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Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503- KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe: Zeitfragen/Literatur Titel der Sendung: "Der Atem des Vergessens" - Der britische Schriftsteller Kazuo Ishiguro und sein neuer Roman Autor/in: Thomas David Redakteurin: Dorothea Westphal Sendetermin: 06.11.2015 Besetzung: Erzähler (Kommentar), Sprecher (Ishiguro OV/Zitate), Sprecher 2 (Graham Swift OV), Sprecher v.D: (John Carey OV) Regie: Beate Ziegs Ton: Andreas Narr Der Atem des Vergessens Der britische Schriftsteller Kazuo Ishiguro und sein neuer Roman Wortspiel Autor: Thomas David Redaktion: Dorothea Westphal Aufnahmeleitung: Technik: Sprecher 1 = Erzähler Sprecher 2 = Kazuo Ishiguro/Zitator Sprecher 3= John Carey Sprecher 4 = Graham Swift Musik (Pärt: "Miserere") "Miserere mei"" Atmo 1 (Lesung: "The Buried Giant") "You would have searched a long time for the sort of winding lane or tranquil meadow for which England later became celebrated." Musik (Pärt: "Miserere") "Secundum magnam" Ishiguro "Nach den kurvenreichen Sträßchen und beschaulichen Wiesen, für die England später berühmt wurde, hättet ihr lange gesucht." Musik (Pärt: "Miserere" ) Ishiguro "Gefunden hättet ihr stattdessen endlose Weiten, ödes, unbestelltes Land; hier und dort einen Saumpfad über felsiges Bergland, durch karges Moor." Atmo 2 (Lesung: "The Buried Giant") "Icy fogs hung over rivers and marshes, serving all too well the ogres that were then still native to this land." Musik (Pärt: "Miserere") "Et" Ishiguro "Die von den Römern zurückgelassenen Straßen waren bis dahin meist schon geborsten oder überwuchert, oft von der Wildnis zurückerobert." Musik (Pärt: "Miserere" 1/1 - 1.57) Ishiguro "Über Flüssen und Sumpf hing ein eisiger Nebel, was den Menschenfressern, die es damals noch gab, nur allzu gelegen kam." Erzähler "Der begrabene Riese" ist der Titel des neuen Romans des 1954 in Nagasaki geborenen und seit Anfang der sechziger Jahre in England lebenden Schriftstellers Kazuo Ishiguro. Darin liegt Nebel über weiten Teilen Britanniens, des alten, von Menschenfressern, Kobolden und Dämonen bevölkerten Sagenreichs, in dem Ishiguros Roman spielt. Musik (Pärt: "Miserere") "Amplius" Erzähler Seit dem Tod König Artus', der Britannien nach dem Abzug der römischen Besatzer befriedet hatte, schwelen längst vergangene Kriege wieder auf, Zwietracht zwischen den Volksstämmen der Briten und Sachsen. Spuren der Verwüstung durchziehen das Land. Dem unabwendbaren Niedergang haben die in einfachen Behausungen lebenden, von einer rätselhaften Amnesie befallenen Menschen nichts entgegenzusetzen. Atmo 3 (Lesung: "The Buried Giant") "I have no wish to give the impression that this was all there was to the Britain of those days." Ishiguro "Es ist nicht meine Absicht, euch den Eindruck zu vermitteln, dass das Britannien jener Tage nicht mehr zu bieten hatte; dass wir hierzulande kaum die Eisenzeit überwunden hatten, während in anderen Teilen der Welt große Kulturen erblühten." Atmo 4 (Lesung: "The Buried Giant") "Had you been able to roam the countryside at will, you might well have discovered castles containing music, fine food, athletic excellence." Ishiguro "Hättet ihr die Möglichkeit gehabt, nach Belieben durchs Land zu streifen, so hättet ihr Burgen entdeckt, in denen es Musik, gutes Essen, herausragende Athleten gab; oder Klöster, deren Bewohner ins