COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Der künstliche Berg ruft - Indoorklettern ist Trend- und Therapiesport. Von Anja Schrum Geräuschtake 1, viele Stimmen, laut William leise aus der Ferne: Hab ich irgendwas übersehen oder was. Carsten: Da ist nichts, da musst du höher treten. William: Ja, wo denn? Phillip: Auf Hüfthöhe würde ich sagen. Sprecherin: Oben, an der Wand, presst William seinen schlaksigen Körper an den Kunstfelsen. Der 18jährige blickt sich suchend um, erst nach links, dann nach rechts. Seine Fußspitzen verharren auf zwei winzigen lila Plastik-Vorsprüngen. Die linke Hand umklammert eine Halbkugel mit unregelmäßiger Oberfläche. Die Fingerspitzen der rechten krallen sich an einer dünnen lila Leiste fest. Geräuschtake 1 1'12 Carsten: Auf Wadenhöhe hast du einen Tritt, den du treten kannst. Und der nächste ist da oben irgendwo. Sprecherin: Den Kopf in den Nacken gelegt starrt Carsten gut sechs Meter nach oben. Richtung Hallendecke. Er versucht William bei der Routen-Findung zu helfen... Take 1 (Carsten) 0'12 Das schöne an der Halle ist auch, dass die Routen meist eine Farbe haben, was man natürlich draußen am Berg nicht hat. Am Berg muss man sich jeden Tritt, jeden Griff extra suchen - man wird ein bisschen verwöhnt in der Halle... Sprecherin: William hebt jetzt den rechten Fuß bis über Kniehöhe, setzt die Spitze auf einen vielleicht 10 Zentimeter breiten lila Plastik-Tritt. Dann drückt er sich langsam nach oben. Unten nickt Carsten zufrieden: Take 2 (Carsten) 0'13 Das wichtige ist halt immer - die Leute machen den Fehler: Sie machen Klimmzüge beim Klettern, dabei sind die Hände eigentlich nur dafür da, um nicht rauszufallen. Man geht eigentlich durch die Beine höher, man schiebt sich so nach oben... Sprecherin: Oben verharrt William wieder. Sucht nach einem Griff für seine rechte Hand. Geräuschtake 1'30 Carsten/Phillip Ja, Ja. Oder? Ich dachte erst dies komische braune Ding da, nee ist lila. Sprecherin: Lila - das entspricht in dieser Halle dem Schwierigkeitsgrad "sechs plus". Die schwierigste Route hier liegt bei "neun plus". Insgesamt reicht die Skala bis 11. Das schaffen aber nur noch einige wenige Kletter-Profis. Take 3 (Carsten) 0'19 Wenn er jetzt den Schwierigkeitsgrad und die Lila klettern will, muss er wirklich in der Lila bleiben. Weil sonst ist es keine Sechs plus mehr, dann ist es gleich eine Fünf oder so. Nee, das ist extra so geschraubt, dass man die Farbe noch hat. Und Reinfallen, was er gerad gemacht hat, sollte man eigentlich nicht. Sprecherin: Eine Sekunde nicht hingeschaut und plötzlich hängt William im Sicherungsgurt. Unten hält Phillip das Sicherungsseil fest in beiden Händen. Er hat seinen Kletterpartner keine Sekunde aus den Augen gelassen. Take 4 (Phillip) 0'06 Man muss immer dabei sein, sonst kann man unter Umständen nicht schnell genug reagieren. Sprecherin: Meter für Meter lässt Phillip seinen Kletter-Partner hinab auf den Boden. Unten angekommen löst William den Achterknoten des Sicherungsseils. Schweißperlen glitzern auf seiner Stirn. Take 5 (Wiliam) 0'26 inkl. 0'06 Atmo-Vorlauf Leise: Die hat es echt in sich. Phillip: Äh? Lauter: Die hat es echt in sich. Schwierig war da oben ein Griff, der relativ klein war, den man nur mit den ersten Teilen des Fingers greifen konnte. Und naja, mir ist jetzt so ein bisschen die Kraft geschwunden... Geräusch-Take (Halle) Phillip