meint Naves, der als Vertreter einer internationalen Bekleidungsfirma so seine Erfahrungen gesammelt hat ? mit den ?lieben Nachbarn.? 31. O-Ton (Naves) ?In Holland is: Wenn man als Vertreter kommt: Das erste, was nen Kunde fragt: Möchten sie Kaffee? Das is in Deutschland: Nä! Das is nen grotes kulturelles Unterschied. In Deutschland ist es was Geschäftlicher. Was Sachlicher.? Autor Deutschland hat Ed Naves, der Handelsreisende, gut kennen gelernt; und halb Europa mit dazu. Frankreich: War schwierig, weil: Die Franzosen wollten partout nur Französisch reden. Russland: Eine mittlere Katastrophe. Dänemark: Da habe er sich immer am wohlsten gefühlt. Weil: Dänen und Holländer würden ähnlich ticken. Mehr als zwei Jahrzehnte war er auf Achse, ständig auf irgendwelchen Verkaufsmessen, bis er mit Anfang sechzig die Nase voll hatte. 32. O-Ton (Naves) ?Das war sechs Monate im Jahr. Und da kommen meist am Freitag die Messe. Samstag zu Hause. Sonntags wieder weg. Zur nächsten Messe. (Telefon klingelt) Moment!...Grenslandmuseum. Goeden Middag! (redet kurz) Ok! OK! Daag!...Sehr stressig. In Russland. Man hat Kunden. Die Sprache Russisch. Dann hat man Dolmetscher. Aus Russland. Der musste es umsetzen in Englisch. Und Englisch im Kopf übersetzen in Holländisch wieder zurück: Und in Russland ist es so: Auf Messe, für große Kunde, wird keine Geschäfte gemacht. Das wird nachher gemacht. Und dann kam die Wodka-Flasche vorbei. Die Pflanzen haben sehr viel Wodka getrunken. (lacht) Man musste den Kopf dabei behalten. Das war sehr anstrengend.? Autor Graust es dem ehemaligen Grenzgänger im Nachhinein. Nach Russland kriegen ihn keine zehn Pferde mehr. Zu stressig, zu fremd, zu anders. Dann doch lieber die Nachbarn von der anderen Seite des ?Heelwegs? ? auch auf die Gefahr hin, dass sie ihm keinen Kaffee einschenken. 33. O-Ton (Brand) ?Also, ich denke, man sollte die Unterschiede jetzt auch nicht einfach übertünchen. Oder so tun, als ob alle gleich oder egal sind.? Autor Hält Werner Brand die deutsche Flagge hoch. 34. O-Ton (Brand) ?Das wär auch schade drum. Im Verein haben wir das gemerkt; dass wir enorm viel voneinander lernen können.? Autor Manche nennen Brand scherzeshalber den ?inoffiziellen Bürgermeister? von Suderwick ? und das nicht nur, weil es einen Offiziellen schon lange nicht mehr gibt. Sind ja nur noch Ortsteil von Bocholt, der 70.000 Einwohnerstadt. Der 63jährige kommt aus dem Hunsrück, ist ergo: Ein Zugezogener. Allerdings einer mit den richtigen Verbindungen: Seine Frau ist ?Poahl-Bürgerin?, wie sie im Münsterland sagen: Eine Alteingesessene, deren Stammbaum sich bis ins 17. Jahrhundert zurück verfolgen lässt. Das erleichtert Integration und Akzeptanz gleichermaßen ? selbst bei sturen westfälischen Bauern. Der Mann mit dem Vollbart hebt die Hände ? von wegen: Klischee! Bevor er anfängt zu lachen. Der Lehrer am Abend-Gymnasium der Kreisstadt Borken tanzt auf ziemlich vielen Hochzeiten ? vereinstechnisch: *) Er ist Mitglied der Deutsch- niederländisch-israelischen Gesellschaft und seit neustem Ko-Vorsitzender der deutsch-holländischen Bürgerinitiative ?Dinxperwick?. In letzterer haben sich Suderwicker und Dinxperloer zusammen geschlossen, um zu verhindern, dass die typisch Münsterländer Kulturlandschaft mit ihren Feldern, Hecken und Alleen vor Brands Haustür dem Kiesabbau zum Opfer fällt. Grenzüberschreitend. 