Deutschlandradio Kultur Länderreport Das Gedächtnis der Nation – Die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig Autor: Bastian Brandau Redaktion: Katja Bigalke Atmo Lesesaal, O-Töne Es ist einerseits eine sehr konzentrierte, arbeitssame Atmosphäre im Lesesaal, andererseits auch sehr lebendig. Also man hat einerseits so eine ständige Hintergrundkulisse von Tastaturen, Rascheln und Papier, aufstehenden Leuten, runterfallenden Sachen und so weiter. Andererseits sind die Leute sehr konzentriert. Ich bin immer sehr unaufmerksam und hier ist halt der Fall, dass wirklich jeder arbeitet und die Atmosphäre spürt man halt auch Altehrwürdig - Für den großen Lesesaal der Deutschen Nationalbibliothek scheint dieses Wort erfunden worden zu sein. Und ich mag so diese bismarcksche, dunkle Holzvertäfelung und Einrichtung, die gefällt mir ganz gut. Aus einer Retrospektive kann man sowas ja immer ganz gut finden. An der hohen Decke große Leuchter und Stuck, an den Wänden dunkle Bücherregale. Und vor allem kann man sich alle Bücher ausleihen. Also ich mach immer so 80 Beruf und 20 Prozent privat, ich kann auch immer nebenbei was lesen, was mich so interessiert. So etwa Philosophie des 19. Jahrhunderts, leih mir da ein Buch aus, guck da rein. Und das ist einfach super. Eine hölzerne Empore umrundet den Lesesaal, öffnet den Blick auf etwa 180 Arbeitsplätze. Die meisten an Zweiertischen, jeder ausgestattet mit einer grünen Leselampe. Und auf Menschen, die sich über Buchstaben beugen. Große Bücherstapel auf den Tischen der einen, Laptop und ein paar Zettel auf den Tischen der anderen. Die Stimmung ist konzentriert, ab und zu schweift ein Blick zur großen Fensterwand. Von dort rauschen leise Verkehrsgeräusche in den Saal. Der altehrwürdige große Lesesaal ist das Herzstück der Deutschen Nationalbibliothek. Atmo Marschmusik 1916 Vor 100 Jahren zog die Deutsche Nationalbibliothek in ihr neues Zuhause am Deutschen Platz. Ein vom Keller bis zum Dach neunstöckiger Frührenaissance Bau mit rotem Ziegeldach. 120 Meter schwingt er sich um den ovalen Vorplatz, einen kleinen Park. Zehn Stufen sind es heute wie damals, dann stehen die Besucher vor drei mächtigen schwarzen Eingangstüren, vergoldet ebenso wie die Fenster daneben. Die Gäste gehen durch ein auf zehn Säulen ruhendes Portal. Beäugt von den über ihnen thronenden Büsten von Goethe und Bismarck. Wir befinden uns im Ersten Weltkrieg. 1916, dieses Gebäude ist mitten im Ersten Weltkrieg gebaut worden und manchmal entdecken wir das auch heute noch. Da gibt’s da schon so Ecken, wo, sagen wir mal, mangels qualitätsvollen Baumaterials sagen wir mal, Schutt zwischen zwei Wände geschüttet worden ist. Da gibt es auch ein paar Versuche, wertvolles Material zu sparen. Aber es war auch vorher, der Bauplatz war verlegt worden, also es gab zeitlichen Verzug, von der Sigismundstraße dann hier an den Deutschen Platz, wir hatten erst ein anderes Grundstück. Michael Fernau ist Direktor der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig und kennt viele Anekdoten aus der Eröffnungszeit. Nach dem Vorbild anderer Nationalbibliotheken wie der British Library oder der Bibliothèque de France gegründet wurde die Deutsche Nationalbibliothek, abgekürzt DNB. 1913 war das. Mit dem Auftrag gestartet, von nun an jedes in Deutschland und jedes auf Deutsch erschienene Buch in doppelter Ausführung zu archivieren – und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die im 19. Jahrhundert entstandenen Nationalbibliotheken sollten mehr