COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden Manuskript Kultur und Gesellschaft Kostenträger : P 62120 Organisationseinheit: 46 Reihe : Zeitreisen Titel : Katastrophenjournalismus. Wie die Medien auf Fukushima und die Folgen reagierten Autor : Arno Orzessek Redakteur : René Aguigah Sendung : 15.06.2011 / 19:30 Uhr Regie : Beate Ziegs Besetzung : Sprecher 1; Sprecher 2 (= Autor); Zitator Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 1. O-Ton Musik, etwa: Walkürenritt aus der Wagner-Oper Die Walküre, aufblenden, un- terlegen 2. O-Ton Reinhard Zöllner, Mitschnitt 44.08 "Natürlich ist die Berichterstattung auch über Fukushima ein Spiegel der Seelenlage in Deutschland." 3. O-Ton Frau am Telefon, DZ 416599 "Ich würde sagen, sofort wie möglich aus dieser Kernenergie raus." 4. O-Ton Holger Wormer, Interview-Mitschnitt, 5.07 "Wenn man Extremereignisse hat, dann sind die nie frei von Hysterie." 5. O-Ton Adolf Muschg, DZ 416589 "In anderen Zeiten hätte man gesagt: Kehret um, tuet Buße!" - 6. O-Ton Frau am Telefon, DZ 416599 "Also Abschalten, sofort!" 1. Sprecher Das Erdbeben, dessen Stärke je nach Quelle mit einer Magnitude von 7,9, später 8,8, schließlich mit 9,0 angegeben wurde, begann am 11. März 2011 um 14 Uhr 46 Ortszeit tief unter dem pazifischen Meeresboden. Es löste einen Tsunami aus, der auf die mehr als einhundert Kilometer weit entfernte Nordostküste Japans zurollte. 2. Sprecher In der ersten Meldung der Deutschen Presseagentur war von 5 Toten die Rede, bald von mindestens 18, dann von Hunderten. Die steigenden Opfer- und Vermisstenzahlen erinnerten an die Nachrichten Ende Dezember 2004, als ein Tsunami die Küste Indonesiens getroffen hatte. Für Momente schien es, als beträfe uns nicht unmittelbar, was in Japan geschehen war, mochte es auch viele betroffen ma- chen. 7. O-Ton ARD-Fernseh-Nachrichten-Sequenz über Erdbeben und Tsunami "Eine heftige Naturkatastrophe ist über Japan hereingebrochen. Die schwersten Erdstöße in der Geschichte des Landes ließen Gebäude einstürzen..." Abblenden, voice over 1. Sprecher In sozialen Netzwerken wie Twitter begann die Katastrophenkommentierung in Echtzeit. Die Web- Angebote der großen Medien wie "Spiegel online", "FAZ.Net" und "sueddeutsche.de" richteten kurzfristig Live-Ticker ein; die Leser-Foren dokumentierten die Meinungsbildung der Menschen vor den PC-Monitoren. Fernsehsender kündigten Sondersendungen an. Das "Erste" ersetzte Giraffe, Erdmännchen und Co. durch eine "Tagesschau extra". Das "Zweite Deutsche Fernsehen" sendete am Abend ein "ZDF-Spezial". 2. Sprecher Anders als die Umgangssprache verspricht, gibt es im Medienalltag weder die eine Öffentlichkeit im Singular, noch die öffentliche Meinung. Die digitalisierte Gesellschaft ist in Teilöffentlichkeiten zer- streut, jeder orientiert sich nach seiner Façon und nach den Vorlieben seines Milieus. Die Medienre- aktionen auf die Katastrophe vom 11. März 2011 lassen sich deshalb noch weniger in eine repräsentative Gesamtschau integrieren als die nach dem 11. September 2001. Immerhin: Tendenzen und Muster bleiben erkennbar. 8. O-Ton Musik, Trauermarsch Our Prayer, Albert Ayler 9. O-Ton ARD-Nachrichten-Sequenz vom 12. März, abblenden "Guten Abend, meine Damen und Herren, Nach dem schweren Beben und dem Tsunami in Japan hat sich in Situation im beschädigten Atomkraftwerk Fukushima zugespitzt...." 