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Regie: Atmo 1 hoch, danach Atmo 2 ruhige Zimmer-Atmo mit Uhrticken und Autos Autor 2: Samantha versteckt sich vor ihrer eigenen Geschichte, die sie zwar erzählen, aber noch immer nicht begreifen kann. 1. O-Ton Samantha Als ich elf war, lernte ich meinen ersten Loverboy kennen. Drei Monate war er der perfekte Freund. Er war 18. Ich fühlte mich großartig. Dann wollte er Sex. Erst wollte ich nicht, aber damit er bei mir bleibt, habe ich es dann halt doch gemacht. So hat alles angefangen. Dann lernte ich den nächsten Jungen kennen. Und er hat verlangt, dass ich für ihn als Prostituierte arbeite. Da hatte ich schon keinen Respekt mehr vor mir selbst. Ich fand das irgendwie normal: Nötigung, Nacktfotos, Misshandlungen. Autor 3: Das ist vier Jahre her. Schützend schlingt Samantha ihre Arme um ihren eigenen Körper. Die Erinnerungen tun weh. Unfassbar das Bild: ein zartes Mädchen mit langen, braunen Locken - fast noch ein Kind - kauert auf dem Sofa und erzählt aus dem Leben einer Prostituierten: Mit 11 Jahren bedient sie den ersten Freier. Sie wohnt bei den Eltern, aber die ahnen nichts. Morgens geht sie zur Schule. Nachts und am Wochenende ist sie Hure - in Hotels, privaten Wohnungen, Autos - in Rotterdam, Den Haag oder Amsterdam. Überall dort, wo die Polizei nicht hinschaut. Die Kunden wissen, dass sie minderjährig ist, das stört sie nicht. Im Gegenteil. Genau das suchen sie: 2. O-Ton Samantha Sie haben mir meine Jugend gestohlen. Ich musste mich oft als kleines Mädchen verkleiden und "Papa" zu ihnen sagen. So sind die Kunden. Ich habe nie mit Barbie-Puppen gespielt. Ich fühlte mich mit 11 schon wie mit 20. Regie: Atmo 3 Geschirr klappern Regie: Atmo 4 Kaffeetrinken/Gespräch zwischen Anita und Samantha Autor 4: Jetzt sitzt Samantha im Wohnzimmer von Anita de Wit in einer kleinen Stadt in der Nähe von Amsterdam. Anita de Wit kümmert sich um die Opfer der sogenannten Lover-Boys - jugendliche Zuhälter, die minderjährige Mädchen in ihre Abhängigkeit bringen. Je jünger, desto einfacher und lukrativer. Samantha blickt aus dem Fenster, ein schmaler Kanal fließt vorbei. Sie ist ausgestiegen, ist jetzt Gast im wohlig warmen Wohnzimmer von Anita de Wit. Hier ist sie sicher. Die Adresse der Schutzwohnung ist geheim. Zu groß ist die Gefahr, dass die Zuhälter versuchen, Samantha zurück zu holen. Und zu groß ist die Gefahr, dass Samantha sich zurückholen lässt, meint ihre Betreuerin: 3. O-Ton Anita De Wit Ich vergleiche das mit einer verheirateten Frau, die einen gewalttätigen Mann hat. Frauen, die ihren Mann lieben und die schwer misshandelt werden, die gehen vielleicht schon irgendwann zur Polizei, weil sie Hilfe wollen. Aber wenn der sich entschuldigt, ihr versichert, dass er sie liebt, dann lassen viele die Anzeige fallen, akzeptieren das. Mit den Mädchen ist es genauso. Autor 5: Anita de Wit - 43 Jahre alt, blonder Pferdeschwanz - lässt sich neben Samantha aufs Sofa fallen, schenkt sich eine Tasse Kaffee ein und zieht an ihrer Zigarette. Loverboys, so erklären die beiden, finden ihre Opfer auf dem Schulhof oder sprechen sie in Diskotheken an. Sie sind smart, charmant, hübsch. Sie tauchen allein oder in Gruppen auf. Sie überschütten die pubertierenden Mädchen mit Komplimenten und Geschenken. Und sie binden die Mädchen an sich - mit perfiden Methoden, ergänzt Samantha und dreht dabei die nächste Zigarette: Regie: Atmo 5 Zigarette