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Der Aufstand vom 17. Juni 1953 hätte ohne das Eingreifen der sowjetischen Besatzungsmacht die SED-Herrschaft in der DDR hinweggefegt. Ulbricht kommt nicht umhin, den Aufstand zu erwähnen und ihn so zu interpretieren, dass die Wahrheit verschleiert wird. 2. O-Ton (30.3.1954/ DZ000269, Ulbricht) Die junge Staatsmacht der Arbeiter und Bauern hat im vorigen Jahr, als die faschistischen Provokateure ihren Putsch organisierten, ihre Festigkeit gezeigt. Auf die Frage von westdeutschen Werktätigen, was am 17. Juni war, möchte ich Folgendes sagen: Die Vertreter der amerikanischen Besatzungsmacht und die aggressiven Kräfte in Bonn hatten schon seit langer Zeit die Losung der Eroberung der DDR ausgegeben. Nach der Verkündung des neuen Kurses setzten sie alles ein, .. durch einen Putsch die Arbeiter- und Bauernmacht in der DDR zu stürzen und dann die ehemaligen Konzernbetriebe ihren früheren Besitzern zurückzugeben. Sprecher Der 17. Juni 1953 war noch in zu frischer Erinnerung, um ihn auf dem SED-Parteitag 1954 zu verschweigen. Stattdessen die Uminterpretation: der Aufstand - ein westlicher Umsturzversuch, keine Volkserhebung gegen die SED. 3. O-Ton (17. Juni 1953/ DZ 2474565, RIAS-Reportage) (Beifall) Unter dem Beifall der Bevölkerung in Ost und West sind nun zwei Jugendliche auf das Brandenburger Tor hinaufgestiegen, sie arbeiten nun an den Fahnenschnüren, und immer in Deckung der Fahnenstange versuchen sie sich zu schützen vor eventuellen Schüssen der sowjetischen Militärs, das immer noch auf der Ostseite des Brandenburger Tors in vielleicht 50 m Entfernung steht. (Jubel) Nun geht die rote Fahne runter, die Demonstranten klatschen, sie schwenken ihre Hüte, sie rufen: "Wir grüßen das freie Berlin", (Tumult, Rufe nach einer schwarzrotgoldenen Fahne und Berliner Bären, die Verbrecher...die rote Fahne vom Brandenburger Tor) abblenden - Sprecher drauf Sprecher Innerhalb von zwei Tagen war im Juni 1953 aus einer spontanen Streikbewegung in Berlin ein Aufstand zum Sturz des SED-Regimes geworden. Die Regierung Ulbricht flüchtete in den Schutz der sowjetischen Besatzungsmacht. Und die schlug den Aufstand gewaltsam nieder. 4. O-Ton (17. Juni 1953/ DZ 25 51 74/ Befehl des SU-Militärkommandanten) Ab 13.00 Uhr des 17.Juni 1953 wird im sowjetischen Sektor von Berlin der Ausnahmezustand verhängt. Alle Demonstrationen, Versammlungen, Kundgebungen und sonstige Menschenansammlungen über drei Personen werden auf Straßen und Plätzen verboten. Sprecher Im RIAS Berlin, dem von vielen DDR-Bürgern gehörten Rundfunk im amerikanischen Sektor, kommentierte Chefredakteur Egon Bahr am 18. Juni: 5. O-Ton (DZ093841/ RIAS Kommentar von Egon Bahr) Was niemand im Westen für möglich gehalten hat: Die Arbeiterschaft und sich anschließende Menschen aus allen Bevölkerungsschichten hatten aus eigenem Willen demonstriert. Demonstriert nicht nur gegen die Normen und die hohen Lebenshaltungskosten, sondern für etwas. Für ihr Vereinigung mit dem übrigen Deutschland, für die Freiheit. ... Die Demonstrationen waren eine nicht überbietbare Deklassierung der SED, eine Wertminderung der SED auch in den Augen der sowjetischen Besatzungsmacht, die sich gezwungen sah, die Unfähigkeit und das Versagen des Regimes durch das Ausrufen des Ausnahmezustandes vor aller Welt zu dokumentieren. Sprecher Am 21. Juni 1953, kurz nachdem der Aufstand in Berlin niedergeschlagen war, trat in Bonn der Bundestag zu einer Trauerfeier zusammen. Hauptredner war Bundespräsident Theodor Heuss. 