KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 300 Titel der Sendung : Die Module spielen verrückt - Trauma und Technik bei Tom McCarthy Autor : Michael Hillebrecht Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 15. 4. 2012 Regie u. Produktion : Michael Hillebrecht Wortaufnahmen : Bernd Friebel Besetzung : Autorentext: Bernhard Schütz Übersetzung + INS-Zitate: Viktor Neumann Zitate ("K" + "8 1/2 Millionen"): Sven Lehmann Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Die Module spielen verrückt Trauma und Technik bei Tom McCarthy von Michael Hillebrecht O-Ton McCarthy: Yeah, all my books are completely against the idea of transcendence, I mean there is no transcendence. Musikakzent: Edgar Varèse: Ionisation Übersetzung: Alle meine Bücher richten sich gegen die Vorstellung von Transzendenz. Für mich gibt es keine Transzendenz. Musikakzent: Edgar Varèse: Ionisation O-Ton McCarthy: What is to be celebrated is not ideas and it's not spirit, it's matter, it's the kind of materiality of an orange or of an oyster or of a cigarette. Übersetzung: Nicht Ideen oder der Geist müssen gefeiert werden, sondern Materie; die Materialität einer Orange, einer Auster oder einer Zigarette. Musikakzent: Edgar Varèse: Ionisation Autorentext: Der britische Schriftsteller Tom McCarthy ist fasziniert von den Dingen und Gegenständen. Er zeigt eine besondere Sensibilität für die Oberflächenstrukturen der kleinen Dinge des Alltags: ( Musikakzent: Edgar Varèse: Ionisation) Die Abriebspuren der Streichhölzer an einer Streichholzschachtel oder ein Kronkorken, der in den Asphalt einer Straße hinein gedrückt wurde. ( Musikakzent: Edgar Varèse: Ionisation) Diese Hinwendung zu den Dingen und zur Materie ist die ästhetische Konsequenz seines unbedingten Materialismus, der jede Form von Transzendenz ausschließt. O-Ton McCarthy: Jug - Bridge - Cigarette - Oyster - Fruit bat - Windowsill - Sponge! Übersetzung: Krug - Brücke - Zigarette - Auster - Flughund - Fensterbank - Schwamm! Musikakzent: Edgar Varèse: Ionisation Autorentext: McCarthy ist ebenso fasziniert von den Wörtern. Die Sprache hat für ihn eine materielle Qualität. Was er über eine seiner Romanfiguren sagt, könnte in gleichem Maße auch für Tom McCarthy selbst gelten. O-Ton McCarthy: Language is material. He chews words around, he gags and spits on them. Übersetzung: Sprache ist Material. Er kaut auf Wörtern herum. Er würgt an ihnen und sie bringen ihn zum spucken. Autorentext: Zwar erregen einzelne Objekte Tom McCarthys Aufmerksamkeit, doch auch ihren räumlichen Anordnungen widmet er besonderes Augenmerk. Räume und Landschaften der materiellen Welt müssen durchquert und angeeignet werden. Und das sind nicht allein die Räume der greifbaren Welt, sondern auch die nicht-taktilen Räume der Sprache, des Bewusstseins und der Medien. ( Musikakzent: Edgar Varèse: Ionisation) Der 42-jährige Autor aus London vertritt seine Position eines konsequenten Anti-Idealismus in seinen Romanen, in theoretischen Essays und besonders prononciert als 'Generalsekretär' der "International Necronautical Society". Dieses Netzwerk aus Künstlern, Schriftstellern und Philosophen wurde von McCarthy 1999 gegründet. ( Musikakzent: Edgar Varèse: Ionisation) McCarthys neuer Roman heißt "C" [englisch aussprechen] im Original und "K" in der deutschen Übersetzung. Die Faszination für das Sprachmaterial reicht also bis auf die Ebene der Buchstaben. Der Romantitel "K" bezieht sich zunächst einmal auf die Hauptfigur des Romans, deren Namen im Original mit "C" beginnt. O-Ton McCarthy: kkk - c c c - and s - his initials S.C.: Serge Carrefax. But the S is important, I almost called the book SC, because the first signal that Marconi transmitted across the Atlantic was S - sss. Übersetzung: k k k und s - Seine Initialen S.C - oder K.: Serge Karrefax. Aber das S ist wichtig. Ich hätte das Buch beinahe SC genannt, denn das erste Signal, das Marconi über den Atlantik sendete war ein S. O-Ton Guglielmo Marconi: On December the 12th 1901 I was able to receive a succession of three clicks corresponding to the three dots of the letter S. Autorentext: Die drahtlose Telegraphie und der Funkpionier Guglielmo Marconi spielen in "K" nicht nur bei indirekten Anspielungen eine Rolle. Bereits bei Serges Geburt ruft sein Vater den Doktor mittels drahtloser Morse-Telegraphie herbei. Simeon Karrefax gehört zu den frühesten Funkamateuren und er würde gerne mit Marconi konkurrieren. Leider kann er per Funk aber nur eine Entfernung von 1,5 Metern auf seinem Landgut Versoie überwinden. Atmo: Morsesignal S geht über in Morseatmo, darüber: O-Ton McCarthy: "C" begins in 1897 more or less exactly as Marconi is making his first wireless experiments and it ends in 1922 which is the first year that the BBC is founded. Those two dates are like bookends for a particular time in media history but also in the history of human consciousness between the emergence of a whole new field of possibilities and its kind of closing down into an institution. Übersetzung: "K" beginnt 1897 mehr oder weniger zur selben Zeit als Marconi seine ersten drahtlosen Experimente macht und es endet 1922, im Jahr der Gründung der BBC. Diese beiden Daten stehen für den Beginn und das Ende einer bestimmten Periode der Mediengeschichte, aber gleichzeitig auch der Geschichte des menschlichen Bewusstseins: Vom Aufkommen eines ganzen Bereichs neuer Möglichkeiten bis zu deren Eingrenzung innerhalb einer Institution. Atmo: Morsesignale enden Atmo: Historische Radiostationskennungen "2 EmmaToc" "2LO Marconi House London calling" Autorentext: Funk und später das Radio erschlossen dem menschlichen Bewusstsein mediale Räume von bis dahin ungeahnter Reichweite und Ausdehnung. O-Ton McCarthy: I get annoyed when people describe "C" as a historical novel because for me this is not a historical novel at all! It may be set a hundred years ago but it's about now, it's about the emergence of new media and the politics of new media. The debates that where taking place about regulation and control of radio where exactly the same as the debates taking place in the 1990s around the internet. Whether it would be a truly democratic network, whether it would be many to many or whether it would be one to many, the parallels were just very strong. Übersetzung: Es ärgert mich, wenn "K" als historischer Roman bezeichnet wird, denn für mich ist das auf gar keinen Fall ein historischer Roman! Das Buch ist zwar vor hundert Jahren angesiedelt, aber es geht um Heute. Es geht um die Entstehung neuer Medien und um die Politik neuer Medien. (Atmo: Analoges Modem) Die Debatten über die Regulierung und Kontrolle von Funk und Radio waren genau die gleichen wie in den 1990er Jahren beim Internet. Würde es ein wirklich demokratisches Netzwerk sein? Würde jeder auf Sendung gehen können oder würde nur einer an alle senden? Die Parallelen waren einfach offensichtlich. Musik: Darius Milhaud: La Creation du Monde, darüber: Autorentext: Bevor sich Serge Karrefax im Roman aber selbst die medialen Räume von Funk und Radio erschließt, muss er als kleines Kind erst einmal lernen, durch die Räume und Welten des großen Anwesens von Versoie zu navigieren. Abgesehen von den Funkexperimenten seines Vaters wächst Serge in einer Umgebung auf, die eher dem 19. als dem 20. Jahrhundert zu entstammen scheint. Auch die Schulzeit erweitert den Radius von Serges Welt nicht. Serge und seine Schwester Sophie werden zu Hause von einem Privatlehrer unterrichtet. Aber auch einen so begrenzten Kosmos wie Versoie muss sich Serge als Kleinkind erst nach