drehen 4. O-Ton Samantha (niederländisch) Alle Mädchen wollen ein bisschen Liebe. Dieser Wunsch sitzt ganz tief. Dass Du dafür auch arbeiten musst, das interessiert Dich nicht. Und gleichzeitig hast Du Angst, Angst davor, alleine zu sein; aber auch, dass er Deiner Familie etwas antut. Sie drohen gerne: Wir bringen sie um, sagen sie. Dann: Wir misshandeln sie. Immer wieder etwas anderes. Autor 6: Samanthas graublaue Augen füllen sich mit Tränen, sie dreht den Kopf zur Seite. Sie kommt aus einer intakten, liebevollen Familie. Ihre Eltern sind fassungslos, als sie erfahren, dass ihre Tochter in die Fänge von Loverboys geraten ist. Anita de Wit hilft den betroffen Eltern UND den Mädchen. Sie versteht beide Seiten. Notgedrungen. Denn ihre eigene Tochter Angelique ist einem Loverboy verfallen. Seit fünf Jahren arbeitet sie für ihn als Prostituierte. In ihrer Verzweifelung hat Anita de Wit eine Stiftung gegründet, mit der sie gegen die Loverboys kämpft und den Mädchen in ihrer Wohnung Schutz bietet. Liebevoll streicht sie Samantha über die Haare. Dann schaut sie aus dem Fenster. Ihr Blick verliert sich, ihre Stimme wird für einen Moment lang brüchig. Ihre 20jährigeTochter Angelique wohnt lange nicht mehr zu Hause, erzählt sie. Ihr Loverboy hält sie gefangen - mit Drogen und einer grausamen Art von Liebe: 5. O-Ton Anita de Wit Angelique sagt, er kann auch sehr liebevoll sein. Aber wie lange wird das noch dauern? Ich gebe mein Bestes, um sie da raus zu bekommen. Aber sie muss es auch wollen. Sie wird immer kälter. Es ist doch kein Leben, wenn Du jeden Tag anschaffen und Kunden befriedigen musst. Autor 7: Anita steht auf und geht aus dem Zimmer. Samantha senkt den Kopf, nippt an ihrem Kaffee. Dann wandert ihr Blick zu der Wanduhr, die unbeirrt vor sich hin tickt. Sie verbringt den ganzen Tag in der Wohnung. 6. O-Ton Samantha Ich kann tun, was ich will. Anita sagt, es ist meine Entscheidung. Wenn ich zurück will, dann soll ich gehen, sagt sie. Ich habe hier kein Handy, ich habe auch keinen Internetzugang. Ich weiß, dass es besser für mich ist. Die Jungs würden mich sonst finden. Und ich bin noch nicht stark genug, Nein zu sagen. Freiheit, das ist ein großes Wort. Ich fühle mich noch nicht frei. Ich kann zum Beispiel nicht einfach durch Amsterdam laufen, ohne Angst vor einem Rückfall zu haben. Regie: Atmo 6 Auto aufschließen, einsteigen, anschnallen, anlassen, Kupplung, losfahren, 1 Min. Autor 8: Der ehemalige Arbeitsplatz von Samantha liegt in Amsterdam im Rotlichtviertel, rund 40 Autominuten entfernt. 40 Minuten Fahrt vorbei an weiten Feldern, Kanälen, einer Zugbrücke. Niederländische Winteridylle. Über die Amsterdamer Kanäle rund um das Rotlichtviertel legt sich die Dämmerung. Regie: Atmo 7 Techno-Musik und laute Stimmen/Gläserklirren ca. 2 Min. Autor 9: Aus den Bars und Sex-Shops dröhnt Musik. Bunte Leuchtreklame lockt die Besucher mit grellen Schriftzügen: Live Sex-Shows, Erotik-Spaß, Sex-Spielzeug. Ein paar Männer stehen vor der Banana-Bar. Sie trinken Bier aus Liter-Gläsern, rauchen und lachen. Direkt über ihnen, im ersten Stock, arbeitet Angelique, so weiß ihre Mutter, Anita de Wit. Die Fenster sind mit Zeichnungen von Paaren verklebt, die Geschlechtsverkehr haben. Regie: Atmo 8 Schritte, Frauen lachen, Stimmen, fremde Sprachen Autor 10: Auf der Straße entlang des Kanals leuchten im roten Licht Schaufenster, hinter denen Frauen jeden Alters ihre Körper feilbieten. Knallbunte