35. O-Ton (Brand) ?Da kommt Bert Wesseloo. Sozusagen nen anderer Grenzland-Bewohner, von der anderen Seite der Grenze. (Wesseloo kommt näher) ?Luftlinie nen paar hundert Meter. Deswegen haben wir gleiche Interessen.? Autor Kurze Sätze, klare Ansage: Bei Bert Wesseloo, der mit seinem blonden Haar und dem gut durchbluteten Gesicht ein bisschen so aussieht, wie man sich klischeehafterweise immer schon einen klischeehaften Holländer vorgestellt hat, weiß man direkt, woran man ist. In den 90ern hat der Ko-Vorsitzende von ?Dinxperwick? beruflich ziemlich viel in Deutschland zu tun gehabt. Kennt sich also aus ? mit den Gepflogenheiten beim Nachbarn östlich der Grenze. Eigentlich. Dass Versammlungen in Suderwick bisweilen einen kulinarischen Beigeschmack haben, war für ihn dann aber doch Gewöhnungssache. 36. O-Ton (Wesseloo) ?Wenn man irgendwo in eine Versammlung geht: In Holland wird datt eigentlich ziemlich sachlich abgehandelt. In Deutsland einerseits auch, weil es laut Agenda alles abgewickelt. Aber gleichzeitig sind alle am großen Tisch und das hab ich öfters erlebt: Der eine muss nen Bier haben, der nen Snitzel. Und da wird gegessen und getrunken. Und gleichzeitig steht da einer vor und der sagt, watt er will. Das haben wir in Holland noch nie erlebt. Das is eigentlich ganz schön, aber als Holländer, im Anfang, staunt man. Ganz klar. Weil: Ich bin hier nich zum Essen und zum Saufen.? 37. O-Ton (Schlütter) ?Datt wussten wir schon.? Autor Frau Schlütter?! 38. O-Ton (Schlütter) ?Ja! Warten se mal! Das ist noch nich alles.? Autor Zum Grenzfall Dinxperwick. 39. O-Ton (Gruppe) ?Ah! Oh! Ah!? 5. Atmo: Tusch Regie: Hart an Zitator ran 03 Zitator ?Glück und Unglück sind Namen für Dinge, deren äußerste Grenzen wir nicht kennen.? John Locke Regie: Hart Musik ran 4. Musik Titel: Selbstbehauptungen und Grenzen Interpret: Virginia Jetzt Komponist: Virginia Jetzt Label: Motor, LC-Nr.: 04909 40. O-Ton (Winter) ?Das macht es auch so spannend, hier zu sein. Weil immer erfährt man eine neue Geschichte zu der Grenze; zum Leben hier.? 41. O-Ton (Brand) ?Über den Prinsenhof.? Autor Den alten Hof von Werner Brand am Rande von Suderwick beispielsweise. 42. O-Ton ?Der gehörte zu den sogenannten Prinsenhöfen des Hauses Oranien-Nassau, des holländischen Königshauses im damaligen Süderwick. Es war damals noch anders geschrieben. Die Prinsenhöfe ? die sind eigentlich noch gar nicht so richtig erforscht. Was hat es damit eigentlich auf sich? Wie kann man sich das im 16., 17., 18. Jahrhundert vorstellen? Das da auf den Prinsenhöfen: Waren das Niederländer? Waren das Gelderländer? Was für eine Identität hatten die überhaupt?? Autor Ein Rätsel. Genau wie die Legende um den mittelalterlichen Rodespieker, der schon seit Jahrhunderten die Phantasie der Suderwicker beflügelt: War das jetzt ein Gut? Eine Burg? Gar ein Schloss? Voller Juwelen? Voller Gold? Wo es doch immer hieß, in Suderwick hätten keine Adligen gelebt. Warum ist der Rodespieker wie vom Erdboden verschluckt? In Münster haben Werner Brand und seine Mitstreiter vom Heimatverein einen Kupferstich aufgetan, auf dem ein herrschaftliches Anwesen zu sehen ist. Massiv gebaut, mit Wehrturm und Falltür. Klarer Fall: Das muss der Rodespieker sein. 43. O-Ton (Brand) ?Nen Spieker ist ja ne Art Speicher. Das soll in der Nähe von Brüggenhütte, an der Aa, gestanden haben. Die Flüsse sind ja auch wieder ne Verbindung: Bevor es gute Straßen und die Eisenbahnen gab, waren die Flüsse ne wichtige Verbindung, auch für den Verkehr. Und wahrscheinlich kann man sich das auch so vorstellen, dass in diesem Spieker auch Waren gelagert waren, vielleicht Tuchwaren oder anderes, die dann vielleicht für die Ostindische Gesellschaft und in den Niederlanden angekauft wurden. Und dort dann