DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Ulrike Bajohr Dossier Auf Porzellan gebaut Ein Landstrich muss sich neu erfinden Von Rosemarie Mieder und Gislinde Schwarz Sprecher/innen: S1: Frauke Poolmann S2: Petra Kalkutschke und Martin Schaller Ton und Technik: Ernst Hartmann und Petra Pelloth Regie: Ulrike Bajohr Musik: Wolfram Huschke: Diabolica, Arch.nr.: 6034210, Track 14: Bach 2, 2`, Track 16:Moto Perpetuo, 2`30 LC0316 URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? DeutschlandRadio Sendung: 17. April 2009 /DLF Atmo 1 Dampfmaschine läuft an Einbl. 01 25" Gabi Dewald: Sie kommen über die ehemalige Müllhalde. Denn dieser Berg /das war ne Industriebrache. Und auf alten Bildern ist das hier hinterm Haus alles schneeweiß gewesen. Die Kaolin-Schlämme, die Porzellanscherben, das liegt hier alles drunter. Das ist wirklich Abfall, über den man läuft, um hier in diesen modern gestalteten Eingang rein zu kommen. auf Musik 1 Sprecher: Auf Porzellan gebaut Ein Landstrich muss sich neu erfinden Eine Sendung von Rosemarie Mieder und Gislinde Schwarz Einbl. 02 47" Marianne Dietrich: Ich bin die Marianne Dietrich und ich bin 67 Jahre. Else Jahn: Ich bin die Else Jahn, wohne auch hier in Selb-Plößberg, bin auch hier geboren und bin 38 Jahr bei Rosenthal gewesen. Marianne Dietrich: Des hat man überhaupt ni gewusst, was man werden will. Des war früher, also - da sin halt, die Geschwister sin auch in die Fabrik gegangen. - Ja, die Eltern; mein Vater war in der Fabrik Schreiner. Und die Mutter war früher Gießerin. Die musst halt, weil mir vier Kinder waren, zu Haus bleiben. Und die Schwester war Porzellanformerin - Kunstformerin. Bruder is Modelleur worn und der andere Bruder is in Schönwald, der ist der einzige, der nicht Porzelliner geworden ist. Der ist Elektriker worn. S 1: Sie wollten uns nicht an ihrem Küchentisch empfangen. S 2: Else Jahn und Marianne Dietrich bestellten uns dorthin, wo sie Jahrzehnte gearbeitet hatten. In das alte Fabrikgebäude von Rosenthal. S 1: Nun sitzen wir uns in einem großen Saal gegenüber. Der Raum ist sauber gefegt, weiß gestrichen und leer geräumt. S 2: bis auf ein paar Tische und Stühle S 1: Früher müssen hier dutzende Porzellinerinnen nebeneinander gesessen und Teller, Tassen, Schüsseln und Kannen dekoriert haben. Einbl. 03 39" Else Jahn: Ich wollts nich` machen. Aber es hat immer geheißen: Du bist mit die Große. Mir waren sieben. Und den behinderten Bruder. Da hats geheißen: Mir brauchen Geld. Die Mutter konnt ja auch nit gehen, der Vater war kriegsversehrt. Mir sind alle, die Geschwister, sind Druckerinnen daher dann worden. Und da hat es immer geheißen: Du musst Geld verdienen, ja? Es war so. Da hat einer den andern mitzogen. Die Eltern warn da und da sind die Kinder wieder mitkomme. Die mussten rein. S 2: Je länger wir den beiden Frauen zuhören, umso sicherer sind wir uns: Es war richtig, noch einmal hierher nach Selb und ins Fichtelgebirge zu kommen. S 1: Eine Begegnung mit der Stadt wenige Monate zuvor.... S 2: ....hatte uns nicht mehr los gelassen: Die Gleise vor dem hohen Fabrikgebäude, über die schon lange keine Erd- und Steinmassen mehr angeliefert wurden. Die Häuser drüben auf der anderen Seite, S 1: ....von denen etliche einen neuen Anstrich gebrauchen könnten. Die Leere des gewaltigen Geländes ringsum. All dies erschien uns - zwei Journalistinnen aus Ost-Deutschland - seltsam vertraut. Einbl. 04 24" Gabi Dewald: Das erste, was sie hier sehen, sind die drei Grundstoffe, woraus die Porzellanmasse zusammengemischt wird. Kaolin, Feldspat, Quarz. Und zwar in ihrem sogenannten natürlichen Vorkommen. Also es sieht aus wie ein Kalkstein, ein sehr weißer heller Stein. Und diese pulverisiert und eben geschlemmt, daraus mischt man dann in einem gewissen Verhältnis die Porzellanerde, die man dann benutzt. auf Musik 1 Sprecher: 1814 gründet Carolus Magnus Hutschenreuther in Hohenberg, zehn Kilometer von Selb entfernt, die erste Porzellanfabrik auf Bayrischem Boden. Hier, im Fichtelgebirge findet er die Rohstoffe, die für die Porzellanherstellung benötigt werden, dazu ausreichend Holz, Wasserkraft und vor allem ein großes Arbeitskräftereservoir. Einbl. 05 Marianne Dietrich: Also - der Direktor Koch...mir mussten immer malen, wenn wir eingestellt worden sin. Hat er einen bestellt und hat einen ein Blatt hingelegt und einen Stift und dann mussten wir so Kanten malen. Also da hat der gleich geschaut, wie geschickt man is. Und ich war dann aufgeregt, hat er gesagt: Naja, für `n Weißbetrieb geht sie schon. Hat mein Vater gesagt: Wenn sie nicht in den Buntbetrieb darf, dann geht sie net rein. Dann geht sie woanders hin. Hat er gesagt: na dann soll sie in den Buntbetrieb. Und dann bin ich Stahldruckerin geworden. S 1: Geschichten, wie die von Marianne Dietrich und Else Jahn, haben auch wir gehört: S 2: Runter von der Schule, so früh wie möglich Geld verdienen, kein Gedanke an weitere Bildung. Allerdings waren es nicht unsere Mütter, die davon erzählten, S 1: sondern unsere Großmütter. Für uns, die wir in den 50er Jahren in der DDR geboren sind, klingt, was wir hier hören, nach unendlich fernen Zeiten. Dabei waren die Die Orte unserer Kindheit nicht so weit von Selb entfernt: Karl-Marx- Stadt, heute wieder Chemnitz, S 2: und Halle an der Saale. Einbl. 