leise: Ich würde ja gerne nochmal darüber, aber das wird ja immer voller... Sprecherin: William und Phillip wollen noch eine weitere Route ausprobieren. Die beiden lassen den Blick durch die gut besuchte Kletterhalle schweifen. Über 150 Routen ziehen sich bis zu 12 Meter die hell-gestrichenen Holz- und Struktur-Wände hinauf. Ein Meer aus bunten Punkten. Am Fuß der Routen stehen diejenigen, die sichern, fast schon Schulter an Schulter: Der künstliche Berg ruft. Und immer mehr folgen. Nicht nur passionierte Bergsteiger suchen den wetter-unabhängigen Höhenrausch. Sportklettern in der Halle ist mittlerweile ein beliebtes Freizeitvergnügen. Getränketresen, Sauna und Solarium inklusive. Geräuschtake 3 1'12 Also, die blaue Route ist jetzt frei, oder dann wieder besetzt. Leise: Komm dann rennen wir jetzt zur Blauen... Sprecherin: Anja und Charlotte schnappen sich ihr Seil. Seit rund zwei Jahren klettern die beiden regelmäßig. Im Winter drinnen, im Sommer auch draußen. Take 7 (Anja) 0'09 Es ist so, naja, seine eigenen Grenzen überwínden. Mmmhhh Charlotte: Das unterschreibe ich auch. Sprecherin: Die Ziele immer wieder neu zu stecken, sich selbst zu übertreffen - das reizt Charlotte am Klettern. Für die gebürtige Schwarzwälderin ist der Neuköllner Kunstfels zudem eine Art Sehnsuchtsort. Take 8 (Charlotte) 0'10 Ich bin so ein Berge-Kind und die Berge fehlen einem in Berlin und das Klettern hilft da ganz gut. Da reicht auch der Kunstberg. Es ist bescheuert, aber es ist so. Sprecherin: "Partnercheck" warnt ein weiß-orangenes Dreieck am Fuß der blauen Route. Take 9 (Charlotte) 0'06 Ich habe gecheckt, ob der Gurt sicher sitzt, ob der Knoten gut ist... Sprecherin: Gurtverschlüsse, Anseilpunkt und -knoten, Karabiner und Sicherungsseil - all das wird vor dem Losklettern gegenseitig geprüft. Dann stellt sich Anja hinter Charlottes Rücken, hält das Sicherungsseil in beiden Händen und hebt die Arme. "Spotten" heißt die Sicherungstechnik für den ersten Meter. Charlotte rückt das Magnesiumsäckchen am Klettergurt, das sog. Chalkbag, zurecht. Dann geht's hinauf. Geräuschtake 5 1'12 Atmo Halle...man hört Karabiner schaukeln... Sprecherin: Zwei, drei Meter klettert Charlotte nach oben, bis sie einen glänzenden Haken erreicht. Dann greift sie nach dem Sicherungsseil, hängt es in die Zwischensicherung ein und kraxelt weiter. Vorstieg heißt diese Sicherungstechnik, bei der das Seil mitgenommen wird. Sie ist eher für Fortgeschrittene. Im Gegensatz zum Toprope, bei der das Sicherungsseilt bereits am Ende der Route im Umlenkhaken hängt. Geräuschtake 6 1'15 Rechts den Henkel, nee, links den Henkel? Sprecherin: Ein kleiner Überhang versperrt jetzt Charlottes Weg. Wie weiter? "Den rechten Fuß noch ein bisschen höher und dann mit Schwung", ruft die Trainerin gegen den Lärm in der Halle an. Geräuschtake 7 Trainerin: Charlotte, nimm doch den orangenen Dings da mal mit, den orangenen Dings... Sprecherin: Charlotte schüttelt erst den Arm, dann den Kopf. Sie gibt Anja ein Zeichen und lässt sich abseilen... Take 9 (Charlotte) Schöner Scheitern gehört halt auch zum Programm, lacht... Jetzt muss ich erst mal die Arme wieder ausruhen und dann versuch ich es nochmal. abblenden Geräuschtake 8 Halle Take 10 (Batz) (leise) Udo: Verrückt, was? Alles voller Spider-Männer und Spider-Frauen hier... Sprecherin: Udo Batz deutet nach oben und lacht. 