Studium vertieft waren." Musik (Pärt: "Miserere") Erzähler Als sich Axl und Beatrice, ein altes, am Rande einer kleinen Siedlung lebendes Paar, auf den beschwerlichen Weg zu einem mehrere Tagesreisen entfernten Dorf begeben, in dem sie ihren Sohn vermuten, ahnen sie nicht, dass sie zugleich dem Ende ihrer gemeinsamen Lebensreise entgegengehen. Axl und Beatrice sind die beiden Hauptfiguren von Ishiguros Roman. Sie haben nur vage Erinnerungen an ihren Sohn, den sie lange nicht mehr gesehen haben und der im Nebel des Vergessens unwiederbringlich verloren zu sein scheint. Musik (Pärt: "Miserere" ) Erzähler Die Odyssee von Axl und Beatrice, die sie auch durch das Reich des sagenhaften Drachen Querig führt, gleicht einem langsamen und schließlich überaus schmerzhaften Weg der Erkenntnis. Musik (Pärt: "Miserere" ) "Et peccatum meum contra me" O-Ton 1 (Ishiguro) Initially I started to think about the story at the time of the wars in Yugoslavia as it broke up. And in particular what happened in Bosnia. Ishiguro Ursprünglich begann ich über diese Geschichte zur Zeit der Jugoslawienkriege nachzudenken, als das Land auseinanderfiel. Insbesondere, was die Ereignisse in Bosnien betraf, wo verschiedene Bevölkerungsgruppen, die zuvor als Nachbarn gelebt hatten, plötzlich gegeneinander aufbegehrten. Das Ruanda der neunziger Jahre ist ein ähnlicher Fall. O-Ton 2 (Ishiguro) And around that time I started to think a lot about how societies manipulate and use their memories. The historical memory, their societal memory. For a political agenda. Ishiguro Ich begann darüber nachzudenken, wie Gesellschaften ihre Erinnerungen manipulieren und instrumentalisieren - die historischen und gesellschaftlichen Erinnerungen. Zum Zwecke einer politischen Agenda. Was beispielsweise das ehemalige Jugoslawien angeht, so war der plötzliche Hass bosnischer Serben auf bosnische Moslems nicht zuletzt das Resultat einer vom Belgrader Regime gezielt vorgenommenen Manipulation: der Wiedererweckung von Erinnerungen an bestimmte Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs. O-Ton 3 (Ishiguro) So suddenly some memories that had been kept hidden, about events in the Second World War, had been deliberately awakened by the Belgrade regime. Erzähler London Anfang September, eine erste Ahnung von Herbst. Im Büro seiner Londoner Literaturagentur sitzt Kazuo Ishiguro an einem langen Tisch. In den Regalen die Bücher der von der Agentur vertretenen Autoren. Auf dem Tisch eine Schale mit Keksen, mehrere Flaschen Mineralwasser. Daneben ein kleiner Stapel mit Ishiguros Romanen. Eine englische Ausgabe von "Was vom Tage übrigblieb", seines mit dem Booker Prize ausgezeichneten und von James Ivory mit Anthony Hopkins und Emma Thompson in den Hauptrollen verfilmten Romans über einen dem Trugbild seiner Ideale anhängenden Butler. "Die Ungetrösteten", Ishiguros wenig gelesenes Meisterwerk, und "Alles, was wir geben mussten", der 2005 veröffentlichte Roman über die Schüler eines von der Außenwelt abgeschirmten Internats, die schließlich begreifen müssen, dass sie als Klone geschaffen wurden, als vermeintlich seelenlose Organspender in einer gottlosen Welt. O-Ton 4 (Ishiguro) So after this I started to think a lot about different countries. Not just people in war situations but a lot of the countries I knew well like Britain, America, Japan. Erzähler Ishiguro trägt einen schwarzen Anzug, ein schwarzes T-Shirt. Er erzählt von den