Strapse, knappe Tangas, gigantische Büstenhalter. Eine Frau räkelt sich im Fensterrahmen, eine andere sitzt kokett mit übereinander geschlagenen Beinen auf einem Barhocker. Weibliche Besucher sind hier nicht gern gesehen, schon gar nicht mit Mikrophon. Regie: Atmo 9 Tür auf Autor 11: Dann öffnet sich doch eine der gläsernen Türen. An der Fensterscheibe stehen die Buchstaben SM - die Abkürzung für Sado-Maso. Eine Frau Mitte dreißig - blondierte Haare, Mini-Rock und BH aus weißem Leder - erhebt sich von ihrem Barhocker und zieht schnell den schweren, bordeaux-roten Vorhang zu. Es ist eng in dem Verschlag. Regie: Atmo 10 klappern Regie: Atmo 11 stille Atmo im Schaufenster Autor 12: Handschellen, Ketten aus Metall, Fußfesseln - die Arbeitsutensilien von Setna hängen an der Wand. Setna kommt aus Spanien, hat dort als Putzfrau gearbeitet und geht seit fünf Jahren in Amsterdam auf den Strich, drei oder vier Tage die Woche. Sie weiß von den Loverboys, die sich junge Mädchen gefügig machen und hier zum Anschaffen schicken. Mies, findet sie das, nicht nur wegen der Konkurrenz. 7. O-Ton Setna (spanisch - ov erwachsene Frau, mittlere Stimmlage) Junge Frauen haben keine Erfahrung. Sie können die Risiken nicht einschätzen, was zum Beispiel Krankheiten betrifft. Ein Mindestalter wäre gut. Das könnte bei 30 Jahren liegen, mindestens aber 25. Das ist ein Alter, in dem Du auf Dich selbst aufpassen kannst. Wenn Du einer Heranwachsenden die Möglichkeit gibst, in der Prostitution zu arbeiten, dann denkt sie vielleicht: Da kann ich einfach Geld verdienen. Aber damit macht sie sich ihre Zukunft kaputt. Autor 13: Prostitution ist wie eine Droge, erklärt Setna. Wer damit anfängt, kommt nicht mehr davon los. Zu tief fällt die Selbstachtung, zu sehr bindet das Milieu. Sich herauszuarbeiten, ist fast unmöglich. Da helfen auch keine strengeren Regeln, wie sie jetzt die Amsterdamer Stadtregierung durchsetzen möchte. 8. O-Ton Setna (spanisch) Mir scheint, dass die Politiker viel reden, aber dass sie letztendlich nur lügen. Jedes Schaufenster bringt Geld - auch für die Stadt. Die Politiker interessieren sich nicht für uns. Ich bräuchte eine Weiterbildung, um hier raus zu kommen. Ich weiß nicht ... zum Beispiel als Frisörin. Da sollte mir die Regierung helfen mit finanzieller Unterstützung für die Fortbildung. Autor 14: Setna will nicht länger reden. Sie will ihr Fenster wieder für die Kunden öffnen. Ich brauche das Geld, sagt sie noch, und zieht den Vorhang auf. Regie: Atmo 12 ruhige Straße mit Enten Autor 15: Setna sitzt gleich wieder auf ihrem Hocker und raucht, ein potentieller Freier mustert jetzt ihre Oberweite auf der anderen Seite der Scheibe. Hinter ihm schwimmen Enten auf dem Kanal, der die beiden Hauptufer des Rotlichtviertels voneinander trennt. Seit dem Jahr 2000 können Prostituierte hier legal arbeiten. Damals haben die Niederlande das Bordellverbot abgeschafft. 10 Jahre später finden das längst nicht mehr alle Verantwortlichen gut. Regie: Atmo 13 Tür geht auf Regie: Atmo 14 leise klassische Musik/Computertippen Autor 16: Am nächsten Morgen, nur wenige Minuten vom Rotlichtviertel entfernt, im Amsterdamer Stadthaus. Das Büro von Lodewijk Asscher liegt im ersten Stock. Der Sozialdemokrat ist zuständig für den Rotlichtbezirk. An der Wand hängt eine Karte. Rot eingezeichnet sind die Schaufenster der Frauen und Bordelle, grün sind die Bars, gelb die Sexshops und blau die Coffee-Shops, in denen Marihuana geraucht werden darf. Lodewjik Asscher bleibt vor der Karte stehen. In den vergangenen Jahren hat er versucht, Licht zu bringen in das Dunkel von Menschenhandel und Kriminalität in Amsterdam. 