6. O-Ton (21.6.1953/ DZ 09 38 40) (Atmo) Der Sinn dieser Stunde ist das teilnehmende Denken an die deutschen Menschen, deren Glauben auf Recht, auf Freiheit, an ihr Recht auf ihre Freiheit mit dem Tode bezahlt wurde. Sprecher Die Behauptung, der Aufstand sei vom Westen gesteuert worden, wies Heuß zurück. 7. O-Ton Dieses Geschwätz von Agenten und Provokateuren ist ja die ewig, schier zum Klischee gewordene Ausrede jener, die sich im Ungenügen von einer Instinktreaktion des Volkes ertappt fühlen. Sprecher Bundespräsident Heuss gedachte der Toten eines Aufstandes für die Freiheit, eines Aufstandes gegen die Diktatur einer Partei. Knapp zwei Wochen später, am 3. Juli 1953, stimmte der Bonner Bundestag über ein Gesetz ab, das den Tag des Aufstands zum Feiertag machen sollte. Der Akzent hatte sich inzwischen aber verschoben: Der Freiheitskampf stand nicht mehr im Vordergrund. 8. O-Ton (3. Juli 1953/ CD 1953, CD 2, Track 15, Bundestag) "Ich bitte die Damen und Herren, die dem Entwurf eines Gesetzes über den Tag der deutschen Einheit in seiner Gesamtheit in der Schlussabstimmung zuzustimmen wünschen, sich von ihren Plätzen zu erheben. - Ich bitte um die Gegenprobe (Tumult) Meine Damen und Herren, ich stelle fest, dass das Gesetz über den Tag der deutschen Einheit in der Schlussabstimmung gegen die Stimmen der kommunistischen Gruppe von allen Abgeordneten dieses Hauses gebilligt worden ist." Sprecher 1953 - das war die Zeit, in der die Bundesrepublik entschlossen den Weg nach Westen ging. Die Wiederbewaffnung bahnte sich an - das heißt, nach der politischen und wirtschaftlichen die militärische Integration in die westliche Welt. Die SPD kritisierte Bundeskanzler Adenauer, weil damit die Wiedervereinigung in unerreichbare Ferne rückte. Da passte es gut, den Aufstand gegen die SED-Diktatur zu einem Gedenktag der deutschen Einheit zu machen - zumal während der Aufstandstage auch Rufe nach Wiedervereinigung laut geworden waren. Im Bonner Bundestag sprach Kanzler Adenauer beim Festakt am 16. Juni 1954. 9. O-Ton (16.6. 1954/ DZ097015 002, Festakt Bundesregierung, Adenauer) Zum ersten Male begehen wir den Tag der deutschen Einheit. .. Er weckt in uns die Erinnerung an die Männer und die Frauen, die am 17. Juni des vergangenen Jahres ihr Leben nicht achtend, ihr Leben hingaben, in die Kerker wanderten, um die Freiheit und die Wiedervereinigung Deutschlands dadurch zu erreichen. Der Tag der deutschen Einheit ist für uns ein Tag der Besinnung. Sprecher Erich Ollenhauer indes, der SPD-Vorsitzende, feierte die Massenbewegung, den Freiheitskampf. 10. O-Ton (17.6.1954/ DZ097083, Ollenhauer) Im Ostsektor dieser Stadt wurde das Signal zu dem Aufstand des 17. Juni 1953 gegeben, der als ein historisches Ereignis in die Geschichte des Freiheitskampfes unseres Volkes eingegangen ist. Es war der spontane Aufstand der Menschen in Ostberlin und in allen Teilen der Sowjetzone. Wir kennen den Ausgang, die sowjetische Besatzungsmacht rettete das verhasste System der Pankower Diktatur und verhinderte die Errichtung eines freiheitlichen und demokratischen Systems auch in diesem Teil Deutschlands. Dennoch sind die Tage des 17. Juni ein Triumph der Ideen der Freiheit und des Rechts. (Applaus) Musik als Trenner: Rondo aus dem Film "Kuhle Wampe" Sprecher Jahr für Jahr wurde nun am 17. Juni der deutschen Einheit gedacht: ein zunehmend routiniertes Innehalten für einen Tag, während die praktische Politik die beiden Teile der Nation immer weiter auseinander trieb. 1963, zehn Jahre nach dem Aufstand, als das Feiertagsgedenken zur politischen Routine geworden war, bemühte sich Bundespräsident Heinrich Lübke immerhin um etwas mehr innere Anteilnahme und appellierte an seine Landsleute im Westen, die Landsleute im Osten nicht sich selbst zu überlassen. 