ersten, zwei Jahrzehnte zurückliegenden Überlegungen zu "Der begrabene Riese". Ishiguro Aber ich habe dann auch über andere Länder nachgedacht, die nicht unmittelbar von Kriegen betroffen waren - Länder wie Großbritannien, die USA oder Japan, die ich gut kannte, oder führende europäische Nationen wie Frankreich und Deutschland, die aus mitunter guten Gründen bestimmte Erinnerungen begraben haben. O-Ton 5 (Ishiguro) France, Germany, and the different ways all those countries kept certain memories buried. And sometimes for very good reasons. Ishiguro Meine Überlegungen liefen also auf die Frage hinaus, wann es für eine Nation, eine Gemeinschaft, besser ist, sich zu erinnern, und wann es besser ist, zu vergessen, um auf diese Weise weitere Konflikte und neue Gewalt zu verhindern. Erzähler Ishiguros Hände liegen gefaltet vor ihm auf dem Tisch. Hin und wieder zupft er nervös am Kragen seines Sakkos. In seinem neuen Roman führt der Weg von Axl und Beatrice über den Grabhügel des begrabenen Riesen. Dieser Grabhügel ist Ishiguros Metapher für eine tiefe Verdrängung, das Symbol für eine Gesellschaft, die die Vergangenheit unterdrückt und in einer weitgehend geschichtslosen Gegenwart gefangenen ist. O-Ton 6 (Ishiguro) Okay, so and then I have this problem as a writer: Do I set it in a contemporary situation - so that the very surface announces that this is about some contemporary crisis? Ishiguro Als Schriftsteller muss ich mich dann fragen, ob ich die Geschichte in einer zeitgenössischen Situation ansiedeln will, so dass bereits die Oberfläche signalisiert, dass von einer zeitgenössischen Krise die Rede ist. Ich hätte also einen Roman schreiben können, der in Bosnien spielt oder im Frankreich der Nachkriegszeit, als die Franzosen zu vergessen versuchten, dass das Vichy- Regime mit den Nazis kollaboriert hatte und sich über das Land eine Amnesie ausbreitete, die in gewisser Weise bis heute andauert. O-Ton 7 (Ishiguro) As a novelist I feel my job is not to be a journalist or contemporary reportage writer. Ishiguro Als Romancier ist es aber nicht meine Aufgabe, den Journalisten zu spielen und eine Reportage über den Zustand unserer Gegenwart zu schreiben. Musik (Pärt: "In Principio"/"Für Lennart in Memoriam") Ishiguro Ich versuche, Geschichten zu schreiben, die einen universellen Anspruch haben. Musik (Pärt: "In Principio"/"Für Lennart in Memoriam") Ishiguro Es schien mir daher nur folgerichtig, meinen Roman in einer Welt anzusiedeln, die auf offensichtliche Weise mythisch ist und den Leser einlädt, die Handlung auf unterschiedliche Situationen zu beziehen. O-Ton 8 (Ishiguro) So the solution I came up with in the end is: Why don't I set it in a world that is obviously mythical? So that people will be invited to apply it to many different situations. Atmo 6 (Nagasaki) "21 days after the New Mexico dress rehearsal a lone B29 was over Hiroshima carrying an atomic bomb. At 8.15 in the morning of August 6h, Japanese time, the first atomic bomb hit an enemy target." O-Ton 9 (Carey) It is not what it seems to be about. Carey Es geht nicht um das, worum es zu gehen scheint. Es geht in "Der begrabene Riese" nicht um Fantasy und Menschenfresser und Kobolde. O-Ton 10 (Carey) It is not really about fantasy and ogres and pixies. It is really about something much deeper and much more universal. Carey Es geht um etwas sehr viel Tieferes und sehr viel Universelleres. Erzähler John Carey. Britischer