Menschen Zugang zu Bildung verschaffen. Gleichzeitig wurde die neue Bibliothek zum Gedächtnis der noch jungen deutschen Nation stilisiert. Es gab aber auch weniger uneigennützige Motive für die Gründung der Bibliothek, verrät Fernau: Der heute wie damals starke Buchhandel in Sachsen hatte großes Interesse an einer Stärkung des Verlagsstandorts Leipzig. Dafür zahlte das damalige Königreich den Bau, die Stadt stellte das Grundstück für das Gebäude. Nach einer Übergangszeit im Haus des Buchhandels in Innenstadtnähe, 1916 dann der Umzug weiter in den Süden der Stadt, in die Nähe des Völkerschlachtdenkmals. Ein missliches Detail zeichnete die Eröffnung am 2. September aus: Der Kaiser war nicht anwesend. Aber immerhin der sächsische König. Ganze 18 Reden habe es gegeben – kein Spaß, meint Michael Fernau mit einem Schmunzeln. Eine Veranstaltung für das breite Publikum sei das nicht gewesen. Da brauchen Sie dann Nerven. Da sitzen nur noch die Honoratioren. Da ist niemand, der die Hüte wirft. Oder gar fröhliche Musik aufspielt. Da wird was Getragenes vom Gewandhausorchester vielleicht gespielt, oder vielleicht eine Blasmusik, wenn es draußen spielt. Aber das ist eine andere Atmosphäre. Die in drei Jahren bereits gesammelten Bücher wurden in den Neubau verfrachtet, Bibliotheksmitarbeiter bezogen die neuen Räume. Und mit ihnen auch diejenigen, die entschieden, welche Bücher der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht werden sollten – zu Friedens- wie zu Kriegszeiten: Als erster ist hier eingezogen der Abgeordnete der Militärverwaltung, das war ja im Ersten Weltkrieg, der Zensuraufgaben hatte. Das war die Stelle Ober-Ost, so hieß diese Zensurstelle, weil die zum Oberkommando der Wehrmacht Ost gehörte. Und die haben hier eine Militärzensurstelle eingerichtet. Sowohl, um bestimmte Patentschriften aus der Veröffentlichungsschrift herauszunehmen, oder militärrelevante. Und natürlich, um defätistische Literatur zu unterdrücken. Das Publikum war damals auch ein anderes. Einfach so recherchieren für Studierende oder Journalisten war nicht denkbar. Heute stellt der Jahresbeitrag von 42 EUR die größte Hürde für eine Nutzung der Bibliothek dar. 1916 seien die Zugangsbeschränkungen viel höher gewesen, erzählt Fernau. Sie mussten früher sehr viel stärker betonen, dass sie forschen, wenn sie mit dieser Literatur arbeiten. Denn die Ausgangsidee war ja die, dass diese Sammlungen für ewig Bestand haben sollen und das dokumentieren, auch wenn es sonst keiner mehr hat, was die deutsche Kultur mitgeprägt hat. Und das heißt natürlich, diese Bücher sollten nicht binnen weniger Jahre zerlesen sein und nicht in so einer Kaffeehausatmosphäre mit Vergnügen gelesen werden, sondern das war anstrengend. Die wahre Freude sind die ernsten, anstrengenden Sachen – diesen Wahlspruch des Leipziger Gewandhauses sieht Fernau in Analogie zur Deutschen Nationalbibliothek. In der sich ein ernsthafter Umgang mit dem geschriebenen Wort lange erhalten habe: Wir haben erst in den letzten Jahrzehnten ein deutlich entspannteres Verhältnis dazu, dass jemand, der jetzt sagen wir mal, schöngeistige Literatur haben will, einfach weil er sagt, ich will mal den neuesten Roman von ich weiß nicht wem lesen, der wird heute nicht mehr gefragt, ja machen Sie ein literaturwissenschaftliches Seminar über Utta Danella oder wen auch immer? Oder sollen wir Ihnen eine Tasse Tee bringen? Also die Frage wird nicht mehr gestellt, Sie kriegen auch keinen Tee, aber sie kriegen das Buch wenigstens. Und es fragt