12 Meter über ihm, direkt unter der Hallendecke, turnt eine Frau von Griff zu Griff. "Alles voller Spider-Männer und Spider-Frauen hier", sagt der 43jährige. Im November 2001 hat Batz die T-Hall als erste kommerzielle Kletterhalle in Berlin eröffnet. Zuvor hatte er mehr als zwei Jahre nach einem geeigneten Ort gesucht. Fast schon wollte er aufgeben. Take 11 (Batz) 0'10 Da das nicht so bekannt war, war es schwierig, überhaupt eine geeignete Halle zu finden. Man muss ja dann auch eine Nutzungsänderung beantragen, eine alte Industrie- Halle ist ja keine Sporthalle. Sprecherin: Heute - elf Jahre später - ist das völlig anders. Überall schießen künstliche Kletter- paradiese aus dem Boden. Take 12 (Batz) 0'17 In Hamburg hat letztens eine aufgemacht, neu, da gibt's auch schon eine DAV-Halle, jetzt noch privat jemand aufgemacht eine sehr große Halle, Duisburg hat was neu aufgemacht, Düsseldorf, in Stuttgart macht demnächst noch was neues auf, also in ganz Deutschland passiert da einiges. Sprecherin: Sportklettern - besonders indoor - entwickelt sich "gigantisch", sagt Batz. Längst sind die Hallen nicht mehr nur wetterfester Übungsplatz für passionierte Gipfelstürmer. Mit den Indoor-Hallen drängt der Outdoor-Sport in die Städte. Take 13 (Batz) 0'21 Also, dadurch, dass das Angebot jetzt auch erst mal da ist, hat jeder die Möglichkeit, Klettern mal auszuprobieren, wir haben ja auch spezielle Angebote für Anfänger: Schnupperklettern, Kinder-Geburtstag usw. wo es von uns auch betreut wird, wo jeder, das Lust hat das auszuprobieren, dazu auch in der Lage ist, unter sicheren Bedingungen, vernünftig gesichert durch unser Personal. Sprecherin: Früher ging der Betriebsausflug auf die Kegelbahn, heute in die Kletterhalle. Und so mancher bleibt quasi hängen. Ein Einweisungskurs, in dem man die Sicherungstechnik für Anfänger lernt, dauert gerade mal zwei Stunden. Kletterschuhe können ausgeliehen werden. T-Shirt und bequeme Hose reichen als "Ausrüstung". Der Hallen-Eintritt kostet um die 12 Euro Take 13 (Batz) 0'12 Der größte Unterschied ist natürlich der, dass wir hier in der Halle schon ganz viele Seile hängen haben. D.h. auch Anfänger können mal eine Route auschecken, die eigentlich über ihrem Schwierigkeitsgrad liegt, aber man kann sich das halt erarbeiten, man ist eben von oben gesichert. Sprecherin: Der letzte Schrei: Bouldern. Klettern in Absprunghöhe. Da wird das Sicherungsseil überflüssig. Viele nutzen Kletter- oder Boulderhallen als Ersatz fürs Fitness-Studio. Einfach, weil es mehr Spaß macht als die Schinderei im Studio und gleichzeitig den ganzen Körper fordert. Take (Batz) 14 0'33 Das Faszinierende - finde ich immer noch - du hast nicht diesen Wettkampf-Charakter wie bei vielen anderen Sportarten, sondern du hast halt deinen Partner und musst halt zusammenarbeiten, auch so mit den Klettern untereinander: Man tauscht sich aus, man hilft sich, es gibt nicht son Konkurrenz-Gedanke, das ist schon mal schön. Dann ist es für jeden selber wieder ein Erlebnis, oben angekommen zu sein. Weil: Du wirst ja auch besser, merkst es ja, es gibt verschiedene Schwierigkeitsgrade beim Klettern, du fängst an im 3., 4. Grad, freust die, wenn du deine erste fünf geklettert bist. Dann freust du dich wie ein Schneekönig, wenn du deine erste 6 geklettert bist usw. abblenden Sprecherin: Genau diese Faszination des Trendsports "Klettern" nutzen auch Therapeuten