bei entsprechenden gutem Wasserstand über die Aa-Issel bis nach Rotterdam oder Amsterdam transportiert werden konnten. Ich bin da zu den Ausgrabungen hingegangen: Da waren wirklich Deutsche und Niederländer, von den Enkeln bis zu den Großeltern gemeinsam...die da gemeinsam gebuddelt und sortiert haben. Das Interesse ist auf beiden Seiten riesig.? Autor Drei Jahre ist das jetzt her ? dass Deutsche und Holländer zusammen mit Hilfe eines ?Geo-Radar-Mobils? die Fundamente des Rodespieker ausfindig machten ? und bei der Gelegenheit mit einem neuen Rätsel konfrontiert wurden: Als ein extra engagierter Geo-Physiker die Daten auswertete, stieß er neben breiten Grundmauern in der Tiefe auch auf ein 1,70 Meter großes Objekt. Irgendetwas aus Metall, so viel scheint klar zu sein. Nur was? Ein Brunnen? Alte Munition? Oder doch ein Schatz, wie einige Suderwicker spekulieren? Eigentlich hatten sie ja gehofft, dass die archäologische Abteilung des Landschafts-Verbandes Westfalen- Lippe Licht ins Dunkel bringen würde ? grabenderweise. Doch Münster hat sich bislang nicht gerührt. Mal wieder. Bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert hatten die Münsteraner Bischöfe in Suderwick und den umliegenden Dörfern und Städten des West-Münsterlands das Sagen, ohne dass sie sich sonderlich oft in der Provinz blicken ließen. Der Weg dorthin: Zu beschwerlich. Der Komfort: Eher suboptimal. Die Untertanen: Allenfalls als Steuerzahler zu gebrauchen. Man blieb lieber unter sich ? und führte Buch: Im Landesarchiv von Münster findet sich die Urkunde, in der Suderwick zum ersten Mal offiziell erwähnt wird. Sie stammt aus dem Jahr 1498. Zwölf Höfe samt 56 Bewohnern: Mehr war damals nicht. Tatsächlich aber dürfte die Bauernschaft um einiges älter sein. 238 Jahre, um genau zu sein. Das hat, wie so oft hier, mit der großen Schwester jenseits der Grenze zu tun: Dinxperlo taucht nämlich das erste Mal urkundlich schon 1260 auf. 44. O-Ton (Winter) ?Das war hier mal Seuderwijk. Also Suderwick ? das kommt von ?südlichen Ortsteil.? Autor Ergo: Ist Suderwick von Hause aus der südliche Zipfel von Dinxperlo. So und so eine Mischpoke. 45. O-Ton (Brand) ?Diejenigen, die seit dem 18., 19. Jahrhundert hier wohnen, stammen zum großen Teil aus Holland und sind eingewandert. Die Familien vor Ort sind alle miteinander verwandt.? 46. O-Ton (Schlütter lacht) ?Datt war früher immer gang und gäbe; dass hier durcheinander geheiratet wurde. Mein Mann zum Beispiel: Die waren sechs Kinder. Fünf davon sind alle mit Holländern verheiratet. Nur mein Mann und ich ? wir waren beide deutsch.? Autor Kontakt nach ?drüben? hatte Ursula Schlütter trotzdem. 47. O-Ton (Schlütter) ?Ich bin von '31, '33 kam Hitler an de Macht. Ich bin früher zusammen mit meinem Bruder in Holland in den Kindergarten gegangen. Wir hatten ein Geschäft und ne Wirtschaft. Und meine Eltern hatten wenig Zeit für uns. Da haben se uns da im Kindergarten aufgenommen. Da gab's hier noch keinen. Aber war nich immer einfach. Denn wir waren die Moffen. (lacht) Und da waren nen paar, die mochten die Moffen nich leiden. Da hatten wir einen davon in der Klasse. Oh! Da sind die Moffen! Da war voll Rennen angesacht. Datt bleibt. Datt is auch schon Ewigkeiten ? dieser Spitzname.? Autor Erstmals taucht der ?Moffe?, der muffelige Klischee-Deutsche, in den Niederlanden im 17. Jahrhundert auf, während des ?Goldenen Zeitalters?, der kulturellen und wirtschaftlichen Blütezeit. Nicht nur sprichwörtlich, sondern im wahrsten Sinne des Wortes: In der neugegründeten calvinistischen Republik herrscht Fachkräftemangel. Ergo strömen deutsche Handwerker und wer sonst noch dem Elend nach dem 30jährigen Krieg entfliehen will gen Westen, auf der Suche nach ein bisschen Glück. Wirtschaftsflüchtlinge. Sie werden zwar gebraucht, aber auch schon damals nicht mit offenen Armen empfangen; von den ?Kaasköppen?, den ?Käseköpfen?, wie die Holländer ihrerseits nicht ganz so liebevoll von Ursula Schlütters Großvater und den anderen Deutschen genannt werden. 