Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Wahrheitsmensch und tanzender Messias Die Hochkonjunktur der Inflationsheiligen Autor: Robert Schurz Regie: Anna Panknin Redaktion: Hermann Theißen Produktion: DLF 2010 Erstsendung: Dienstag, 19.10.2010, 19.15 Uhr Wiederholung: Dienstag, 25.04.2017, 19.15 Uhr Sprecherin: Sigrid Burkholder Zitator Häusser: Volker Niederfahrenhorst Zitator 2: Philipp Schepmann Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - O-Ton Muck-Lamberty: Zwölftausend Menschen haben die Rede angehört, am 20. August 1924 oder 1922. Da habe ich einen Vortrag gehalten: Zusammenbruch des Alten, Empörung der Jugend, -nicht Protest. Der junge Mensch ist empört über den Zustand der Gesellschaft, die nicht fähig ist, die Arbeitslosen zu beschäftigen, weil sie Parteien hat. Wir haben immer gesagt: Parteien! Wir haben immer gesagt: Wenn ihr was gemeinsam habt, dann braucht ihr keine Partei. Wenn ihr aber streiten wollt, dann streitet euch tot, damit die anderen leben können. Die Halunken, das Gesocks stirbt, und nachher kommen die gesunden Menschen. Ich stehe heute noch auf dem Standpunkt: nicht zerstören, was sich zerstören will, denn was sich zerstören will, ist nichts wert. Sprecherin: Diese Amateuraufnahme stammt aus dem Jahre 1980; Friedrich Muck Lamberty, der da von einem seiner großen Auftritte berichtet, ist bereits 90 Jahre alt, ein Jahr jünger als Hitler zu diesem Zeitpunkt gewesen wäre. Noch immer ist der einstige Wanderprediger beseelt von einer Mission, die er seit 60 Jahren verfolgt. In den frühen zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts folgten ihm Hunderte von jungen Menschen durch die thüringischen und fränkischen Lande und diese Neue Schar, wie sie sich nannte, brachte ganze Dörfer zum Tanzen. Der einstige "Messias von Thüringen" war einer jener sogenannten Inflationsheiligen, die zu den Zeiten der großen Geldentwertung, also 1921 und noch einige Jahre danach, zahlreiche Anhänger um sich scharen konnten und sogar in der Lage waren, Massen zu mobilisieren. Musik (Weill, Die 7 Todsünden, Prolog) Ansage: Wahrheitsmensch und tanzender Messias Die Hochkonjunktur der Inflationsheiligen Ein Feature von Robert Schurz Zitator (Haeusser): Ich bin das Element. Der Vollendete kennt kein Du, als das Ich. Das Ich aber ist Gott, und der Gott ist das All-Umfangende und All-Menschentum. Das Ich ist eben das Ganze. Mein Ich! Das ist die geistige, die unbedingte, die wahre, die freie Liebe! Ich bin die Allgewalt und mir ist gegeben alle Gewalt im Geist und im Leib und im Himmel und auf Erden. Ich bin der Vollendete und ihr seid Affen, Esel, Säue! Sprecherin: So die Botschaft des wohl erfolgreichsten Predigers, Louis Haeusser. Fotos zeigen einen in lumpenähnliche Kleidung gehüllten Mann mit wallendem Bart, langen Haaren und einem stechenden Blick. Von ihm scheint eine enorme Wirkung auf diejenigen aus-gegangen zu sein, die mit ihm in Berührung kamen. Auf Willy Ackermann zum Beispiel. Als junger Mann war er fast überall dabei, wo Louis Haeusser auftrat. 1980, also 60 Jahre später, wohnt er als freier Siedler in einem einsamen Waldhäuschen und empfängt die Pioniere der neuen Öko-Bewegung. O-Ton Willy Ackermann: Und dann habe ich gesehen, dass der mit Fleisch und Blut, dass er wirklich mit Herz und Hand dabei war, in seiner Art. Ich sah denn diese Leute, diese Haeusserbewegung von einem anderen Licht; dass man dahinter stehen musste, dass man dabei sein musste. Also wer über diesen Menschen so ein bisschen nachdenkt, was der gesagt hat, der hat mehr gesagt, als wir wirklich alle zusammen erwarteten. Ja, der Eindruck, der war kolossal, die ganze Wirkung, wie so ein Löwe. Zitator (Haeusser): Ich bin der große Mittag. Ich bin die Wahrheit und die Tat und der Weg, das Leben und die Auferstehung, und die neue Zeit. Ich bin der Anfang und das Ende und künde die Zukunft. Ich bin die Ruhe und die Liebe und der Friede. Ich bin aber auch das Schwert und der Mörder eures falschen Glaubens und der Totschläger eurer Götter. O-Ton Willy Ackermann: Es war eine Kraftnatur, wirklich. Sprecherin: Es kommt immer wieder vor, dass ein charismatischer Mensch sich als Gott proklamiert, aber dass er dabei gleichzeitig seine Anhängerschaft aufs Übelste beschimpft, ist doch einigermaßen sonderbar. Und die Anhänger, einige Zehntausende, bejubeln die aberwitzigen Botschaften dieses neuen Heilsbringers. O-Ton Willy Ackermann: Ach, brechend voll. Also immer; draußen standen sie auf der Straße, die mussten ihn immer wieder holen, oh ja, das war ungeheuer, nein, also die waren niemals unterbelegt. Also wenn irgendwo was los war, er hatte immer die Spitze. Musik (Weill, Die 7 Todsünden, Neid) O-Ton Eduard David: Meine Damen und Herren, gewaltige Aufgaben harren unserer. Krieg und Revolution haben das alte Regierungssystem zermürbt und zertrümmert. Der alte Bau ist zusammengestürzt und wir sollen einen neuen Bau richten. Neben der großen Aufgabe des Verfassungsneubaus