1. Sprecher Alarmstimmung lösten die Meldungen aus, in Japan seien mehrere Atomkraftwerke und namentlich das AKW Fukushima-Daiichi beschädigt. Überall wurden sofort Kompetenzen zur Gefahrenabschätzung mobilisiert. Der viel gefragte und souveräne Nuklearexperte Michael Seiler vom Öko-Institut Freiburg war der Wissenschaftler der Stunde. Gleichzeitig zeigte sich in den Me- dien Angstlust und Übergeschnapptheit. Die Satire-Zeitschrift "Titanic", die sich vorübergehend als "das endgültige Brennpunktmagazin - Pflichtblatt für Sonderausstrahlungen" bezeichnete, berichtete in einem "Live-Ticker Live-Licker" online über die gemutmaßten Zustände in livetickernden Online- Redaktionen. Noch am Unglückstag begann ein Prozess mit starker Eigendynamik, nämlich die Ein- deutschung der Katastrophe im Zeichen des Atoms... Was bedeutet Fukushima für uns? Direkt am Tag nach dem Erdbeben sagte Außenminister Westerwelle: 10. O-Ton, Guido Westerwelle, Pressekonferenz 12.03.2011 "Unsere Experten werden jetzt beraten, ob es weitere Konsequenzen gibt, die aus dem Unglück in Japan zu ziehen sind, für unsere eigene Sicherheit Konsequenzen zu ziehen wären... Was wir für unsere eigene Sicherheit lernen können, das werden wir nicht nur lernen, sondern auch zügig umsetzen, denn die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger hat die allerhöchste Priorität." 2. Sprecher Japan beklagte Zehntausende Tote und Vermisste, Hilfskräfte kämpften ums Überleben Hun- derttausender im Katastrophengebiet, die meisten Unglücks-Reportagen waren noch gar nicht ver- fasst - im strahlenfreien Deutschland aber wurde bereits Atompolitik gemacht, sei es aus Oppor- tunismus oder ernster Sorge. Am 12. März kündigte die Bundeskanzlerin Sicherheitschecks für alle deutschen AKW an. Ein Zufall wollte es, dass sich in Baden-Württemberg, wo hochaktive Wutbür- ger leben, 60.000 Atomkraftgegner ohnehin zur Menschenkette zwischen Stuttgart und dem AKW Neckarwestheim verabredet hatten - angesichts nahender Landtagswahlen ein Fanal. Am 14. März verkündete die Bundesregierung das Atom-Moratorium, sieben ältere AKW gingen vom Netz, Pro- blemkraftwerk Krümmel blieb abgeschaltet; das Ausland rieb sich die Augen. Papier-Zeitungen wirkten auf Nutzer von Online-Medien in dieser Zeit schon morgens leicht angegraut. Und Kanzlerin Merkel blickte entschlossen in die Zukunft: 11. O-Ton, Musik, etwa: We shall overcome, instrumental 12. O-Ton Merkel, Pressekonferenz 14. März 2011 "Damit kein Zweifel entsteht: Die Lage nach dem Moratorium wird eine andere sein als die Lage vor dem Moratorium. Wir werden in der Zeit des Moratoriums ausloten, wie wir den Weg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien forcieren und dieses Ziel noch schneller erreichen." - 13. O-Ton Reinhard Zöllner, 23.23 "Wirklich überraschend war halt für mich, dass es im Grunde in der Politik von Anfang an weniger um Japan ging als um, was machen wir jetzt in Deutschland daraus. Und das selbst minimale Zeichen einer Solidarität, gerade in dem Jahr, wo wir das 150jährige Jubiläum der deutsch-japanischen Beziehungen eigentlich feiern wollten, dass diese Zeichen einfach fehlten." 1. Sprecher So der Japanologe Reinhard Zöllner. Er hielt sich im März in Tokio auf, verfolgte die japanische und deutsche Berichterstattung gleichermaßen und wurde von hiesigen Medien als Gesprächspartner frequentiert. 