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Take: Hentig Ich hatte das Wort Pubertät damals gar nicht gekannt./ Von den Mädchen sagte man, sie seien Backfische und die Buben waren /Flegel Rest schneiden Take: Weichold Oftmals macht man sich über Pubertät das erste Mal Gedanken, wenn Pubertierende oder Jugendliche auffällig werden. Dann wird Pubertät oft zum Thema und relevant. Take: Moll Die Große Kunst, Eltern zu sein, in diesem Altersabschnitt ist, im Gespräch sein zu können und man hat ja zehn Jahre Zeit es zu üben. Take: Dawirs Die Erwachsenen, die müssen die kulturelle Leistung vollbringen, etwas beiseite zu treten. Früher waren sie gar nicht mehr da. Musik: Sprecherin: Mit unterschiedlichen Zeichen kündigt sich die Pubertät an. Bei dem einen sind des die Pickel im Gesicht. Bei anderen das Türenknallen nach einer Debatte mit den Eltern oder der Vorwurf an sie, sie seien "voll peinlich". So sehr sich die Erwachsenen in aller Regel auf die Geburt eines Kindes freuen und sich neun Monate auf das Ereignis vorbereiten. Die Pubertät als ein weiterer wichtiger Übergang im Leben des Nachwuchses wird meist im Ton von Horrorszenarien begleitet, den man überstehen müsse. Dabei gehören Geburt und Pubertät untrennbar zusammen. Take: Weichold Im eigentlichen Sinne ist es die Zeit der fortschreitenden Geschlechtsreife, mit dem Ziel geschlechtsreif zu sein und potenziell ein Kind zu bekommen. Sprecherin: Karina Weichold ist Entwicklungspsychologin an der Friedlich-Schiller-Universität Jena und eine der wenigen Forscherinnen ihres Fachs, die sich diesem Lebensabschnitt zuwendet. Take: Weichold Wenn wir die Wortbedeutung nehmen, betrifft es die körperlichen Veränderungen und in der Tat finden die immer früher statt heutzutage. Man weiß aus interessanten Studien aus vielen Ländern, die die letzten 150 Jahre umspannen, dass sich der Zeitpunkt der ersten Regelblutung bei Mädchen von 17 auf 12 nach vorn verlagert hat. Immer früher ist die körperliche Reise abgeschlossen. Sprecherin: Dieser Trend scheint gegenwärtig zwar beendet, die Geschlechtsreife sich nicht noch weiter nach vorn zu verschieben. Doch auch Jungen erleben ihren ersten Samenerguss heute spätestens mit 15 Jahren, kein so eindeutig sexuell besetztes Zeichen wie bei den jungen Frauen, aber ein Beleg dafür, dass der biologische Umbau abgeschlossen ist. Den Grund für diese Akzeleration finden Wissenschaftler vor allem in den veränderten Lebens- und Ernährungsverhältnissen. Take: Hentig Wenn man kluge Leute wie den Rousseau gelesen hat, der ohne irgendeine psychologische Ausbildung eine vollkommen klare Sicht der Entwicklungsstufen des Menschen gehabt hat, dann sieht man, dass man vermutlich keinen größeren Wandel durchmacht nach der Geburt als dem zwischen dieser Phase der willentlichen Abhängigkeit, der Fügsamkeit, des Lernenwollens und der plötzlich erwachenden Neugier auf sich selbst: Wer bin ich denn? Warum komme ich bis hier eigentlich immer nur als das Objekt vor? Sprecherin Hartmut von Hentig, der Nestor der Pädagogik in Deutschland, Gründer der Laborschule in Bielefeld und Autor einzigartiger Bücher über den Wert von Bildung für ein selbstbestimmtes, verantwortungsbewusstes Leben. Take: Hentig Irgendworan misst man sich dann. Man ermisst sich dann an den Erwachsenen, an den älteren Geschwistern, weil die in allem ein wenig voran sind. Da will man nun hin springen und das kann man auch nicht so gleich. Plötzlich ist dann die Stetigkeit der Entwicklung schwierig. Als Kind merkt man ja gar nicht, dass man sich entwickelt. Aber da merkt man es plötzlich. Man merkt es an den äußeren Veränderungen, weshalb