9. O-Ton Lodewijk Asscher Es ist sehr schwer, genaue Zahlen zu nennen. Aber sicher ist, dass über die Hälfte der Frauen, die in den Schaufenstern sitzen, dazu gezwungen werden. Und die Ermittlungsergebnisse im Menschenhandel zeigen uns, dass das Amsterdamer Rotlichtviertel ein Drehkreuz ist. Regie: Atmo 15 Zeitungen rascheln Autor 17: Der Stadtrat geht zurück zu seinem Schreibtisch. Er gilt als kompromissloser Hardliner, der neue Regeln für die Prostitution will. 10. O-Ton Lodewijk Asscher Die Untersuchungen über Menschenhandel zeigen, dass die Opfer unter 23 Jahre sind. Deshalb brauchen wir eine Altersgrenze. In den Niederlanden musst Du 21 Jahre alt sein, um Busfahrer zu werden. Aber es gibt keine solche Grenze in der Prostitution. Dabei ist dieser Beruf doch viel gefährlicher für die Frauen. Ich bin für 23, aber es wäre auch schon gut, wenn wir wenigstens 21 Jahre bekämen. Regie: Atmo 16 Straße mit Stimmen und Kirchenglocken Autor 19: Während die Politik über neuen Gesetzen brütet, setzt Anita de Wit auf die Arbeit ihrer Stiftung. Gegen die Loverboys und ihre üblen Methoden, minderjährige Mädchen in die Prostitution zu treiben, helfen keine Gesetze, glaubt sie. Es hilft nur Aufklärung. Heute ist sie in Rotterdam bei einer Infoveranstaltung in einer Einrichtung für geistig behinderte Mädchen. Regie: Atmo 17 Eingangshalle - Stimmengewirr/Wenn sie sich einschreiben wollen .... ihr Name? .... Autor 20: Mädchen, Frauen, Männer strömen in das Flachdachgebäude und tauschen an der Anmeldung ihren Namen gegen eine Informationsmappe über Loverboys ein. Regie: Atmo 18 Anita kommt an - Hallo - Küsschen Autor 21: Kurz darauf stürmt Anita de Wit in die Halle. Sie trägt schwarze Leggins, ein buntes Oberteil und darüber hängen mehrere schwere, bunte Ketten. "Wir sind ein bisschen zu spät", entschuldigt sie sich. Autor 22: Anita de Wit wendet sich der Frau an der Anmeldung zu. Die Dame betreut die geistig Behinderten und fürchtet, dass diese Mädchen eine besonders leichte Beute für die Loverboys sind. Regie: Atmo 20 Café Autor 23: Anita De Wit geht in den Veranstaltungsraum. Auf den Holz-Tischen stehen Schüsseln mit Marshmellows und Knabbereien. Fast alle Tische sind voll besetzt; die meisten von jungen Mädchen. Regie: Atmo 21 Applaus - dann Vortrag über eigene Tochter Autor 24: Anita de Wit erzählt mit ruhiger Stimme ihre Geschichte; wie ihre Tochter mit 15 plötzlich nur noch Miniröcke anzieht. Wie sie sich immer mehr verschließt. Wie sie am Wochenende nicht mehr nach Hause kommt. Wie sie ihr schließlich einen gut aussehenden, charmanten jungen Mann vorstellt und ihr eröffnet: ich werde mit ihm gehen. Schlagartig wird es still im Raum. Dann erzählt Anita de Wit vom ersten Gerichtsprozess ihrer Tochter: 12. O-Ton Anita De Wit Du wirst eine Hure. Diesen Satz hat der Richter ständig wiederholt, hat es Angelique ins Gesicht geschrieen. Aber ihr war das schon völlig egal. Sie war es schon längst: eine Hure. Autor 25: Sie will kein Mitleid, sagt Anita de Wit und geht ein paar Schritte auf und ab. Sie will nur eines: Dass keinem der Mädchen im Raum das passiert, was ihrer Tochter passiert ist - und Irina. Irina heißt eigentlich anders. Ihr genaues Alter will sie nicht nennen, "Anfang