sollen und müssen wir die noch schwierigere Aufgabe, den wirtschaftlichen Wiederaufbau in Angriff nehmen. Auch hier soll nach Überwindung der schlimmsten Bedrängnis des Tages, Neues und Besseres an die Stelle des Alten treten. Sprecherin: So klangen 1919 die mahnenden Worte des Präsidenten der ersten Weimarer Nationalversammlung Eduard David. Der Krieg war verloren, Deutschland war ausgehungert, hatte weite Gebiete abtreten müssen und war zur Zahlung horrender Reparationskosten an die Siegermächte verpflichtet worden. Bald setzte dann auch noch eine Inflation von kaum vorstellbaren Ausmaßen ein. Mit Waschkörben voll Geld wurden die Löhne ausbezahlt und ein Laib Brot kostete schließlich um eine Billion Mark. Die Welt war völlig aus den Fugen geraten und alles, so Ulrich Linse, was früher Geltung hatte, schien sich aufzulösen. O-Ton Ulrich Linse: Ja, ich würde sagen, der Zusammenbruch von Ordnung. Es gibt zwar Vorläufer, wo der Außenseiter das Zentrale ist, aber das ist sozusagen vor dem Ersten Weltkrieg; der Kohlrabi-Apostel, der lebensreformerische Außenseiter, aber ich denke, das sind keine Inflationsheilige. Sprecherin: Der Geschichtsprofessor aus München, hat sich eingehend mit diesen Inflationsheiligen beschäftigt. Er war es auch, der 1980 Muck-Lamberty und Haeussers Alter-Ego: Willy Ackermann aufgesucht und mit ihnen gesprochen hat. O-Ton Ulrich Linse: Es ist eigentlich der Zusammenbruch von Ordnung, -von politischer Ordnung, von moralischer Ordnung, also es ist mit anderen Worten ein Phänomen des ersten Weltkrieges. Sprecherin: Das alte System war mit der Abdankung des deutschen und des österreichischen Kaisers endgültig dahin, der Kommunismus schien den Siegeszug um die Welt anzutreten, gleichzeitig erstarkten völkisch-nationalistische Tendenzen. In den Wissenschaften wurden die gültigen Grundgesetze mit der Relativitäts- und der Quantentheorie in Frage gestellt, in der Kunst war plötzlich alles möglich: atonale Musik, abstrakte Malerei, Dadaismus. Und dann taten da noch die Lehren von Darwin, Nietzsche und Freud ihre Wirkung. Alle tradierten Ideen und Ideologien waren in Frage gestellt, und alle waren auf der Suche nach neuen Antworten, die auch überall angeboten wurden. Es war nicht nur eine Zeit kultureller Verwirrung, sondern auch eine der Überflutung durch neue Ideen und kulturelle Moden. O-Ton Willy Ackermann: Ich habe das auch gemacht, 18 und so weiter, da bin ich in einem gewissen Sinne auch in den Sog hineingekommen, nicht, dass ich das bewusst gemacht hätte, sondern ich bin in den Sog hineingekommen und dadurch habe dann überhaupt geklärt: warum, weshalb, weswegen. Ich habe nachgedacht über die Dinge. Sprecherin: Neben Muck-Lamberty und Louis Haeusser gab es wohl noch knapp ein halbes Duzend andere Propheten, die durch die Lande zogen und Aufsehen erregten wie etwa Leonhard Stark, Max Schulze-Sölde oder Franz Kaiser. Von besonderem Interesse sind aber Muck-Lamberty und Haeusser, da sie die meisten Anhänger um sich scharen konnten, zum anderen aber verschiedene Richtungen in der großen Zeit der Inflationsheiligen repräsentierten. Gemeinsam ist ihnen zunächst die Betonung des eigenen Ichs: dieses Ich ist Gott, letzte Instanz und universelle Freiheit zugleich. O-Ton Ulrich Linse: Die Krise destabilisiert auch psychisch. Man kann dann mehrere Richtungen der Restabilisierung wählen, zum Beispiel alte Ordnungsmuster wiederbeleben. Man kann aber auch den Weg nach vorne durchstoßen, indem man versucht, radikal diese alten Ordnungsmächte vollends zu vernichten und sozusagen ein neues Fundament zu suchen, und diese neue Fundament war eindeutig im Ich. O-Ton Willy Ackermann: Er brachte eine ungeheure Kraft da hinein, aber in seiner Art. Nirgends hast Du das erlebt, nur bei ihm. Nachher, da waren Plagiate da, da haben sie ihn nachgemacht, da glaubten sie, sie seien schon Lou, und denn schrieben sie auch "Ich bin" und so weiter. O-Ton Ulrich Linse: Das ist ja auch der Witz, dass die immer sagen: "Nicht ich will euer Führer sein", sie sagen: "Ich will mein eigener Führer sein." Also die Idee ist schon: Ich will mein Führer sein. Nur die anderen, die das nicht schaffen, die haben natürlich dann ihren Führer vor sich. Sprecherin: Haeusser stammt aus Schwaben: der Sohn eines strengen Weinbauern in Bönnigheim wurde regelmäßig hart von seinem Vater gezüchtigt. Er wollte zunächst Weinhändler werden und ihm gelangen auch ganz passable Geschäfte, -zum guten Teil hatten die aber einen betrügerischen Hintergrund und auch später versuchte er immer wieder, die Leute übers Ohr zu hauen. Selbst seinen Lehrmeister Gusto Gräser, einen sogenannten Kohlrabi-Apostel aus der vegetarischen Bewegung, betrog er um ein großes Anwesen. Um 1918 hatte er dann eine Erleuchtung und beschloss, fortan die Welt zu retten. Musik (Weill, Die 7 Todsünden, Stolz) Zitator (Häuser): Mein Wille will, dass ein ganzes Volk meiner großen, starken, gewaltigen Art entstehe, ein Volk von Geistes-Monarchen, ein Volk von Fürst und Fürstinnen, an deren gesunder Art die Menschheit gesunden kann. Sprecherin: Wie er das erreichen wollte, schreibt er in einem Brief an seinen Freund Willy Ackermann: O-Ton Willy Ackermann: Die Anhänger wollen, möchten lieben, sie umfangen, stützen, trösten, helfen, aufhelfen, ermutigen, ermuntern, auf sie wirken, ist meine, deine, aller Höheren höchsten Aufgabe. Sonnen aus Monde machen, das ist mein Beruf. Sprecherin: Programmatisches oder Konkretes allerdings ließ Haeusser wenig vernehmen. Ein Proklamation gab es jedoch, und die hörte sich so an: Zitator Haeusser: 1. Allgemeine Amnestie für alle Verbrechen ohne Ausnahme. 