auch keiner, ob Sie es jetzt aus Vergnügen lesen oder als Literaturwissenschaftler. Das war früher anders. Atmo Schritte, Bücherausgabe Heute bekommt man in der Deutschen Nationalbibliothek mit einer Leichtigkeit Bücher, von der frühere Nutzer nur träumen konnten. Online-Bestellung und anschließende Abholung sind zur Selbstverständlichkeit geworden, hier wie in anderen Bibliotheken. Einen entscheidenden Unterschied gibt es dabei zu großen Universitätsbibliotheken: Durchquert man die Eingangshalle auf dem Weg in den großen Lesesaal, kommt man zwangsläufig an der Ausleihstelle vorbei. Denn die DNB ist die größte Präsenzbibliothek Deutschlands. Nutzer können Bücher nicht mitnehmen. Nur im Lesesaal darf mit ihnen gearbeitet werden. Hinter den mit dunklem Holz vertäfelten Ausgabeschalten bringen Mitarbeiter im Akkord Bücher, gebundene Zeitschriften oder ganze Bücherwagen nach vorn. Was die Nutzer elektronisch bestellen, kann in der Regel wenige Stunden später abgeholt werden, erklärt Mitarbeiter Tim Zimmermann, graues Polohemd und kurze braune Haare. Ständig kommen neue Bücher aus den Magazinen hier an. Wir habe viele Studenten im Nutzerkreis, die zu den Themen, die sie bearbeiten müssen, Fachliteratur bestellen. Das merkt man dann gerade zu Prüfungszeiten oder zu anderen Stichterminen, die einem vielleicht auch so geläufig sind. Ansonsten vor allem alte Zeitschriften und Werke, so bis 1945 werden derzeit scheinbar oft bestellt und auch sehr bearbeitet (on Tape) -Wäre das möglich, mal einen Blick in die Zeitschrift zu werfen? Zimmermann verschwindet und kommt mit einem grauen Hefter zurück, in dem ein Jahrgang zusammengefasst ist: Das ist die Neue Linie, das ist gerade der Jahrgang 38, der September, der hier vorliegt. Das ist dann schon die NS-Zeit, es geht schon in die vollen Züge. Das war nicht nur Modezeitschrift, sondern auch allgemein Gesellschaft, politisch, alles was gerade so passierte, alles was so passiert, wurde damit abgedruckt. Wir können ja mal einen Blick reinwerfen. Die Neue Linie, 1929 zum ersten Mal herausgegeben, war so etwas wie das erste Deutsche Lifestyle-Magazin. Die Neue Linie folgte den Ideen der Bauhaus-Bewegung. Eine Zeitschrift, die unter Hitler nicht verboten, sondern von den Nationalsozialisten nach und nach zu einer Propagandaschrift umgebaut wurde. 1938 war diese Umwandlung im vollen Gange. Geschichte ist mit drin, genau, Nürnberg beispielsweise. Oder dann dementsprechend auch Autoren, kulturhistorisches aus anderen Ländern. Hier: Werbung zum Beispiel auch, Parfüm. Durch die Bank weg. Werbeanzeigen sind dann auch immer ganz schön zu sehen. Es gibt Leute, die sich ganz speziell damit beschäftigen und dann eben auch praktisch analysieren: Wie hat man das damals gemacht? Es gibt ja auch richtige Lehrbücher für Werbung zur damaligen Zeit und die werden heute sehr gerne bestellt und analysiert. Die Neue Linie oder auch Die Gartenlaube, eine Illustrierte, die von Mitte des 19. Jahrhunderts bis vor etwa 30 Jahren aufgelegt wurde – in der DNB werden alle Ausgaben gesammelt und archiviert. Übrigens auch vermeintliche Trivia wie der Playboy, Jerry-Cotton-Hefte oder Groschenromane. Auch an ihnen wird geforscht. Die im Krieg unzerstört gebliebene DNB ist einer der wenigen Orte, an denen noch komplette Jahrgänge von Zeitschriften erhalten geblieben sind. Atmo Ausleihstelle Jeder Nutzer habe seine eigene Suchgeschichte, sein eigenes Projekt, erzählt Bibliotheksmitarbeiter Zimmermann. Die einen arbeiten an einer Abschlussarbeit, einer