Literaturwissenschaftler und Kritiker. Carey Der Roman handelt von der Erinnerung, einem Thema, das Ishiguro bereits in seinen ersten beiden Romanen "Damals in Nagasaki" und "Der Maler der fließenden Welt" bearbeitet hat, in denen es jeweils um die falsche Erinnerung des Ich-Erzählers geht. Man war sich beim Lesen dieser Romane nie sicher, wie viel der Erzähler falsch erinnert, aber man traute dem, was er sagte, nicht. O-Ton 11 (Carey) You were never quite sure how much the narrator misremembered but you didn't trust what the narrator said. O-Ton 12 (Swift) He writes about a way we construct our lives as much as have them, and about how the construction of our lives is full of illusion, delusion, and sometimes it comes home to us. Swift Er schreibt über die Art und Weise, wie wir unsere Leben nicht nur leben, sondern auch konstruieren, wie diese Konstruktion voller Illusionen und Selbsttäuschungen ist, die uns manchmal einholen. Erzähler Graham Swift. Britischer Schriftsteller und seit den achtziger Jahren einer von Ishiguros engen Freunden. O-Ton 13 (Swift) It has a lot to do with his sense of how memory works, and one of the mechanisms for tricking ourselves about our personal integrity, is not to remember things very well. Swift Dies hat viel mit seiner Vorstellung davon zu tun, wie Erinnerung funktioniert. Und einer der Mechanismen, um uns hinsichtlich unserer persönlichen Integrität zu täuschen, ist, uns nicht zu erinnern. Auf diese Weise können wir eine Geschichte von uns erzählen, die zwar nicht der Wahrheit entspricht, uns aber in einem guten Licht zeigt. Erzähler In "Damals in Nagasaki", Ishiguros 1982 erschienenem Debütroman, projiziert die in England lebende Ich-Erzählerin Etsuko ihre Erinnerungen an den Selbstmord einer ihrer Töchter, ihre Schuldgefühle, in die mutmaßlichen Erinnerungen an eine frühere, möglicherweise gar imaginäre Freundin im Japan der Nachkriegszeit. Musik (Pärt: "In Principio"/"Für Lennart in Memoriam" ) Erzähler In "Der Maler der fließenden Welt", Ishiguros 1986 erschienenem zweiten Roman, verschanzt sich der betagte, im Dienst der japanischen Expansionspolitik zu Ruhm gekommene und seit Japans Niederlage im Zweiten Weltkrieg ehrlose Künstler Masuji Ono auf ähnliche Weise hinter einem äußerst fragwürdigen Begriff der Rechtschaffenheit und Würde wie Butler Stevens. Dieser missdeutet in "Was vom Tage übrigblieb" die Zeichen der Zeit und wird schließlich auf unerwartete Weise mit seiner Vergangenheit konfrontiert. O-Ton 14 (Carey) Now, in "The Buried Giant" he had to find a way of making amnesia a universal state, everyone forgets. So how do you make everyone forget? Well, magic. Carey In "Der begrabene Riese" musste er nun etwas finden, das alle Menschen vergessen lässt. Und wie lässt man alle Menschen vergessen? Mit Magie. Musik (Pärt: "In Principio"/"Für Lennart in Memoriam") Carey Mit einer tolkienhaften Fantasie, in der Merlin das Land mit einem Zauber belegt. Swift Ishiguro hat sein Thema bereits in jungen Jahren gefunden, aber wenn ein Schriftsteller älter und erfahrener wird, ist es nur selbstverständlich, dass er immer neue Möglichkeiten entdeckt und deshalb nicht von seinem Thema lassen kann. O-Ton 15 (Swift) But it is a very compelling theme, it is not just a theme for one book, certainly. Carey Und was lässt dieser Zauber die Menschen vergessen? O-Ton 16 (Carey) Well, genocide or something like that. Carey Einen Genozid oder etwas