48. O-Ton (Schlütter) ?Da gibt?s ne Geschichte bei. Die wollt ich ihnen eben noch schnell erzählen. (Autor: Hm) Mein Großvater: Sie wissen ja, wo wir wohnten...früher hatten ja alle Leute paar Hühner, paar Schweine, so was. Mein Großvater, der hatte auch Hühner.? 49. O-Ton (Naves) ?Der hat in Holland Hühnerfutter gekauft.? 50. O-Ton (Schlütter) ?Körnerfutter. Und dann kam der Krieg und da durfta datt nich mehr. Der tat datt trotzdem imma. Eines guten Tages steht da nen Fahrrad vor ihm und sagt. Herr Jansen! Watt haben se denn da? Ja! Vogelfutter! Wissen se wohl, datt se datt nich mehr so mitnehmen dürfen?! Er sacht: Wieso? Hab ich nix von gehört. Ja, datt dürfen se nich mehr. Nä, is gut, sacht mein Großvater. Macht die Tüte auf, schmeißt datt ganze Zeug auffe Straße. Watt dann ja auch holländisch war. Issa nach Hause gegangen, hat seine Hühner raus geholt und hat die auffe Straße gejagt. Und die haben datt auffe Straße aufgepickt. Datt tat er jeden Tach. Und die Leute lachten sich kaputt natürlich. Datt waren weiße Hühner mit nem Hahn.? 51. O-Ton (Naves) ?Das war ein großer, weißer Hahn.? 52. O-Ton (Schlütter) ?Die Zöllner...auffer anderen Seite war datt Zollamt...die ärgerten sich natürlich einen. Und dann haben die den Hahn geschnappt. Und haben den Kopf rot gemacht. Und den Leib haben se weiß gelassen. Und hinten haben se den Schwanz blau gemacht.? 53. O-Ton (Naves) ?Die holländische Flagge: Rot-weiß-blau.? 54. O-Ton (Schlütter) ?Rot, witt, blau. Da hatte man Opa nen holländischen Hahn. (lacht) Und der war nen bisschen deutsch-national, der konnte datt nich so gut haben. Ich denke, wenne noch siehst, dann erzählste ihn das noch eben.? 04 Zitator ?Die Grenzen der menschlichen Vernunft begreifen ? das erst ist wahrhaft Philosophie.? Friedrich Nietzsche Regie: Hart an Musik ran 5. Musik Titel: Keine Grenzen Interpret: Jazzkantine Komponist: T. Ladwin/B. Kastner Label: WSM, LC-Nr.: 03708 56. O-Ton (Schlütter) ?Augenblick! Dies is von...ja, hier: Das is auch nen altes Foto. Hier! Da steht auch der Stacheldraht. Sehen se! Datt war so gerade vorm Krieg. '39 Weihnachten haben se uns den vor der Tür gesetzt.? ? Autor Die Nazis. 57. O-Ton (Schlütter) ?Der Stacheldrahtzaun ? der ging von der Brüggenhütte mehr als zwei Kilometer bis nach Aalten. Wenn man Kind is, nimmt man alles leichter auf, als wenn man erwachsen is.? 58. O-Ton (Brand) ?Wo das fast aussieht wie in Berlin an der Mauer. Man sieht wirklich, dass die Leute voneinander abgeschnitten waren.? 1. Ausschnitt aus UfA-Tonwoche Nr. 506 (Fanfare der Wochenschau) (Sprecher) ?Angesichts der unmittelbar bevorstehenden feindlichen Kriegsausweitung auf belgischen und holländisches Gebiet und der damit verbundenen Bedrohung des Ruhrgebietes ist das deutsche Westherr am 10. Mai bei Morgengrauen zum Angriff über die deutsche Westgrenze auf breitester Front angetreten?? Regie: Bei Musik unter Autor blenden Autor Auch in Dinxperlo marschiert die deutsche Wehrmacht im Frühling 1940 ein. 2. Ausschnitt aus ?UfA-Tonwoche Nr. 506 ? (Sprecher) ?In dichtem Morgennebel vollzieht sich der Übergang über die holländische Grenze. ? Regie: Panzer unter Autor blenden Autor Nach vier Tagen nur kapituliert die holländische Heeresführung angesichts der Übermacht des Gegners. Für die Holländer beginnen fünf bittere Jahre, an deren Ende rund 210.000 von ihnen mit dem Leben bezahlt haben werden. Ed Naves Vater überlebt; mit viel Glück. 