beim sogenannten Therapeutischen Klettern. Take 15 (Raphael) 0'21 (ca. 0'10 Atmo-Vorlauf, Kinder) Heute bin ich 10, hatte voll viel Stress in der Schule, weil ich einem Typen ein Mäppchen aus dem Fenster geworfen hab, weil der mich so aggressiv gemacht hat, weil er die ganze Zeit mit dem Stuhl gegen mein Stuhl gekippelt hat und da konnte ich nicht arbeiten. Sprecherin: Raphael hat den Zeiger der selbstgebastelten Stimmungs-Uhr auf Dunkelrot gedreht. Der 10jährige rutscht unruhig auf seinem Stuhl umher, fingert an einem Kletterhaken herum. Nur wer ihn, den sogenannten Achter, in den Händen hält, darf reden. Die anderen sollen zuhören. Take 16 (Raphael) Wenn ich total unter Stress stehe, dann werde ich so aggressiv, hardcore, dann werde ich so hyperaktiv, ich kann mich eigentlich gar nicht steuern... Sprecherin: Raphael hat ADHS, die sogenannte Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung. Und Raphael klettert. Einmal die Woche, anderthalb Stunden in einer kleinen Therapie- Gruppe mit anderen ADHS-Kindern. Heute sind sie zu dritt. Neben Raphael sitzen Leon, 11 Jahre, und Jason, 9, im Geburtstags-Partyraum der Kletterhalle Bronx Rock in der Nähe von Köln. Geräuschtake 9 Dann gib mal weiter... Schiebegeräusche über Tisch... unterlegen... Sprecherin: Ergo-und Klettertherapeutin Katharina Prünte schiebt Achter und Stimmungsuhr zu Jason. Auch er ist genervt von der Schule. Leon dagegen hat sich schon wieder beruhigt. Der 11jährige schiebt den Zeiger auf 5. Ausgeglichen. Nach der Anfangsrunde verteilt Katharina Prünte ein paar Übungszettel... Take 17 (Katharina) 0'09 Und dafür machen wir erst mal eine ganz kurze Übung bevor wir an die Wand gehen. R: Ich will aber klettern! K: Ja, kommt... verteilt Blätter... unterlegen ... Sprecherin: Die Ergo-Therapeutin ignoriert die Zwischenrufe. Erklärt geduldig, was zu tun ist: Die Kinder sollen auf einem Zettel Zahlen suchen, die sie ihnen diktiert. Dabei stellen sie fest: Aufgaben lassen sich schneller lösen, wenn die Zahlen geordnet sind als wenn sie wild durcheinander stehen. Planvolles Handeln - überlegen, ordnen, Schritt für Schritt arbeiten - das findet sich in jeder Übung der Therapiestunde wieder. Ob am Tisch oder an der Kletterwand. Take 18 (Katharina) Und das ist auch unser nächstes Boulder-Spiel. Ihr werdet eine kleine Geschichte bekommen an der Boulder-Wand und die sollt ihr dann sortieren. Das ist eine Klassenfahrt, da muss der Lehrer bestimmte Aufgaben lösen... abblenden Geräusch-Take 10 Schritte, laufen, Stimmen Sprecherin: Die Jungs stürzen vorbei am Popcorn-Automaten Richtung Kinder-Kletter-Bereich. In dem grau-blau gestrichenen Raum hängen Sicherungseile von der Decke. An die Wände sind Tritte und Griffe in den unterschiedlichsten Farben geschraubt. An einen hängt Katharina Prünte ein Beutelchen mit Papierstreifen. Take 19 (Katharina) 0'14 Diese Sachen, die er erledigen muss, die sind hier in dieser Tüte drin und ihr bouldert bitte von da, dem roten Griff immer bis dahin und holt euch eins raus und sortiert es dann... darf ich anfangen, darf ich anfangen.... Sprecherin: Raphael macht den Anfang. Er klettert nicht nach oben, sondern bewegt sich seitwärts, etwa einen Meter über dem Boden. Bouldern nennt sich die horizontale Kraxelei, die ohne Sicherungsseil auskommt. Klettertrainer Behrang steht dicht hinter dem 10jährigen. Geräuschtake 11 1'10 Raphael, ganz