und nach erschließen. "K" wird immer im Präsens und aus Serges Perspektive erzählt. Musik: kommt hoch, weiter unter: O-Ton McCarthy: There is an early scene where Serge is drowning but he doesn't know he's drowning. He sees the water under him and then it's turning and it's over him instead of the sky and then it's filling his lungs. But I think this probably is how a child would experience. They wouldn't think: "Oh, I'm drowning!" I wanted to keep that impressionistic primacy of experience throughout the book. (ca. 30") Übersetzung: Es gibt eine frühe Szene, in der Serge am Ertrinken ist, aber er weiß nicht, dass er am Ertrinken ist. Er sieht das Wasser unter sich und dann dreht es sich und es ist über ihm anstelle des Himmels und dann füllt es seine Lungen. Ich denke ein Kind würde das wahrscheinlich so erleben. Kinder würden nicht denken: "Oh, ich ertrinke!" Ich wollte diesen impressionistischen Vorrang des Erlebens im ganzen Buch durchhalten. Musik: endet Autorentext: Serge wird aber glücklicher Weise gerade noch von einer Hausangestellten vor dem Ertrinken gerettet. Weil Serge und Sophies Eltern so sehr mit ihren eigenen Projekten und Obsessionen beschäftigt sind, übt Sophie vielleicht den größten Einfluss auf Serge aus. O-Ton McCarthy: She's older than him, she's cleverer than him. She seems to understand all kinds of codes, the codes of science and of history. Übersetzung: Sie ist älter und sie ist schlauer als er. Sie scheint alle möglichen Arten von Codes zu verstehen, die Codes der Wissenschaft und der Geschichte. Musik: Darius Milhaud: La Creation du Monde, darüber: Autorentext: Auch die Welt der Sexualität mit ihren ganz eigenen Codes wird für Serge länger ein Geheimnis bleiben als für seine Schwester. Als Sophie wesentlich später ihre ersten wirklichen sexuellen Erfahrungen macht, und Serge das indirekt als Schattenspiel auf einem ausgespannten Bettlaken beobachtet, versteht er nicht wirklich, was vor sich geht. Die Sexualität der Erwachsenen ist für ihn ein vollkommen unverständliches und verstörendes Rätsel. Die Codes der Sexualität werden sich Serges Verständnis noch lange entziehen. Im Alter von etwa 14 Jahren wendet er sich stattdessen mit zunehmender Faszination den technischen Codes der drahtlosen Morsetelegraphie zu. Musik: endet Atmo: Morsesignale, darüber: O-Ton McCarthy: So suddenly the air comes alive and is rich with presence. And imagine if you have grown up in the English countryside and you have never travelled more than thirty miles away and now suddenly you are not only listening to ships outside Liverpool or in the Atlantic you are listening to Paris and to North Africa and Moroccan deserts and things. Suddenly the world is rushing in at you from your ear phones as this acoustic event. I think it's incredibly exhilarating. Übersetzung: Die Luft wird plötzlich lebendig und ist aufgeladen mit Präsenz. Und wenn du in einer ländlichen Gegend Englands aufgewachsen bist und niemals mehr als 30 Meilen weit gereist bist und plötzlich hörst du nicht nur Schiffe vor Liverpool oder im Atlantik, sondern du hörst Paris und Nordafrika und die marokkanische Wüste und all das. Plötzlich strömt die Welt auf dich ein aus deinen Kopfhörern als dieses akustische Ereignis. Ich stelle mir das unglaublich berauschend vor. Atmo: kommt hoch, weiter unter: Zitat "K" S. 102/103: Niton, Poldhu, Malin und Cadiz schicken die Presseschau: Diario del Atlántico, Journal de l'Atlantique, Atlantic Daily News ... "Madero und Suárez in Mexiko auf der Flucht erschossen" - "Handelsabkommen mit ..." - "Entretien de" - "Entsetzliche Familientragödie in Bow" - "Il Fundatore" - "Ehemann kann nicht verhindern, dass ..." Die Geschichten gehen ineinander über: Serge sieht einen Mann, der mit einem Küchenmesser in der Hand Politiker über verdorrte Erde jagt, vorbei an Kakteen und Gürteltieren, während Botschafter Flüchtlinge wie Verfolger mit Papieren umwedeln und Bedingungen aushandeln. "Korn um fünf Punkte gestiegen, Lloyds um zwei gefallen" - Malin hat zehn private Nachrichten für Lusitania, sieben für Campania, zwei für Olympic: "Erbitten Anweisung zu weiterem Vorgehen ..." - "das Vergnügen ihrer Gesellschaft anlässlich ..." - "wiegt siebeneinhalb Pfund, ein Mädchen ..." (Tom McCarthy: K, Aus dem Englischen von Bernhard Robben, Deutsche Verlags-Anstalt 2012) Atmo: endet Musik: Glasmusik, darüber: O-Ton McCarthy: What is fascinating about it is it's a complete new horizon for what identity is. My consciousness no longer ends with my body or with the room around me it's a hundred miles away in North Africa. The self is no longer a unique situated thing but it's networked and dispersed. Everything we identify with modern or post-modern conceptions of what the self is, was really literally coming into being at this period. Übersetzung: Das Faszinierende ist, es öffnet sich ein vollständig neuer Horizont für die Identität. Mein Bewusstsein endet nicht länger mit meinem Körper oder mit dem Raum um mich herum, sondern es reicht hunderte von Meilen weit bis Nordafrika. Das Selbst ist nicht länger etwas Einzigartiges und Verortetes, sondern es ist vernetzt und verstreut. Alles, was wir mit modernen oder post-modernen Konzeptionen des Selbst in Verbindung bringen, entstand buchstäblich in dieser Periode. Musik: kommt hoch, weiter unter: Zitat "K" S. 104/105: Die Compagnie de Télégraphie sans Fil meldet leichten Schneefall vor Friesland. Dann kommt Bergen, Crookhaven, Tarifa, Malaga, Gibraltar. Serge träumt von Mädchen mir Gardenien am Ohr, mit roten Kleidern, träumt vom Blut der Stiere. Er hört Nachrichten aus Abessinien, weitergeleitet via Port Said und Rom, und sieht afrikanische Mädchen, die eine Art Mandoline zupfen, kohlschwarze, durch helle Seide dunkel schimmernde Brüste. (Tom McCarthy: K, Aus dem Englischen von Bernhard Robben, Deutsche Verlags-Anstalt 2012) Musik: endet Autorentext: Im Wahrnehmungsraum, der sich aus Serges Bewusstsein und dem Medienraum des Funks bildet, interagieren die telegraphischen Nachrichten mit Serges Assoziationen und erotischen Phantasien. Für Serge entsteht ein ekstatisch und erotisch aufgeladenes Kontinuum. Aber für Tom McCarthy hat Serges Empfangsbereitschaft noch eine weiter reichende Bedeutung. O-Ton McCarthy: For me radio is a marker for all media and ultimately for writing. So Serge at his desk listening, he's not generating he is listening - for me this is the model of the writer or of the artist, any artist. It's not about having something to say, it's not about having a message to give the world, it's about being in a heightened state of receptivity and being open to what's incoming and having a capacity to filter and mix - remix that. Übersetzung: Für mich steht Funk für alle Medien und letztlich auch für das Schreiben. Serge sitzt an seinem Tisch und hört zu - er erzeugt nichts, er hört zu - das ist für mich das Modell für den Schriftsteller oder für den Künstler überhaupt. Es dreht sich nicht darum, etwas zu sagen zu haben oder der Welt eine Botschaft zu vermitteln, sondern es geht darum, in einem gesteigerten Zustand der Empfänglichkeit zu sein; für alles was reinkommt offen zu sein und die Fähigkeit zu besitzen, alles zu filtern und zu mischen - einen Remix zu erzeugen. Autorentext: In seinem Roman mischt McCarthy diverse literarische Stile und Codes. Der langsame Beginn des Buches im Stil eines realistischen Bildungsromans des 19. Jahrhunderts, lässt an Charles Dickens denken. In starkem Kontrast dazu steht Serges Bewusstseinsstrom, wenn er die Funksignale empfängt. Diese Passagen