14. O-Ton Reinhard Zöllner, 6.11 "Dann hat man eben nicht mehr gefragt, wie viele Menschen sind da oben in Nordost-Japan jetzt noch übrig, die man retten muss. Sondern: Warum wird Tokio nicht evakuiert? Das kam dann ungefähr ab dem 13. März so massiv in den Vordergrund bei den meisten Gesprä- chen..., dass ich mich schon fragte: Wie ist die Wahrnehmung in Deutschland? Was ist da passiert? ... und fand das Bild dann doch relativ erschreckend." - 2. Sprecher Die Fukushima-Berichterstattung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen - einflussreich aufgrund der hohen Einschaltquoten bei Nachrichtensendungen -, wies große Qualitätsschwankungen auf. Der Spartenkanal "Phoenix" lieferte tagelang bestechend viel Inhalt, erkauft mit bedauerlich viel Leerlauf und Redundanz. Die Fachkompetenz der "ARD" im eigenen Hause verkörperte der Physiker und Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar, der vor der Kamera so beflissen über Kraftwerkstechnik referierte, als sei ganz Deutschland eine Schule. Die sendereigene Scheinkompetenz verkörperte Ro- bert Hetkämper. Der Südostasien-Korrespondent gab, die Reaktoren im Hintergrund, wechselhafte Gemütseindrücke zum Besten und setzte als Gefühls-Stellvertreter der Daheimgebliebenen an vorderster Front die deutsche Atom-Besorgtheit ins Bild. 1. Sprecher In der "WDR"-Sendung "Aktuelle Stunde" vom 17. März erläuterte Hetkämper, dass die Firma Tepco, Betreiber des Atomkraftwerks Fukushima 1, bemitleidenswerte Lakaien zu Rettungsarbeiten in die strahlenden Reaktorruinen schickt: Erstes Zitat, Hetkämper im "WDR" "Es sind oft Obdachlose. Es sind sehr viele Gastarbeiter, es sollen sogar Minderjährige dabei sein, die seit Jahren dort immer wieder angeheuert werden und dann, wenn sie eine Zeit lang dort gearbeitet haben und halbwegs verstrahlt sind, gefeuert werden. Wegwerfarbeiter hat man sie hier in Japan genannt." 2. Sprecher In Internetforen wurde sofort bestritten, dass Ungelernte bei Rettungsarbeiten in High-Tech-Anlagen wie Atomkraftwerken nützlich sein können. Dennoch breitete sich, vielleicht in Erinnerung an die Liquidatoren von Tschernobyl, der Begriff "Wegwerfarbeiter", schnell aus - ob er angemessen ist, blieb umstritten. Andere Medien sprachen pathetisch von den "Fukushima 50". Japan-Korres- pondent Christoph Neidhart ging in der "Süddeutschen Zeitung" ihrer Identität nach und resümierte: "Obdachlose Wegwerfarbeiter waren es nicht." 1. Sprecher Reinhard Zöllner, der anders als Robert Hetkämper japanisch spricht, fand dessen Performance vor der Kamera dürftig. 15. O-Ton Reinhard Zöllner, 17.06 "Wenn so jemand wie Hetkämper in diese Region geschickt wird, dann erwartet man von ihm einfach einen bestimmten Habitus. Und den hat er geliefert. Er hat sachlich kaum Ahnung... Aber er hat eine Pose eingenommen, verkörpert, die eben dem deutschen Zuschauer Kompetenz vermitteln sollte. Und dagegen konnte man argumentieren, wie man wollte, das hat die Medienverantwortlichen wenig beeindruckt." 2. Sprecher Robert Hetkämper führte während einer Live-Schaltung ein Telefongespräch zu Ende; er beurteilte die Kühlungsversuche in den Reaktoren im Stile eines Hobbygärtners, der die Klimaerwärmung analysiert; er geizte mit Landeskenntnissen... und wurde in der Harald Schmidt Show, ebenfalls "ARD", gegen sich selbst ausgespielt. 16. O-Ton Hetkämper Best-Of in der Harald Schmidt Show "Wenn ich mir angucke, dass nun plötzlich auch noch der Reaktor Nummer vier brennt. Der liegt seit Tagen still. Warum brennt der jetzt? -... - Es sind noch 50 Arbeiter da, ich frage mich, was die eigentlich tun. Es wirkt ein bisschen wie der Führerbunker am Ende des Weltkriegs. - Es klingt mir nicht so, als sei dort eine Verstrahlung in dem Sinne schon passiert. Aber wer weiß?" Zweites Zitat, Tweed Oliver Reichenstein "To us, right now, the apocalyptic headlines don't help, the politics don't help, the fear doesn't help. Facts help. Save opinion for later." 