in Ruhe... R: Ja,ja, der macht das. Ich kann nicht weiter, das ist viel zu schwer für mich... Atmo läuft weiter... Sprecherin: Raphael sucht hektisch nach den passenden Tritten und Griffen. Als er in der Ecke nicht gleich weiterkommt, will er aufgeben. Doch Behrang redet ihm gut zu. Gibt ein paar Tipps und schließlich schafft Raphael den schwierigen Abschnitt... Geräuschtake 12 0'48 Loben Sprecherin: Seit sieben Jahren klettert Katharina Prünte mit Kindern, die an ADHS, an Autismus oder an Wahrnehmungs-Störungen leiden. Kürzlich hat sie gemeinsam mit anderen Ergo- und Physiotherapeuten den Verein "Hoch-Hinaus. Klettern als Therapie" gegründet. Take 20 (Katharina) 0'38 Es ist auf jeden Fall so, dass das Medium "Klettern" in der Therapie erst mal Begeisterung auslöst. Das ist einerseits diese Begeisterung und andererseits, dass es an sich schon ganz hilfreich ist, dass wenn man hochklettert und sich nicht richtig konzentriert, was passiert: Man fällt runter. Wenn man nicht richtig plant seine Bewegungen und nicht zum nächsten Griff kommt, dann schafft man die Route nicht. Das sind alles diese Schritte, die schon von sich aus hilfreich sind und da das Klettern so'n Anreiz ist oder so eine moderne Sportart auch, sind besonders die Jugendlichen oder die Kinder ab 10 zu begeistern. Sprecherin: Da heißt es dann nicht: "Ich gehe zur Ergotherapie", sondern "ich gehe klettern". Das motiviert auch Kinder, die schon viele Therapien hinter sich haben, sagt Prünte. Take 21 (Prünte) 0'17 Viele sind Therapie müde und brauchen etwas, was sie begeistert und wo sie trotzdem die Verhaltensweisen, die sie loswerden möchte oder wo sie etwas verändern möchten, dass sie das in einem Setting machen, wo sie Spaß dran haben. Und auch dann nur verankern sich diese Sachen im Gehirn... Sprecherin: Das Klettern verbessert nicht nur die motorische Leistungsfähigkeit der Kinder, sondern auch ihre Aufmerksamkeit. Sie können sich besser konzentrieren und sich selbst organisieren. Das zeigt eine wissenschaftliche Studie mit 23 ADHS-Kindern. Demnächst soll eine größere mit gut 100 Kindern folgen. Take 22 (Prünte) 0'27 ADHS-Kinder haben oftmals ganz wenig Ausdauer bei Dingen, die ihnen erstmal schwer fallen. Da ist es wirklich so, dass die beim Klettern lernen: Okay, erst sind es zwei Meter, beim nächsten Mal sind es drei Meter und beim fünften Mal klettere ich schon bis an die Decke und dieses Erfolgserlebnis, das schleift sich so ein, das wird so verinnerlicht, dass sie das dann auch in den Alltag übertragen, dann meist erst auf andere Sportgruppen und dann eben auch auf die Schule. Geräuschtake 13 Füße gut setzen. Wenn du die Füße gut setzt, kann den Armen nichts passieren... Sprecherin drüber: Die drei Jungen kraxeln nacheinander die Wand entlang. Ziehen Schnipsel aus der Tasche. Lesen laut vor, was darauf steht. Dann müssen sie die Zettel in eine zeitliche Reihenfolge bringen. Geräuschtake 14 Sprecherin: Irgendwann liegt Jason auf dem Boden und zieht Grimassen. Raphael ruft ihn zur Ordnung. Leon ist genervt, weil keiner zuhört. Katharina Prünte beschließt: Da hilft nur: Eine Runde Bouldern. Nach weiteren 10 Minuten sind die Zettel sortiert. Geräusch-Take 15 Große Halle... Sprecherin: In der großen Kletterhalle in der Nähe von Köln ziehen sich die Wände mehr als 16 Meter in die Höhe. Leon rennt sofort in die Mitte zur Artistik-Leiter, wie