Ähnliches. Etwas Schreckliches, auf das die Knochen hindeuten, die Axl und Beatrice auf ihrer Reise in einem unterirdischen Versteck entdecken. Atmo 7 (Nagasaki) "Vanished Hiroshima, the first city in history to be atom-bombed into oblivion." Carey Die neue Drehung, die Ishiguro seinem vertrauten Thema in "Der begrabene Riese" gibt, ist, dass vom Vergessen etwas Erlösendes ausgehen kann. Dass es die Welt vor dem bewahrt, was am Ende des Romans geschieht: als der von Merlin verzauberte Drache, dessen Atem den Nebel des Vergessens ausströmte, getötet wird und der abermalige Ausbruch eines Krieges zwischen den Briten und Sachsen bevorsteht. O-Ton 17 (Carey) Warfare will break out again. Reconciliation depends on not remembering. Carey Im Vergessen kann etwas Versöhnendes liegen, und diese Hypothese des Romans ist recht bemerkenswert, wenn man sich erinnert, dass Ishiguro aus dem einzigen Land stammt, gegen das bisher ein Atomschlag geführt wurde. Er stammt aus Nagasaki - einer Stadt, für deren Bewohner es nach dem Krieg überlebenswichtig geworden ist, zu vergessen und sich mit der Vergangenheit auszusöhnen. Atmo 8 (Nagasaki) "Exactly three days after Hiroshima a B29 set out for Nagasaki." Atmo 9 (Nagasaki) "At 10.58 in the morning of August 9th, the bomb was exploded above the city and in the towering mushroom Japan could rate its doom." Swift Ish, kann ich mit einer Frage beginnen, die Du in Interviews vermutlich schon gar nicht mehr hören kannst? Atmo 10 (Ishiguro/Swift 1989) Swift: You were born in Japan in the Fifties. Swift Du wurdest in Japan geboren, in den Fünfzigern, und bist mit sechs Jahren nach England gekommen. Atmo 11 (Ishiguro/Swift 1989) Swift: And you came to England when you were six? Ishiguro: Five. Swift: Five, right. You look Japanese but... Swift Mit fünf, genau. Du siehst japanisch aus, aber in jeder anderen Hinsicht ähnelst Du den meisten Engländern, die ich kenne. Wie "japanisch" bist Du Deiner Meinung nach? Atmo 12 (Ishiguro/Swift 1989) Ishiguro: Well, I don't think I am entirely like English people, you know. Because I have been brought up by Japanese parents. Ishiguro Ich glaube eigentlich nicht, dass ich gänzlich wie die Engländer bin, zumal ich von japanischen Eltern aufgezogen wurde. Erzähler 1989, nach Erscheinen von "Was vom Tage übrigblieb", interviewte Graham Swift Kazuo Ishiguro für das amerikanische "Bomb Magazine". Atmo 13 (Ishiguro/Swift 1989) Ishiguro: I grew up in a Japanese-speaking home... Swift: Right. Ishiguro: ...with Japanese values. Ishiguro Meine Eltern glaubten, sie würden allenfalls zwei Jahre in England bleiben und ermutigten mich daher nicht einmal, britische Umgangsformen zu erlernen und die japanischen aufzugeben. Sie fühlten sich eher verpflichtet, mir japanische Werte zu vermitteln, keinen westlichen Lebensstil. Mein Hintergrund ist also recht speziell, meine Perspektive auf das Land ist eine besondere. Swift Verstehe. Sprichst Du Japanisch? Atmo 14 (Ishiguro/Swift 1989) Ishiguro: Yes, very badly. Swift: Very badly. Ishiguro: But that's what I speak to my parents. Swift: But you can't read it? Ishiguro: No. Only the first alphabet. Ishiguro Mein Japanisch ist absolut flüssig, aber wenn ich nach Japan reisen würde, würde allen sofort auffallen, wie schlecht es ist, weil ich eine völlig falsche, eigenwillige Betonung und Aussprache habe. Für einen Japaner klinge ich vermutlich wie ein schwachsinniges Kind. Swift Und der Rest von