Dissertation, die anderen betreiben private Nachforschungen. Zimmermann und seine Kollegen bekommen davon durchaus etwas mit. Zum Beispiel bei manchen Nutzern da stimmt die Chemie auf Anhieb und da kommt man dann auch sehr schnell ins Gespräch und erfährt auch: Der eine schreibt gerade eine Doktorarbeit dazu, der andere schreibt gerade ein Buch dazu oder muss noch einen Artikel für eine Denkschrift fertigstellen. Das kommt dann immer ganz darauf an. Aber es ist dann immer ganz spannend zu erfahren, wofür man es herausgibt, und wofür es dann verwendet wird. -Was haben Sie da gelernt, in den vergangenen Wochen, vielleicht ein Beispiel? Uff, beispielsweise über das Pelzgewerbe in Leipzig vor 1945. Der Brühl in Leipzig war ja praktisch Dreh- und Angelpunkt des deutschen Pelzmarktes und da habe ich sehr viel gelernt in der letzten Zeit. Das wird sehr viel gerade behandelt. Ansonsten aber auch Mode- und Gesellschaftszeitschriften aus dem Dritten Reich. Aber auch allgemein Wissenschaft und ideologische Sachen werden nach und nach aufgearbeitet. Einige Trends könne man erkennen – aber wer hier wie oft die Neue Linie ausgeliehen hat, das erfasst die DNB nicht, erklärt Jörg Räuber. Räuber ist Leiter der Benutzung und Bestandserhaltung und seit den 1970er Jahren in der DNB beschäftigt. Die Bibliothek sammle momentan keine Daten über ihre Nutzer: Was uns interessiert, wo wir uns gerade wieder das Werkzeug schaffen, das ist uns nämlich gerade durch Software-Entwicklung abhanden gekommen, dass wir so eine Art Hitliste der Bestellungen machen können. Bis vor etwa sechs Jahren, in der Zeit, in der man eine solche Hitliste noch führte, sei meist die Neue Juristische Wochenschrift Spitzenreiter gewesen, sagt Räuber. Generell dominierten Forschungsinteressen aus den Bereichen Jura, Geschichte und Wirtschaftswissenschaften. Der Bibliothek aber gehe es weniger um solche Hitlisten und schon gar nicht um die Daten der Nutzer Wir haben früher mal geguckt, wer sind die aktivsten Nutzer? Das können wir nicht mehr und ist auch eine relativ uninteressante Frage. Also die würde mich nur interessieren, wenn ich mal mit einem sehr intensiven Nutzer in Kontakt treten will und sagen, was halten Sie eigentlich von unserem Nutzungsverhalten. Aber das krieg ich wie gesagt nicht raus. Atmo Cafeteria, Innenhof Über das Nutzerverhalten sprechen lässt sich am besten in der hauseigenen Cafeteria oder im angeschlossenen, im Sommer angenehm schattigen Innenhof. Die meisten Besucher scheinen aber auch hier nicht von ihren Texten wegzukommen, so wie Christhardt Henschel. Über einen Steintisch gebeugt, liest der Historiker seine Dissertation gegen. Die will er bald endlich veröffentlichen. Ich bin derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Warschau, habe zuvor aber 15 Jahre in Leipzig studiert, meine Dissertation hier verfasst. Also auch zum großen Teil hier in der Bibliothek. Und ich bin jetzt einfach hierhergekommen, weil viele Materialien für mein aktuelles Forschungsprojekt hier in der DB vorhanden sind, aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, die sind hier vorhanden, und deswegen bin ich jetzt hier. Henschel schwärmt von der Arbeitsatmosphäre in der Bibliothek, hier habe er immer in Ruhe arbeiten können. Und die große Verfügbarkeit auch von historischen Quellen sei für Historiker natürlich sehr wichtig. Mein Projekt beschäftigt sich mit dem Regierungsbezirk Zichenau, das ist ein Gebiet Polens, das an Ostpreußen angegliedert wurde im Zweiten Weltkrieg. Und