man die immer in den Vordergrund stellt. Dann wird man geschlechtsreif, die sekundären Geschlechtsmerkmale werden ausgebildet und das sieht man ja alles, Stimmbruch usw. Auch das wäre gar nicht schwierig, nicht schwieriger als Zähne kriegen oder wenn die Zähne weg sind. Vielleicht ist das sogar, weil es ein Wechsel ist, die fallen ganz raus und dann kommen ganz neue. Vielleicht hat das viel Dramatischeres. Sprecherin: Dennoch ziehen die zwölf-, dreizehn- vierzehnjährigen vor allem durch ihre geänderte Erscheinung die Aufmerksamkeit auf sich. All diese Veränderungen geschehen einem Naturgesetz gleich. Take: Hentig Dramatisch wird es, weil wir Erwachsenen darauf nicht richtig eingehen. Wir müssen einen Rollenwechsel vornehmen und zwar zwischen nun weiterhin Behüten und Leiten und dem Widerstand leisten und Stärke zu zeigen und zeigen, dass man zum Erwachsensein eine gewisse Stärke braucht und die hast du noch nicht. Bisher hat man dem Kind immer gesagt, dass machst du aber sehr schön und das ist aber gut. Jetzt muss man öfter sagen: Nein, das kannst du noch nicht. Ich lass dich jetzt noch nicht mit dem Nachbarmädchen ins Bett gehen. Das hat Folgen, die du noch nicht kennst. Denn die Freude an dem Ereignis wirst du jetzt noch gar nicht haben. Denn es wird lauter Panik sein für sie. Man muss also plötzlich auf diesem Gebiet anders reagieren als vorher. Und schon sind die Schwierigkeiten da. Musik Sprecherin: Die Jugendphase gehört - ebenso wie die Dampfmaschine- zu den Erfindungen der industriellen Moderne. Die Soziologie untersucht seit Jahrzehnten diese widersprüchliche und riskante Lebenszeit. In der werden die Jugendlichen zwangsweise ausgegrenzt, um sie später ins Erwachsenenleben zu integrieren. Was aber bedeutet das für die Mädchen und Jungen selbst? Wie wirkt sich diese Entgrenzung auf deren Identitätsbildung und für den weiteren Lebensverlauf aus? Take: Weichold Es gibt insgesamt recht wenig Forschung dazu. Sprecherin: Verwundert schaut Karina Weichold auf ihr Fach. Psychosoziale Aspekte dieses Übergangs zu erforschen, gehört noch immer zum Neuland in der empirischen Forschung der Entwicklungspsychologie. Take: Weichold In der handvoll guter Studien, die zum Thema Pubertät gemacht wurden, weltweit, kann man sagen, ist ganz deutlich geworden erstens, dass es Mädchen sehr viel schwerer haben während der Pubertät. Denn die körperlichen Veränderungen die sich bei allen sich vollziehen, entsprechen nicht gerade dem, was das westliche Schönheitsideal propagiert/ und machen sie auch anfälliger für Störungsbilder wie Depression oder auch Essstörungen./ Andererseits hat man auch besonders gesehen, wenn es bei Mädchen schon stressig ist, durch die Pubertät zu gehen und die körperlichen Veränderungen und das ganze auch noch früher als bei den altersgleichen Mehrheit stattfindet, dann ist das noch mal eine besondere Situation, in deren Folge es zu einer ganzen Reihe von Problemen kommen kann. Sprecherin: Früh lernen Mädchen, dass Andere zuerst ihre Attraktivität wahrnehmen. Noch ehe sie selbst realisieren, dass der gewölbte Busen und die langen staksigen Beine nun zu ihnen gehören, reagieren Ältere begehrlich auf ihr Aussehen. Den Mädchen erscheint deshalb ihr Körper als ein Objekt, das es zu verbessern gilt. Stundenlang stylen sie sich vor dem Spiegel und unterwerfen sich auch als Teeny bereits den ersten Diäten. An der Öffentlichkeit demonstrieren sie abgeguckte, coole Posen. Im Verborgenen aber bleibt ein Gefühlschaos, dass sie erschüttert, weil sie das eigene Erwachsensein noch gar nicht annehmen können. Take: Weichold Und wir haben dabei sehr