erinnern an James Joyce oder Alfred Döblin. Medien sind für Tom McCarthy aber nicht allein erotisch besetzt und sie sind auch nicht nur ein Modell des Künstlers. Atmo: Geräusch einer Phonographenwalze, drüber: Autorentext: McCarthy sieht immer einen engen Zusammenhang zwischen dem Aufkommen neuer Medien und dem Raum des Todes. Viele Erfinder neuer Medien leisteten mit ihren Erfindungen so etwas wie Trauerarbeit. Das Telefon sollte Alexander Graham Bell ermöglichen, einen Kontakt zu seinem toten Bruder herzustellen. Thomas Alva Edison, der Erfinder des Phonographen, hoffte mit einem noch sensibleren Aufnahmegerät sogar die Stimmen der Toten einfangen zu können. Die von Tom McCarthy gegründete "International Necronautical Society" hat sich ganz dezidiert der Untersuchung solcher Räume des Todes verschrieben. In ihrem Gründungsmanifest verkündete die INS 1999 auf der Titelseite der Londoner "Times": Atmo: endet Zitat "INS-Gründungsmanifest 1999": Der Tod ist eine Art Raum, den wir kartieren, betreten, kolonisieren und schließlich bewohnen wollen. (International Necronautical Society: INS-Gründungsmanifest 1999, Aus dem Englischen von Sven Koch, in: International Necronautical Society: Offizielle Mitteilungen, diaphanes 2011) Autorentext: Die "International Necronautical Society" knüpft in ihren öffentlichen Auftritten und im Tonfall ihrer Verlautbarungen bewusst an die historischen Avantgarden der Moderne an, seien es Futurismus, Dada oder Surrealismus. Man veröffentlicht Manifeste, gründet Kommites, Mitglieder werden demonstrativ aus der Bewegung ausgeschlossen. Musik: George Antheil: Ballet mécanique, kommt kurz hoch, endet dann. O-Ton McCarthy: So in a way it's a re-enactment and of course it's not without humour, right! I know there is something very ridiculous about doing this but at the same time this blatantly obsolete model starts becoming quite interesting when you see what you can actually do with it in the here and now. Übersetzung: In gewisser Hinsicht wird hier etwas nachgestellt und das natürlich nicht ohne Humor! Das Ganze hat etwas sehr Lächerliches, aber gleichzeitig wird dieses offensichtlich überholte Modell sehr interessant, wenn man sich anschaut, was man im Hier und Jetzt damit erreichen kann. Musik: Trimpin: Liquid percussion, darüber: Autorentext: Die steilen Thesen der INS lassen sich auf Tom McCarthys unbedingten Materialismus zurückführen. Wenn alles Materie ist und wenn auch wir Menschen in erster Linie Materie sind, dann ist alles - auch das menschliche Leben - der Vergänglichkeit, dem Zufall und dem Verfall - dem Tod also unterworfen. Und von diesen Überlegungen ist der Weg dann auch nicht sehr weit zu der zugespitzten Behauptung des INS-Gründungsmanifests: Musik: endet Zitat "INS-Gründungsmanifest": Unsere Körper sind im Grunde nichts anderes als Vehikel, die uns unausweichlich zum Tode befördern. Wir sind alle Nekronauten, jetzt und immer schon. (International Necronautical Society: INS-Gründungsmanifest 1999, Aus dem Englischen von Sven Koch, in: International Necronautical Society: Offizielle Mitteilungen, diaphanes 2011) Atmo: Kryptöne: Wasser, darüber: Autorentext: Man sollte über der Bedeutungsschwere des Wortes Tod nicht den zweiten Aspekt des Wortes Nekronauten vergessen! Hier geht es um Navigation, um Bewegung und Orientierung innerhalb der materiellen Welt. Was die Mitglieder des INS und zuvorderst Tom McCarthy interessiert, sind Räume und Landschaften. Und dazu gehören die greifbaren Räume der externen Welt ebenso wie die nicht-greifbaren Räume des menschlichen Bewusstseins, der Medien und des Todes. Auch in Tom McCarthys Roman "K" wird die Hauptfigur Serge Karrefax im ländlichen Versoie überraschend und abrupt mit dem Raum des Todes konfrontiert. Seine Schwester Sophie begeht mit nur 17 Jahren Selbstmord. Sie vergiftet sich. Für die Figur von Serge gibt es ein konkretes Vorbild. Auch in diesem Fall bezieht sich Tom McCarthy auf einen wichtigen Vorreiter der Moderne: Sigmund Freud. Atmo: endet O-Ton McCarthy: So one major template that I used when I was writing this book was Freud's case history "The Wolfman" which is also a story of a man or a boy called Serge or Sergej and his relation to his sister, a semi-incestuous relationship and then his sister dies. So there are very strong parallels. Übersetzung: Freuds Fallgeschichte "Der Wolfsmann" war für mich eine wichtige Vorlage beim Schreiben des Buches. Es ist ebenfalls die Geschichte eines Mannes beziehungsweise eines Jungen namens Serge oder Sergej und seiner Beziehung zu seiner Schwester. Diese Beziehung ist semi-inzestuös und dann stirbt seine Schwester. Es bestehen also sehr starke Parallelen. Autorentext: Sigmund Freud verfasste die Fallgeschichte des Wolfsmanns 1914 und veröffentlichte sie 1918. Der wahre Name des Wolfsmanns wurde erst viel später bekannt, er hieß Sergej Pankejeff und entstammte einer russischen Familie von Großgrundbesitzern. O-Ton McCarthy: Sergej Pankejeff, he speaks three languages and his mind is like this weird crackling echo chamber were different words and images are all kind of moving around and corrupting one another and infiltrating and mutating. And so to understand Sergej Pankejeff, Freud just listens and traces the lines of association from one kind of mutating language cluster to another. Übersetzung: Sergej Pankejeff spricht drei Sprachen und sein Verstand ähnelt einem merkwürdig knisternden Echoraum, in dem sich verschiedene Wörter und Bilder herumbewegen und auf einander einwirken, sich gegenseitig infiltrieren und dabei ständig mutieren. Um Sergej Pankejeff zu verstehen, hört Freud ihm zu und spürt den Assoziationslinien nach, von einem mutierenden Sprachcluster zum nächsten. Autorentext: Das Interesse von McCarthy gilt auch hier wieder den Sprach- und Bewusstseinsräumen. Sigmund Freud ist für Tom McCarthys Denken und Schreiben ganz grundsätzlich von großer Bedeutung. Das geht über den Fall des Wolfsmanns und den Einfluss auf "K" weit hinaus. McCarthy besucht deshalb auch nicht zum ersten Mal das Freud-Museum in Hampstead Heath im Norden von London. Atmo: Straße, Schritte. Später Türklingeln, darüber: Autorentext: Sigmund Freud musste 1938 vor den Nationalsozialisten aus Wien fliehen. Bis zu seinem Tod im Jahr 1939 lebte er in dem roten Backsteinhaus mit Garten. Atmo: Tür wird geöffnet, Begrüßung, Hineingehen, Durchgehen zum Arbeitszimmer, darüber: Autorentext: Freud gelang es, einen großen Teil der Einrichtung seines Arbeitszimmers und Teile seiner Bibliothek nach London zu überführen. O-Ton McCarthy: Freud is a hugely important figure for me as a writer and in fact I can't imagine Freud not being important to any serious writer. Übersetzung: Freud ist eine unglaublich wichtige Figur für mich als Schriftsteller. Im Grunde kann ich mir kaum vorstellen, dass Freud für irgendeinen ernsthaften Schriftsteller nicht wichtig ist. Autorentext: McCarthy steht in Freuds Arbeitszimmer während er das sagt. Rechts Freuds berühmte Couch für die Behandlung seiner Patienten, in der Mitte sein Schreibtisch und links die Bücherwand mit Freuds Bibliothek. O-Ton McCarthy: Freuds great gift to culture was an understanding of the way that meaning is produced in the world, the way that meaning emerges in the world and the mechanisms through which this emergence takes place. And for Freud, what are these mechanisms? Well, they are symbolic, they are metaphor, they are metonymy, they are condensation, displacement, elision. The types of mechanisms we find at work in dreams but also in literature. Übersetzung: Freuds große Gabe für die Kultur war sein Verständnis dafür, wie Bedeutung entsteht und für die Mechanismen, die dieser Entstehung zu Grunde liegen. Und was sind diese Mechanismen für Freud? Sie sind symbolischer Natur: Metapher, Metonymie, Verdichtung, Verschiebung und Auslassung. So funktionieren Träume, aber auch die Literatur. Autorentext: McCarthy geht es aber nicht um rigide und vielleicht allzu orthodox freudianische Interpretationen und Sinnzuweisungen. Freuds Theorie erschließt für ihn vielmehr einen Raum der Möglichkeiten und der vielfältigen Sinnzusammenhänge. Die besondere Bedeutung, welche der Tod für ihr Denken spielt, verbindet McCarthy und Freud zusätzlich, ebenso wie ihr spezifisches Interesse an der todesfixierten Kultur des alten Ägypten. Tom McCarthy zeigt auch beim Blick auf Freuds Schreibtisch mit seinen antiken Figuren eine große Sensibilität für die kleinen charakteristischen Merkmale von Dingen und Objekten - und - für die Kennzeichen des Todes. O-Ton McCarthy: I mean presumably he sits here - here are his glasses on the writing pad - and he has got about twenty mainly Egyptian figurines staring straight back at him like his kind of witnesses or judges or readers, ultimately. Übersetzung: Angenommen er sitzt hier - hier ist seine Brille auf dem Schreibblock - und er sieht ungefähr zwanzig meist ägyptische Figurinen, die ihn direkt anstarren, wie Zeugen oder Richter oder letztlich wie seine Leser. O-Ton McCarthy: And there is the match-box with which he killed himself ultimately. (Lacht leise) He died of mouth cancer from all the cigars he'd endlessly smoke. So he has got these death figures looking at him and then there is his own death right there - the match- box. You can see all the bits where he struck it presumably on the bottom of the marble here. It's worn away. I would imagine this is from every time he strikes a match, he strikes it downwards and it catches on the marble and leaves this kind of mark. Übersetzung: Und da steht die Streichholzschachtel, die ihm schließlich den Tod brachte. Er starb an Mundhöhlenkrebs von all den Zigarren, die er unentwegt rauchte. Dort stehen diese Todesfiguren, die ihn anschauen und sein eigener Tod wartet gleich daneben - die Streichholzschachtel. Man kann all die Stellen unten am Marmorfuß sehen, an denen er wahrscheinlich mit den Streichhölzern entlangstrich. Der Marmor ist ganz abgewetzt. Ich würde mir vorstellen, dass er jedes Streichholz nach unten abstreicht und es dann am Marmor seine Spuren hinterlässt. Atmo: Flur Treppenhaus, Treppensteigen, darüber: Autorentext: Im Freud-Museum ist eine Gemälde zu sehen, das Sergej Pankejeff für Freud anfertigte. O-Ton McCarthy: I think it might be up the stairs. Autorentext: Es zeigt das Traumbild, das für den Wolfsmann namensgebend wurde. Atmo: Treppensteigen endet, wir stehen am Kopf der Treppe, darin: O-Ton McCarthy: So in this painting there is a tree, a kind of decimated tree in winter that is broken off at the top and in the branches there are five wolfs looking straight out at the viewer just perching as if they were crows but they are not, they are white wolfs and they are looking straight out at the viewer. Übersetzung: Man sieht darin einen kahlen Baum im Winter. In den Ästen sitzen fünf Wölfe, die den Betrachter direkt anschauen. Sie hocken im Baum wie Krähen, aber es sind keine Krähen, sondern weiße Wölfe, die den Betrachter direkt anschauen. Autorentext: Im Zentrum der Fallgeschichte des Wolfsamnns steht die Urszene, die vermutliche Beobachtung der Eltern beim Geschlechtsverkehr. Die Konfrontation mit der unverständlichen und verstörenden Sexualität der Erwachsenen führt zu einer frühkindlichen Traumatisierung. Aber nicht nur der Wolfsmann ist ein Traumaopfer. O-Ton McCarthy: So for Freud trauma is not just a bad thing that happens to a minority of people it's the fundamental condition of subjectivity! We are all trauma victims! But for Freud one thing that characterizes trauma is that it always effaces its origins. So the traumatic event can never be recalled, retained in memory in its kind of pure form, it's always erased, censored or at least translated into something else, into a picture of white wolfs in a tree for example or into a lifetime of pathological behavior. (Lacht) Übersetzung: Ein Trauma betrifft für Freud nicht nur eine Minderheit, sondern es ist die fundamentale Bedingung von Subjektivität! Wir alle sind Trauma-Opfer! Charakteristisch für ein Trauma ist nach Freud die Tatsache, dass es seine Ursprünge immer auslöscht. Der traumatische Vorfall kann nie erinnert werden oder in reiner Form im Gedächtnis erhalten bleiben. Er wird immer gelöscht, zensiert oder zumindest in etwas anderes übersetzt: In ein Bild weißer Wölfe in einem Baum zum Beispiel oder in lebenslanges pathologisches Verhalten. Atmo: Treppe hinabsteigen - Schritte im Flur - Türöffnen - schließen - weggehen, darüber: Autorentext: Auch Serge Karrefax in Tom McCarthys Roman "K" ist traumatisiert. Im Zentrum seines Traumas stehen aber nicht seine Eltern. Atmo: endet Musik: Henry Cowell: Sinister Resonance, darüber: O-Ton McCarthy: Yeah, Serge is really throughout his life reacting to two traumas, one is the death of his sister and the other is earlier than that this kind of - what Freud would call 'the primal scene' - which is the seduction of his sister. Her whole kind of emergent sexual life is something that really imprints on him. And she kind of seduces him even earlier than that, when he's very small. So for him sex and death are totally tied up together in this and then turned into a kind of absence when his sister dies. Übersetzung: Serge reagiert tatsächlich sein ganzes Leben lang auf zwei Traumata: Eines ist der Tod seiner Schwester und das andere ist schon wesentlich früher, das was Freud als die Urszene bezeichnen würde, nämlich seine Beobachtung der Schwester beim Sex. Das erwachende Sexualleben seiner Schwester prägt Serge sehr stark. Und bereits viel früher, als er noch sehr jung war, wurde Serge von seiner Schwester verführt. Für ihn sind Sex und Tod deshalb aufs Engste miteinander verbunden und werden dann zu einer Art Abwesenheit gewendet, als seine Schwester stirbt. Musik: endet Autorentext: Nach dem Tod seiner Schwester Sophie steht Serge vor der Familienkrypta auf dem Landgut Versoie. Bereits bei der Beerdigung überlagern sich die Räume des Todes und der Medien auf unentwirrbare Weise. Musik: Henry Cowell: Sinister Resonance, darüber: O-Ton McCarthy: When Serge's sister Sophie dies her father installs a transmitter, a very basic radio transmitter inside her coffin just in case there had been a mistaken diagnosis of death. And then when Serge is at her funeral he can't really feel any sadness because he feels his sister is not actually in the coffin and neither is death in the coffin. He says both death and she are elsewhere, they are like a signal, they are dispersed. And the rest of the novel is really about him tracking down that signal through the twentieth century and the after-war-period. Übersetzung: Sophies Vater installiert einen primitiven Funksender in ihrem Sarg, nur für den Fall, dass der Tod fälschlicher Weise diagnostiziert wurde und sie wieder aufwacht. Und Serge kann bei ihrer Beerdigung keine Traurigkeit empfinden, weil er das Gefühl hat, weder seine Schwester noch der Tod seien im Sarg. Er sagt, sowohl der Tod als auch sie seien woanders, sie seien wie ein Signal, verstreut und ausgesendet. Und im Rest des Romans geht es darum, dass Serge diesem Signal nachspürt, durch das zwanzigste