viele amtliche Veröffentlichungen, die damals erschienen sind, sind halt hier in der Bibliothek vorhanden, und die möchte ich einsehen. Gehört er zu denen, die mit einem großen Bücherwagen in den Lesesaal hineinkommen, beladen mit Bergen von Lektüre? Henschel muss schmunzeln: Also würde ich jetzt ganze Jahrgänge von Presse oder irgendwelchen Zeitschriften bestellen, dann ja. Oder von Karten, da gibt’s dann ja auch extra Lesesäle, oder die Notensammlung. Das hängt dann immer von den konkreten Medien ab, die man bestellt. Das, was ich jetzt nutze, ist so strukturiert, dass man es bequem im Lesesaal nutzen kann. Der promovierende oder promovierte Historiker auf der Suche nach historischen Quellen – EIN Prototyp des Nutzers der DNB. Der andere sitzt nur zwei Tische weiter. Wolfgang Lack studiert Soziale Arbeit, er schreibt an seiner Bachelorarbeit. Er sei geflohen aus dem Umfeld der Universitätsbibliotheken, sagt Lack: Ich glaube in anderen Bibliotheken, die so im akademischen Kontext sind, trifft man halt jede Menge 25-jährige, die versuchen, supercool auszusehen, das ist hier ein bisschen weniger, das finde ich angenehm. Und man kriegt hier halt jede Form von Literatur, die man braucht. Und ich mag so diese bismarcksche, dunkle Holzvertäfelung und Einrichtung, die gefällt mir ganz gut. Aus einer Retrospektive kann man sowas ja immer ganz gut finden. Eine einzigartige Lernatmosphäre, die Möglichkeit jedes deutschsprachige Buch zu bekommen –trotzdem sind an diesem Tag zahlreiche Tische im Lesesaal nicht besetzt. Bedenkt man, dass sich in der Universitätsbibliothek, nur zehn Minuten entfernt, die Studierenden drängen, fragt man sich: Wissen die alle nichts von der Deutschen Nationalbibliothek? Ich glaube es ist schon relativ bekannt, wobei hier relativ viele Leute herkommen, die Abschlussarbeiten schreiben oder Dissertationen, weil hier die einzige Bibliothek ist, wo man einen Jahresbeitrag zahlen muss. Der sich dann halt lohnt, wenn man ein längeres Projekt hat, woran man schreibt. Und der sich vielleicht im Alltagsgeschehen, wenn man nur eine kleine Hausarbeit schreibt, nicht so sehr lohnt. 42 Euro kostet der Jahresbeitrag - doch zu einem ganz überwiegenden Teil wird die DNB heute aus Mitteln des Bundes finanziert. Eine besondere Aura, viel Platz und wenig Betrieb – viele Nutzer nehmen nicht mal die Dienstleistungen der DNB in Anspruch. Ihnen geht es vor allem um die entspannte Atmosphäre mit viel Platz und Ruhe. Das war zu DDR-Zeiten noch ganz anders, erinnert sich Jörg Räuber, Leiter der Benutzung und Bestandserhaltung. Damals sei es hier immer voll gewesen, schon aus einem einfachen Grund: Viele Bücher gab es schlicht nur in Leipzig. Das ist ein Produkt der DDR-Mangelwirtschaft, also wir hatten mal einen Direktor hier im Haus, der sagte, die DDR verfuhr nach dem Prinzip: Ein Land, ein Buch. Also alles was an westlicher Literatur war, wir haben es gesammelt, weil es ja unserem Sammelprinzip entsprach, deutschsprachig. Wir sind auch zu DDR-Zeiten weiter von den bundesdeutschen oder in der Bundesrepublik ansässigen Verlegern unterstützt worden. Die haben nach wie vor ihre Exemplare nach Leipzig geschickt. Kostenlos. Das hätte sich ja kein Mensch kaufen können alles. Und die Universitätsbibliotheken hatten nie das Geld, die Westliteratur, auch die gute Fachliteratur, zu kaufen. Natürlich sei in der DDR nicht sämtliche Literatur für jeden zugänglich gewesen. Da gab es einen Speziallesesaal damals, ein spezielles Magazin, und die ideologischen