06 20" Marianne Dietrich: Also wir sind nur angelernt worden, das war ungefähr ein halbes Jahr. Dann ham die geprüft, wie viel dass man verdient und wenn man dann ungefähr an die 55 Pfennige rangekommen ist, dann hat man auch Geld gekriegt. ... Mit 14 Jahren mussten wir das schon machen. Zehn, zwölf Teller hat man da schon machen müssen. - Else Jahn: In der Stund! Marianne Dietrich: In der Stunde. Atmo: 2 kurz Massemühle Einbl. 07 56" Gabi Dewald: Dieser erste Teil wird beherrscht von großen eindrucksvollen Maschinen. / Es war auch der Saal, an dem die schwerste Arbeit verrichtet wurde. Also da, wo das Porzellan gemischt, geschlemmt, gepresst, plastifiziert und schließlich auch gelagert wurde. Man sieht hier überall noch die Wasserrinnen, wo die Wässer, die aus den Porzellanmassen herausgepresst wurden, dann abgelaufen sind. Im Boden haben wir diese riesigen Senkbecken mit den großen Quirls drin, wo man sieht, wie diese Porzellanmilch gerührt wurde, bevor sie dann eben gepresst ... wurde. Und oben auch die Massemühlen, die dann eben die Glasur vermahlen haben. Und die diesen enormen Geräuschpegel den hört man dann auch regelrecht, weil die Maschinen hier auch laufen. auf Musik 1 Sprecher: Oberfranken entwickelt sich zum Zentrum der deutschen Porzellanindustrie. Neben immer neuen Betrieben entstehen dicht gedrängte Wohnquartiere. Anfangs des 20. Jahrhunderts leben 60 Prozent aller Porzelliner in Einzimmerwohnungen, in der Regel fünf Personen in einem Raum. Einbl 08 Gabi Dewald: Die Porzelliner hatten hier mindestens 20 Jahre weniger Lebenserwartung als der Rest der Bevölkerung. Durch die enorme Staubbelastung, aber auch die Dämpfe von den Lösungsmitteln in den Farben. Und die ganze Rauchentwicklung, es wurde ja mit Kohle geheizt. Das heißt, es war ein unheimlich schwerer Job an vielen Arbeitsplätzen und es war ein rasend ungesunder Job, allzumal die Leute ja hier angefangen haben als Kinder hier mit 14. S 2: Dreckig war es auch in Karl-Marx-Stadt und Halle - S 1: Ruß, Chemiedämpfe, Schaumkronen auf den Flüssen. Bis zum Ende der DDR! Es gab ungesunde Arbeitsplätze, schwerste körperliche Arbeit und oft genug keinerlei Hilfsmittel. S 2: Wie hier im Fichtelgebirge waren es auch in der DDR Frauen, die die schlecht bezahlten Handarbeiten verrichteten. Mit einem Unterschied: Im Osten war es bald selbstverständlich, zehn Jahre zur Schule zu gehen. Danach folgten Lehre oder Abitur und Studium. In den Hörsälen der Unis saßen Kinder von Arbeitern und Bauern S 2: - unter ihnen immer mehr Frauen. Einbl. 09 1´07 Porzellinerinnen: Wir ham ja jetzt kei Ding mehr, keine Farbe. Un wir ham a aufgemischt die Farbe. Mit Lack, dass sie halt schön geschmeidig war, und dann ham wir sie genomme un ham sie auf die Platte gestrichen. S 2: (über O-Ton 09) Else Jahn und Marianne Dietrich nehmen noch einmal ihr altes Arbeitsgerät in die Hand, Einbl. 09f Dann musste wir se wieder runtertun, un dann sauber machen. Dass nichts, keine Reste un nichts. Dann war die Farbe in dem Motiv da drin. Dann ham wir das Papier da gehabt, des is feucht gewesen. Un das ham wir dann auf die Platte rauf, un ham des dann so draufgewalzt. (Es quietscht beim Walzen). S 1: (auf O-Ton 09) Sie zeigen uns, wie bunte Muster auf weißes Porzellan gedruckt wurden. Einbl. 09ff Das Motiv war dann auf dem Papier drauf. Un das is dann ausgeschnitten worden und is dann aufs Geschirr gedruckt worden. Und die eine hat den Druck gemacht und die andere hat`s aufgepicht. ? S1: (mit O-Ton 09 überlappen) Die beiden Frauen haben ihr gesamtes Arbeitsleben bei Rosenthal verbracht; die allermeisten Jahre hier in der Fabrik Selb-Plößberg. Der Arbeitsweg dahin war kurz: S 2: Früh morgens sind sie an der Bahnlinie entlanggelaufen, S 1: mittags schnell zum Essen nach Hause gerannt und dann wieder zurück an ihren Platz im Stahldruck. Das sparte Fahrgeld. S 2: Aus Bayern herausgekommen sind beide so gut wie nie. Einbl. 10 Marianne Dietrich: Ach Gott, wie ich angefangen hab, 1955 hab ich es Arbeiten angefangen, da hat man die Stunde 55 Pfennige verdient. Ich hab 1988 aufgehört. - Also was ham wir denn da verdient? Gott, wie ich in Selb war, da hab ich vielleicht elf Mark verdient. Atmo 3 Druckgeräusche Einbl. 