zwanzig", sagt Anita. Eine schlanke Frau mit glatten brauen Haaren erhebt sich von einem der hinteren Plätze im Raum, kommt nach vorne, nimmt das Mikrofon. Regie: Atmo 22 "Ich will Applaus haben für Irina" - Irina beginnt Autor 26: Irina war vor ein paar Jahren in einer Disco, als sie von einem Loverboy angesprochen wird. Sie verliebt sich Hals über Kopf, ein paar Wochen geht alles gut. Aber dann erzählt Irina von einem Abend im Sommer: 13. O-Ton Irina Er hat Freunde eingeladen; erst kamen zwei, dann drei. Schließlich waren es 15. Ich war das einzige Mädchen. Ich wollte weg, aber da haben sie mich festgehalten. Ich war die Hure und ich musste gehorchen. Ich will Euch nicht die Details erzählen, aber ihr könnt Euch vorstellen, was passiert mit einem Mädchen und 15 Männern. Mein Freund war nicht dabei. Aber mein Freund war ein Loverboy, der mich verkauft hatte an die Gruppe. Regie: Atmo 23 Applaus Autor 27: Die Mädchen und ihre Betreuerinnen hören zu. Die meisten Gläser und Tassen stehen unberührt auf den Tischen. Einem Mädchen mit langen blonden Haaren, die ganz nah bei Irina sitzt, laufen Tränen über die Wangen. Ihre Tischnachbarin versucht sie zu trösten. Regie: Atmo 24 Pause Gespräch draußen Regie: Atmo 25 Gespräche drinnen Autor 28: Nach einer Stunde machen Irina und Anita de Wit eine Pause. Sie gehen nach Draußen zum Rauchen. Ein paar der Mädchen begleiten sie. Andere bleiben an den Tischen sitzen. Sie reden kaum, wirken betroffen. 14. O-Ton Zuhörerin Das könnte mir auch passieren. Den Männer steht schließlich nicht auf die Stirn geschrieben: Ich bin ein Loverboy. Das macht mir Angst. Autor 29: Und ein Rezept, die Männer zu erkennen, gibt es nicht, sagt Anita de Wit, als sie wieder in den Raum kommt. Regie: Atmo 26 Supermarkt außen Autor 30: Einige Wochen später in Anita de Wits Wohnort. Samantha, ihr Schützling, steht mit einem Einkaufswagen vor dem Supermarkt. Das Mädchen, das erst 11 Jahre alt war, als es den ersten Freier bedienen musste, wartet auf Antia de Wit. Die bringt gerade Flaschen weg. 15. O-Ton Samantha (niederländisch) Es ist mein letzter Abend bei Anita. Heute Abend bringen sie mich nach Frankreich. Ich möchte heute Lasagne für sie kochen, um mich zu bedanken. Antia ist in den letzten Monaten wie eine zweite Mutter geworden. Regie: Atmo 27 Supermarkt/Kasse Autor 31: Anita de Wit kommt zurück vom Glas-Container, die beiden Frauen gehen in den Supermarkt. Sie albern herum, laden kistenweise Energy-Drinks in den Einkaufswagen für die lange Fahrt nach Südfrankreich. Aber eigentlich, gibt Samantha zu, ist ihr nicht zum Scherzen zu Mute. Sie ist enttäuscht von sich selbst, sagt sie, während sie an der Kasse warten. 16. O-Ton Samantha (niederländisch) Ich war in den vergangenen Wochen übers Wochenende zu Hause bei meinen Eltern und ich suchte selbst wieder Kontakt zu den Loverboys. Erst seit einer Woche ist das vorbei. Bei Anita lasse ich die Finger vom Telefon. Aber es kann sein, dass ich morgen schon wieder den Drang dazu verspüre. Aber dann bin ich in Frankreich. Dann kann ich nicht mehr zurück. Regie: Atmo 28 Anita lacht - Stimmen - Rumgerumpel Autor 32: Eine Viertelstunde später packt Anita De Wit in der Küche die Einkäufe aus. Samantha sitzt mit angezogenen Knien auf dem Sofa im Wohnzimmer, zündet sich eine Zigarette an. Sie weiß nicht, was genau sie in Frankreich erwartet. Aber sie weiß, dass es ihre einzige Chance ist, los zu kommen von den