schön sehen können, dass die früh pubertierenden jungen Mädchen während der Pubertät sehr sehr erwachsen sich verhalten haben, sehr autonom gewirkt haben und das von den Müttern nicht so reflektiert und angenommen wird, wie das für sie wünschenswert gewesen wäre. Das ganze resultiert dann darin, dass im Erwachsenenalter die Beziehung zur Mutter immer noch als sehr kontrollierende, sehr einengende erlebt wird. Sprecherin: Was bedeutet das für das Selbstbewusstsein solcher Mädchen? Für ihr Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht? Langfristig auch für ihre Beziehung eigenen Kindern? Liegen in diesem oberflächlichen, Unsicherheiten überspielenden Auftreten Ursachen für spätere krankhafte Entwicklungen und ein Straucheln? Das will die Thüringer Wissenschaftlerin herausfinden, indem sie die jungen Frauen inzwischen über zehn Jahre begleitet und auch deren Hirnströme misst. Noch vor einem Jahrzehnt hieß es verkürzt, die Hormone würden den Teenagern den Kopf verdrehen. Heute schieben Wissenschaftler die Pubertierenden in den Kernspintomographen, um sichtbar zu machen, was sich in der konfliktträchtigen Zeit unter ihrer Schädeldecke abspielt. Take: Weichold Man muss dazu sagen, die neueren Trends in der Forschung breiten das Feld noch mal aus, insbesondere im medizinischen Bereich. Und zwar beschäftigt man sich neuerdings stärker mit der Veränderung im Gehirn in der Pubertät und auch mit der Interaktion mit der Wahrnehmung der körperlichen Veränderungen und den hormonellen Ausschüttungen. Sprecherin: Seit der Jahrtausendewende gibt es einen wahren Boom an Studien, die fragen, wie hormonelle, somatische, soziale, interpersonale, psychologische und neuropsychologische Faktoren die Pubertät beeinflussen. Auch in dieser Debatte geben Hirnforscher den Ton an. Sie erklären, dass sich vor und während der Pubertät das Hirn noch einmal in eine Großbaustelle verwandelt. Die bestehenden Strukturen werden stark umgebaut und neu vernetzt und an die neue Lebenssituation angepasst. Am meisten betroffen sei davon das Stirnhirn, der Teil des Hirns, der für vorausschauendes, zielgerichtetes Handeln und moralisches Urteilen zuständig ist, wo Emotionen kontrolliert werden und sich das Arbeitsgedächtnis befindet. Beim Umbau arbeitet es nur eingeschränkt. Kein Wunder, dass Pubertierende von einem Moment auf den anderen ausflippen und auf Zeichen ihres Gegenübers nicht reagieren können. Take: Dawirs Stellen Sie sich vor, wie ein Schmetterling, der als Raupe unscheinbar irgendwo auf einem Kohlblatt haust und plötzlich inne hält, sich verpuppt, völlig zerbröselt, da bleiben nur noch wenige Zellen über, der nun geschlechtsreif ist, aufsteigt und herumflattert. Und stellen sie sich vor, der Schmetterling erlebt diese dramatischen Umbauprozess am eigenen Leib. Er versteht überhaupt nicht warum, gerade noch Raupe und jetzt flattert er herum/ und alles ist ganz dramatisch. Sprecherin: Der Biologe und Hirnforscher Ralph Dawirs leitet die Forschungsabteilung der Kinder- und Jugendabteilung für Psychische Gesundheit am Universitätsklinikum Erlangen. Nach seinem Studium arbeitete er als Meersbiologe. Das prägte sein wissenschaftliches Denken. Drei Fragen begleiten seitdem seine Forschung: Wie ist etwas gebaut? Welche Funktion hat es und welchen Sinn erfüllt es in der Evolution? Bezogen auf die Pubertät diskutiert er diese Fragen seit Jahren mit seinem Kollegen Gunther Moll. Der hat als Kinder- und Jugendpsychiater tagtäglich die Mädchen und Jungen vor sich, die außer Rand und Band sind. Wofür brauchte die Evolution deren Turbulenzen im Kopf, überlegen die beiden Wissenschaftler. Mit ihrer Antwort rücken sie das bisherige Verständnis von diesem Übergang zurecht. Take: Dawirs Pubertät ist ein ganz wichtiger Entwicklungsabschnitt im Leben des Menschen, der /skurriler Weise darin besteht, dass der Eintritt der Geschlechtsreife verzögert wird.