11 Wolfgang Kreil: Es gab Spitzenkräfte, Porzellanmaler oder auch Akkordkräfte, wo ich sagen würde, die sind gut bezahlt worden. S 1: Das ist Wolfgang Kreil, der Oberbürgermeister von Selb. Einbl. 12 Aber natürlich gabs auch sehr viele einfache Tätigkeiten, wo man von einem Verdienst allein hätte eine Familie nicht durchbringen können. Deshalb war es in Selb schon sehr lange üblich, dass Frau und Mann in der Familie arbeiteten. Aber wenn zwei Verdienste da waren, dann konnte man gut leben, dann konnte man sich auch ein Häuschen bauen in Selb, zumal ja auch die Preise nicht so waren wie in den Ballungszentren. Einbl. 13 Marianne Dietrich: Wir ham später dann Ätzkante gemacht. Das teuere. Ins Porzellan rein. Des war es teuere. Da ham wir viel gemacht. Für Prinzen aus Holland, Schah von Persien, Saudi-Arabien- Else Jahn: Scheich von Brunei- Marianne Dietrich: Des war schon für die Firma gut. Else Jahn : Und wie der Schah von Persien gekrönt worden ist, die ham ja viel Sachen kriegt. Die ham des Glas kriegt, die ham die Bestecke kriegt und alles. Und dann is des von uns, die Formen, is dann vernichtet worn. Auf jeden Fall ist das den sein Motivzeuch gewesen, des alles. Weil des ja alles dann is des ganze Zeuch, die Formen das alles vernichtet worn. Des hat nur er kricht. Und niemand anders. Da denk ich oft noch dran, wie der Umsturz war, wie er ausreisen musst, denk ich oft an des Geschirr, denk: Ach Gott - was wird aus dem Zeuch geworden sein. Des is ja alles mit Gold gemalt worden. auf Musik 1 Sprecher: Anfang der 50er Jahre übernimmt Philip Rosenthal die Leitung der Firma. Er lädt international bekannte Künstler ein, limitierte Porzellanreliefs und exklusive Objekte aus Porzellan und Glas zu entwickeln: Henry Moore, Lucio Fontana, Eduardo Paolozzi, Victor Vasarely, Salvador Dali, Hap Grieshaber, Frank Stella, Günter Uecker, Otmar Alt, Andy Warhol und James Rizzi. Atmo Kleinstadt S 2: Wir spazieren durch Selb, S 1: knapp 17 000 Einwohner. S 2: "Stadt des Porzellans" steht unter dem Ortsnamen. S 1: Auf Porzellan gebaut ist hier wirklich alles: ein Porzellangässchen, das aus 55 000 farbigen Mosaikteilchen gepflastert ist, das Rosenthal-Theater mit der alljährlichen "Woche des Weißen Goldes", der Porzellanbrunnen, S 2: die größte Kaffeekanne der Welt. Auch Stadtwappen und Rathaus-Glockenspiel sind aus Porzellan. Stadtatmo hoch Einbl. 14 Barbara Flügel: Ich hab das Studium Ende der 80er beendet und ja da wars in Selb eigentlich noch richtig spannend. S 1: Barbara Flügel, Porzellandesignerin. Einbl. 15 Da gab es den Gott Rosenthal und den Gott Hutschenreuther und das waren zwei mächtige große Firmen und auch Heinrich war eine große, schöne Porzellanfabrik. Damals weiß ich noch ganz genau stand in der Zeitung: 500 Mio Umsatz seien bei Rosenthal überschritten. Nächsten Tag stand drin: 550 Mio bei Hutschenreuther überschritten. Also man kann sagen, hier wurde für eine Milliarde DM Porzellan hergestellt, nur bei den zwei großen Firmen. So 1961, das hab ich noch in der Schule gelernt, hat `s hier 21 Porzellan herstellende Betriebe gegeben. Und dann mindestens noch mal so viele, die nur dekoriert haben. Einbl.: 16 Kai Hammerschmidt: Hutschenreuther hat mein gesamtes Studium finanziert und übernommen. Das ist nur für die Besten gemacht worden und das hat mich auch geehrt. S 2: Kai Hammerschmidt, noch ein Neu-Unternehmer. Einbl.: 17 Ich habe als Modelleur begonnen bei der Firma Hutschenreuther in Schönwald. Habe dort drei Jahre Modelleur gelernt, habe während der Zeit auch beim Figuren modellieren etwas reinschnuppern dürfen. Und bin dann auf die Fachschule nach Selb gegangen und hab dann drei Jahre Formenentwurf studiert. Hab dann noch mal freiwillig ein Jahr Dekorentwurf rangehängt. Hab also sozusagen sieben Jahre Ausbildung hinter mir gehabt. Nach sieben Jahren Ausbildung haben sie mir bei Hutschenreuther gesagt: Eine der besten Ausbildungen, die sie je hatten. Aber die dumme Nachricht, meinen Job gibt es so gut wie nicht mehr. auf Musik 1 Sprecher: Im Landkreis Wunsiedel, zu dem Selb gehört, bilden Oberpfälzer Wald, Kaiserwald, Erzgebirge und Frankenwald einen Gebirgsknoten. Hier entspringen die Saale, die Eger, die Naab und der Main und fließen in alle vier Himmelsrichtungen. Klimatisch zählt das Fichtelgebirge zu den kältesten Regionen Deutschlands. Die Temperaturen liegen im Schnitt fünf Grad niedriger als an anderen Orten. Einbl. 18 Winterling: Wir warn einfach abgeschnitten von der Welt. Wo Fuchs und Hase gute Nacht sagt. Aber zu der Zeit war die Porzellanbranche noch intakt. S 1: Dieter Winterling ist gelernter Wasser- und Heizungsinstallateur und kam später in die Porzellanfabrik. Einbl. 