man sie aus dem Zirkus kennt. Eine freihängende Leiter aus dünnen Metallstreben: Geräuschtake 16 0'11 Jason: Ich möchte die klettern. K: Ja, dann könnt ihr ja zusammen eine Seilschaft bilden... Jason: Sicherst du mich? Leon: Ich mach zuerst okay, dann sicher ich. K: Okay, bindet euch ein. Sprecherin: Leon greift nach dem Sicherungsseil am Fuß der Leiter. Bindet sich mit einem Achterknoten ein. Katharina Prünte beobachtet unauffällig, nickt und sagt: "Dabei müssen sie sich konzentrieren, da gibt es keinen Kompromiss." Geräuschtake 17 Behrang: Alles klar: Auf geht's... Schön machst du das! Gut so! Sprecherin: Im Bistro der Kletterhalle sitzt Leons Mutter und beobachtet, wie ihr Sohn langsam die wackelige Leiter bis ganz nach oben klettert. Dann ein Zeichen gibt und sich wieder abseilen lässt. Take 23 (Mutter) 0'31 Ich bin total begeistert! Parallel mit diesen Kletterstunden hat er Schwimmen gelernt, der hat sein Seepferdchen geschafft, steht kurz vorm Bronze. Er hat parallel zum Kletterkurs fängt er an Skateboard zu fahren, haben wir vor einem Jahr auch schon mal ausprobiert, war unmöglich. Also, er fängt jetzt an, seinen Körper zu entdecken, seinem Körper zu vertrauen, auch mal festzustellen, dass der Körper was kann, - vorher war das ganz weit weg. Sprecherin: Ihr Sohn habe sich körperlich nichts zugetraut. Obwohl die Eltern immer wieder Angebote gemacht haben, erzählt Leons Mutter. Die Kinderärztin hatte den Tipp mit dem Klettern gegeben. Die Therapie müssen die Eltern allerdings selbst zahlen. Weil die Stunden nicht in Praxisräumen, sondern in einer privaten Kletterhalle stattfinden. Nach dem Klettern ist Leon richtig ausgepowert, ruhig, entspannt, sagt seine Mutter. Er komme dann mit weniger Medikamenten aus. Und auch sein Sozialverhalten ändert sich langsam. Take 24 (Mutter) 0'15 Der kriegt Verantwortungsgefühl - und das merkt man eben auch im Alltag. Ich kann ihn eben jetzt mit seiner fünfjährigen Schwester zum Brötchenkaufen schicken. Das hätte ich mich vor einem Jahr noch nicht getraut. (...) Das ist eben ein ganzheitlicher Sport, für Körper und Seele. Sprecherin: Und es ist ein Sport auch für Menschen mit körperlichen Handicaps. So wird Klettern, oder genauer: Bouldern, zum Beispiel auch in der Rehabilitation von Schlaganfall- Patienten eingesetzt. Kletterwände finden sich mittlerweile in Physio- und Ergotherapie- Praxen, in Behinderten-Einrichtungen oder Reha-Kliniken. Es gibt Blinde, die klettern. Und auch Rollstuhl-Fahrer. Geräuschtake 18 (Warmmachen) Gehen am Platz... Carmen: Ein Knie hoch, zur Seite drehen und wieder absetzen... leise: hoch, zur Seite absetzen... Sprecherin: Sonnabend Vormittag, aufwärmen im Schatten der Kletterwand. In der Leichtathletikhalle des Zentralen Hochschulsports in München. Geräuschtake 18 (Warmmachen) Dann Hüftbreit hinstellen und langsam auf die Zehenspitzen hoch, die Arme mitnehmen und ganz groß werden und bis zur Decke strecken, kurz halten... Sprecherin: Kletter-Trainerin Carmen steht im Kreis mit 12 Frauen und Männern. Die meisten tragen Sicherungsgurt und Kletterschuhe. Neben einigen liegt ein Gehstock auf dem Boden, andere haben ihren Rollator vor sich geparkt. Geräuschtake 18 (Warmmachen) kurz frei stehen Sprecherin: "MS on the Rocks" prangt auf dem knall-roten T-Shirt von Markus Hermann. Das ist der Name der Klettergruppe, die hier jeden Sonnabend trainiert. MS