Jahrhundert, durch den Krieg und die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Musik: endet Autorentext: Nicht nur die Familienkrypta in ihrer greifbaren Form ist für Serge ein Raum des Todes. In seiner Melancholie über den Tod der Schwester werden sein ganzes Leben und alle Orte, die er dabei durchstreift zu Räumen des Todes. Atmo: Abrupt einsetzender Flugzeugmotor, der angeworfen wird, darüber: Autorentext: Der Beginn des Ersten Weltkrieges beendet abrupt einen Kuraufenthalt Serges in Tschechien. Er wird als Soldat eingezogen. Atmo: Flugzeug fliegt vorbei, darüber: O-Ton McCarthy: So during the war Serge becomes a radio operator on an aeroplane. So he's facing backwards which is what Walter Benjamin says about the angel of history - faces backwards over the carnage, over the catastrophe, that's just one long ongoing catastrophe. This is Serge in the aeroplane! He's looking backwards over the battlefield sending messages down, to tell the guns to move to the left or to the right. Übersetzung: Während des Krieges wird Serge zum Funker an Bord eines Flugzeugs. Er schaut dabei nach hinten, genau wie Walter Benjamins Engel der Geschichte, der zurückschaut auf das Gemetzel, auf die Katastrophe, auf eine einzige immerwährende Katastrophe. Das ist Serge in seinem Flugzeug! Er schaut als Flugbeobachter nach hinten auf das Schlachtfeld und funkt seine Beobachtungen nach unten, damit die Kanonen ihre Zielgenauigkeit verbessern können. Atmo: Flugzeug innen, Wind, darüber: Autorentext: Doch während Walter Benjamins Engel der Geschichte mit Entsetzen zurück auf die Verwüstungen der Geschichte starrt und gegen seinen Willen vom Sturm des Fortschritts in die Zukunft getrieben wird, gibt sich Serge dem Kriegsgeschehen, der Technik und dem Fortschritt der Moderne mit Ekstase hin. Atmo: kommt hoch, weiter unter: Zitat "K" S. 216: Als der Sekundenzeiger über das letzte Viertel des Ziffernblatts seiner Uhr wandert, spürt Serge ein fast heiliges Kribbeln, als wäre er selbst gottgleich geworden, durch Maschinen und Signalkodes an einen höheren Platz in der Gesamtordnung der Dinge gehievt, auf eine Aussichtsplattform, von der aus die Erde und Himmel verbindenden Vektoren und Kontrolllinien, die hermetischen Beschwörungsformeln bis hin zu Buchstaben und Schriftart sichtbar, sogar spürbar werden - all dies konzentriert sich auf einen Punkt gleich unterhalb des Zeigefingers seiner rechten Hand, der jetzt, in ebendiesem Moment, die Ziffernfolge tippt: C3E MX12G... Kurz darauf zeigt sich auf englischer Seite ein weißer Riss in der grünen Deckung. Ein kleiner Rauchstrahl, daunenfederngleich, spritzt eine Granate in die Luft. Sie fliegt im Bogen über das Grabengeflecht und das markierte, freie Gelände, sinkt dann, fällt tief unter Serge ins Wäldchen und erblüht mit leuchtend roter, gelber Flamme. Eine zweite Granate folgt, darauf eine dritte. Landstriche werden zum Leben erweckt durch die fiedrigen Flugbahnen von in Stahl und Kordit, in Geschwindigkeit und Lärm verwandelte Pläne und Befehle. Alles wirkt verbunden: Diverse Ort zucken und entladen sich in Bewegung wie Glieder, die auf von andernorts im Körper geschickte Impulse reagieren. (Tom McCarthy: K, Aus dem Englischen von Bernhard Robben, Deutsche Verlags-Anstalt 2012) Atmo: endet Atmo: Luftkampf + Morsesignale O-Ton McCarthy: So again for him it's kind of about an erotic experience of being within media which is also always a space of death. He is very much - like when he is listening to the radio as a teenager - he is in this space of encryption and inscription and transmission. So the whole battlefield is this acoustic geometric space. Übersetzung: Für ihn ist es wieder so etwas wie eine erotische Medienerfahrung und dieser Raum der Medien ist immer auch ein Raum des Todes. Wie früher als Teenager beim Abhören der Funksignale, befindet er sich in diesem Raum von Verschlüsselung und Einschreibung und Signalübertragung. Das ganze Schlachtfeld wird für ihn zu einem akustischen und geometrischen Raum. Atmo: endet mit heulendem Flugzeuggeräusch und Einschlag eines Flugzeugabsturzes Autorentext: Wie ein gefallener Gott wird Serge beim Absturz seines Flugzeugs in die verrußten Todeslandschaften des Schlachtfelds geworfen. O-Ton McCarthy: That's the condition of catastrophe, becoming matter (lacht) You know the gods just falling like matter from the sky, splattering on the ground. Übersetzung: Zu Materie werden, das ist der Zustand der Katastrophe. Die Götter fallen wie Materie vom Himmel und zerschellen am Boden. Autorentext: Beim Absturz seines Flugzeugs entgeht Serge nur knapp dem Tod. Sowohl im Ersten Weltkrieg als auch in den Friedenszeiten danach wird er noch oft dem Tod ins Auge schauen. Meist wird das in mutwilliger Weise geschehen. Serges Haltung ist weniger als todesmutig zu bezeichnen, sondern schon viel eher als todessüchtig. Er folgt dabei immer noch den verstreuten Signalen seiner toten Schwester. Man sollte aber im Kopf behalten, was für alle Nekronauten gilt, wie es Tom McCarthy als Generalsekretär der "International Necronautical Society" verkündet hat: O-Ton McCarthy: The necronaut does not die well, at the right time or in the right way. Übersetzung: Der Nekronaut stirbt nicht gut, weder zur rechten Zeit noch auf die rechte Art. (International Necronautical Society: INS-Erklärung zur Uneigentlichkeit, Aus dem Englischen von Sven Koch, in: International Necronautical Society: Offizielle Mitteilungen, diaphanes 2011) Atmo: Park Greenwich, Hundegebell, Stimmen, darüber: Autorentext: Ähnlich wie Serge Karrefax in "K" ist Tom McCarthy in der Umgebung einer grünen Parklandschaft aufgewachsen. Der Londoner Stadtteil Greenwich wird vor allem vom großen Park beim "Königlichen Observatorium" dominiert. Die Wege steigen dort steil an zum zentral auf einem Hügel gelegenen Observatorium mit dem Null-Meridian, dem nullten Längengrad. Vom Aussichtspunkt neben dem Observatorium hat man einen hervorragenden Panoramablick auf London. Vielleicht kann man die besondere Bedeutung, die Räume und Landschaften für Tom McCarthys Denken haben, auf diese konkrete Landschaft und seine Erfahrungen darin zurückführen. O-Ton McCarthy: You know how it is with childhood landscapes they kind of imprint themselves on your mind. So this whole landscape we are looking at now is really like the main template that I have! Always it's this. Übersetzung: Wie das so ist, Kindheitslandschaften prägen sich sehr stark im Bewusstsein ein. Die Landschaft, die wir gerade betrachten ist also der wichtigste Eindruck, den ich habe. Immer ist es diese Landschaft. Autorentext: Zwischen dieser Landschaft und der Literatur entstanden bereits in seiner Kindheit und Jugend ganz enge Verknüpfungen, die kaum überraschen können, wenn man Tom McCarthys literarisches Werk und seine theoretischen Äußerungen im Hinterkopf behält. O-Ton McCarthy: Probably half the books that I have read in my life I have somehow mapped onto this landscape we are looking at now: This criss cross of paths and this kind of panorama down to the river and the rest of London. You know for me Moby Dick takes place here (lacht) on that grass, with those buildings. Rilke's "Sonnets to Orpheus" for example take place on that hill just behind us. Very specific it's on that hill! As a child I used to go sledging down that hill toboggening and for some reason - I don't know why - that hill maybe is where the underworld begins, where it goes down (lacht). Übersetzung: Wahrscheinlich die Hälfte aller Bücher, die ich in meinem Leben gelesen habe, wurden von