19 Es war Arbeit hier, genügend Arbeit, aber wir haben immer bissel so am Rand gelebt, mir warn Grenzgebiet, man konnte alles offen und stehen lassen, es ist einfach nichts passiert. Wie die Wende kam, warn wir erst mal überrumpelt von den Leuten aus den neuen Ländern. Dann kam Tschechien dazu, das war eigentlich die größte Freude, weil wir meinten, jetzt sind wir wieder ein Mittelpunkt in Deutschland. auf Musik 2 Einbl. 20 Wolfgang Kreil: Selb und die Nachbarstadt Asch waren immer Schwesterstädte, sind auch gemeinsam das erste Mal urkundlich erwähnt. Und es gab eine Straße zwischen beiden Städten, die auf deutscher Seite schmal aber gut ausgebaut war aus militärischen Gründen. Am Schlagbaum in Wildenau endete und auf tschechischer Seite konnte man an den Alleebäumen noch sehen, wo sie früher gelaufen ist. Aber der Asphalt war entfernt, es war dort Wiese. Wir wussten auch nicht, was uns erwartet, haben uns gesagt: Auf der schmalen Straße wird wahrscheinlich viel los sein. Am ersten Tag sperren wir die für den Autoverkehr, lassen nur Fußgänger und Fahrräder zu und schauen mal, was da passiert. Und als an diesem Tag früh um sechs Uhr die Grenze geöffnet hat, war aus Selb eine lange Schlange von Menschen zu Fuß unterwegs, um nach Asch zu laufen und diesen Eisernen Vorhang zu überqueren und zu schauen, was ist dahinter. Ich war selbst mit meiner Frau und dem Jüngsten im Kinderwagen in dieser Schlange. Es war ein sehr geheimnisvoller Morgen, die Sonne kam, der Nebel stieg aus den Feldern auf. ... Und uns entgegen kam eine lange Schlange von Menschen aus Asch, die genau das gleiche wollte: Einfach mal schauen, was ist hinter diesem Eisernen Vorhang. Und was mir bis heute nicht aus dem Sinn geht: Es waren Tausende von Menschen auf dieser Straße in zwei langen Schlangen, die auf dieser Straße liefen und das geschah absolut lautlos. Ab und zu ein scheues Grüß Gott und Dobry Den, mehr wurde nicht gesprochen. Aber jeder hatte den Blick auf die jeweils andere Seite gerichtet. Und man hat so wie zwei Hunde, die sich das erste mal treffen, sich beschnuppert. Wer kommt denn da? Ist das Freund? Ist das Feind? Sprecher: "Zonenrandförderung" erhielten Gebiete entlang der Grenze zu DDR und CSSR. Durch Steuererleichterungen, verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten oder Subventionen wurde strukturpolitisch versucht, den Nachteilen der Randlage entgegenzuwirken. Es war möglich, auf einmalige Förderungen von rund 55 Prozent des gesamten Investitionsvolumens zu kommen - und Dauersubventionen von bis zu 25 Prozent zu erhalten. Einbl. 21 Kai Hammerschmidt: Wie dann die Grenze auf ging, wurde alles, was an Wirtschaftsförderung möglich war, in den Osten gepumpt. Was bei uns nur 25 km entfernt ist. Und sozusagen jede Industrieansiedlung, jede neue, bei uns fast verhindert hat. Weil paar Kilometer weiter hat `s 50 Prozent Förderung gegeben und bei uns sehr wenig. Und jetzt, dadurch dass die Tschechei der EU beigetreten ist und jetzt rauscht diese Förderung wieder an uns vorbei. Und Selb liegt heute nur 3,4 Kilometer von der Grenze entfernt, also jetzt schaun wir der Wirtschaftsförderung wieder zu in ner anderen Region. Atmo Massemühle S 1: Wegweiser an den Straßen führen zu Rosenthal, Hutschenreuther, S 2: Villeroy & Boch. Namen, die auch für uns einen Klang hatten. Gutes Porzellan war in der DDR Bückware: das Zwiebelmuster aus Kahla genauso wie der Goldrandschick von Henneberg. S 1: Ganz zu schweigen von Meißen. S 2: Hier nun türmen sich in Kannen und Teller, Terrinen und Servierschalen, Tassen und Schüsseln S 1: bis unter die Decke. Es sind die klassischen Muster der 20er Jahre, der sachliche Bauhausstil, Verspieltes und Verschnörkeltes, neue geometrische Formen. Für jeden Geschmack, für jeden Anlass, für jeden Geldbeutel. Atmo weg Die wenigsten dieser Produkte werden noch hier vor Ort hergestellt. S 2: Die Schilder weisen nicht auf produzierende Betriebe hin, S 1: sondern auf Werksverkäufe Einbl. 22 Dieter Winterling: Wissen Sie, man hat angefangen, zuerst tat es ja nicht weh. Dann hat man einfach die aus Altersgründen ausgeschieden sind oder Krankheit, hat man da nicht aufgerüstet. Aber irgendwann sind diese Altersgruppen auch vorbei und dann geht's ans Eingemachte. Dann kamen einfach Entlassungen. Stufenweise, mal hingetröstet, hingezogen, dann wieder was, dann wieder - is man dann so stückweise. Das ist bitter. S 1: Den Niedergang hat Dieter Winterling hautnah miterlebt - als Betriebsratsvorsitzender bei Rosenthal. Einbl. 