1. Sprecher "Die apokalyptischen Schlagzeilen helfen uns jetzt gar nicht, die Politik hilft nicht, die Furcht hilft nicht. Fakten helfen. Spart die Meinungen für später auf." So twitterte der in Tokio lebende Oliver Reichenstein mitten hinein ins Flimmern und Rauschen: 17. O-Ton Musik, Inga Humpe, Yama-ha 2. Sprecher Viele Journalisten fanden Geschmack an Kulturpsychologie. Hauptgegenstand: der unbekannte Japaner. Hatten Reporter zunächst emotionale Reaktionen - Entsetzen, Panik, Fluchtreflexe - einfangen wollen und deren Vorhandensein mit Blick auf die freigesetzte Radioaktivität vorausgesetzt, überwog bald das Staunen über die Gefasstheit vieler Betroffener. "Tapfere Japaner trotzen der Apokalypse", lobte die "Financial Times Deutschland". Zu journalistischen Spekulationen über den Nationalcharakter - Kamikaze- und Samurai-Klischees fehlten nicht - trat die Expertise der Fach- leute. Der Sozialwissenschaftler Stefan Strohschneider erklärte in "DeutschlandRadio Kultur": 18. O-Ton Stefan Strohschneider, DZ 412733 "In der arabischen Welt drückt man psychische Zustände sehr sehr deutlich aus. Es gibt Heulen und Weinen und Wehklagen und Zähneklappern und was weiß ich. Japan ist in dieser Hinsicht eine extrem zurückhaltende Gesellschaft, die psychische Zustände vom Einzelnen eigentlich - es wird erwartet, dass er sie gar nicht ausdrückt." 1. Sprecher Noch hintergründiger erfasste der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg, dessen Sohn in Tokio lebt, den Umgang der Japaner mit der Katastrophe. 19. O-Ton Adolf Muschg, DZ 416589 "Das ist kein Mut. Das ist eine Art von Selbstverständlichkeit.... Japan schämt sich für die Katastrophe. Das hätte nicht passieren dürfen. Sie hat ja einen sehr weitreichenden, fast kollektiv-psychischen Hintergrund.... Es gibt Atommeiler, die mit dem Wort Hiroshima angeschrieben sind, die die Inschrift Frieden tragen. Diese Friedfertigkeit zusammen mit dem Aufholen und Überholen der meisten anderer westlichen Zivilisationen, was die Technologie angeht, das war eine ganz besondere Leistung. Und wenn diese Leistung jetzt so ungeheuer- lich scheitert, ist das eigentlich viel schlimmer für die meisten Japaner, als wenn die Radioaktivität eine bestimmte Höhe überschreitet." 2. Sprecher Wie stets bei Verallgemeinerungen, die Nationen und Nationalcharakter betreffen, verlief die Grenze zum Klischee unscharf, Projektionen blieben nicht aus. Vertretern der japanischen Regierung und der Firma Tepco, die sich bei Pressekonferenzen mit starrer Miene zeigten, legte man die ansonsten gelobte japanische Gefasstheit als technokratische Kälte aus. 1. Sprecher Erhellend ist ein Vergleich. Nach 9/11 wurden die Feuerwehrmänner, die in die brennenden Twin Towers eilten, und die Passagiere, die im vierten entführten Flugzeug auf die Terroristen losgingen, zum Spiegelbild amerikanischer Mentalität: ein Volk tapferer und opferbereiter Alltagshelden. Die Stilisierung gelang auf beiden Seiten des Atlantiks, weil sie ohnehin populär ist. Nach dem 11. März 2011 zeigte sich, dass den hiesigen Medien Japan zu unvertraut ist, um auf ähnlich repräsentative Bilder zurückzugreifen. Die USA und Europa teilen viele Mythen des Alltags, Deutschland und Japan weit weniger - wie auch am Medienecho auf den Besuch Guido Westerwelles in Tokio sichtbar wurde. 20. O-Ton Zöllner, ca. 24.10 "In den deutschen Medien hieß es, er habe einen Solidaritätsbesuch abgestattet und den Japanern versichert, Deutschland stehe an Japans Seite. In den japanischen Medien wurde berichtet, Westwelle habe von seinen japanischen Kollegen verlangt, Japan solle endlich die Daten offen legen, damit man sich endlich auch international ein Bild machen könne, was das passiert." O-Ton Musik, Beatles, Let it be 2. Sprecher Die Katastrophe in Japan wurde, wie offenbar in aller Welt, auch in den deutschsprachigen Medien zweigeteilt. Erdbeben