59. O-Ton (Naves) ?Mein Vater war untergetaucht im Krieg gesessen. Er war Bäcker. Der hat in Anholt, hier über die Grenze, vorm Krieg, beim deutschen Bäcker gearbeitet. Und da hat man das Bericht bekommen, dass er zum deutschen Arbeitsdienst muss kommen. Zwei Töchter von dem Bäcker haben ihm gesagt: Komm, wir bringen dich über die Grenze! Die haben ihn über die Grenze nach Aalten gebracht. Da hat er beim Bäcker da gearbeitet. Und wenn mal Razzia kommt, hat man oben beim Ofen nen Loch. Und da haben auch zwei polnische Juden gesessen. Und mein Vater da droben.? Autor Alle drei kommen mit dem Leben davon ? wie durch ein Wunder. Die meisten holländischen Juden haben weniger Glück: Von den 140.000 vor Kriegsbeginn in den Niederlanden lebenden Juden werden 110.000 nach Auschwitz und andere Vernichtungslager deportiert. Nur 6000 überleben. Auch in Dinxperlo machen die Nazis und ihre niederländischen Helfershelfer kurzen Prozess mit den schon seit Jahrhunderten hier lebenden jüdischen Familien. 60. O-Ton (Schlütter) ?Datt war von Prins. Datt war ne Jude. Der hatte ne Teppich-Fabrik hier, ne Weberei. Und nachher stand da dran: ?Voor Joden verboden!? Also: Für Juden verboten. Also, das finde ich...das fand ich damals schon schlimm. Ich sach: Datt gehört doch nem Juden. Ja. Aber!? 61. O-Ton (Naves) ?Die sind in '42 nach Vernichtungslager gegangen. Keiner von der Familie is rückgekommen. Die hatten sehr viel Bedeutung für die Gemeinschaft hier. Man hat vor dem Zweiten Weltkrieg eine Sozialversicherung, wenn man zum Zahnarzt musste oder eine Brille brauchte...dann bezahlte die Firma das aus spezielle Fonds. Es war nen sehr sozialer Betrieb.? 4. Ausschnitt GUN CAMERA Luftwaffe vs U S B 17 & B 24 (Fliegerangriff) Regie: Schon unter Autor blenden, frei stehen lassen und dann unter nächsten O- Ton blenden 62. O-Ton (Elting) ?Wenn meine Mutter ein Flugzeug hörte, dann war die Lampe schon verdunkelt: Anziehen! Und dann ging's innen Bunker. Wir haben zwei Tage und zwei Nächte im Granatfeuer gelegen. Oder noch länger, datt weiß ich nich. Weil: Ich hab eine Nacht ? da hab ich unter der Bank gelegen und geschlafen. Aber im Bunker. Wir hatten hier nen Bunker inner Nachbarschaft, der is hier immer noch da.? Autor Am 5. Mai 1945 kapitulieren die deutschen Besatzungs-Truppen in den Niederlanden. Gert Elting ist damals zehn. 63. O-Ton (Elting) ?'45 kamen die Tommies hier. Dann mussten wir hier evakuieren. Datt war nen Streifen von 500 Meter. Oder noch mehr. Und da mussten wir alle weg: Von einem Tag auf den anderen. Ich hab keine Fotos mehr davon, (lacht) aber das war schon schrecklich; wie wir da gewohnt haben. Und da liefen die Russen ja noch rum. Datt war schlimm.? Autor Nach einem Dreivierteljahr können Gert Elting und seine Familie zurück nach Hause - beziehungsweise, was davon übrig geblieben ist. Sein Elternhaus gleicht einer Ruine; die Dachpfannen: Haben sich die Dinxperloer unter den Nagel gerissen. Trotzdem: Endlich Frieden! Endlich wieder Normalität! Hofft auch Ursula Schlütter, deren Elternhaus weiter oben auf dem Hellweg auch nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Doch die große Politik macht ihr einen Strich durch die Rechnung: Als Reparation fällt der Westteil von Suderwick am 23. April 1949 an die Niederlande. 