Dir, fühlt sich der englisch? Ishiguro Du meinst das bisschen, das übrigbleibt? Atmo 15 (Ishiguro/Swift 1989) Swift: Yeah. Ishiguro: (lacht). I suppose so but I don't really think people are two- third one thing and the remainder something else. Swift: Yes. Ishiguro Ich glaube nicht, dass sich Temperament, Persönlichkeit und Anschauung auf diese Weise aufteilen lassen. Man bleibt eine Art seltsame homogene Mischung, die man nicht in seine unterschiedlichen Bestandteile zerlegen kann. Atmo 16 (Ishiguro/Swift 1989) Swift: Although it's true that in two of your novels which you could loosely call Japanese novels... Swift In Deinen Romanen "Damals in Nagasaki" und "Der Maler der fließenden Welt", die man grob gesprochen als "japanische Romane" bezeichnen könnte, beschäftigst Du Dich mit den Ruinen des Japanischen Empire. Atmo 17 (Ishiguro/Swift 1989) Swift: All your novels seem very much post-war novels, and your new novel, "The Remains of the Day"... Swift Bei diesen Romanen handelt es sich um Nachkriegsromane, und auch Dein Roman, "Was vom Tage übrigblieb", spielt im England der fünfziger Jahre, also im England der Nachkriegszeit. Atmo 18 (Ishiguro/Swift 1989) Ishiguro: These are settings that are potent for my themes. They help me orchestrate my themes. Ishiguro Die Schauplätze helfen mir dabei, meine Themen zu orchestrieren. Ich neige dazu, in der Zeitgeschichte nach bestimmten Situationen zu suchen, in denen das Wertesystem einer Prüfung unterzogen wird. Atmo 19 (Ishiguro/Swift 1989) Ishiguro: In which values get tested by things like war. Swift: Right. Ishiguro: The whole system of values really undergoes a severe test. Swift: Yeah. Ishiguro Der Krieg zwingt einen dazu, seine Werte und Ideale zu überdenken, und in allen drei Büchern ist der Zweite Weltkrieg präsent. Atmo 20 (Ishiguro/Swift 1989) Ishiguro: In all three books the Second World War is present. Musik (Pärt: "Miserere") Atmo 21 (Ishiguro/Swift 1989) Ishiguro: But I think that's just because I don't know a great deal about say, the ancient history or the Middle Ages... Swift: Yes. Ishiguro Aber das hat lediglich damit zu tun, dass ich mich mit der Frühgeschichte oder dem Mittelalter nicht gut genug auskenne. Musik (Pärt: "Miserere") "Averte faciem tuam a peccatis meis" Carey Aber nicht nur, dass Ishiguro aus einer der beiden Städte kommt, die von einer Atombombe vernichtet wurden. Musik (Pärt: "Miserere") Carey Er wuchs in England zudem in einer japanischen Familie auf, unter Eltern, die miteinander Japanisch sprachen. O-Ton 18 (Carey) So he was displaced, displaced to an astonishing degree. Displaced from his parents, what they regarded as homeland... Carey Er war also in einem erstaunlichen Maße heimatlos. Heimatlos unter seinen Eltern und dem, was sie als ihre Heimat ansahen, heimatlos in sprachlicher Hinsicht und heimatlos in einer gigantischen Dimension, weil er aus einer Stadt kam, die ausgelöscht worden war. O-Ton 19 (Carey) So if you say: Well, why does "memory" matter to him? Those three things seem to me part of it. That he has lived among the past to a remarkable degree. Carey Wenn Sie mich also fragen, weshalb "Erinnerung" für ihn von Bedeutung ist, scheinen diese drei Aspekte Teil der Antwort zu sein - dass er in einem ganz erstaunlichen Maße in der Vergangenheit gelebt hat. Natürlich leben alle Kinder mit den Erinnerungen ihrer Eltern, aber diese Erinnerungen entstammen nicht immer einer anderen