Loverboys. Sechs Monate weit weg von den Niederlanden in einer Familie, die sich - wie Anita de Wit - um Opfer wie Samantha kümmert. Regie: Atmo 29 Wohnzimmer (wie Atmo 2) Autor 33: Anita De Wit setzt sich neben Samantha, legt ihr den Arm um die Schultern. Regie: Atmo 30 Zigarette drehen (wie Atmo 5) Regie: Atmo 31 Telefon klingelt/Anita am Telefon Autor 34: Dann meldet sich eine Mitarbeiterin der Stiftung. Wieder hat ein Mädchen die Notrufnummer gewählt. Samantha schüttelt den Kopf. Ihre Locken fliegen hin und her. Sie wundert gar nichts. Die Loverboys betreiben Gehirnwäsche, sagt sie. Haben sie die Mädchen erst einmal in ihren Fängen, dann müssen sie gehorchen. Der Loverboy befiehlt, das Mädchen muss folgen. Samantha fragt bis heute um Erlaubnis, wenn sie zur Toilette gehen will. Aus reiner Gewohnheit. 17. O-Ton Samantha Für die Männer bist Du eine Geldmaschine. Sie können über Dich bestimmen. Die Angst, bestraft zu werden, sitzt bei mir immer noch sehr tief. Wenn ich nicht gehorcht habe, dann sind sie böse geworden, haben herumgeschrieen und mich geschlagen. Sie haben mich wie einen Hund behandelt. Regie: Atmo 32 Ausatmen - Rauchen (wie Atmo 1) Autor 35: Antia de Wit legt ihr Handy zurück auf den Tisch. Samantha rutscht unruhig auf dem Sofa hin und her. Sie muss noch fertig packen. Schon in ein paar Stunden will sie nach Frankreich aufbrechen. Es ist nicht das erste Mal, dass sich Antia de Wit von einem ihrer Schützlinge verabschieden muss. Aber es fällt ihr immer noch schwer. Jedes der Mädchen lässt sie an ihre eigene Tochter denken: 18. O-Ton Anita De Wit Ich telefoniere oft mit ihr. Ich werde sie nie verurteilen. Ich treffe sie, ich kuschele mit ihr. Ich liebe sie. Und das ist wichtig - für alle Eltern. Man muss den Mädchen den Weg zurück offen halten. Ich warte darauf, dass Angelique zurück kommt und dann bin ich für sie da. Regie: Atmo 33 Tür geht zu - Schritte - Samantha geht Leiter hoch Regie: Atmo 34 packt ihre Tasche, Armbänder klirren, Reißverschluss Autor 36: Samantha steht auf und steigt eine schmale Holztreppe nach oben unters Dach. Hier hat sie die vergangenen sechs Monate gewohnt. In der Mitte des Zimmers steht ein Doppelbett. Die schrägen Wände sind lila angestrichen. Auf dem Boden stehen zwei gepackte Reisetaschen. Samantha nimmt ein T-Shirt und eine Jeans vom Bett und stopft sie in eine der Taschen. 19. O-Ton Samantha Ich will keine Hure mehr sein. Du verkaufst Dich für 50 Euro. Aber Mädchen sind mehr wert. Ich will einen echten Freund. Ich will studieren und arbeiten. Wenn ich bei den Jungen bleiben würde, würde ich nicht älter werden als 30. Regie: Atmo 35 Fotografieren - Klicken, Lachen Autor 37: Unten im Wohnzimmer macht eine Freundin Abschiedsfotos, die Samantha mit nach Frankreich nehmen will. Sie lacht ausgelassen, befreit. Wirkt tatsächlich wie eine Fünfzehnjährige. Irgendwann wird sie die Kraft haben, die Männer, die sie misshandelt haben, anzuzeigen, ist sie sich sicher. 20. O-Ton Samantha Der Tag wird kommen. Es kann noch lange dauern. Aber sie verdienen eine Gefängnisstrafe. Es ist schon heftig, dass ich ins Ausland gehen muss - weg von meiner Familie. Und sie können einfach so weiter machen. Ich will, dass sie sich auch mal so fühlen wie ich - eingesperrt in einer kleinen Zelle. Dieser Tag wird sicherlich kommen. (lacht) Regie Atmo 36 Aufbruch Autor 38: Dann klettert sie auf den Rücksitz eines Kombis und fährt davon - in ein neues Leben. 2