und Tsunami wurden nach den Standards des Katastrophenjournalismus behandelt, der abflaut, wenn keine eklatanten Neuigkeiten nachkommen. Am 23. März schloss die "Tagesschau" "zeitweilig" ihren Katastrophen-Liveticker. Der Grund: "Derzeit gibt es nur wenig neue Nachrichten aus Japan." Die Reflexionen über Fukushima nahmen dagegen zu, zumal weiterhin ein Super-GAU drohte. Gleichzeitig verstärkte sich die innerdeutsche Atom-Diskussion - nach dem Motto: Das Unglück dort, die Relevanz hier... eine Entwicklung, die Holger Wormer, Professor für Journalistik an der Technischen Universität Dortmund, nicht überrascht. 21. O-Ton Wormer, 4.43 "Es gab ja nicht lange zuvor die letzte Kontroverse eben in der Debatte um die Laufzeit- verlängerung. Insofern ist es fast eine natürlich Folge, dass die Debatte auch sehr schnell eine deutsche und europäische wurde." 1. Sprecher In Japan wurden laut Reinhard Zöllner unterdessen suspekte Seiten der deutschen Selbstbe- züglichkeit bemerkt. 22. O-Ton Reinhard Zöllner, 31.31 "Kommentare wie ,die Japaner fahren da jetzt wohl mit Wasserwerfern gegen Atom- kraftwerke auf', das wäre ja wohl die unterste Kiste des technischen Versagens, solche Kommentare hat man auch nicht als besonders hilfreich empfunden, weil man ... nicht gesehen hat, was denn die Deutschen in so einer Situation besser gemacht hätten." 2. Sprecher Die Atom-Diskussion emanzipierte sich von der Naturkatastrophe, doch durch bildliche Dar- stellungen mischte sich wieder, was nicht zusammengehört. 23. O-Ton Reinhard Zöllner "Da wurde im Text berichtet, semantisch berichtet über die Nuklearkatastrophe und das ganze kombiniert mit Aufnahmen von durch den Tsunami verwüsteten Gebieten, was sachlich überhaupt nicht zusammengehörte, aber natürlich im Auge des Betrachters solche Assoziationen weckte, die in eine, aus meiner Sicht, völlig falsche Richtung ging." 1. Sprecher Auf "Zeit-online" veröffentlichte Florian Illies einen Text, der mit einem Foto der Wasserstoffex- plosion in Fukushima illustriert war: Drittes Zitat, Illies, "Zeit online" "Das ist der ,Iconic Turn'. Weil die Welt gesehen hat, wie ein Atomkraftwerk explodiert, ist der Glaube an die Beherrschbarkeit der Technik zerstört. Das Bild im Kopf ist zu stark." 2. Sprecher Illies' Interpretation war doppelt irreführend. Nicht das AKW war explodiert, die Wasser- stoffexplosion hatte das Reaktor-Dach weggesprengt. Und die ganze "Welt", die der "Zeit"-Autor vereinnahmte, verlor ihren Glauben keineswegs. Signifikant am Illies-Artikel war indessen die Wort- Bild-Verbindung, die den Journalisten offenbar fest an die eigene These glauben ließ. Das Bild im Kopf war tatsächlich zu stark. 24. O-Ton Musik, etwa ACDC, Highway to hell 1. Sprecher Überhaupt verschlug das Unglück manchem die nüchterne Sprache. Der apokalyptische Tonfall, die rhetorische Allzweckwaffe des Katastrophenjournalismus, aber auch des Politiker-Sprechs, hatte Hochkonjunktur. Der "Stern" brachte eine Titelgeschichte mit fünfzehn doppelseitigen Fotos, über dem ersten stand theatralisch: "Die Apokalypse". Von "Apokalypse" schrieben auch die "Bild"-Zei- tung, die "BZ", die "Ostseezeitung" und ungezählte andere. Im "Spiegel" vom 14. März hieß es: Viertes Zitat, "Spiegel" "Wenn die Erde, das Meer und die Atomkraftwerke des Inselreichs [Japan] zugleich zu einer tödlichen Gefahr werden, dann hat diese Bedrohung etwas Apokalyptisches. Dann wirkt es, als sei unsere Zivilisation in Gefahr, unsere Art zu leben." 