2. Alle Strafanstalten, Erziehungs- und Zwangsanstalten jeglicher Art inklusive Irren- und Krankenhäuser sind zu öffnen. 3. Jeglicher Zwang hat aufgehört. 4. Es wird eine freiwillige Besitzlosigkeit angeordnet. Sprecherin: Und so weiter. Das klingt eher wie ein dadaistisches Manifest, ist aber nicht als Klamauk gedacht. O-Ton Ulrich Linse: Wieso ist Grophius, wo man das doch wirklich nicht erwarten würde im Bauhaus, angeblich total verhaeussert? -Doch nicht, weil er auf einen schwäbischen Narren hereinfällt. Das scheint tiefste Sehnsüchte anzusprechen, dieser Habitus des "Ich will"! Sprecherin: Dieses bloße "Ich will" beinhaltet einerseits die Askese, den Verzicht auf materielle Güter aller Art, andererseits eine ungeheure Freiheit, die Anmaßung, selber der Bezugspunkt der Weltordnung zu sein. Die Inflationsheiligen verstanden sich durchweg als Rebellen, als Kämpfer gegen das etablierte System. Bei Louis Haeusser äußerte sich das vornehmlich in wüsten Beschimpfungen, so etwa in einem öffentlichen Brief an einen Bürgermeister. Zitator (Haeusser): Du bist ein glattes Rindvieh. Siehst du, du Hornochse, denn nicht, dass ich auf deine öden, faulen, stumpfsinnigen Paragraphen scheiße, und zwar einen großen Haufen! Du bist es nicht wert, dass dich ein Pudel bepisst, Du nasses Huhn, du Bettseicher! Du verdienst, angebrunst und in den Schatten gestellt zu werden, damit du nicht so schnell trocknest. Hoffentlich bekomme ich nun 2 Milliarden Dollars Geldstrafe oder 4 Milliarden Tage Gefängnis. O-Ton Willy Ackermann: In ganz Deutschland hat er Redeverbot gehabt, wo er auch auftritt. Und dann haben wir das so gemacht, wir haben vorher also Versammlung gemacht und dann haben wir ihn als ersten Diskussionsredner kommen lassen, wir haben nur ganz kurz geredet, und dann gings los. Und dann hat er gedonnert und es war sehr schön, wie er so losdonnerte dann. Sprecherin: Haeusser machte es zu seinem Prinzip, keine staatliche Gewalt anzuerkennen, aber auch daraus folgte kein politisches Programm. Er wollte provozieren, wollte Randale, wie man heute sagen würde. Und dabei war er vor allem darauf bedacht, die Staatsmacht zu verspotten. Als er einmal von einem Polizisten abgeführt wurde, soll er ständig laut gerufen haben: "Ich bin die Wahrheit, und neben mir läuft die Lüge". Auch maßte er sich jedes beliebige Amt an, nannte sich Chef der Sittenpolizei, der Weltbank und Präsident der gereinigten Staaten von Europa. Er schreckte auch nicht vor einer banalen Rauferei mit Polizeibeamten zurück. O-Ton Willy Ackermann: Und wie war das gewesen? Zumindest kam die Polizei dann nachher, und dann habe ich ihn mal aggressiv gesehen, und dann kriegte er den bei der Schulter, jupp, hat er ihn umgedreht, hat ihn einen Fußtritt gegeben, und da hat er ihn rausgeschmissen. Und da haben wir gleich gesagt: Na Menschenskinder, jetzt wird aber gleich das ganze Überfallkommando kommen, jetzt geht's erst drauf und dran. Aber nee, kein bisschen ist gekommen, aber am anderen Morgen, um vier Uhr, da haben sie ihn aus dem Bett geholt. Musik (Weill, Die 7 Todsünden, Zorn) Sprecherin: Etwas gesitteter, aber nicht weniger rebellisch ging es bei Muck-Lamberty zu. O-Ton Muck-Lamberty: Ich habe nie mich beeinflussen lassen, ich habe ja gesagt in meinem Flugblatt von 1919, Leute, die Revolution ist ausgebrochen, wir gehen in keine Parteien. Sprecher: Muck-Lambertys Größenwahn ist subtiler als der von Haeusser und anderen Wanderpropheten dieser Zeit. Er macht aus seiner Egomanie keinen Kult, sondern versucht, die Sache der Gemeinschaft über alles zu stellen. Allein, diese Gemeinschaft lebt von einem starken Ich, das Muck-Lamberty natürlich selber verkörpert. Noch beim Neunzigjährigen lässt sich heraushören, dass er sich für auserwählt hält. O-Ton Muck-Lamberty: Ich nehme keine Rücksicht, ich nehme auf Gegner nie Rücksicht, ich sage kein Wort, die gehen von selber zu Grunde. Ich bin übrig geblieben. Sprecherin: Muck-Lamberty präsentiert sich als der gereinigte, naturverbundene Edelmensch, der den Verlockungen der Zivilisation entsagt hat. Während Haeusser die Städte bevorzugte, ist er der Heilige der Provinz. Die Wirkung seiner Neuen Schar ist beeindruckend. Ein Zeitzeuge beschreibt einen ihrer Auftritte: Zitator 2: Mir bietet sich ein ungewöhnlicher Anblick: eine unzählige