mir irgendwie auf diese Landschaft projiziert, die wir gerade betrachten: Dieses Muster kreuz und quer verlaufender Pfade und dieser Panoramablick hinunter zum Fluss und auf den Rest von London. Für mich findet Moby Dick hier statt, auf diesem Gras und mit diesen Gebäuden. Rilkes "Sonette an Orpheus" etwa finden statt auf dem Hügel direkt hinter uns. Und zwar ganz genau auf diesem Hügel! Als Kind bin ich mit dem Schlitten diesen Berg hinunter gefahren und aus irgendeinem Grund, den ich selbst nicht kenne, beginnt dort die Unterwelt, vielleicht weil es nach unten geht. Autorentext: Man könnte also sagen, dass die ganz enge Wechselbeziehung von Räumen und Gedanken, die Tom McCarthys Werk durchzieht hier ursprünglich initiiert wurde und hier ihre erstmalige Verortung fand. O-Ton McCarthy: I mean I always think of things in terms of landscapes, like even ideas - I think of them like a diagram or something Übersetzung: Ich denke über Dinge sehr oft in der Form von Landschaften nach, sogar wenn es um Ideen geht. Ich stelle sie mir wie ein Diagramm oder etwas Ähnliches vor. Autorentext: Das was Tom McCarthys Werk kennzeichnet, nämlich die Überlagerung greifbarer und nicht greifbarer Räume, die Netzwerke der Medien und des Bewusstseins und die Projektionen und Diagramme, die sich über die externe Welt legen, genau für diese Form der Überlagerung findet sich in Greenwich ein eklatantes Beispiel. Der Null-Meridian verläuft genau durch den Hof des Observatoriums. Atmo: Kinder die auf dem Nullmeridian (Metalllinie im Boden) herumspringen und laut rufen "We are standing on the Meridian-Line", anschließend in Atmo: O-Ton McCarthy: So, I'm standing now on the line, which is zero degrees, it's the centre of the world, it's where time comes from. It's literally a line cut into the earth and it's totally arbitrary, right! I mean the equator is zero degrees latitude because it corresponds to certain magnetic and geological qualities of the earth but this line is completely arbitrary. It could be anywhere! Übersetzung: Ich stehe jetzt auf der Linie, sie markiert den Nullpunkt. Das ist das Zentrum der Erde, von hier kommt die Zeit. Es ist buchstäblich eine Linie, die man in die Erde eingeschnitten hat und es ist total willkürlich. Der Äquator ist der nullte Breitengrad, weil das gewissen magnetischen und geologischen Eigenschaften der Erde entspricht, aber diese Linie hier wurde vollkommen willkürlich festgelegt. Sie könnte überall sein! Atmo: Im Park hört man deutlich ein vorüber fliegendes Flugzeug, wird dann überblendet zu einer Aufnahme eines Flugzeugs über Brixton, bei der das Flugzeug noch wesentlich lauter ist. Dazu kommt eine lebhafte, 'multikulturelle' Atmo aus Brixton. Darüber: Autorentext: Der schöne Park von Greenwich wird regelmäßig und hörbar von Passagierjets überflogen. Selbst hier lauert, wenn man so will, jederzeit die Katastrophe eines Flugzeugabsturzes. Eine individuelle Katastrophe machte Tom Mcarthy zum Ausgangspunkt seines Romanerstlings "8 1/2 Millionen". Der namenlose Ich-Erzähler dieses Romans wurde zum Opfer eines ominösen Unfalls, bei dem ihn ein Objekt traf, das vom Himmel fiel. Genauer wird das im Buch nicht beschrieben, denn an mehr kann sich der Erzähler nicht erinnern. Als Folge des Unfalls erleidet er einen komplettem Gedächtnisverlust. Angesiedelt ist der Roman in Brixton, dem quirligen und besonders multikulturellen Stadtteil im Süden Londons. Der Titel "8 1/2 Millionen" bezieht sich auf die Tatsache, dass der Erzähler diese enorme Summe als Kompensation für seinen Unfall erhält. Er benutzt das Geld, um einen Plan umzusetzen, dem ein persönliches Erlebnis Tom McCarthys zugrunde liegt. Zu dieser Zeit lebte er in Brixton. Atmo: Brixton geht über in Atmo: Katzen jaulen + Klavierüben, darüber: O-Ton McCarthy: So the origin of Remainder happened when I was at a party and I saw a crack in the wall in the bathroom and I had this moment of déjà vu. And I remembered being in a similar bathroom with a similar crack but it was high up and there were red roofs opposite and there were cats going over the roofs and piano music coming from another apartment. And I knew even when I was having this memory that it wasn't a real memory, it was like a kind of collage memory, but it was really strong. And I thought immediately, this would be really interesting to construct this memory! Übersetzung: Der Ursprung von "8 1/2 Millionen" war eine Art Déjà-vu-Erlebnis. Bei einer Party sah ich einen Riss in der Badezimmerwand und das erinnerte mich an ein ähnliches Badezimmer mit einen ähnlichen Riss und mit roten Dächern gegenüber. Katzen liefen über diese Dächer und Klaviermusik klang von einer anderen Wohnung herüber. Bereits während ich diese Erinnerung hatte, war mir klar, dass es keine reale Erinnerung war. Es war eher wie eine Erinnerungscollage aus verschiedenen Bruchstücken, trotzdem aber sehr stark. Und ich dachte sofort, dass es äußerst interessant wäre, diese Erinnerung zu erbauen. Atmo: endet Musik: Foals: Heavy Weather, darüber: Autorentext: Der Erzähler von "8 1/2 Millionen" hat das gleiche déjà-vu-Erlebnis wie Tom McCarthy. Weil er sich aber nach seinem Unfall an gar nichts mehr aus seiner Vergangenheit erinnern kann, klammert er sich an diesen winzigen, scheinbar realen Erinnerungsfetzen wie ein Schiffbrüchiger an ein Rettungsboot. Er versucht, seine wenigen Erinnerungsfragmente auszubauen, um so nach und nach seine komplette Vergangenheit rekonstruieren zu können. Weil er über 8 1/2 Millionen Pfund verfügt, kann er es sich leisten, das komplette Haus seiner vermeintlichen Erinnerung in der realen Welt wiederauferstehen zu lassen. Musik: endet O-Ton McCarthy: So he goes around London looking for it . He finds a building that's kind of right but he has to change it a lot. He has to massively modify. Übersetzung: Er läuft also durch London und sucht nach dem Gebäude. Er findet ein Haus, das in etwa passt, aber er muss es sehr stark verändern. Musik: Autechre: r ess, darüber: Autorentext: Der Erzähler glaubt sich zunehmend auch an Details der anderen Mieter des Hauses zu erinnern. Der Erzähler bevölkert sein Haus mit den entsprechenden Statisten. Mit diesem obsessiven Verhalten versucht er, das grundsätzliche Gefühl der Inauthentizität zu überwinden, das ihn nach dem Unfall ständig überkommt. Weil er beim Unfall auch am ganzen Körper erhebliche Verletzungen davon getragen hatte, musste er anschließend die minimalsten Bewegungsabläufe seines Körpers neu erlernen. Tom McCarthy hat diese Erfahrung der Inauthentizität nicht ins Blaue hinein erfunden, sondern er hat sich mit den Opfern schwerer Unfälle über ihre post- traumatischen Erfahrungen unterhalten. Musik: kommt hoch, weiter unter: O-Ton McCarthy: All that stuff about re-enacting experience came straight from one person. I mean all the literature says this, too, but he was so specific about even picking up a glass of water. And he could do it almost perfectly, like ninety-five percent naturally, but he said: "When, I'm doing this, I'm not doing it! I'm re-enacting doing it! I'm pretending to do it. Everything I do, I'm re-enacting. I'm simulating existence!" Übersetzung: All die Sachen über das Nachspielen von Erfahrung kamen direkt von einer Person. Die ganze Literatur sagt das auch, aber er konnte sehr genau seine Erfahrung beschreiben, selbst wenn es nur darum ging, ein Glas Wasser hochzuheben. Und es gelang ihm fast perfekt, zu 95 Prozent war es natürlich, aber er sagte:" Wenn ich das mache, mache ich es nicht! Ich tue nur so, als ob! Ich spiele alles nur nach. Ich