23 Dieter Winterling: Der Sozialplan sah so aus, dass man versucht hat, Leute weiter zu vermitteln in andere Berufsgruppen. Man hat versucht, eine Auffanggesellschaft zu gründen, wo man die Leute reinschickt, dass sie irgendeine Ausbildung bekommen. Es ging immer so stufenweise, man konnte gar nicht sagen, wie da jongliert wurde. Massenentlassungen wären nicht zu machen gewesen. Wir haben aber dafür gesorgt, dass die Leute anständig abgefunden wurden. S 1: Chemieriesen wie Buna und Leuna, die Textil- und die Stahlindustrie im sächsischen Raum S 2: und auch der VEB Porzellankombinat Kahla S 1: - wem war bei der Maueröffnung klar, das solche Großbetriebe innerhalb weniger Monate zusammenbrechen? Dass DDR-Produkte, die bis dahin schwer oder gar nicht zu bekommen waren, sich bald als Ramsch in den Regalen türmen? Aber der Blick richtete sich nach Westen. S 2: Dort war es bunt und verführerisch. Zäsur aus Musik Einbl. 24 Wolfgang Kreil: Die Einkommen lagen immer 10 bis 15 Prozent unter dem Bundesdurchschnitt , aber auch das Preisniveau bei Immobilien und bei anderen Dingen lag unter dem Bundesdurchschnitt und so ging das Ganze zu lange zu gut und man hat nicht das Risiko gesehen, das eine Monostruktur in sich birgt, nämlich dann, wenn sie zusammenbricht. Das ist das, was wir im Moment durchzustehen haben. S 2: Wolfgang Kreil ist seit 2001 Oberbürgermeister von Selb. Auch er hat sein Berufsleben bei Rosenthal begonnen. Einbl. 25 Wolfgang Kreil. Es gab ja Zeiten, wo wir in der Türkei und in anderen Ländern Gastarbeiter angeworben haben und da haben andere Industrien auch versucht, nach Selb zu kommen. Allerdings hatte die Porzellanindustrie natürlich Angst, dass sie ihre besten Leute verliert, denn wenn einer kommt, der 10 oder 15 Prozent mehr bezahlt, da überlegt sich manch einer, ob er wechselt. Und da gabs dann eine verhängnisvolle Allianz aus Unternehmen und Gewerkschaften in der Kommunalpolitik, die gesagt hat: Wir lassen da keinen rein, der unser schönes soziales Biotop durcheinander bringen könnte, aber ich sage heute, eine gewisse Unruhe tut langfristig gut. auf Musik 1 Sprecher: 1991 zählt der Verband der keramischen Industrie 31 000 Beschäftigte. 15 Jahre später sind es nur noch 7500, nicht einmal mehr ein Viertel. Im Landkreis Wunsiedel im Fichtelgebirge brechen in diesem Zeitraum 40 Prozent der Industriearbeitsplätze weg. Die meisten davon entfallen auf die Porzellanindustrie, den Hauptarbeitgeber vor Ort. Einbl. 26 Wolfgang Kreil. Wir sind schon vor einem Strukturwandel, der eine enorme Herausforderung darstellt. Wenn ihnen Leute weggehen, dann gehen eher die Jungen als die Alten, eher die ehrgeizigen als die weniger ehrgeizigen und eher die hoch motivierten, die hoch gebildeten, die woanders eine Chance haben, als diejenigen, die eben am unteren Rande des Spektrums sind und wo man auch in München Probleme hätte ... Das heißt, ich muss meine Stadt kontrolliert schrumpfen. Wir müssen uns vom Outfit der Stadt her anpassen an das Kleinerwerden. Das können sie sich so vorstellen, wie wenn sie körperlich gut beieinander sind und dann abnehmen. Und dann ist alles etwas zu groß. Und das muss einfach umgeschneidert werden ... Atmo 05 Werbefilm Kago: Folgen Sie uns in eine Welt voller Harmonie und Schönheit. In die Welt von Kago und Hammerschmidt. Die Inhaber des Unternehmens Klaus Gohl und Kai Hammerschmidt stehen mit ihrem Namen für Qualität und Kompetenz ... Einbl. 27 Kai Hammerschmidt: Und ich hab gesagt, ich möchte was machen, was Zukunft hat und dann hab ich mich auf eigene Beine gestellt und hab gesagt mit der Ausbildung, die ich habe, als Modelleur, als Formenentwerfer, was mich diese Lehrer an der Schule auch gelehrt haben, da kann ich auch was anderes anfangen. Und jetzt planen wir riesige Zooanlagen, wir bauen Luxusschiffe - den Wellnessbereich aus, wir erstellen die Wellnessanlagen für die Tophotels in Europa und das ist für uns jetzt schon ne tolle Geschichte, was daraus geworden ist. Atmo Plätschern S 2: Kai Hammerschmidt ist einer, der umgeschneidert hat. S1 Nach Berufsausbildung und Designstudium stand er mit dem Niedergang von Hutschenreuther buchstäblich vor dem Nichts. Es begann erst einmal ganz klein - S 2: mit dem Bau von Zimmerspringbrunnen! S1: Die Brunnen wurden größer, wuchsen sich zu Oasen aus, und schließlich zu Wellnessparadiesen oder zu künstlichen Felsanlagen in zoologischen Gärten. Heute führt uns der 43-Jährige stolz durch ein Lager, in dem Materialien aus 35 Ländern liegen: portugiesische Korkeiche, Kaffeebäume von den Philippinen, Palmwedel aus Indien, Palmrinde aus Mexiko, S 2: aus Italien Terrakottatöpfe, Faserpflanzen aus China. Seit Mitte der 90er Jahre hat sich das Unternehmen an die Spitze seiner Branche emporgearbeitet. Siebzehn Festangestellte arbeiten hier, in Spitzenzeiten werden sie von über 40 Freelancern unterstützt. S 1: Ihre Produkte gehen in die ganze Welt. Einbl. 