25. O-Ton Zöllner 6.56 "Da hatte ich schon den Eindruck, dass... die frühen Aussagen, da finde eine Apokalypse statt, so ungefähr waren, als hätte man Japan zunächst mal einen Totenschein ausgestellt, anschließend versucht, die Leiche zu obduzieren, und danach überlegt, wie man noch erste Hilfe leisten könnte." O-Ton Musik, Mozart, Requiem, Dies irae Fünftes Zitat, Offenbarung des Johannes, Kapitel 6 und 8 "Da ward ein großes Erdbeben, und die Sonne ward finster wie ein schwarzer Sack [...], und alle Berge und Inseln wurden bewegt von ihrer Stätte. [...] Und da geschahen Donner und Stimmen und Blitze und Erdbeben." [Voice over Sprecher.] 2. Sprecher Der Siegener Germanist und Historiker Klaus Vondung hat den "Spiegel"- Artikel mit der Offenbarung des Johannes verglichen und Parallelen in der Bildsprache identifiziert. Weiter fünftes Zitat, Offenbarung des Johannes "Und es ward Hagel und Feuer, mit Blut gemengt, und fiel auf die Erde, und der dritte Teil der Erde verbrannte, und der dritte Teil der Bäume verbrannte, und alles grüne Gras verbrannte. [...] Und es fuhr wie ein großer Berg mit Feuer brennend ins Meer, und der dritte Teil des Meeres ward Blut, und der dritte Teil der lebendigen Kreaturen im Meer starb, und der dritte Teil der Schiffe ging zugrunde [...]. Und der dritte Teil der Wasser war Wermut, und viele Menschen starben von den Wassern." 2. Sprecher Im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" las man: Sechstes Zitat, Spiegel "Mit gnadenloser Wucht riss der Tsunami alles mit [...]. Und immer vorweg diese riesige Schmutz-, Müll- und Schrottlawine, in der ganze Dörfer zu Schutt zermahlen wurden. Es war, als versinke Japan [...] im Meer oder in Erdspalten [...]." 26. O-Ton Klaus Vondung, 12.50 "Es hilft nicht, wenn wir über die Katastrophe in Japan vor allem mit Blick auf den Re- aktorunfall von einer Apokalypse sprechen. Denn bei der Apokalypse schwingt ja immer noch mit, dass das etwas ist, was dem menschlichen Zugriff entzogen ist, der von Gott gewirkte Untergang... Wenn man das jetzt auch noch überträgt auf den Atomunfall im Kraftwerk Fukushima, dann impliziert das auch so ein bisschen davon: Ja, da kann man nichts machen. Und das ist ja nun nicht der Fall." - 27. O-Ton Musik, Johann Sebastian Bach, Matthäus-Passion 1. Sprecher Noch während der Fukushima-Debatte rückte die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, die sich im April zum 25sten Mal jährte, in den Blickpunkt. Der deutsche Kinostart von Es geschah an einem Samstag, dem Tschernobyl-Film von Regisseur Alexander Mindadze, wurde vorgezogen. Es wurde viel erinnert - in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" schrieb Ferdinand Schuller nach einem Tschernobyl-Besuch vom "apokalyptischen Puppenhaus mit bunten Männchen" -, weniger jedoch strukturell verglichen; vielleicht war die Zeit noch nicht gekommen. Fukushima- und Tschernobyl- Berichte kommentierten einander wortlos. Deutlich wurde, wie unterschiedlich die Medien-Karriere beider Katastrophen verlief. Während aus Fukushima von Anfang an live übertragen wurde, traktierte die Botschaft vom Super-Gau in der Sowjetunion die westliche Welt als unheimliche Ver- mutung und Gerücht, nachzuvollziehen an "Deutschlandfunk"-Nachrichten vom 29. April 1986. 28. O-Ton, Deutschlandfunk, DZ 299416 "Bereits am Sonnabend, meine Damen und Herren, soll sich nach Ansicht westlicher Exper- ten das schwere Reaktorunglück im sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl nördlich von Kiew ereignet haben, das die amtliche Nachrichtenagentur TASS erst gestern Abend mit einer dürren, aber vieldeutigen Meldung bestätigte, nachdem in Skandinavien, über 1000 Kilometer vom Unglücksort entfernt, eine Radioaktivität in der Luft gemessen worden war, die bis zum Zehnfachen über dem Normalwert lag." 2. Sprecher Als Wolken mit radioaktivem Fallout Deutschland erreichten, breitete sich 1986 eine existenzielle Betroffenheit aus, die 2011 erklärlicherweise fehlte, sofern sie nicht reflexhaft nachgeahmt wurde. 