// Das heißt, der Mensch wurde von seinem Kerngeschäft nun, sich fortzupflanzen noch einmal freigestellt für eine Weile,/ mit dem klaren Auftrag, sozusagen die Kulturgüter zu erlernen und weiterzugeben. Sprecherin: Noch vor zwei Millionen Jahren - so die Beschreibung von Dawirs und Moll - wurden die Mädchen und Jungen mit sechs Jahren geschlechtsreif und zeugten ihre Nachkommen, ähnlich wie es bis heute im Tierreich geschieht. Für den Menschen erwies sich dieses Konzept, kaum den Kinderschuhen entwachsen mit den eigenen Söhnen und Töchtern dazustehen, als hemmend für die kulturelle Entwicklung. Deshalb brauchte es eine Bremse im Gehirn, die den Eltern eine friedliche Latenzzeit mit emotional und sozial ausgereiften Persönlichkeiten verschafft. Take: Dawirs Dann kommt es zur Geschlechtsreife und jetzt kann er nicht durch folgendes Konzept gehen, aha, ich bleib bei Mama, alles bleibt wie bisher, mit Freundin. Das geht nicht, das hat die Evolution so nicht vorgesehen. Das heißt, die Geschlechtsreife markiert den Generationswechsel, das heißt, Bub, Mädel, ihr seit jetzt soweit, ihr müsst Verantwortung übernehmen. und das mussten sie auch am Anfang sofort können irgendwie, weil die Eltern starbenDamit ist verknüpft das Entbinden von der bisherigen Bezugsperson, das Loslösen von den Eltern in der Regel und das neue Hinwenden, sich emotional neu ausrichten an Gleichaltrigen, den Peers. Das ist eine Leistung, die jeder einzelne vollbringen muss. Das macht er nicht freiwillig, das wird ihm vom Gehirn sozusagen aufgetragen. Sprecherin: Ralph Dawirs ärgert es, dass das Drama der Adoleszenz bisher unberührt von solchem biologischen Gedankengut blieb und nur soziologisch beschrieben wird. Deshalb verfasste er mit Gunther Moll ein populäres Sachbuch, keine wissenschaftliche Studie nur für Eingeweihte. Unter dem etwas pubertär formulierten Titel "Endlich in der Pubertät. Vom Sinn der wilden Jahre" wollen sie dazu beitragen, die Rollenzuschreibungen an Jung und Alt in unserer Gesellschaft mit der Biologie in Übereinstimmung zu bringen. Für die beiden ist das aufmüpfige Reden und risikobehaftete Tun in der Pubertät keine biologisch implantierte Respektlosigkeit. Es ist der Preis für den Menschheitsfortschritt! So eng sich die Töchter und Söhne in der Kindheit an ihre Eltern banden. Nun ist es im Interesse der Evolution geboten, sich von ihnen zu lösen. Und das Gewitter in ihrem Kopf lässt ihnen gar keine andere Chance, als dabei über die Stränge zu schlagen. Take: Dawirs Über ca. 10-13 Jahre haben sie ihr Stirnhirn,/ skulpturiert, ihre Persönlichkeit daraus gemeißelt, wenn sie so wollen. /Also diese Persönlichkeit ist in den Netzwerken abgelegt und besonders die emotionale Kompetenz eines jeden Menschen, was ihn ausmacht. Und die Entbindung heißt, es werden jetzt plötzlich neue, viele viele neue Kontakte geknüpft in dem Stirnhirn, die, man kann das so bildlich sagen, dieses Relief wird wieder zugekleistert so ein bisschen. Er versetzt sein Stirnhirn, wenn man so will, in einen frühen kindlichen Zustand zurück, der emotionalen Offenheiten sich neu auszurichten. Das ist notwendig und wurde in der Evolution immer notwendiger, je länger nun die Geschlechtsreife hinausgezögert wurde und viel länger der Vorteil der Bindung an die Eltern hier ausgenutzt wurde für Kultur lernen, umso dramatischer wird jetzt der