64. O-Ton (Schlütter) ?Datt war ganz einfach: Wir sind abends in Deutschland ins Bett gegangen. Und morgens in Holland wieder aufgestanden. Wir wollten das gar nicht. Aber: Wir hatten ja nix zu sagen. Die Deutschen hatten ja nix zu sagen. Die Holländer wollten gern nen Stück von Deutschland haben. Als Wiedergutmachung für alles, was wir angerichtet hatten. Und datt musste eigentlich passieren. Also so: Das war nicht so schlimm. Man kannte die Leute ja hier alle. Wir waren eigentlich schon froh, dass wir den Stacheldrahtzaun weg kriegten.? Autor Der steht noch bis 1949. 14 Jahre dauert die ?holländische Zeit?, von der Ursula Schlütter sagt, man habe sich halt arrangiert. Dann schlägt das Pendel wieder um: Suderwick-West fällt im Rahmen des deutsch-niederländischen Grenzvertrages zurück an die Bundesrepublik. Die lässt sich das etliche Millionen kosten. 65. O-Ton (Schlütter) ?Ja! Und dann kamen wir wieder zu Deutschland. Bei uns: Wir hatten nen holländischen Lebensmittelladen damals. Und da kamen die Deutschen und kauften holländische Sachen. Aber da konnten wa ja keine holländische Sachen mehr kriegen. Da gab's wieder deutsche Sachen. Da kamen die nich mehr hin. Datt war wieder echt nen Neuanfang. Da mussten wa wieder neu anfangen: '63.? 66. O-Ton (van Reken) ?Es gibt auch noch ne ganz lustige Geschichte: De Nacht, vor dass Suderwick zurückgegeben wurde an die Deutsche, haben die da vierzig Laster mit Butter in Suderwick geparkt. Die dann die nächsten Tag legal in Deutschland waren. (lacht) Ein einmalig gute Geschäft gemacht.? Autor ?Einmalig gute Geschäfte? machen in der Folgezeit auch Gert Elting und Co. 67. O-Ton (Elting) ?Hier wurde natürlich viel geschmuggelt. Alles! Käse, Kaffee. Zigaretten. Und mein Vater machte auch mit. Watt will man da machen? Ich wollte nie. Aber ich musste. Kann ich ruhig sagen: Ich musste! Datt lief immer ganz glimpflich ab. Kinder tun se nix. ? 69. O-Ton (Opping) ?Ich kann mich in meinen jungen Jahren erinnern, dass ich im Wochenend ausgeholfen habe, in so nem Laden, wo man Kaffee und so verkauft. Und da kamen die Damen rein. Die hatten so präparierte Röcke an. So wahrscheinlich, wo man jetzt die Drogen rüber schmuggelt auf bestimmte Art und Weise, wurde damals der Kaffee rüber geschmuggelt. Die hatten so nen Unterrock, mit so alle Taschen dran. Und da ging der Kaffee rein.? Autor Viele Zöllner lebten selbst in Suderwick ? und drückten oft mehr als ein Auge zu, wenn brave Hausfrauen in ballonartigen Kleidern über die Grenze spazierten. 70. O-Ton (Frau Schlütter) ?Hier! (geht weg) Diese Figur hier! Das is nen Zöllner. Haben se den sich schon mal beguckt richtig? Der hat sein Fernrohr verkehrt herum. (Autor) Ai! (Schlütter) Das haben se bestimmt nich gesehen. (Autor lacht und fragt:) Hat der das extra gemacht? (Schlütter) Ja, datt haben wir extra gemacht. (lacht) (Autor) Weil der halt...? (Schlütter fällt ins Wort) Ja! Der guckte dann durch de Finger wohl.? 9. Atmo: Tusch Regie: Hart an Zitator ran 05 Zitator ?Wenn Europa einmal einträchtig sein gemeinsames Erbe verwalten würde, dann könnten seine drei- oder vierhundert Millionen Einwohner ein Glück, einen Wohlstand und einen Ruhm ohne Grenzen genießen.? Winston Churchill 10. Atmo: Tusch Regie: Hart an Musik ran 5. Musik Live-Mitschnitt des Autors vom Chor ?Vision? (Piano fängt an, hört kurz auf) (Mann) ?Schhhhhhhhh!? (Piano setzt wieder ein) (Chor singt Lied auf Holländisch) Regie: Holländische Lied circa 2 Minuten spielen, dann per Kreuzblende mit darauffolgendem Lied verblenden 6. Musik