steht für Multiple Sklerose. Eine entzündliche Erkrankung des Nervensystems, bei der die Isolierschicht der Nervenzellen langsam kaputt geht. Die Folgen sind sehr unterschiedlich. Sie reichen von Bewegungs- und Koordinationsstörungen über Spastik bis hin zu Lähmungen. Symptome also, die Klettern als Therapie nicht unbedingt nahe legen. Das dachten anfänglich auch Markus Hermann und seine Mitstreiter. Take 25 (Markus) Der Sportstudent ist damals zu uns in die Stammkneipe gekommen, zur Selbsthilfegruppe, hat uns gefragt, ob wir bei einer Diplomarbeit mitmachen wollen, haben wir gesagt: Generell ja, um was geht's denn? Hat er gesagt: Therapeutisches Klettern. Da ham wir erstmal - gegrinst, gesagt: Wie soll das gehen? Sollen wir mit dem Rollstuhl, Rollator, Stützen an die Wand gehen und dann hochklettern? Dann hat er gesagt: Eigentlich genauso. Und genauso funktioniert es! Sprecherin: Markus Hermann sitzt selbst im Rollstuhl. Und er klettert. Heute allerdings kann er das nicht zeigen. Heute sind nur Carmen und Tobias zum Sichern da. Die anderen Helfer sind krank. Deshalb haben die beiden Kletter-Trainer fix einen Parcour aufgebaut, der kletterspezifische Fähigkeiten wie Gleichgewicht, Koordination oder Beweglichkeit trainieren soll. Zunächst soll über eine breite, dann über eine schmale Bank balanciert werden. Der jeweilige Trainingspartner hilft dabei. Take 26 (Carmen) Wenn ihr das geschafft habt, da vorne liegt dieses Seil am Boden. Am besten ohne Schuhe darauf lang balancieren, einfach dem Seil folgen, auch so eine kleine Balance- Übung... Andere: Meine Füße sind so hässlich... schallendes Gelächter... Sprecherin: Gelacht wird viel. Nicht die Erkrankung steht im Mittelpunkt des wöchentlichen Trainings, sondern das Klettern und der Spaß. Doro zum Beispiel stieß vor vier Jahren zur Gruppe: Take 27 (Doro) 0'42 Das hat mich so angekäst, nachdem die Diagnose kam und dieser ganze Medikamenten-Scheiß dann, ging es mir ziemlich schlecht und ich lag auch wirklich teilweise im Bett und ich hab mir gedacht: Ich mag nicht so enden. Dann ist auch meine Beziehung zu Ende gegangen, mein Ex konnte damit auch nicht zu recht kommen. Und das wars dann, wo ich gesagt habe, ich muss irgendwas tun und dann hab ich: Wurscht, dann hab ich langsam angefangen zu gehen, dann wurde es langsam zum Laufen, und so hab ich mich wieder so herangeangelt und dann bin ich so zum Klettern gekommen... abblenden Sprecherin: Doros Trainingspartner Ole hat Markus Hermann mit seinem "MS on the Rocks-Shirt" durch den Supermarkt rollen sehen. Zu einem Zeitpunkt, als Ole selbst extrem schlecht laufen konnte. Take 28 (Ole) 0'18 Also Wegstrecken von 100, 200 Metern war schon lang. Also, die Welt wird dann plötzlich sehr, sehr groß und ich hab für mich dann eine Sportart gesucht, um da wieder rauszukommen. Angefangen hab ich sogar eigentlich mit Krafttraining, irgendwo in eine Mucki-Bude gehen und einfach Kraft zu machen. Sprecherin: Doch die ewig gleichen, eintönigen Bewegungen wurden Ole schnell langweilig. Also schaute er bei "MS on the rocks" vorbei. Der 42jährige blickt auf die 14 Meter hohe Kletterwand an der Längsseite der Sporthalle: Take 29 (Ole) Wenn ich mir das dann überlege, am Anfang war das typischerweise diese Kante und zu Anfang vielleicht zur Hälfte geschafft. Ich glaube, es hat irgendwie ein Jahr oder so gedauert, bis ich mal wirklich oben