28 Kai Hammerschmidt: Wir haben dann angefangen auch große Objektpalmen zu bauen für große Eingangsbereich, Shoppingmalls ect. - und da wurde eben auch Dubai auf uns aufmerksam, weil wir so gute Palmen anscheinend bauen und die kühlen ihre Eingangsbereiche so weit runter, dass die echten Palmen eingehen und dann brauchen die künstliche echte. Und wir bauen die mit echten Materialien und stabilisierten Wedeln wieder auf und sie sehen und spüren dann eine echte Palme. Das heißt wir liefern aus dem Fichtelgebirge nach Dubai Palmen. Atmo Plätscherrn hoch und weg Einbl. 29 Barbara Flügel: Wir haben zum Beispiel ein Geschirr, wo ein Drache als vollplastische Figur drauf sitzt und der Schwanz zum Henkel an der Kanne wird Aber das Geschirr ist eben kein Fantasy-Geschirr, sondern das ist ein äußerst seriös gemeintes Geschirr und wird auch von meinem Kundenkreis so aufgenommen. Aber ich speise eben dann am Tisch mit meinen Drachen. Und es sind deutsche Drachen. Um nicht zu sagen, wie es ausschaut, sogar fränkische Walddrachen. Eine eigene Rasse natürlich, die verwandt ist mit den chinesischen, aber auf keinen Fall zu vergleichen geht mit ihm. S 1: Auch Barbara Flügel liefert an exotische Adressen. S 2: Ihre Kunden sitzen in arabischen Ländern, den GUS-Staaten, S 1: in Monaco und der Schweiz. Ihre Porzellanmanufaktur gibt es seit 1986. Heute hat sie sechzehn Mitarbeiter. Von Abschwung ist bei ihr nichts zu spüren. S 2: Angefangen hat sie ganz klein. Mit Geschenkartikeln, Döschen, Figuren, Spiegelrahmen. Dann baute sie einen ganzen Kachelofen aus Porzellan. Einbl. 30 Barbara Flügel: Wir haben uns anfangs an Geschirr überhaupt nicht rangewagt, weil wir keinerlei technische Ausrüstung dafür hatten. Heute haben wir sie auch nicht, aber heute haben wir das Selbstbewusstsein, dass unsere handgegriffenen Teller auch der individuellen Fertigung am besten entsprechen. Es gab damals zum Beispiel Qualitätskriterien von der Bayernunion, vom Zusammenschluss kleinerer Porzellanfabriken und eins zum Beispiel war, dass der Abstand, wenn ich nen Stapel Teller hab, dann darf der Abstand zwischen den Tellern nur so und soviel Millimeter haben und muss bei 20 Tellern nicht mehr wie ein Millimeter oder zwei Millimeter abweichen. Was mir von Anfang an als ziemlicher Schwachsinn erschien, weil Porzellan ist ja kein Metall, das ich schlage und kein Plastik, das ich durch ne Presse lass. Sondern es geht durch 1400 Grad! Es verändert sich um 14 Prozent. Es bewegt sich, es ist auf seine Art lebendig und dann mach ich es zu so nem konformistischen Quatsch! ... Zäsur aus Musik 1 S 1: Menschen wie Kai Hammerschmidt und Barbara Flügel, die etwas unternehmen, etwas wagen, die Konventionen beiseite schieben, S 1: die gibt es in Ost und West. Aber... S 2: Aber dass sich Geschäftsleute zusammentun, um ihren Ort zu retten und mit ihrem Vermögen dafür einstehen, ist außergewöhnlich. Einbl. 31 Steffen Gesell: Ursprünglich wollte ich als Kommunalpolitiker einen Investor hier nach Weißenstadt locken, der hier so ein Objekt, wie wir uns jetzt befinden, errichtet. Und wir waren Anfang 2003 über Wochen und Monate auf Investorensuche und haben dort erst mal feststellen müssen, wie schwierig es ist, einen Investor für einen Ort zu gewinnen, der noch nicht einmal anerkannter Kurort ist. S 1: Das ist ja immer die große Hoffnung, S 2: hüben wie drüben: S 1: Dass einer von außen die Rettung bringt, ein Investor mit Geld! Was aber sollte so einen nach Weißenstadt locken, um hier ein Gesundheitszentrum zu errichten? Der Ort im Landkreis Wunsiedel mit seinen 3600 Einwohnern hat ja nicht mal einen Bahnhof! Was es gibt sind ein künstlicher See und unterirdische Vorkommen des Heilgases Radon. Geldgeber, die Stefan Gesell und die anderen Kommunalpolitiker anfragten, winkten ab - S 2: oder erklärten die Idee schlichtweg für verrückt. S 1: Der Einzige, der wenigstens zuhörte, war ein österreichischer Betreiber von Kurhotels. Einbl. 32 Steffen Gesell: Und bei der Besichtigungstour aller Betriebe in Österreich gab `s dann abends ein festliches Bankett, es wurde auch das eine oder andere getrunken und nach n - weiß nicht wievielten Glas Rotwein hat dann der Herr Kühnig verkündet, also er geht nicht nach Deutschland, aber er weiß, wie man`s macht. Der Vizebürgermeister, der Herr Gesell, der muss Investor machen, dann funktioniert des. Für mich war das an dem Abend ein Scherz, nicht vorstellbar, ich hab schallend gelacht, ich hatte eine andere Lebensplanung auf Musik 1 Sprecher: Im August 2005 erfolgte der erste Spatenstich, am 18. April 2007 wurde das Kurhotel Weißenstadt eröffnet. Es verfügt über 126 Zimmer mit 202 Betten, 174 Stellplätze in der Tiefgarage, ein Schwimmbad mit Freibecken, Whirlpool, Sonnengalerie, Sauna- und Dampfbadbereich sowie 3000 m² Therapiefläche. Insgesamt wurden 18 Millionen Euro investiert. Im ersten Jahr seines Bestehens war das Hotel zu 72 Prozent ausgelastet. Einbl. 