1986 lauteten typische Schlagzeilen: "Cäsium lässt sich nicht aussitzen", "Kinder weg von Spielplätzen", "Die Strahlung kann im Gras stecken", "Die Weiden meiden", "Ratlose Hausfrauen vor Salat und Spinat". 29. O-Ton Kinderstimme, DZ 212480 "Unsere Familie ist jetzt immer zu Hause. Die haben fast alle Angst. Weil es jetzt zuviel Radioaktivität gibt." 30. O-Ton Kinderstimme, DZ 212484 "Alle denken, das ist sicher. Wie bei Challenger. Und dann ist die doch explodiert. - Das wird noch öfter vorkommen." 31. O-Ton Kinderstimme, DZ 212484 "Ich möchte noch leben. Die Welt ist ganz schön. Es gibt alles Mögliche, Spiele und so. Man kann alles machen." 32. O-Ton Kinderstimme, DZ 212484 "Wenn ich derjenige wär', der in Moskau, also der Kremlchef - ich würde andere Länder um Hilfe bitten, und Unterstützung. Technologie." 1. Sprecher Waren diese Kinder einer Kölner Gesamtschule, die im "Deutschlandfunk" zu Wort kamen, Opfer öffentlicher Panikmache? Hatten die Grünen mit ihrer Intervention "Tschernobyl ist überall" überzogen? 33. O-Ton Joschka Fischer, Umweltminister von Hessen, DZ 212422 "Ach, wissen Sie, das Schlimme finde ich nicht, dass die Lage ungeheuerliche dramatisiert wird, sondern das Schlimme finde ich, dass... die Bundesregierung nichts besseres zu tun hatte, als zu verkünden: Es ist alles ganz harmlos. Dass sich Herr Riesenhuber hinstellte und sagte, ... bei uns wird nichts passieren, so das Wetter mitspielt. Das Wetter hat nicht mitgespielt.", 2. Sprecher ... erklärte der damalige hessische Umweltminister Joschka Fischer. Heute ist erkennbar, dass sich viele Mutmaßungen und Hoffnungen der Grünen von 1986 erst 25 Jahre später verwirklicht haben. Der Augenschein spricht dafür, dass ihr historischer Wahlerfolg in Baden-Württemberg 2011 mit Tschernobyl zumindest mittelbar und mit Fukushima unmittelbar zu tun hat - obwohl die Bundesregierung dieses Mal nichts verharmloste, eher im Gegenteil. 1. Sprecher Wie immer bei dominanten Themen setzten auch zum Komplex Fukushima innerhalb der Medien bald Selbstbespiegelungen und gegenseitiges Belauern ein, eine Parade-Disziplin der Feuilletonisten. Siebtes Zitat, Claudius Seidl, FAZ.online "Wer so tut, als ob wir hier die Opfer wären, der ist halt nicht bloß hysterisch. Sondern zeigt auch, wie ignorant, egozentrisch und unfähig zu den eigentlich elementaren menschlichen Gefühlen des Mitleids und der Empathie er ist", 2. Sprecher ... polemisierte Claudius Seidl in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" und benannte auch Ignoranten und Egozentriker in der Branche, darunter die "Bunte" die reißerisch von der Angst hiesiger Prominenter nach dem Unglück berichtet hatte. Unter dem Titel "Apokalypse jetzt! Wir Deutschen sollten uns schämen", verfasste Reinhard Zöllner in der Tageszeitung "Die Welt" eine "Empörung". Achtes Zitat, Reinhard Zöllner, Welt online, 28. März 2011 "Hysterie, Unprofessionalität und vor allem Gefühl- und Taktlosigkeit bis zum Zynismus: das war das ganz besondere Markenzeichen der deutschen Reaktion." 1. Sprecher Solche Beschuldigungen ließ Frank Schirrmacher, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, nicht durchgehen. Nach der Baden-Württemberg-Wahl konstatierte Schirrmacher, dass sich "die Deutschen in Wahrheit gerade wie sehr vernünftige Menschen verhalten": Neuntes Zitat, Frank Schirrmacher, FAS vom 3. April 2011 "Niemand hat sich eine Arche gebaut, keine Hamsterkäufe fanden statt, Jodtabletten sind in Deutschland nicht ausverkauft [...]