Menschenmasse wälzt sich den Berg heran. Es scheint, als seien alle Menschen der Stadt in Anmarsch begriffen. Die Mädchen tragen Kleider aus grober Leinwand. Außer Kränzen aus Blumen und Holzperlen trugen sie in der Regel keine Kopfbedeckung. Die Haare der Jungen waren nach hinten gekämmt und länger als die herrschende Haarmode. Sehr auffällig waren die rohleinenen Kittel der Jungen in verschiedenen Farben. Muck steht unter einem Baum auf der Höhe und bläst mit seinem Horn die Schar zusammen. Die untergehende Sonne beleuchtet ihn. Er sieht aus wie der längst verschollene Wikinger, der auferstand. Blond und deutsch, mit männlicher Entschlossenheit, mit Ernst und voller Würde. Sprecherin: Friedrich Muck-Lamberty, in Holland aufgewachsen, als Kind schmächtig und kränklich, verlässt angeblich mit dreizehn Jahren das Elternhaus und zieht umher. Er schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch und trifft auf die Wandervogel-Bewegung, der er sich anschließt. Im ersten Weltkrieg meldet er sich als Freiwilliger, nach Kriegsende sympathisiert er kurze Zeit mit den Kommunisten. Er initiiert eine Art Handwerker-Kommune und danach verfolgt er das Projekt der Menschheits-Veredelung. Er gründet die Neue Schar und verkündet bei einem Auftritt in Erfurt: O-Ton Muck-Lamberty: Packt alles beim Kragen, was falsch ist, tretet drauf rum, ganz egal, was du machst, aber macht dir Luft, damit du leben kannst. Also wir haben ganz offen mit den Kindern gesprochen, sonst wären ja nicht 12 Tausend (...) zusammengekommen. Das war sehr schön in Erfurt. Sprecherin: Mit diesem Gestus, mit solchem Auftreten hat es Muck-Lamberty geschafft, desorientierte Jugendliche der Nachkriegszeit um sich zu sammeln. Zu Hunderten zog seine Neue Schar musizierend und singend durch die Dörfer und brachte ganze Gemeinden zum Tanzen. Man versammelte sich auf dem Dorfplatz, forderte alle Anwesenden zum fröhlichen Ringelreigen auf und es wird sogar von strengen Studienräten berichtet, die sich plötzlich verklärt im Kreise gedreht haben sollen. In dieser Gruppe sah sich Muck-Lamberty zwar als Auserwählter, machte aber nicht so viel Aufhebens davon wie seine Propheten-Kollegen. Er wollte mehr durch die Tat überzeugen, er wollte das richtige Leben vorleben. O-Ton Muck-Lamberty: Die Beschäftigung mit dem Leben, -das Leben ist viel wertvoller. Ich habe nie darunter gelitten, bin auch nie krank gewesen, im Gegenteil: bin Naturarzt geworden durch Ohrendiagnose und Handlinien-Lesen. Das habe ich aber alles nur, indem ich selbst geglaubt habe, ich bin selbst etwas. Sprecherin: Lambertys Autorität fußte darauf, dass er überzeugend vorgab, zu wissen, wie man sich veredelt und darauf, dass er sich selbst als ein bereits Veredelter darstellen konnte. Als solcher verfolgte er die Vision, den germanischen Christus zu zeugen, einen neuen Erlöser der Menschheit. Später allerdings distanzierte er sich von diesem Vorhaben und konzentrierte sich auf praktischere Dinge. Er gründete verschiedene Arbeits- und Wohnprojekte, in welchen er neue Lebensformen auszuprobieren versuchte. Allerdings versah er auch diese Projekte mit einer universellen und revolutionären Vision zur Rettung der Welt. Musik (Weill, Die 7 Todsünden, Lust) Zitator Lamberty: Es muss jetzt eine Zeit kommen, in der die Herrschaft der Dinge über das Leben der Menschen aufhört. Es müssen kleine Volksgemeinden entstehen, solche, in denen die Menschen sich gegenseitig helfen, und alle miteinander ganz einfach leben, und in Schönheit. Aus Echtheit müssen sie leben, und gar nicht viel brauchen sie. Das Volkswesen ist heute wie ein verwesender Körper; hier müssen feste Gesundungspunkte sein, von denen aus alles gesundet. So muss der Mensch zum Durchbruch kommen. Sprecherin: Aus solchen Zeilen sprach revolutionärer Elan, aber der vertrug sich mit religiösen wie auch mit typisch bürgerlichen Vorstellungen vom richtigen Leben. Ulrich Linse weiß zu berichten, dass in Thüringen zahlreiche Pfarrer dem Wanderprediger ihre Kirchen öffneten, auf dass er die Jugend zu sittenstrengem und keuschem Leben ermahne. O-Ton Ulrich Linse: Muck-Lamberty wäre, wenn er nicht diese paar Mädchen geschwängert hätte und damit die Pfarrer, die ihn gefördert haben, doch etwas enttäuscht hat, sicher nicht so in die Schlagzeilen gekommen. Er hat ja eigentlich genau das gemacht, was das protestantische Bürgertum von der Jugend erwartet hat. Der hat eigentlich nicht die Konvention, die bürgerliche, zerbrochen, außer mit seinen sexuellen Eskapaden, aber sonst, denke ich, war doch genau das, was die Bürgerlichen, Braven, Pfarrer und Lehrer gewünscht haben: dass die Jugend nicht mehr ins Kino geht, dass die Jugend nicht mehr säuft. Alles das hat er gezeigt: man kann schöne Spiele machen, man kann schöne Tänze machen, man kann Freude und Frohsinn verbreiten. O-Ton Muck-Lamberty: Wer ein dickes Fell hat, ist nicht empfänglich für Gemeinheiten. Dann wäre ich schon längst gestorben. Ich bin so