simuliere meine Existenz. Musik: kommt hoch, weiter unter: Autorentext: Ganz ähnlich existiert für den Erzähler von "8 1/2 Millionen" in seiner Vorstellung ein authentisches Leben vor dem Unfall und ein gänzlich unauthentisches danach. Musik: endet O-Ton McCarthy: The narrator of Remainder is naïve and in a quite interesting way. He really believes in authenticity. That you can be in a moment without any exterior consciousness of that moment. Übersetzung: Der Erzähler von "8 1/2 Millionen" ist auf eine sehr interessante Weise naiv. Er glaubt wirklich an Authentizität. Dass man einen Moment erleben kann, ohne jedes äußere Bewusstsein davon zu besitzen. Musik: Aphex Twin: prep gwarlek 3b, darüber: Autorentext: Aber ebenso wie beim frühkindlichen Trauma des Wolfsmanns in Freuds Fallgeschichte, möchte Tom McCarthy diese posttraumatischen Erfahrungen von Unfallopfern nicht als Sonderfall gelten lassen. Musik: kommt hoch, weiter unter: O-Ton McCarthy: Nobody is authentic! Authenticity itself is a kind of pernicious ideology and a very big one in our culture! And of course through the heroes naïve adherence to that ideology he exposes it, I think. In a way he is the ultimate rebel by being the ultimate conformist. He believes in authenticity so much that he will re-enact a moment a hundred times and expose its constructedness. Übersetzung: Niemand ist authentisch! Authentizität ist eine schädliche aber sehr wichtige Ideologie unserer Kultur! Und durch seine naive Anhängerschaft entblößt der Held diese Ideologie, denke ich. In gewisser Weise ist er der ultimative Rebell, indem er der ultimative Konformist ist. Er glaubt so sehr an Authentizität, dass er einen Moment hundert Mal wiederholt und damit dessen Konstruiertheit zur Schau stellt. Musik: endet Autorentext: Was der Erzähler bei seinen komplizierten Inszenierungen sucht ist die ekstatische Erfahrung, mit sich selbst identisch zu sein, sich endlich wieder authentisch und echt zu fühlen. Jedes Mal, wenn ihm die Nachstellung einer Szene - ein sogenanntes Reenactment - gelingt, verschafft ihm das eine körperliche Rauscherfahrung wie bei einem Drogenabhängigen. Er spürt dann ein Kribbeln in den Armen und der Wirbelsäure. Wäre er ein Künstler, könnte man sagen, er suche Momente des Erhabenen. Demgegenüber vertritt Tom McCarthy eine Kunstauffassung, die Transzendenz verneint und die Gespaltenheit des Individuums immer im Blick hat. Musik: Foals: Tron, darüber: O-Ton McCarthy: Re-enactment is a word that particularly in the art-world has really become big in the last ten years. But re-enactment is really interesting for me because it's different from repetition, because with re-enactment there is a sense of performance and a sense also of a split within an act. So when you re-enact something the thing that you are doing isn't the thing you are doing. It's a marker for some other thing that this thing is not. So there is a kind of weird doubling or splitting into two of events and experience and that is really, really interesting. Übersetzung: Reenactment ist ein Begriff, der in den letzten zehn Jahren besonders in der Kunstwelt große Bedeutung erlangt hat. Reenactment ist für mich sehr interessant, weil es sich von einer Wiederholung unterscheidet. Bei einem Reenactment existiert immer das Bewusstsein einer Performance und einer Aufspaltung innerhalb einer Handlung. Wenn du also ein Reenactment machst, ist die Sache, die du tust, nicht die Sache, die du tust. Sie ist ein Marker für etwas anderes, das sie selbst nicht ist. Es entsteht also eine merkwürdige Dopplung und Aufspaltung von Vorgängen und Wahrnehmungen und das ist wirklich sehr, sehr interessant. Musik: endet Autorentext: Letztlich ist für Tom McCarthy die Kunst und damit auch die Literatur immer ein Reenactment, in dem Sinne, dass der Künstler kein originärer Schöpfer, sondern ein begabter und seiner Wiederholungen bewusster Remixer ist. Obwohl der Erzähler von "8 1/2 Millionen" demgegenüber fest an Authentizität glaubt, könnte man ihn doch in anderer Hinsicht als Nekronauten bezeichnen. Auch er betritt den Raum des Todes und versucht ihn zu bewohnen. O-Ton McCarthy: One of the times he gets the biggest tingling and the biggest hit is when he re-enacts the death of a local drug-dealer who has been shot on his street-corner. And he meticulously re-enacts this and he plays the role of the victim. You know the police have been taking some photographs, washed the blood away and after two hours that's it! And the hero is kind of saying: "That's not enough! Something monumental has happened here. This is the entry to the underworld! A guy has been shot! He returns with an almost religious devotion to re-enact that moment. He is stuck in that moment in this repetition of it, which isn't an interpretation of it. The forensic teams want to interpret it but he just wants to occupy that space in a kind of dumb way. And I think that's great that he is doing that! I like him at that point! He is a really ethical person. (Lacht) Übersetzung: Ein besonders starkes Kribbeln und den größten Kick bekommt er, als er den Tod eines lokalen Drogendealers nachspielt, der an seiner Straßenecke erschossen wurde. Er spielt das sehr sorgfältig nach und übernimmt die Rolle des Opfers.Die Polizei hat einige Tatortphotos gemacht und das Blut weggewischt. Doch der Held sagt gewissermaßen: "Das ist nicht genug! Etwas Monumentales ist hier passiert. Das ist der Eingang zur Unterwelt! Er kehrt mit einer fast religiösen Hingabe zurück, um diesen Moment nach zu spielen. Er ist gefangen in diesem Moment, in dieser Wiederholung, die keine Interpretation ist. Die forensischen Teams wollen das interpretieren, aber er möchte diesen Ort auf ganz blöde Weise einnehmen. Und ich finde das großartig! Ich mag ihn an diesem Punkt! Er ist eine wirklich moralische Person. Atmo: Kurze Collage mit Passanten die Strassenamen ansagen über Strassenatmo (Coldharborlane, ....), darüber Autorentext: Brixton an der Kreuzung, die im Roman Schauplatz der Erschießung des Drogenhändlers ist. Atmo:dann nur Strassenatmo, darüber Zitat "8 1/2 Milionen" S. 206/207 Die beiden Männer hatten das Auto an der Stelle geparkt, die ich ihnen gezeigt hatte, und stiegen gerade aus. Sie hatten genau richtig geparkt, exakt dort, wo ich es ihnen gesagt hatte. Es war sehr gut. In meiner Wirbelsäule fing es wieder an zu kribbeln. Ich stieß mich mit dem Fuß vom Gehsteig ab und ließ das Fahrrad vorwärts rollen, der Lenker eierte. Als das Vorderrad einen auf dem Boden liegenden Plastikbecher passierte, sah ich hoch und nach links zu den beiden Männern. Sie hatten ihre Maschinenpistolen hervorgeholt und zielten auf mich. Der Mann mit dem karibischen Akzent eröffnete das Feuer. Seine Pistole machte einen höllischen Krach. Der andere Mann eröffnete ebenfalls das Feuer, keine halbe Sekunde nach dem ersten. Der Lärm der beiden Pistolen zusammen war ziemlich ohrenbetäubend. Der freundliche Mann mit dem Londoner Akzent zog beim Schießen eine Grimasse. Das Gesicht des anderen Mannes war ausdruckslos, gleichgültig, das Gesicht eines Mörders. Das Kribbeln wurde intensiver, als ich mein Hinterteil vom Fahrrad hob und wie wild in die Pedale zu treten begann, vorbei an den vergitterten Fenstern von Movement Cars und über den abgeflachten Bordstein in die Belinda Road. Die beiden Männer kamen über die Coldharbour Lane weiter auf mich zu und feuerten ununterbrochen. Genau vor der Pinselsäuberungspfütze an der Ecke der Belinda Road drehte ich das Rad scharf nach rechts und wurde über den Lenker geschleudert. Als