Austritt aus der Kindheit, der Rauswurf, der bei vollem Bewusstsein erlebt wird. Musik: Sprecherin: Seit etwa zwei Millionen Jahren passieren Menschen die Pubertät, ehe sie erwachsen werden. Bei indigene Völkern begleiten bis heute weise Frauen und Männer die Mädchen und Jungen mit eigenen Riten fern von der Gemeinschaft durch diesen Übergang. Nach sechs bis acht Wochen kehren sie als gleichberechtigten Stammensmitgliedern in ihr Dorf zurück. Im europäischen Mittelalter gab es die Wanderjahre der Knappen und Handwerksburschen. Die Lernenden zu unterweisen oblag dem fremden Meister, ehe sie den Hof oder das Gewerbe der Eltern übernahmen. Die starben oft genug mit 30 Jahren. Take: Dawirs Erst seit 10 Generationen, 1720, 1730 irgendwas, oder später, mit Beginn der industriellen Revolution bis heute, hat sich diese Lebenserwartung verdreifacht. Das ist dramatisch für solche biologischen Bedingungen, also seit acht Generationen muss der junge Pubertist in der Schule still sitzen. Das gab es vorher nicht. Biologisch undenkbar, dass man wesentliche Adaptationsprozesse im Sitzen hier veranstalten muss. Also das sind dramatische experimentelle Zustände in der kulturellen Gesellschaft kann man fast sagen. Sprecherin: Historiker und Anthropologen beschreiben Pubertät deshalb als ein Kulturphänomen, ein Produkt der Erziehung. Sie muss umso heftiger ausgelebt werden, je weniger selbstverständlich die Heranwachsenden in eine neue Rolle in der Gesellschaft hineinwachsen können. Take: Hentig Es ist ja so, dass das Thema Pubertät die Schule auch beschäftigt, aber sie löst es, indem sie es ignoriert. Sprecherin: Nach Meinung von Hartmut von Hentig versagt die Schule in keiner Phase so deutlich wie in der Pubertät. Sie überlässt das Drama den Familien. Dabei leiden Jugendlichen heute kaum noch unter rigiden Eltern und kennen solche Sprüche wie "So lange Du deine Füße unter meinen Tisch steckst, machst du was ich sage" in der Regel nicht mehr. Eher haben sie zu viel Freiheit und suchen nach Halt. Doch auch diese Not kümmert die Schule nicht. Take: Hentig Die Schule macht es schon, wir würden heute sagen, strukturell falsch. Sie tut ja so als könne man in der gleichen äußeren Ordnung, gleich vom sechsten oder sogar vom fünften Lebensjahr bis zum achtzehnten und neunzehnten beförderlich sein. Ich nenne das immer das Paternostermodell. Es ist ein Gerät, das immer aufsteigt und wenn man rausguckt sieht man sechs, sieben und acht und man merkt daran, dass man aufsteigt, aber der Kasten ist der gleiche. /Und da die Welt einen ja nicht wirklich braucht, siehe die große Zahl derer die arbeitslos bleiben, hat die Schule auch gar keine Hemmungen so zu sein. Das kommt bei diesen Pisa-Studien jetzt heraus. Sprecherin: Laut einer repräsentativen Studie "Lernen und Bildung" mit Schülerinnen und Schülern aus Nordrhein-Westfalen aus den Jahren 2003/2004 wissen 89 Prozent von ihnen, dass sie einen möglichst guten Schulabschluss brauchen. Nur dann können sie sich ihre Berufswünsche erfüllen und ein Leben nach dem eigenen Maß führen, so ihre Einsicht. Fragt man sie aber nach dem Lernen und der Schule, ist der Unterricht langweilig und Lehrer sind nicht beliebt. 