gesund, -nämlich, wenn ich eine Wut habe, fange ich an zu singen, so: Tralala, da kann man nicht krank werden. Musik (Weill, Die 7 Todsünden, Lust) Sprecherin Auch Louis Haeusser wusste sein Predigerdasein mit sexuellen Eskapaden zu verbinden. O-Ton Willy Ackermann: Und was man denn so über ihn erzählt, dass sie hier Schlange gestanden haben, die Weiber, und dass er sie alle durchgekriegt hat, dass er Dutzend in einer Nacht gemacht hat, und so weiter, das muss man von einer ganz anderen Seite sehen. Auf keinen Fall ist es aus einer Ich-Sucht heraus geschehen, sondern wirklich, um dem Nächsten näher zu kommen, und ob sie das begriffen haben, ist eine andere Sache. Ja, ja, die beteten ihn an. Die glaubten tatsächlich an den kommenden Heiland. O-Ton Ulrich Linse: Also man kann ja sagen, diese Frauen, das sind wie Groupies, die sich diesen Stars, die haben ja Star-Allüren, diese prophetischen Gottmenschen, die hängen sich an deren Lippen. Sprecherin: Zwar ist in den Erinnerungen seiner Anhänger auch von Gruppensex die Rede, aber Louis Haeusser propagierte die freie Liebe vor allem für sich selber. Zitator Haeusser: Potent bin ich, wie ein junger Stier, der jeden Tag sechs Kühe befruchtet! Sprecherin: Aber nicht nur potent, auch wählerisch. Als eines Tages eine seiner Anhängerinnen sich zur Fürsprecherin einer anderen Frau machte und Haeusser bat, mit ihr doch ein Kind zu zeugen, reagierte er heftig. Zitator Haeusser: Was, die Selma, eine Mistsau ist sie. Ein Kind von mir? Die alte Schrulle soll sich von einem anderen ficken lassen. Ich bekomme schönere Weiber, die mir den Heiland gebären, das kannst du der Selma von mir bestellen. Sprecherin: Wie sein ländlicher Kollege Muck-Lamberty verfolgte auch Haeusser die Idee, einen Erlöser der Menschheit zu zeugen. Während aber der Messias aus Thüringen dabei eher an "edle", marienartige Frauen dachte, war da Haeusser wesentlich anspruchsloser. O-Ton Willy Ackermann: Um sieben Uhr hat er angesagt, die Versammlung, und das ist das Volkstümliche, was trotzdem da war: Er kam nicht. Er kam um halb acht nicht, er kam um acht nicht, um halb neun, um dreiviertel neun, da kam er also torkelnd. Da hatten sie ihn aufgespürt in der Puffstraße, da hatten sie ihn rausgeholt, und da war so eine Sektiererin:"Aber Herr Haeusser, wie können sie nur, wo sie doch so göttliche Sachen", so fing sie dann an. "Ich war im Puff" sagte er, hui, hui, und dann ging das los: "Ja ihr begeht nur eine staatlich sanktionierte Hurerei, aber das sind immer noch Freie". Sprecherin: Haeussers Anhängerschaft bestand zum größten Teil aus Frauen, die ihm jeden Dienst erwiesen und ihn als ihren Gott verehrten. Es galt sogar als Privileg, sein Erbrochenes aufwischen zu dürfen. O-Ton Willy Ackermann: Aber die Anna Schultze, die war noch viel schlimmer. Die Anna Schultze aus Bremen, owei owei, die ging andauernd in die Kirchen rein und brüllte dann: "Das ist ja alles Schwindel, was du da sagst. Lou Haeusser, Lou musst du glauben!" O-Ton Ulrich Linse: Also, es ist Bruch mit der bürgerlichen Moral und damit Teil dieser anarchischen Grundstruktur des Ganzen. Es ist rauschhaft, auch im Sinne einer psychischen Strategie, um die Krise besser meistern zu können. Das beruht auf ganz banalen Tatsachen, dass so viele Männer in dieser Gesellschaft fehlen, die gefallen sind auf dem Feld und so viele Mädchen eigentlich keine Erwartung haben, je heiraten zu können. Also werden sie hier, ich sag es mal ganz brutal, sie werden bedient ja auch, und das macht dadurch diesen Männern Lust. O-Ton Muck-Lamberty: Da sind wir ins Gebirge gegangen, und da hats geregnet, -ja was machen wir denn dann? "Ach", sagt sie, "ich bin das schon mal gewohnt; zieh dich mal aus, sagt sie, und wir machen ein Feuer, da werden die Kleider hängen, und dann schlafen wir zusammen, nackt, ist egal, wir werden uns schon wärmen." Die war so sauber, die Frau, so anständig, und hatte so ein feines Hemd. Sprecherin: Auch wenn der Messias von Thüringen die Frauen idealisiert und seine Gespielinnen zum Typus der sogenannten "hohen" Frau stilisiert, gab es in seiner Gefolgschaft aber noch einen anderen Typus Frau. So sagt er über eine Anhängerin, die seine Ideen in Zeitschriften propagierte: O-Ton Muck-Lamberty: Eine intellektuelle Frau ist nie hoch, eine intellektuelle Frau, die macht Reklame. Natürlich ist sie intellektuell, sonst hätte sie das nicht schreiben können. Sie hat begriffen, was ich gesagt habe. Sprecherin: Solche intellektuellen Frauen waren zwar nützlich, kamen aber als Partnerin für Muck-Lamberty nicht in Frage, denn zur Mutterschaft war in seinem Weltbild nicht die intellektuelle, sondern die "hohe Frau" berufen. So kann es nicht verwundern, dass zu seiner Neuen Schar auch Anhängerinnen des Mittgart-Bundes gehörten, der die Rassezucht auf seine Fahnen geschrieben hatte. Die sexuelle Libertinage war eine Melange aus Zeugungsauftrag, Führerverehrung und Hysterie. O-Ton Ulrich Linse: Also bei Muck-Lamberty, der