33 Steffen Gesell: Ich bin zeitgleich aus einem sicheren Job - Sparkasse ist öffentlicher Dienst - hab dort gekündigt, bin ausgestiegen. Ich bin als 2. Bürgermeister zurückgetreten, um jeden Anschein einer Verquickung von Interessen asuzuschließen. - Eigentlich ist in Weißenstadt jeder davon ausgegangen, dass ich mal erster Bürgermeister werde und den Ersten beerbe und so wars angedacht und so war auch meine Lebensplanung gewesen und das hat viele Weißenstädter das erste Mal nachdenklich gemacht. Die ham gesagt: So verrückt wird der a-ni sein. Kam mir zwar vor wie ein Vertreter, bin mit den Unterlagen zu den Geschäftsleuten gegangen und hab versucht, sie als Kapitalgeber zu gewinnen. Und das ist zum Großteil wirklich geschehen. Es gibt fast kein Weißenstädter Geschäft, das nicht mit einem Anteil beteiligt ist. Wir haben ja inzwischen 75 Arbeitsplätze geschaffen. Allesamt sozialversichert, in einer Region, die ja sehr stark um Arbeitsplätze kämpft, sehr stark mit Abwanderung zu kämpfen hat, und das war letztlich der Ausschlag, dass wir sowohl die Förderung vom Freistaat bekommen haben, als auch natürlich die Baugenehmigung erhalten haben. Atmo Café S 1: 2351 Euro Brutto monatlich beträgt das durchschnittliche Industriearbeitseinkommen im Kreis Wunsiedel, 75 Prozent des Bundesdurchschnitts. S2 Für Bayern ist das wenig: München hat mit über 5000 Euro bundesweit die höchsten Einkommen. S1 Das Schlusslicht ist der Kreis Zwickauer Land in Sachsen. Hier kommt man mit Brutto 1.518 Euro auf gerade 48 Prozent des Bundesdurchschnitts. Auch die Arbeitslosenzahlen relativieren sich, wenn wir sie mit unseren Heimatorten vergleichen: 8,9 Prozent im Kreis Wunsiedel. In Chemnitz 14,2 Prozent und in Halle 16 Prozent. Einbl. 35 Alfred: Wir sind hier im tiefsten bayrischen Sibirien, im Fichtelgebirge. Na und Wunsiedel ist ne kleine verschlafene Stadt, hat es vor vielen Jahren mal ein irischer Radiosprecher genannt. Und das ist tatsächlich so, es wird immer verschlafener, es sind fast keine jungen Leute mehr da, außer denen, die jetzt hier grade noch heranwachsen. Weil keine Industrie da ist. Atmo Cafe S 2: Ein sonniger Vormittag mitten in der Woche. Der Marktplatz der Kreisstadt Wunsiedel ist nahezu leer. S 1: Glanzlose Fassaden, leerstehende Geschäftsräume, S 2: Discounter. Nur eines der Cafes scheint wirklich gut besucht zu sein. Ausgerechnet dort steht "Geschlossene Gesellschaft" an der Tür. Beim näheren Hinsehen entdecken wir den Hinweis: "Mitgliedskarten am Tresen." S 1: Es ist ein Raucher-Café Einbl. 36 Alfred: Die kommen schon vom Frühstück zu Hause, haben ihre Zeitung schon gelesen, einfach nur aufn Plausch, n Stündchen. Der Tisch da drüben is so `n eigener, die sind so dreimal die Woche da. Die andere Gruppe hat sich später eingefunden, das sind so 60-,70jährige. Am ersten Tisch, die sind eigentlich auch schon vom ersten Tag da. Da warn die Eltern schon da. Dann deren Kinder sind auch bei mir groß geworden. Das ist etwas, was wir auch haben, sehr viele Kleinkinder und Babys, Mütter, die mit Kindern hier rein kommen. Und dann die Schüler halt, das Gymnasium ist fünf Minuten entfernt. Die Berufsschule ist knapp sieben Minuten entfernt. Die Wirtschaftschule ist ganz in der Nähe. Mittags kommt dann das Landratsamt und die Stadtverwaltung. Die Sparkasse kommt sehr viel. Selbst die Raiffeisenbank kommt rein. Ja - Arbeiter von den Fabriken in den Arbeitsklamotten. Der Zimmermann kommt hier Mittag zum Essen, weil er einfach darf. Mit seinen sandigen oder holzspänigen Schuhen. Weil dafür ham wir ne Putzfrau, dass die mal mit dem Staubsauger durchfährt. Und es fühlen sich alle wohl hier. Atmo Cafe S 1: Die Gäste sitzen auf bequemen Stühlen, in Sofaecken S 2: oder stehen bei Alfred am Tresen. Der Wirt hat recht: Allein ist hier niemand. Sie hocken zusammen und schwatzen. Die Tasse Kaffee kostet 95 Cent, S 1: die Limonade 90. Alfred richtet sich nach dem Geldbeutel seiner Gäste und der ist nicht groß. Einbl. 37 Mann: Wenn nichts gemacht wird, zum Beispiel Straßennetz, ham wir die Zustände, wies vorn paar Jahren sagen wir mal DDR war. Es kamen sogar schon Leute hier rüber und ham gesagt, sie sind enttäuscht von unserem Straßennetz, weil ´s so schlecht ist. Weil sie haben das bessere. Leute von drüben ham das hier gesagt. Also soweit sind wir. Frau: Und dadurch auch die niederen Löhne und jetzt ist die Rente natürlich auch nicht so toll. Und die die mit 15-16 weg sind von Wunsiedel in andere Gebiete wie München oder Stuttgart, die ham schön verdient, heut sind sie im Rentenalter und kommen wieder in die Heimat zurück. Sie haben schön verdient und jetzt haben sie hohe Rente und jetzt können sie hier gut leben. Mann: Können mit dieser hohen Rente hier wunderbar leben und lachen uns aus. S2: Das vertraute Gefühl, was uns bei unserem ersten Besuch so berührt hatte - in diesem Cafe stellt es