55 Prozent halten Lernen für ein notwendiges Übel und gerade mal ein Fünftel liebt es zu lesen, Kurse oder Theatervorstellungen zu besuchen. Lernen gehört nicht zu den Dingen, mit denen sich Heranwachsende gern beschäftigen. Take: Hentig Es dauert bei den meisten sehr lang, bis sie in den Genuss der Erfahrung kommen: Ich bin ich. Ich kann das und das. Und man braucht mich. Diese drei Sätze müssen doch irgendwann von einem Menschen mal gesagt werden können. Die Kinder sagen in der Regel, ich kann ganz gut Deutsch oder Mathematik, Aufsatz. Ihre Sache ist das ja nicht. Das ist die Verordnete, von den Erwachsenen Ausgedachte. Sprecherin: Die Hirne der Heranwachsenden aber strukturieren sich in der Pubertät nicht durch auswendig gelerntes Wissen neu. Sie sind bereit für neue soziale Beziehungen und wollen sich neu zu verdrahten. Ihr ins Leere laufen hat Folgen. Take: Moll Psychische Auffälligkeiten, psychische Störungen diese nehmen bei Kindern, jungen Erwachsenen /dramatisch zu. Sprecherin: Gunter Moll, Kinder- und Jugendpsychiater im Uniklinikum Erlangen und Koautor von Ralph Dawirs. Bei seinen Visiten in der Klinik trifft er auf Mädchen und Jungen, die sich vor den Leistungserwartungen und mobbenden Gleichaltrige in der Schule fürchten, einsam sind und sich nichts trauen. Oder jene, die in eine Clique, eine Cyber- oder Drogenwelt flüchten und sich eine großartige Scheinwelt errichten. Und er sieht speziell Mädchen, denen die Rollenerwartungen an eine Frau Angst einflößen und sich in Essstörungen zu retten versuchen. Take: Moll Mit 14,15, 16 ist man fertig, fit, voller Kraft. Und das ist übrigens ein Grund, warum es vielen so schlecht geht, weil diese Kraft sich nicht ausleben darf. Sprecherin: Zum Funktionieren in einem starren System gezwungen werden sie krank. Immer neue, schockierende Wege finden die Teenager, um der straffen Ordnung zu entfliehen und jenen Institutionen, in denen sie nicht gesehen werden. Das ist nicht nur im Jetzt dramatisch. Die langfristigen Auswirkungen auf die Gesellschaft lässt die Längsschnittstudie der Psychologin Karina Weichold mit einst frühreifen jungen Mädchen erahnen. Mit 12, 13 schminkten sie sich eine erwachsene Fassaden, weil sie niemand fanden, der ihre Gefühlslage ernst nahm und sie unterstützte. Jetzt sind sie 23. Take: Weichold D.h. sie haben früher mit Alkoholtrinken begonnen, sie haben früher kleine Experimente mit Drogen unternommen, sie auch kleine kriminelle Aktivitäten gestartet, sind weniger mit ihrem Leben zufrieden, leiden eher an traurigen Gefühlslagen. Und wir haben gefunden, dass diese geringe Unterstützung im Familienkontext eine Vermittlerrolle einnimmt, um diese negativen Entwicklungsergebnisse im frühen Erwachsenenalter zu erklären. Take: Hentig Man entdeckt seine Person eher an den Verletzungen die sie erfährt, an den Demütigungen, die sie erfahren, nicht an den Bewährungen. Das ist genau das, was ich sagen will. Man müsste es umkehren. Musik: Take: Dawirs Biologisch gesehen, befindet sich die Menschheit oder die Kulturentwicklung in irgendeinem Stadium des Experiments kann man fast sagen.// Sprecherin: Seit Ende des 20. Jahrhunderts stellen Kinder und Jugendliche zum ersten Mal in der europäischen Geschichte eine Minderheit dar. Über Jahrhunderte klagten Erwachsenen über die Respektlosigkeit und Faulheit der Jugend und kanalisierten mit diesem Vorurteile die eigene Angst, das Ruder nun abgeben zu müssen. Den kulturellen Fortschritt konnte das nicht gefährden. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts kam ein Kind auf einen Erwachsenen. Heute aber stehen einem aufmüpfigen Jugendliche vier Erwachsene gegenüber. Nicht nur die demographische, sondern auch die politische und soziale Balance geht dadurch verloren. Take: Dawirs Was da der einzelne Mensch braucht, ist die Solidarität der Erwachsenen, die jetzt noch leben. Das ist ja neu, das ist ja brandneu. //Wenn man jemanden hinauswirft, muss man auf der anderen Seite auch jemand sein, der ihn auffängt. So wie wir das Baby aufnehmen, müssen wir nun als Gesellschaft