ich fiel, stürzte mir ein Chaos von Bildern entgegen: eine Ecke der namenlosen schwarzen Bar, ein Streifen Gold, ein Stückchen Himmel, ein Laternenpfahl, Asphalt und die bunten Muster, die auf der Oberfläche der Pfütze schwammen. (Tom McCarthy: 8 1/2 Millionen, Aus dem Englischen von Astrid Sommer, diaphanes 2009) Atmo: endet O-Ton McCarthy: So when he wants to kind of resurrect this dead drug-dealer it's through the material traces on the pavement where he died - the actual tracks and scratch-marks and cigarette butts and beer-bottle tops and chewing-gum in the pavement - that he looks to to try and kind of retrieve him. Übersetzung: Als er diesen Drogenhändler wiederauferstehen lassen möchte, geschieht das durch die materiellen Spuren auf dem Straßenbelag an der Stelle seiner Ermordung - die tatsächlichen Spuren und Kratzer, die Zigarettenstummel, Kronkorken und Kaugummis im Straßenbelag - durch die er ihn zurückholen möchte. Autorentext: Und für McCarthy ist es genau diese Materialität, die zum Zentrum des Buches zurückführt: Dem Unfall, der Katastrophe, die alle Wiederholungen und Reenactments in Gang setzte. Musik: Jim O'Rourke: Eveh, darüber: O-Ton McCarthy: And also I was thinking a lot about Blanchot and the idea of the disaster. For Blanchot in his book "The writing of the disaster" - that was really important for me when I was writing "Remainder" - he talks about the disaster as the event that can never be named. It can never even be placed in time because it creates time. And in fact he even says the word "des astra" comes from "from the stars". It just means "something falling". We could interpret that as like being/having? to do with gods and fate like the stars decree but we could also interpret it like Newtonianly - gravity, things fall. So the fall from the sublime into the material is the original disaster. So, when readers read "Remainder" and they say: "I wonder what the disaster was?", or sometimes interviewer say: "Can you tell us what it was? What was the accident really?" You know, there isn't really an answer! I mean there is, it's probably some whatever aeroplane, satellite. But that's not the real answer! The answer is it's just like existence, it's consciousness, you know, god fell on his head, basically, (lacht) as he crashed down to earth to make a battery-acid mark. Übersetzung: Ich dachte auch sehr oft an Maurice Blanchot und den Begriff des Desasters. Sein Buch "Die Schrift des Desasters" war wirklich wichtig für mich als ich "8 1/2 Millionen" schrieb. Blanchot spricht vom Desaster als dem Ereignis, das nie benannt werden kann. Es kann noch nicht einmal zeitlich lokalisiert werden, denn es kreiert die Zeit. Und tatsächlich sagt er das Wort "des astra" kommt von "von den Sternen". Es bedeutet einfach "etwas fällt". Wir können das im Zusammenhang mit den Göttern und dem Schicksal sehen, so dass die Sterne ein Urteil fällen, aber wir können es auch im Sinne Newtons sehen - Schwerkraft, Dinge fallen. Der Fall vom Erhabenen in die materielle Welt ist das ursprüngliche Desaster. Wenn Leser oder Journalisten fragen: "Was ist bei diesem Unfall wirklich passiert?" Darauf gibt es keine wirkliche Antwort. Vielleicht schon, wahrscheinlich war es ein Flugzeug, ein Satellit. Aber das ist nicht die tatsächliche Antwort. Die Antwort ist, es ist die Existenz, Bewusstsein. Im Grunde fiel ihm Gott auf den Kopf, als dieser auf der Erde aufschlug und davon nur ein Umriss wie von Batteriesäure übrig blieb. Musik: endet Autorentext: McCarthys Bemerkung über die Spuren von Batteriesäure bezieht sich wiederum auf seinen neuen Roman "K". Hört man ihm bei der Beschreibung dieser Romanpassage genau zu, wird einem seine ganz persönliche Haltung zum Tod vielleicht sehr deutlich. Hier klingt etwas von der ethischen Haltung durch, die er an der Hauptfigur von "8 1/2 Millionen" schätzte. O-Ton McCarthy: But there is a bit in "C" where, when they are training to be pilots, one of the trainees forgets to strap himself into the aeroplane when they loop the loop. And he falls out and crashes into the grass and like in the cartoons his body makes a mark in the grass. And Serge and one of the other cadets are watching it and the other cadet says: "All his thoughts, all his ambitions, everything that he ever dreamed about it's just reduced to battery-acids!" And Serge says: "Well, that's what we are!" And Serge is right! His thoughts and his dreams and his ambitions are there in that mark! But there is nothing spiritual or abstract about this. It's a completely material reality that he is inhabiting and it has its poetry. Übersetzung: In "K" gibt es eine Passage, als sie trainieren Loopings zu fliegen und einer der Flugschüler vergisst sich anzuschnallen bevor sie zum Looping ansetzen. Er stürzt aus dem Flugzeug hinunter ins Gras und wie in einem Zeichentrickfilm hinterlässt sein Körper einen Abdruck im Gras. Serge und ein anderer Kadett betrachten das und der Kadett sagt: "All seine Gedanken, all seine Ambitionen, alles wovon er jemals träumte ist einfach reduziert auf Batteriesäure!" Und Serge sagt: "Aber das ist es, was wir sind!" Und Serge hat recht! Seine Gedanken und seine Träume und Ambitionen sind in diesem Abdruck enthalten! Aber das hat nichts Spirituelles oder Abstraktes an sich. Er lebt in einer vollständig materiellen Welt, und darin liegt eine eigene Poesie. Autorentext: Tom McCarthy expliziter und umfassender Materialismus und seine Thematisierung des Todes sollten keinesfalls als zynisch missverstanden werden. Sein Denken kreist um den Abgrund, der jede Kontinuität und sogar die Zeit selbst aufhebt, sei es der Tod, die Katastrophe oder das Trauma. Wie schwarze Löcher die interstellare Materie in eine Kreisbahn zwingen, so zwingen diese Ereignisse alles in eine Kreisbahn um eine Leerstelle, um einen blinden Fleck. Auch die Kunst kreist um eine solche Leerstelle. O-Ton McCarthy: But art's dirty secret is inauthenticity all the way down, a series of repetitions and reenactments that attempt to cover over the traumatic event of materiality. Übersetzung: Das schmutzige Geheimnis der Kunst ist ihre Uneigentlichkeit auf der ganzen Linie, eine Folge von Wiederholungen und Nachspielen, die das traumatische Ereignis der Materialität überdecken sollen. (International Necronautical Society: INS-Erklärung zur Uneigentlichkeit, Aus dem Englischen von Sven Koch, in: International Necronautical Society: Offizielle Mitteilungen, diaphanes 2011) Autorentext: Im Sinne McCarthys ist das aber nicht zu beklagen, sondern fröhlich die nächste Wiederholungsschleife einzulegen. O-Ton McCarthy: As modern lovers of debris, radio and jetstreams, go spread the seed, tune into and repeat it until its signal echoes up and down the balconies, taken up by barking dogs, muttering bums, music traffic down windy streets, across parks and soccer fields. Illusion is a revolutionary weapon. Thank you for listening. Übersetzung: Als moderne Liebhaber von Schutt, Funk und Jetstreams, gehen Sie hin und bringen Sie die Saat aus, gehen Sie auf gleiche Wellenlänge und wiederholen Sie das Signal, bis es von allen Balkonen widerhallt, mitschwingt im Hundegebell, im Gebrabbel von Pennern, in der Musik, im Verkehr, in zugigen Straßen und durch Parks und über Fußballfelder weht. Illusion ist eine revolutionäre Waffe. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. (International Necronautical Society: INS-Erklärung zur Uneigentlichkeit, Aus dem Englischen von Sven Koch, in: International Necronautical Society: Offizielle Mitteilungen, diaphanes 2011) 1