. Wieso also stellt man das Land wie eine Bande durchge- knallter Teenager dar, die einander bei einer DSDS-Autogrammstunde fast zu Tode tram- peln?" 2. Sprecher Alles im grünen Bereich also mit Blick auf Fukushima? Aufs Ganze gesehen und gemessen an den eigenen Mediennutzungsgewohnheiten fällt der Journalistik-Professor Holger Wormer, der studierter Chemiker ist, ein günstiges Urteil. 35. O-Ton Holter Wormer, Interview-Mitschnitt 8.33 "Aus naturwissenschaftlicher Sicht spricht überhaupt nichts dagegen, die Debatte so zu führen, wie sie in Deutschland geführt wurde." 2. Sprecher Reinhard Zöllner bleibt mit Blick auf die Presse gespalten. 36. O-Ton Reinhard Zöllner, Mitschnitt, 45.39 "Nehmen wir mal ,Die Zeit', die ,Süddeutsche', die ,NZZ', die haben eigentlich recht vernünftig berichtet. Von der ,FAZ' war ich in diesem Fall hoch enttäuscht. Vom ,Spiegel' erwartet man es nicht anders, weil es das Prinzip des ,Spiegel' ist." 1. Sprecher Warum aber hat Deutschland, insgesamt offenbar gut informiert, aus Fukushima so viel schärfere Konsequenzen gezogen als andere Länder dieser Welt? Ist die german Angst, die auch im Englischen so heißt, nur ein Medien-Klischee? Oder doch eine nationale Pathologie? 37. O-Ton Holger Wormer, Mitschnitt ca. 26.50 "Das ist ein Totschlag-Argument. Ihr seid ja nur hysterisch. Ihr seid ja die Deutschen. Ende Gelände. Brauch ich nicht mehr zu debattieren." 38. O-Ton Reinhard Zöllner, Mitschnitt 47.20 "Einerseits ist es natürlich etwas, was im Diskurs herbeigeredet wird. Andererseits ist es... schon so, dass viele Deutschen eine Art Trauma erlitten haben während Tschernobyl... Die Reaktionen, die ich etwa bekommen habe... von ganz normalen Menschen, die ... waren teilweise sehr sympathisch, aber teilweise schon am Rand der Pathologie." 39. O-Ton Holger Wormer, Mitschnitt ca. 24.00 "Diese german Angst... halte ich für ein Konstrukt. Und die Frage ist ja auch: ...Ist es wirklich so irrational, nach so einem Ereignis darüber nachzudenken, ob es Alternativen gibt?" 40. O-Ton, Musik etwa Gabriele Fauré, Requiem, "In paradisum" oder Ein Deutsches Requiem, Johannes Brahms aufblenden, voice over 2. Sprecher Unbestreitbar ist, dass die hiesige Fukushima-Bewältigungsgemeinschaft aus Journalisten, Politikern und Wählern einen visionären Plan entwickelt hat, sei er auch heikel und umstrittenen: Raus aus der Atomkraft, rein in die Erneuerbaren. Gelingt das auch nur einigermaßen, hätte die japanische Katas- trophe etwas Seltenes und Vernünftiges bewirkt: Ein Land hätte aus Erfahrungen gelernt, die es nicht selbst gemacht hat; die Eindeutschung der Katastrophe würde im künftigen Rückblick wohl als verantwortungsbewusste Reaktion gewertet werden. 1. Sprecher Vielleicht birgt sogar das oberflächliche Apokalypse-Gerede einen tieferen Sinn. In neu- testamentlicher Bedeutung ist ,die Apokalypse' keine banale Untergangsfloskel, sondern spricht den Untergang als Übergangsphase an, auf die eine helle Zukunft folgt, wie der Historiker Klaus Von- dung betont: 41. O-Ton Klaus Vondung, Mitschnitt 20.42 "Man könnt das so sehen, dass gewissermaßen die Apokalypse in ihrer ursprünglichen Ver- sion, nämlich als eine Erlösungsvision zurückkehrt. // Wir schaffen ein Atomkraftwerk-freies Deutschland nur noch mit Solarenergie und Windkraftwerken und haben hier eine gewisse Form des irdischen Paradieses geschaffen." 1. Sprecher Adolf Muschg gab im Radio zu bedenken: 43. O-Ton Adolf Muschg, DZ 415589 "Das Warnsignal, das kam vielleicht - das klingt zynisch -, aber es kam vielleicht zur rechten und zur letzten Zeit." 3