Barrieren waren schon recht seltsam mitunter. Also man durfte davon ausgehen, dass alles, was sich gegen die DDR, gegen die sozialistischen Ideen richtete, das verschwand in diesem Sperrmagazin, so nannten wir das damals. Alles was sich kritisch mit Kommunismus, Sozialismus und marxistischer Philosophie beschäftigte, verschwand wenn es nicht zu wissenschaftlich war. Aber wenn es ein bisschen allgemeiner formuliert war, dann verschwand es. Wer es trotzdem einsehen wollte, brauchte einen guten Grund – und die Unterstützung eines Professors, erklärt Direktor Michael Fernau: Sie konnten als Wissenschaftler in der DDR sehr wohl auch mit unerwünschter oder vielleicht auch politisch heikler Westliteratur arbeiten, sie brauchten dafür nur besondere Erlaubnis. Und da durften Sie auch nur dieses Werk nutzen. Sie durften nicht auf dem Nachbartisch schauen, was der Kollege da arbeitet. Also es gibt ganz böse Geschichten, wo wirklich Leute Literatur bestellt haben über den soundsovielten Parteitag der Gewerkschaft, da hat man sich schon gewundert, dass das dann gesperrt war, aber die dann auch noch so dreist waren, noch Literatur in Augenschein genommen haben, die auf dem Nachbartisch lag, und die dadurch ihren Studienplatz verloren haben. Und damit ihre akademische Karriere. Die Deutsche Nationalbibliothek lässt derzeit ihre Geschichte während der DDR und in der NS-Zeit untersuchen, Ergebnisse sollen 2017 präsentiert werden. Denn beide Diktaturen benutzten die DNB zu ihren Zwecken. Nach dem Zweiten Weltkrieg sammelte eine neu gegründete Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main für die Bundesrepublik alle Neuerscheinungen. Nach der Wiedervereinigung wurden die beiden Häuser zusammengefasst. In Frankfurt wie in Leipzig gibt es übrigens auch heute noch Bücher, die nicht für jeden zugänglich sind. Wenn auch eher nicht aus politischen Gründen. Und zwar dann, wenn es entweder von der Bundesprüfstelle gesperrte Literatur ist, oder, das ist der wesentlich häufigere Fall, dass es Streitereien gibt. Plagiate, Verletzungen von Patentrechten, Rechtstreitigkeiten um Urheberschaft. Das führt dann dazu, dass wir Literatur nicht mehr frei herausgeben. Da muss dann der Rechtsanwalt kommen und sagen, ich muss jetzt für den Prozess mal sehen, was da drin steht. Rechtstreitereien um Klaus Manns Mephisto bis zu Maxim Billers Esra, sie finden auch hier in Leipzig statt. Im Gedächtnis der Nation, das seit 1916 beständig wächst und schon viermal um Neubauten erweitert wurde. Seit 2011 führt ein silbrig glänzender Riegel mit rosaroten Fassadenelementen das steinerne Hauptgebäude weiter bis zu Hauptverkehrsstraße. Er verbindet den Ursprungsbau mit den über 50 Meter hohen Magazintürmen die in den 70er Jahren der Bibliothek zur Seite gestellt wurden. Bald muss wohl erneut angebaut werden. Denn auch in Zukunft werde man Literatur in Buchform konsumieren, da ist sich Leiter der Benutzung und Bestandserhaltung, Jörg Räuber sicher. Trotz aller auch von der Nationalbibliothek vorangetriebenen Digitalisierung: Wir gehen davon aus, es wird sich irgendwann ein Verhältnis herausbilden für bestimmte Informationsmedien und –bedürfnisse gibt es viel stärker natürlich die mediale Form und Datenbanken und alles, was man online nutzen kann. Das gedruckte Buch wird trotzdem nicht aussterben. Das wird sich vielleicht ein bisschen reduzieren, da gehe ich schon davon aus. Das wir in ein paar Jahren dastehen und nichts mehr in der Hand haben, das kann ich mir nicht so richtig vorstellen. 1