Kultur oder Zivilisation. Einer ausgelöschten Stadt. O-Ton 20 (Swift) Well, I sometimes think that his places, his countries are - I was going to use the word "abstract"... Swift Die Schauplätze seiner Romane sind - ich hätte fast gesagt: "abstrakt", aber das ist etwas zu stark. Es sind eher experimentelle Orte, Orte, an denen er unterschiedliche menschliche Erfahrungen erkunden kann. Sogar das England in "Was vom Tage übrigblieb" kommt mir trotz Butler und Landhäusern nicht sonderlich englisch vor. O-Ton 21 (Swift) It is more a world which the novel itself has made so that certain things can be explored. And I think that's quite typical of his writing. Swift Es handelt sich eher um eine Welt, die der Roman selbst hervorgebracht hat, damit gewisse Dinge erforscht werden können. Und das ist meines Erachtens typisch für sein Werk. Sogar seine beiden ersten Romane spielen nicht wirklich in Japan, sondern in einem von Ishiguro erfundenen Japan, das nur derjenige für ein reales Japan hält, der das Land nicht kennt. Seine Herkunft, der frühe Umzug nach England und die Art, wie er hier aufgewachsen ist, haben ihn dazu befähigt, eine Welt zu schaffen, die im Grunde an keinen realen Ort gebunden ist. O-Ton 22 (Swift) I think he would say of himself, I may be wrong, but I think he would say: "Well, I am English these days." But there is still this element in him of not knowing quite where he belongs. Swift Vielleicht liege ich damit falsch, aber ich glaube, er würde sich heute als Engländer bezeichnen. Und doch ist noch immer dieses Gefühl der Unzugehörigkeit in ihm, das seinem Werk eine besondere Qualität verleiht, indem es nicht nur von einem einzelnen Schauplatz handelt, sondern von einem Ort, der eine allgemeinere, universelle Bedeutung hat. O-Ton 23 (Swift) Thus in his new book he can play around to some extend with ancient English history and English legend in a way that someone like me wouldn't dare to do. Swift In seinem neuen Buch kann er deshalb mit alter englischer Geschichte und englischen Legenden auf eine Weise herumspielen, wie jemand wie ich es niemals wagen würde. Ich glaube, dieser Wagemut hat unmittelbar damit zu tun, dass Ishiguro diesen Hintergrund hat und sich keiner spezifischen Geschichte und keinem kulturellen Ursprung vollkommen verpflichtet fühlt. O-Ton 24 (Swift) He's able to get away with it. O-Ton 25 (Ishiguro) You say it is not necessary to create some sort of mythical land in order to create something universal... Ishiguro Sie sagen, es ist nicht nötig, ein mythisches Land zu erfinden, um etwas Universelles zu erschaffen, und ich gebe Ihnen absolut recht. Einige der größten Romane sind sehr spezifisch - Jane Austens Werk zum Beispiel handelt von einem sehr kleinen Teil der englischen Gesellschaft, und dennoch haben wir beim Lesen den Eindruck, dass es allgemeingültige Aussagen über den Menschen trifft. O-Ton 26 (Ishiguro) But nevertheless, I think there is a long tradition also of creating landscapes that invite people to see things in a metaphorical or allegorical way. Ishiguro Aber dennoch gibt es auch eine lange Tradition, Landschaften zu erfinden und die Leute einzuladen, die Dinge in einer metaphorischen oder allegorischen Weise zu betrachten. Erzähler Kazuo Ishiguro, der am 8. November 61 Jahre alt wird, hat ein japanisches Gesicht, das in Momenten noch immer jugendlich wirkt und eine unmissverständlich britische Aussprache, die nichts von seiner