Live-Mitschnitt des Autors vom Chor ?Vision? (Frau) ?Wir sind multi-tasking fähig. (Lachen) (Mann) Watt singen wa denn? Deuts?? (Piano setzt ein, Flöte kommt dazu) (Sänger fängt auf Deutsch an zu singen, Chor im Hintergrund: (Textanfang) ?Ein leuchtend roter Feuerball. Nur ein Punkt im weiten All... (Textende) ?...und ich frag dich: Warum? Sag warum. Denn ich seh dich.? (Piano und Flöte lassen Lied ausklingen) (Gemurmel des Chors) (Mehrere Frauen gleichzeitig): ?Koffie! Koffie! (Gemurmel) (Mann singend) Mit Suiker en de Milk? (Lachen) Regie: Lachen schon unter 73. O-Ton blenden 73. O-Ton (Edmund Schlüter) ?Unser Chor war ja früher auch katholisch und wir sind jetzt nen gemischter Chor.? Autor Weiß Edmund Schlüter zu berichten, der Leiter von ?Vision?, dem niederländisch- deutschen Chor hier. 74. O-Ton ?Hier gab's lange Zeit natürlich schon Probleme mit den Konfessionen. Das wurde hier sehr streng gehalten. Gerade Dinxperlo ist stark protestantisch geprägt. Hier Suderwick ist eher katholisch.? 75. O-Ton (Brand) ?Es gibt also auch nen Religions-Unterschied; der sogar früher wichtiger war als der Nationalitäts-Unterschied. Meine Frau noch, also in ihrer Generation, die ist gerade sechzig geworden, hat ihre Gleichaltrigen, die katholisch waren, kaum gekannt. (Frederike Krämer-Brand) Die Grundschulen waren zum Beispiel getrennt. Es hat also sehr lange gedauert, bis da die Grenzen aufgelöst worden sind. (Brand) Wenn du denkst: Wie viel Kontakt hattest du zu Schroers?! (F. B) Das war ganz klar getrennt. Wir als Kinder kannten uns im Prinzip nicht. Das ist erst später, ich glaub, da war ich schon zwanzig Jahre alt, dass wir dann auch mal Kontakt bekommen haben.? Autor Heute spielt die Frage, ob und an was man glaubt, in Suderwick und Dinxperlo kaum noch eine Rolle. Haben sich geändert ? die Zeiten. Wieder eine Grenze weniger. Einerseits. Andererseits, mussten die Brands feststellen, tun sich immer noch Gräben auf, wo man sie nicht mehr vermuten würde ? beim Austausch zwischen hüben und drüben. 76. O-Ton (Krämer-Brand) ?Da könnte man noch einiges tun. (Lachen) Es is immer noch schwierig: Es ist jetzt der Antrag gestellt worden, dass die Kinder hier aus Suderwick in Dinxperlo in die Schule gehen. Und es ist offiziell nicht genehmigt. Es gibt Möglichkeiten im begrenzten Umfang, aber dass das zu ner Lösung für alle Suderwicker Kinder wird, das ist noch nicht in Sicht. (Brand) Suderwick hat keine eigene Schule mehr, die Grundschule ist aufgelöst, vor ein, zwei Jahren. Und wir hatten die Hoffnung, dass mittelfristig die Kinder in eine Dinxperloer Schule gehen, weil sie ja schon dort in den Kindergarten und die Vorschule gehen. Aber: Das wäre rechtlich so ein großer Akt, hat man uns gesagt, dass man diesen Akt jetzt nicht unternehmen will.? Autor Regt sich Suderwicks inoffizieller Bürgermeister auf. Mahlen ihm viel zu langsam, die Mühlen der Bürokratie. Nur wenn's um den schnellen Profit geht, meint Werner Brand, dann sind die staatlichen Stellen auf Zack. 77. O-Ton (Brand) ?Wir gehen vielleicht eben mal gucken. Ich mach ihnen mal die Tür auf. Damit se mal (geht weg) über die Straße gucken können. (Laufgeräusche, Tor klackt, Brand macht Tor auf, geht raus) Da vorne ist ja das Schild an der Eiche. Bis zu diesem Schild sollte ausgegraben werden.? Autor Wenn es nach dem Willen des Kies-Unternehmens Holemans aus dem benachbarten Rees ginge. Kies, muss man wissen, gibt es in der Nähe des Rheins wie Sand am Meer. Wenn man nur lange genug buddelt. 