also hier den neuen blonden germanischen Christus zeugen will, da fragt man sich doch einfach, das haben die Zeitgenossen auch schon gesagt: Ist das halt ein Triebmensch und braucht der jetzt irgendwelche ideologischen Rechtfertigungen für das Ganze? Sprecherin: So orientierungslos die Gesellschaft auch war, die sittenstrenge wilhelminische Ära warf doch noch ihre Schatten auf die Inflationsjahre. Muck-Lamberty mietete sich mit seiner Werkgemeinde auf der Leuchtenburg bei Kahla ein. Der Verkauf der dort produzierten kunstgewerblichen Gegenstände ernährte die Gruppe mehr schlecht als recht. Bald aber machten allerlei Gerüchte über die sittenlosen Zustände der Schar um den Messias von Thüringen die Runde. Tatsächlich mag der Prediger mit einigen seiner weiblichen Gruppenmitglieder ein Verhältnis gehabt haben, aber diese Gerüchte dürften die Realität stark überzeichnet haben. Allein, die bürgerliche Öffentlichkeit, die vordem der fröhlich-tanzenden und zivilisationskritischen Schar sympathisierend gegenüber gestanden hatte, war aufgeschreckt. Als dann noch eine enttäuschte Anhängerin Muck-Lamberty anzeigte, er halte auf seiner Burg eine Haremswirtschaft und er verführe ein Mädchen nach dem anderen, kam es zu einer amtlichen Befragung des Propheten. Muck-Lamberty, der ja auch in kirchlichen Kreisen akzeptiert wurde, da er Tugenden wie Reinheit und Keuschheit hochhielt, wurde nun von der Presse als "Heuchler" entlarvt. Darauf hin wandten sich auch einige seiner Anhänger von ihm ab und schließlich mussten er und seine Schar ihren Stammsitz in der Leuchtenburg verlassen. Musik (Weill, Die 7 Todsünden, Unzucht) O-Ton Ulrich Linse: In dem Augenblick, wo sich das Weimarer politische System stabilisiert, wo die Währung sich stabilisiert, war ja die Frage, was machen wir dann? Und dass versucht wird, aus dem anarchischen, chaotischen Sich-Inszenieren wegzugehen, eine Partei zu gründen, also festere Institutionalisierungen zu schaffen, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Situation selbst sich schon politisch und ökonomisch gefestigt hat. Und kommt ja auch Haeussers Wandel dann, dass er eben nicht mehr der härene Prophet -in Anführungszeichen- ist, sondern dass er sich zum Staatsmann mausert. Plötzlich will er also eine Admiralstochter ehelichen, damit er in Adelkreisen angesehen ist, und von daher politisch was in Gang setzen kann. O-Ton Willy Ackermann: Ich sah, dass das alles in ein gewisses Sektentum verfallen war, mit diesen alten Tanten und so weiter wollte ich nichts zu tun haben. Sprecherin Willy Ackermann berichtet von einer Frau, die ihr ganzes Vermögen dem Wahrheitsmenschen Haeusser und seiner Gruppe geopfert hatte. O-Ton Willy Ackermann: Unter den Haeusserianern wurde sie als nicht ganz voll anerkannt, obwohl sie alles hergegeben hatte. In Regensburg haben sie ihr restlos alles verkauft. Ihren Bechstein-Flügel, alles haben sie verkloppt und haben dem Lou zu Füßen gelegt. Sie verkaufte dem Haeusser seine Zeitung, von Kneipe zu Kneipe, und da hatte sie nichts zu beißen, manches Mal, sie hat feste gehungert, um der Zeitung willen, um den Lou restlos das Geld zu überweisen. Und sie haben auch sehr streng abgerechnet, und da fehlten dann mal ein paar Mark, da hatte sie denn Brötchen und so weiter..."du hast die Wahrheit bestohlen"...und so ging das dann los, Und da wurde sie denn dafür rausgeschmissen, sie durfte denn nicht da wohnen, und so weiter. Sprecherin: Auch nach Ende der wirren Nachkriegszeit versuchte Haeusser auf der Höhe der Zeit zu schwimmen, kandidierte mit seinem Haeusser-Bund 1924 bei den Reichstagswahlen und rechnete allen Ernstes mit einer Mehrheit der Abgeordneten. Er schaffte es aber gerade, oder immerhin, auf einige zehntausend Stimmen. Auch strebte er danach, sich mit Honoratioren zu verbünden und dachte sogar an eine Heirat mit einer Adeligen. 1922 verlobt er sich mit Hedwig von Pohl, der Tochter eines ehemaligen kaiserlichen Vizeadmirals. Als die Verlobung bekannt wird, lässt die Verwandtschaft die Braut in eine psychiatrische Anstalt einweisen; Haeusser selbst wird beschuldigt, im Pohlschen Haus Silber gestohlen zu haben. Der Wahrheitsmensch war beim Establishment chancenlos; zu sehr hatte er sich mit diesem bereits angelegt. Immer öfter wird er wegen Störung der öffentlichen Ordnung, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Beleidigung, Aufruf zur Gewalt und Hausfriedensbruch vorübergehend festgenommen und aus verschiedenen Städten abgeschoben. Man weist ihn in psychiatrische Anstalten ein, aber die Nervenärzte können keinen Irrsinn diagnostizieren. Anfang 1923 wird er in die Nervenklinik Langenhagen gebracht, kurz darauf macht man ihm in Oldenburg den Prozess. Haeusser wird zu einer Geldstrafe von einer Million Mark und zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt. O-Ton Willy Ackermann: Was hat der Lou nicht alles erlebt und erlitten, nicht, weil er etwas Falsches gemacht hat, sondern weil er sich gegen