japanischen Herkunft verrät. O-Ton 27 (Ishiguro) And I think, just to take a very big example, if you read Homer today, if you read "The Iliad", I don't think you are reading it as a historical account which just happens to still reverberate with our time. Ishiguro Nur um ein sehr großes Beispiel zu nennen: Auch wer heute Homer liest, wer heute die "Ilias" liest, hat nicht den Eindruck, einen historischen Tatsachenbericht zu lesen, der lediglich bis in unsere Zeit nachhallt, sondern etwas, das bereits als Mythos geschrieben wurde. Erzähler Ishiguro erzählt von dem imaginären Japan seiner frühen Romane, in denen er seine kindlichen, zum Teil aus den Erinnerungen seiner Eltern hervorgegangenen Vorstellungen an sein Herkunftsland bewahrte, das er Ende 1989, im Alter von fünfundvierzig Jahren, zum ersten Mal besuchte. Er erzählt von dem imaginären England aus "Was vom Tage übrigblieb", dem "mythischen England der Tourismus-Broschüren", wie er sagt. Von dem kafkaesken Schauplatz einer imaginären osteuropäischen Stadt, in der sich der Ich-Erzähler des 1995 erschienenen Romans "Die Ungetrösteten" in labyrinthischen, der äußeren Realität enthobenen Traumkorridoren zu verirren scheint. Musik (Pärt: "Cantus in Memory of Benjamin Britten") Erzähler Er erzählt von Beatrice und Axl, die in "Der begrabene Riese" ganz am Ende ihrer gemeinsamen Reise auf einen namenlosen Fährmann treffen, einen mythischen Charon, der das alte, einander in tiefer Liebe verbundene Ehepaar am Ufer einer Meeresbucht erwartet. Ishiguro "Ich hatte unter den Kiefern Zuflucht gefunden und sah sie durch Regen und Unwetter heranreiten." Musik (Pärt: "Cantus in Memory of Benjamin Britten") Ishiguro "Kein Wetter für ein so betagtes Paar und ein nicht minder erschöpftes Pferd mit durchhängendem Rücken." Erzähler Der Ich-Erzähler seines neuen Romans ist an keinen spezifischen Ort, an keine Zeit gebunden. Und seine Erzählung richtet sich an die unschuldigen Toten aller Kriege, die "Geister aller unschuldigen Kinder", wie Ishiguro im Interview sagt, Ishiguro "die in allen Kriegen der Vergangenheit ums Leben gekommen sind". O-Ton 29 (Ishiguro): Addressing an audience of the ghosts of all the children, innocent children who had been slaughtered in wars throughout history. Ishiguro "Der Abend tauchte die Küste in sein rötliches Licht, eine verschwommene Sonne fiel aufs Meer, und mein Boot schaukelte auf den Wellen." Musik (Pärt: "Cantus in Memory of Benjamin Britten") Erzähler Am Ende ihrer Reise, als sich die Nebel des Vergessens lichten und schließlich auch die Erinnerung an den frühen Tod ihres Sohnes zurückkehrt, die Erinnerung an Schuld und Schmerz, bereiten sich Beatrice und Axl auf die Überfahrt vor. Axl nimmt mit einer letzten Umarmung Abschied von Beatrice bevor der Fährmann sie in das Boot trägt. Ishiguro ""Leb wohl, Axl." - "Leb wohl, meine einzige Liebe." Musik (Pärt: "Cantus in Memoriam Benjamin Britten") Ishiguro " Ich höre [Axl] durchs Wasser kommen. Hat er die Absicht, mich anzusprechen? Doch als ich mich umdrehe, blickt er nicht zu mir her, nur landeinwärts und zur Bucht, die im roten Licht, der Abendsonne liegt. Und auch ich suche seinen Blick nicht. [Axl] watet an mir vorbei und blickt nicht zurück." Musik (Pärt: "Cantus in Memoriam Benjamin Britten") Ishiguro "Warte am Ufer auf mich, Freund, sage ich leise, aber er hört mich nicht und watet weiter." Musik (Pärt: "Cantus in Memoriam Benjamin Britten") 1