78. O-Ton (Brand) ? ? Rum um diesen Bauernhof würde alles abgebaggert. (Wesseloo) Inklusive drei Hektar ganz schönes Waldstück. Sollte alles verschwinden. Dafür haben wir uns eigentlich getroffen und bilden jetzt diese Bürger-Initiative: Mit 3000 Unterschriften mittlerweile, die alle dagegen sind, hier aus der Gegend.? Autor Grenzenloser Protest: Das ist ganz nach dem Geschmack von Bert Wesseloo. Ihm und ein paar anderen Leuten aus Dinxperlo ist es zu verdanken, dass die Suderwicker überhaupt Wind davon bekommen haben, was sich da vor ihrer Haustür anbahnt. Seitdem lässt der streitbare Holländer nicht locker; legt er sich bei öffentlichen Anhörungen auch schon mal mit dem zuständigen Bocholter Bürgermeister an. 79. O-Ton (Wesseloo) ?Dann sind die Deutschen nen bisschen ruhiger. Ja! Da wird vorne gesagt: Wir müssen ruhig sein. Und da sind die ruhig. Da sind die Holländer doch anders. Nicht alle, aber die meisten. Die Richtigen waren da. (Brand) Wenn man das jetzt nen bisschen verallgemeinern will, könnte man sagen: Die Niederlande sind eine der ersten Bürger-Gesellschaften. Die haben ja im Grunde seit dem Goldenen Zeitalter Erfahrung mit Selbstregierung. Und Selbstregulation. Das kann man bei vielen Leuten in den Niederlanden merken. Es gibt eine Art Bürgertum, bis in die kleinen Orte und Städte hinein.? Autor Nicht nur das holländische Bürgertum hilft den deutschen Nachbarn manchmal auf die Sprünge. 80. O-Ton (Brand) ?Wenn Sie genau in diese Richtung gucken: Da hinten wohnt ein bi- nationales Bienenvolk. (Lachen) (Autor) Nein! (B) Doch! (lacht) Ich möchte fast behaupten, es ist das erste bi-nationale Bienenvolk. Das ist nämlich der Bienenstall, den wir im letzten Jahr gebaut haben. Aus Anlass der 750-Jahr-Feier von Dinxperlo und Suderwick. Was wir inzwischen zusammen ziehen in ?Dinxperwick?. Ein holländischer Imker hat sein Bienenvolk hierher gebracht, das hat sich hier vermehrt. Ist also jetzt ein deutsch-holländisches Bienenvolk. (lacht) Die Bienen kennen keine Grenzen.? Autor Die Leute in Dinxperwick auch nicht. 81. O-Ton (Brand) ?Für die Grenzlandbewohner hat sich durch die Grenzöffnung sehr viel verändert, zum Guten gewandt. Und wir haben heute die Situation wie vor 1914. Die Leute denken nämlich immer, dass es immer so schlimm gewesen ist. Das stimmt nicht. Wir haben ja vorhin von der Familiengeschichte erzählt: Man konnte vorher nicht nur hin und her heiraten. Man konnte auch hin und her Wirtschaft treiben. Die harte Zeit ? die war im Grunde genommen nur während der Zeit des Nationalismus. Also: Erster Weltkrieg; Zweiter Weltkrieg bis in die 60er Jahre. Vorher war die Grenze hier genauso offen.? 82. O-Ton (Schlütter) ?Sie gucken so auf die Uhr: Müssen sie wech?? (Turmuhr schlägt aus) Autor Auch wenn's schwer fällt: Wir müssen. 83. O-Ton (Opping) ?Das ging ziemlich flott.? Autor Aber wirklich. Hatten ja auch alle viel zu erzählen ? im deutsch-holländischen Grenzgebiet. 84. O-Ton (Opping) ?Sicherlich. Sicherlich.? Autor Also: Herzlichen Dank. Beziehungsweise: Bedankje well, Dinxperwick! 85. O-Ton (Naves) ?Gern geschehn. Gern geschehn. Ich hoffe, dass Sie etwas gehört haben, was Sie noch nicht wussten.? 86. O-Ton (Schlütter) ?Tschüss dann!? Kennmusik Sprecher vom Dienst: Grenzfall Dinxperwick Warum sich Westfalen und Holland manchmal näher sind als gedacht Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Michael Frantzen Ton: Inge Görgner Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2012 Manuskript und Online-Version der Sendung finden Sie im Internet unter dradio.de *) An dieser Stelle weicht das Manuskript von der Audio-Fassung ab. 1