dieses Falsche nicht durchsetzen konnte genug. Weil die Falschen noch die Macht hatten über ihn, weil sie ihn noch materiell massakrieren konnten. Sprecherin: Im Gefängnis erkrankt Haeusser ernstlich und es gelingt ihm auch nicht, sich als Märtyrer zu verkaufen. Seine Zeit war abgelaufen. Zwar versucht er nach seiner Freilassung, die alten Anhänger wieder um sich zu scharen, scheitert aber schon im Ansatz. Das große Ich findet keinen Widerhall mehr; Haeusser stirbt 1927, mit knapp 45 Jahren. O-Ton Ulrich Linse: Sein Scheitern und sein früher Tod zeigt doch, dass er nicht nur ein Schauspieler war, der jederzeit, wenn's nicht mehr klappt, aus seiner Rolle wiederaussteigen kann. Also mit anderen Worten: diese Rolle ist er selber. In dem Augenblick, wo er die Größenwahnphantasien nicht verwirklichen kann, wird er erst aggressiv, hofft, dass er die Obrigkeit irgendwie unter Druck setzen kann, mobilisiert seine Anhänger, aber dann letztlich zerbricht er dran. Er hat sich eigentlich mit seiner eigenen Rolle übernommen. Musik (Weill, Die 7 Todsünden, Habsucht) Sprecherin: Etwa um 1924, als die schlimmsten Auswirkungen der Inflationsjahre ausgestanden waren, ging die große Ära der Inflationsheiligen zu Ende, nicht zuletzt auch deshalb, weil diesen Führernaturen ein mächtiger Konkurrent erwuchs. O-Ton Muck-Lamberty: Wenn wir von Hitler anfangen müssen: Ich halte ihn für einen Idioten. Das ist eine schreckliche Gesellschaft gewesen. Der Hitler ist nicht gesund, wissen Sie das? ...politisch krank. Er hat auch keine Kinder, aber frech ist er wie eine Wanze. Schrecklicher Mann. Sprecherin: Muck-Lambertys Neue Schar hatte ihre ideologischen Wurzeln zu einem großen Teil in der Jugend- und Wandervogelbewegung der Vorkriegszeit. Sonnenkult, das naturnahe Leben, aber auch die Rassenreinheit waren Elemente dieser Strömungen, die später durch die Nationalsozialisten aufgegriffen und radikalisiert werden sollten. Sicherlich ist auch bei Muck-Lamberty viel Blut und Boden, aber ohne rassistische Ausrichtung. Auch passten die Raufbolde der SA und der SS nicht zu seinem Ideal eines gesunden, naturnahen und edlen Menschen. O-Ton Muck-Lamberty: Angst, immer nur Angst, der ganze Hitler bestand immer aus Angst. Alles, was gegen uns ist, muss ausgerottet werden, ich kanns Ihnen genau nachsagen: so geht das, der kann doch nicht mal richtig reden, der rerdet nur stakstabettibitt... Sprecherin: Zunächst sah Muck-Lamberty im Ideengut der nationalsozialistischen Bewegung durchaus Überschneidungen mit seinen Ansichten, etwa bei der Pflege der taditionellen Kulturgüter oder in der Mystifizierung von Blut und Boden. Als er aber auf einer Versammlung der NSDAP, in der er sich kritisch äußerte, verprügelt wurde, ging er auf Distanz zu den Nationalsozialisten und wurde später zu einem entschiedenen Gegner. O-Ton Muck-Lamberty: Und am 1. Mai habe ich ein großes Plakat gemalt: Jeder hüte seinen Vogel, dann bleibt die Art gewahrt. Da konnten sie nichts sagen, die hätten sich ja blamiert. Sprecherin: Allerdings bescherte ihm das familiäre Konflikte, etwa mit einem seiner Söhne: O-Ton Muck-Lamberty: Früher war er bei der HJ, da hat er gesagt: ich werde dich melden, dass du Fremdsender gehört hast. Da habe ich einen Knüppel aus der Tasche genommen und habe zu ihm gesagt: dann schlage ich dir erst den Schädel ein, bevor die Familie zugrunde geht. Da hat er einen Schreck gekriegt, dass ich auch so sein kann. Junge, ich bin nicht zahm, wenn's um Leben geht, denn du bist ein Schuft und seitdem hat er eine Wut auf mich. Aber die schlechte Gewissen hat schlechte Folgen. Ein Mensch mit schlechtem Gewissen ist immer krank. Sprecherin: Der Messias aus Thüringen ging fortan den Nazis aus den Weg, beteiligte sich aber nicht aktiv am Widerstand. Mit den Resten seiner Werkgemeinschaft zog er sich ab 1933 in die Thüringische Provinz zurück und produzierte weiterhin Werkkunst. Da die Gruppe auf alle öffentlichen Auftritte verzichtete, wurden sie von den Nazis in Ruhe gelassen. Muck-Lamberty sollte Hitler um mehr als vierzig Jahre überleben und in der Rückschau sieht er die Ursache der Katastrophe des Dritten Reichs in der zögerlichen Haltung der Hitler-Gegner. O-Ton Muck-Lamberty: Ich bin nicht für Pazifismus: Was unwahr ist, muss bekämpft werden. Nur nicht Pazifist sein oder gar hängen lassen. Das Träge war ja schuld bei Hitler. Den hätten sie erschießen müssen, sofort! Musik: (Weill, Die 7 Todsünden, Trägheit) Sprecherin: Muck-Lamberty war der einzige der Inflationsheiligen, deren Wirken selbst noch nach dem Zweiten Weltkrieg andauerte. Er richtete eine Drechslerwerkstatt ein, die er mit einigen Genossen, später mit seinen Söhnen betrieb. Allmählich griff er seine früheren Ideen wieder auf und wurde zu dem, was man als Naturapostel bezeichnet, zum Prophet eines naturnahen Lebens und vielleicht auch zu einem Vorläufer der Öko-Revolution. Immerhin kamen immer wieder Leute zu ihm, die von ihm lernen wollten. Darunter war auch