angekommen bin. Da braucht man jetzt Ausdauer, dass man einfach dabei bleibt. Sprecherin: Auch Silvia musste ein Jahr trainieren, um bis nach ganz oben zu kommen. Sie hat seit über 22 Jahren MS und nutzt teilweise den Rollstuhl. Take 30 (Silvia) Mein Mann konnte immer nicht zuschauen, weil er gesagt hat: Um Gottes willen, aber ich habe gesagt: Das ist vertrauenswürdig gesichert, also da habe ich keine Angst. Sprecherin: Silvia klettert seit vier Jahren. Auch sie war schon ganz oben, am Kunstfels. Doch das klappt nicht immer, aufgrund ihrer fortgeschrittenen Erkrankung. Trotzdem macht ihr der Höhenrausch einfach Spaß. Take 31 (Silvia) ... mal geht's besser, mal geht's schlechter. Wenns gut geht: Euphorisch. Wenns schlecht ist - naja, vielleicht nächstes Mal besser. Geräusch-take 19 Carmen: Versuch dich ganz langsam zu bewegen... Noch weiter rüber schieben... (take läuft weiter) Sprecherin: Karolin balanciert von einem Tritt zu anderen. Auf einer etwa zwei Mal zwei Meter großen Platte, auf Griffe und Tritte geschraubt sind und die an einer Sprossenwand lehnt. Kletter-Trainerin Carmen korrigiert und gibt Tipps: Geräusch-take 19 Carmen: Die Ferse hängen lassen. Noch mehr rüberschieben. Schau mal, du bist jetzt noch sehr in der Mitte mit deinem Schwerpunkt, du musst den Schwerpunkt ganz über das linke Bein bringen. Sprecherin: Karolin hat auf Grund ihrer MS eine Fußhebeschwäche. Weil sie den rechten Fuß nicht mehr von selbst anheben kann, bindet sie beim Klettern ein Hundehalsband um ihren Oberschenkel, erzählt die 49jährige Take 32 (Karolin) 0'07 Und dann habe ich so eine Schlaufe, wenn ich klettere, damit ich mein Bein so hochziehen kann, weil das viel besser ist als mit der Hose, ja... Sprecherin: Von Hand zieht sie ihren Fuß auf den nächsten Tritt. Am Anfang war das Klettern schwierig, erinnert sich Karolin. Jetzt aber kraxelt sie sogar schon ein bisschen im Überhang. Und auch im Alltag geht vieles besser, im wahrsten Sinne... Take 33 (Karolin) Ich nehme jetzt sehr wenig die Krücke mit her - und da hätte ich früher nicht gemacht. Also, man kommt einfach viel schneller voran und ist nicht so geschafft beim Laufen. Und das finde ich sehr schön, ja. Und man hat irgendwie ein bisschen mehr Spannung in den Beinen, man läuft so ein bisschen mehr mit Schwung wieder. Man humpelt nicht, also man humpelt trotzdem noch, aber man hat wieder ein bisschen mehr Spannkraft und das ist sehr schön. Sprecherin: Eine Erfahrung, die so oder ähnlich fast alle hier machen: Sie gehen wieder besser. Eine "Nebenwirkung" des Kletterns gewissermaßen: Take 34 (Ole) 0'16 Und dann geht das mit dem Klettern besser und dann geht das im Alltag besser mit dem Laufen und dergleichen. Wegstrecken werden plötzlich wieder größer, die Welt wird wieder kleiner. Take 35 (Natalie) 0'32 Manchmal macht man es sich ja einfach und denkt: Nee, das schaff ich jetzt nicht, das kann ich jetzt nicht, weiß ich nicht, da auf einen Stuhl zu steigen ist mir zu anstrengend, aber wenn ich hier eine 14 Meter hohe Wand hochklettern kann, dann schaff ich genauso daheim auf einen Stuhl zu steigen und mir irgendwas aus dem Schrank zu holen. Take 36 (Peter) 0'10 Und dann ist das einfach schön, wenn man mal so ein paar Höhenmeter gewonnen hat, wo man sonst vielleicht nur einen Geh-Radius von 200 Metern hat, ist das einfach toll, wenn man da schon mal 10 Meter hochklettern konnte. 4