sich wieder ein. S1 Hier, wo sie zusammenrücken vor der Welt da draußen. Eine Welt, die uns, die wir aus dem frisch renovierten Osten kommen, überhaupt nicht mehr strahlend bunt erscheint. S2 Bunt ist sie nur noch auf der Website der Firma Rosenthal. Sprecher (zitiert Website): "Innovation und Tradition bilden ein einzigartiges Spannungsfeld, aus dem sich das Unternehmen entwickelt hat. Vor 125 Jahren in Oberfranken als Porzellanmalerei Philipp Rosenthal & Co. OHG gegründet, zählt Rosenthal heute zu den international führenden Anbietern einer zeitgemäßen Tisch- und Wohnkultur ... . Rosenthal steht für Luxus, Lifestyle und eine besondere Ästhetik - für Produkte, die nicht mehr wegzudenken sind aus anspruchsvoller Tischkultur und zeitgemäßem Interieur." S 1: Der letzte Eintrag zur Unternehmensgeschichte stammt aus dem Jahr 2007. Am 9. Januar 2009 hat die Firma Insolvenz angemeldet. S 2: Da hatte sich die Zahl der Mitarbeiter schon von 7500 Mitte der 80er Jahre auf 1300 reduziert. Was bedeutet das für einen Ort wie Selb, für einen Landkreis wie Wunsiedel? Einbl. 38 Wolfgang Kreil: Gibt's zwei grundsätzliche Ansichten: Entweder die Welt muss sich nach unserer Identität richten oder wir richten uns nach dem, was in der Welt möglich ist. Und ich arbeite an der 2. Lösung. Das Porzellan ist ein Teil unserer Geschichte, auf den wir stolz sind, deshalb haben wir auch ein großes Porzellanmuseum. Wir wollen auch nicht das Porzellan abschaffen; wir wollen schon eine Porzellanstadt bleiben. Aber Porzellan kann nicht mehr die tragende Säule im Wirtschaftsleben und in der Identität der Stadt sein. Zäsur aus Musik Einbl 39 Kai Hammerschmidt. Wir haben vor, einen Monumentalpark zu bauen. Das heißt neun verschiedene Monumente des Weltkulturerbes verteilt im Fichtelgebirge als Park. Angefangen von Stonehenge bis zur Sphinx, über die chinesische Mauer, 200 Meter, und alles gebaut 1:1, um den Menschen darzustellen, wie diese Originale ausschauen als Türöffner für die Länder, um zu sagen: Besucht uns! S 1: Noch haben die Monumente des Weltkulturerbes das Fichtelgebirge nicht erreicht. Aber eines plant KAGO schon konkret - S2 und wird es auch selbst finanzieren: Stonehenge. S1 Aus mineralischem Beton naturgetreu nachgebaut soll es gemeinsam mit einem keltischen Dorf zu einem Touristenmagnet werden. Ein Landkreis wie Wunsiedel, der soviel verloren hat, ist auf jede Idee angewiesen, die ihm hilft, sich neu zu erfinden. S 2: Eine Attraktion kann seit 1996 besichtigt werden: Die alte Rosenthal-Fabrik Selb- Plößberg - S 2: in der wir Frau Jahn und Frau Dietrich trafen - S 1: ist heute der Hauptteil des Porzellanikons, des größten Porzellan-Museums Europa. S 2: Es führt durch 300 Jahre Porzellangeschichte und zeigt auf 9000 Quadratmetern, wie aus einem schmutzigen Klumpen eine hauchdünne Tasse werden kann. Ein Ort für die ganze Familie. Einbl. 40 Marianne Dietrich: Mir Rosenthaler warn schon stolz, ne? Mir warn wirklich stolz. Else Jahn: Und sagen mir mal, es ist ja jetzt noch so: Rosenthalgeschirr und Heinrich, da sieht man schon den Unterschied Marianne Dietrich: Mir bilden uns ein, es war viel schöner. Aber des darf man nicht sagen vor die Hutschenreuter, die sind dann beleidigt. Die ham so Engele gehabt, die ham so plumpe Händ gehabt und alles so plump. Und unser Zeug, das war alles so schön modelliert. Else Jahn: Ich hab daheim e Krokodil. Und da sehn sie jeden Zahn. Von hinten bis vorn. Und die Schuppen, das ist einmalig. Wirklich wahr. Rosenthal und - des war kein Vergleich. Einbl. 41 Mann: Also das ist so - wenn wir nach außerhalb fahren, die typische Bewegung eines Fichtelgebirglers in nem Gasthaus, dreht er seinen Teller um, schaut, aha - wo ist das her? zum Beispiel hier: Retsch. Heimat (lachen) Automatisch macht des jeder, dreht seinen Teller un und schaut, wo des her ist. Atmo Dampfmaschine Einbl. 42 Gabi Dewald: Also es wird halt immer wieder probiert in diesem Museum die Arbeitsplätze lebhaft zu machen. Sie haben hier das Licht am Tisch, das funzelige Licht, wo man dann seine Einträge gemacht hat, oder wenn sie an dem großen Ofen gucken, dann stehen da noch überall die Schippen rum, die Schürzen hängen da, so dass man den Eindruck hat, oh es ist gerade jemand weggegangen und morgen früh im Sechs kommt der und macht weiter.... Abspann: Auf Porzellan gebaut Ein Landstrich muss sich neu erfinden Sie hörten ein Feature von Rosemarie Mieder und Gislinde Schwarz Es sprachen: Petra Kalkutschke, Frauke Poolman und Martin Schaller Ton und Technik: Ernst Hartmann und Petra Pelloth Redaktion und Regie: Ulrike Bajohr Wir danken Gabriele Dewald, Pressesprecherin des Porzellanikons, für ihre Führung durch das Europäische Industriemuseum für Porzellan. Eine Produktion des Deutschlandfunks 2009 Musik 1 1