den neuen Erwachsenen empfangen. Das würde ja in die archaischen Gesellschaften/ gefeiert. /Das zeigt doch wie wertvoll nun der junge Erwachsene ist. Das ist ja nicht selbstverständlich, dass man so alt wird. Sprecherin: Über neue Formen des Zusammenlebens mit den Alten angesichts des demographischen Wandels wird bereits nachgedacht. Die ältere Generation hat die politische Macht, beispielsweise neue Modelle des Wohnens und der Organisation der Arbeit durchzusetzen. Anders sieht es für die Jungen aus. Dabei gibt es durchaus Vorschläge, ihre innovative Energie beim Erwachsenwerden nicht länger auszubremsen, sondern für die Gesellschaft zu nutzen. Take: Hentig Bei uns braucht man nur eines, man muss die verschulte Schule wieder entschulen zu einem Lebens- und Erfahrungsraum machen. Sprecherin: Statt in der Schulbank zu sitzen, sollten die Dreizehn-, Vierzehn-, Fünfzehnjährigen "Bewährungen" erleben und die "nützliche Erfahrung, nützlich zu sein" machen, so der Vorschlag von Hartmut von Hentig in seinem gleichnamigen Buch. Zwischen dem siebenten und neunten Schuljahr, in einer Zeit, in der die Pubertät am heftigsten tobt, sollten die Mädchen und Jungen für eine bestimmte Zeit für ihre Kommune relevante Projekte in Gemeinschaft bearbeiten dürfen. Warum nicht wie Pfadfinder ein unbebautes Gelände nutzbar machen, alte Gebäude renovieren oder für andere Menschen sorgen? Die Mädchen und Jungen müssten sich nicht länger immer exotischere und riskantere Unternehmungen ausdenken, um das zu erleben, wonach sie sich in diesem Alter am meisten sehnen: nämlich gemeinsam mit den Freunden etwas zu unternehmen und sich zu beweisen. Auf sich gestellt und an ihrer Seite gesprächsbereite, offene Erwachsene, könnten sie in der Praxis ihr bisher erworbenes Wissen anwenden und erweitern. Take: Hentig Der Aufsatz, der mich langweilt, den schmier ich da hin, nicht wahr. Aber der Brief an den Herrn Bürgermeister oder an den Naturschutzbeamten, der muss gut sein, wenn er Wirkung tun soll. Es hat also alles sein Gesetz in sich. Es ist eine viel viel bessere Erziehung in dem Alter als die Abkürzung, die wir in der Kindheit und nachher in den Oberstufen ja gerne nehmen, über die vernünftige Ordnung. Nein jetzt werden nun erstmal die Umstände bedient. //Das könnte die Pubertät um Jahre abkürzen. Sprecherin: Dabei ist sich Hartmut von Hentig bewusst: seine "Bewährungen" sind zunächst nur ein Versuch, die Pubertierenden auf zeitgemäße Weise in die erwachsene Gesellschaft aufzunehmen. Aber, so argumentiert er mit der Anthropologin Margaret Mead, eine Gesellschaft, die meine, sie können sich solche begründeten, aber ergebnisoffenen Versuche nicht leisten, versage sich das "Offenhalten der Zukunft". Biologisch ist im Interesse kulturellen Fortschritts abweichendes Verhalten unbedingt erwünscht. Zudem bedrängen unsere Gesellschaft von Klimakatastrophe über die Finanzkrise oder Armut in einem reichen Land eine Reihe von Problemen, bei denen neue Lösungen gefragt sind und die Experimentierlust der jungen Leute weiter helfen könnte. Take: Moll Wir müssen sagen mit 14 ist man Erwachsen und jetzt kommen alle Konsequenzen. Aufnahme in das Erwachsenenleben mit allen Rechten und Pflichten und dann schauen wir, wie es weiter geht. Der entscheidende Punkt ist, wir wissen nicht, wie es weiter geht. Wir wissen nur eines, so wie es jetzt abläuft, geht es nicht weiter. Wir brauchen etwas Neues. Und das Neue kann nur entstehen, wenn wir diese Energie, diesen Mut, dieses Kreativsein der jungen Erwachsenen in die Gestaltung des Lebens nutzen. Ob es besser oder schlechter wird, weiß kein Mensch. Musik: 1