ein gewisser Manfred Köhnlechner, der später als Naturheilkundepapst durch die Medien geistern sollte. O-Ton Willy Ackermann: Also ist das Lug und Betrug, dass du mehr bekommst. Ist doch Wahnsinn, ist doch gelogen, ist doch betrogen, dieser Mensch, und das sieht er nicht ein, auf Schwindel ist alles aufgebaut, so etwas Niederträchtiges. Sprecherin: So ähnlich, wie hier Willy Ackermann donnert, es geht um das kapitalistische Finanzwesen, -muss es sich wohl angehört haben, als die Inflationsheiligen, wie Haeusser und Muck-Lamberty, die Massen fasziniert haben. Eines will ihr Chronist, Ulrich Linse, aber klargestellt wissen: O-Ton Ulrich Linse: Aber sie sind auch keine Psychopathen. Das ist eigentlich der häufigste Vorwurf, -also selbst, als ich mein Buch geschrieben hatte, kamen immer wieder Briefe von Medizinern, die also mir beweisen wollten, dass das alles Psychopathen sind. Die Psychiatrisierung in Wirklichkeit war ein politischer Akt der Obrigkeit, um diese Leute stillzulegen, nichts, was medizinisch sozusagen notwendig gewesen ist. Sprecherin: Psychopathen im klinischen Sinne waren die Inflationsheiligen sicher nicht; wohl aber dürfte es sich um extreme Charaktere gehandelt haben. Sinnvoller als jede Psychologisierung ist jedoch ein anderer Erklärungsansatz für ihren, wenngleich kurzzeitigen großen Erfolg. Einige Jahre nach der großen Zeit der Inflationsheiligen veröffentlichte Sigmund Freud einen Aufsatz mit dem Titel: "Das Unbehagen in der Kultur". Unter diesem Phänomen verstand der Begründer der Psychoanalyse den Druck, den die Anforderung einer Zivilisation auf das Triebleben der Menschen ausübt, was wiederum ein gewisses Unbehagen erzeugt. Dieses Unbehagen macht sich dann Luft, wenn eine Zivilisation instabil wird, wie es nach dem ersten Weltkrieg der Fall war. Dann gibt es so etwas wie einen kollektiven Triebdurchbruch, und diese Tendenz machten sich die Inflationsheiligen zunutze. O-Ton Willy Ackermann: Und er fürchtete sich in keiner Beziehung. Er sich selber niemals berücksichtigt und hat gesagt, ich muss mich retten, das hat er niemals gesagt. Er sagte: Entweder jetzt oder nie. Sprecherin: Das Unbehagen in der Kultur artikuliert sich nicht nur in Triebdurchbrüchen, sondern auch in all den Gegenströmungen, heute würde man dazu "Aussteigerbewegungen" sagen, die eine fundamentale Zivilisationskritik auf ihre Fahnen schreiben. Das beginnt, was die Moderne betrifft, bei den Wandervögeln, geht über die vegetarische Bewegung, deren Anführer auch als Kohlrabi-Apostel verspottet wurden, bis hin zu der Hippie-Bewegung der Siebziger Jahre und deren Nachfolger. So hatte etwa die sogenannte Aktionskommune des Österreichers Otto Mühl doch unübersehbare Ähnlichkeiten mit dem Gebaren der Haeusserianer. Was aber die Bewegungen der Inflationsheiligen von Sekten unterschied, war die mangelnde Organisation. Die Gruppen um Haeusser, um Muck-Lamberty und andere waren eher spontane Phänomene, und wenn es Gruppendruck gab, so entstand der nicht von oben, sondern entwickelte sich unter den Anhängern selbst. Weiterhin führt eine direkte Linie von diesen Wanderpredigern zur Öko-Bewegung, zu den modernen Verfechtern eines naturnahen Lebens. Wenn Willy Ackermann, das ehemalige Alter-Ego von Haeusser, noch 1980 in seiner Waldeinsamkeit zahlreiche Öko-Jünger anlockt, so zeigt sich die Modernität der damaligen Zivilisationskritik. Muck-Lamberty predigte ja schon damals das naturnahe Leben und Haeusser verdammte die Verweichlichung eines bürgerlich stukturierten Lebens. Inzwischen ist jedoch die Institutionalisierung vorangeschritten: die westlichen Gesellschaften sind stabil und verhärtet. Heute ist wenig möglich: selbst die ökologische Aussteiger-Kultur findet sich in Bio-Supermarkt-Ketten wieder, die nach marktwirtschaftlichen Gesetzen streng organisiert sind. Doch damals schien es, um ein Wort von Adorno aufzugreifen, als ob ein richtiges Leben im falschen möglich wäre. Man glaubte, dass Enklaven eines freien und selbstbestimmten Lebens in einem Gesellschaftssystem, das auf Ausbeutung und Unterdrückung der menschlichen Bedürfnisse beruhte, existieren könnten. Damals, als die Weimarer Republik am Anfang ihres kurzen Lebens war und selbst Politiker einen großen Aufbruch verkündeten. O-Ton Hitler: Möge von Weimar eine Flamme ausgehen, die die Herzen unseres Volkes erwärmt, die seine Seele erleuchtet in dieser düsteren Zeit nationalen und persönlichen Leidens, -die neuen Lebensmut gibt und die Kraft, aus dem finsteren Tal der Gegenwart den Aufstieg zu finden zu einer lichteren, glücklicheren Zukunft. Musik (Weill, Die 7 Todsünden, Epilog) Absage: Wahrheitsmensch und tanzender Messias Die Hochkonjunktur der Inflationsheiligen Ein Feature von Robert Schurz Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2010. Es sprachen: Sigrid Burkholder, Volker Niederfahrenhorst und Philipp Schepmann Ton und Technik: Gunther Rose und Jutta Stein Regie: Anna Panknin Redaktion: Hermann Theißen 4