11. O-Ton (17.6.1963/ DZ354729 002/ Ansprache Lübke) Zwar ist der Versuch gescheitert, die Ketten fremder Gewaltherrschaft abzuschütteln, aber der Schrei nach Gerechtigkeit und Freiheit ist nicht verhallt, er wurde und wird überall dort gehört und verstanden, wo Menschenwürde und Menschenrechte geachtet werden. Als freie Bürger der Bundesrepublik Deutschland werden wir durch die Erinnerung an die Ereignisse des 17. Juno 53 zu Selbstbesinnung aufgerufen und eindringlich gemahnt an die Verantwortung für unsere Landsleute hinter dem eisernen Vorhang und an unsere Pflicht, die Einheit aller Deutschen wieder zu erringen.... Sprecher Noch war die DDR die Zone, Politiker mieden es, den zweiten deutschen Staat beim Namen zu nennen, aber die Mauer zwang sie zum Nachdenken darüber, wie man mit den Realitäten umgeht. Am 17. Juni 1967 hieß der Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, er war als Christdemokrat Chef einer großen Koalition mit der SPD. Seine Gedenktagsrede spiegelt die veränderte Situation wider: die Suche nach einer neuen Ostpolitik. 12. O-Ton (17.6.67/ DZ 40 60 36 009/ Feierstunde im Plenarsaal des Bundeshauses Bonn, Kurt Georg Kiesinger) Ich habe nicht erwartet, dass unsere Politik, unsere neue Politik im Osten sofort offene Ohren finden werde. .. Wir werden uns dadurch nicht beirren lassen. Musik aus Kuhle Wampe Sprecher Sechs Jahre später haben sich die Verhältnisse grundlegend gewandelt. Die sozialliberale Koalition hat die Entspannungspolitik durchgesetzt, die Ostverträge verabschiedet, die DDR als staatliche Realität anerkannt. Die Wiedervereinigung ist nun nicht nur heimlich, sondern erklärtermaßen eine in die Ferne entrückte Zukunftshoffnung. Der 17. Juni ist 1973 ist der zwanzigste Jahrestag des Aufstands - und es stellt sich die Frage, wie man unter den veränderten Verhältnissen diesen Tag überhaupt noch feiern kann. Willy Brandt hält als Bundeskanzler eine Fernsehansprache, in der er ungeschminkt die westdeutschen Schwierigkeiten mit dem Feiertag 17. Juni zum Ausdruck bringt. 13. O-Ton (17.6.1973/ DZ398527 002/ TV-Ansprache von Bundeskanzler Willy Brandt) Auch und gerade für dieses Datum gilt: Wir dürfen die Geschichte unseres Volkes nicht verleugnen. Über Parteigrenzen und sonst unterschiedliche Auffassungen hinweg sollten wir diesen Tag in seiner Bedeutung erkennen und uns an die Opfer erinnern, die er gefordert hat. Jedenfalls sollte er nicht degradiert werden zum Anlass fast beziehungsloser, gewissermaßen musealer Feierstunden. Dieser Tag bleibt der Ausweis des Verlangens nach Selbstbestimmung und nationaler Einheit. Er ist allerdings auch ein Zeichen dafür, dass damals schon eine Lösung der deutschen Frage gegen den Willen der interessierten Großmächte, also als Ergebnis des Volkswillens allein, nicht möglich war. .. Beide Staaten entfernten sich sehr voneinander. Aber die harte Konfrontation soll nun nicht nur allgemein zwischen Ost und West, sondern auch auf deutschem Boden, ein Ende finden, ...auch wenn dies Zeit erfordern wird. Der 17. Juni, wie ich ihn zu verstehen gelernt habe, war geradezu die Herausforderung für eine deutsche Politik, die eine unnatürliche, gefährliche und menschenfeindliche Spannung überwinden und möglichst normale, möglichst geordnete Verhältnisse unter Nachbarn in der Mitte Europas schaffen soll. Sprecher Ist dieser Tag ein Tag der Trauer oder ein Tag des Stolzes? Fragt Bundespräsident Walter Scheel 1978. Die neue Ostpolitik hat für die Westdeutschen eine schöne Nebenwirkung: Sie können nun erst recht entspannt und ohne schlechtes Gewissen den 17. Juni als Ausflugs- und Feiertag genießen. Die Verhältnisse sind staatlich geregelt, auch wenn es den Brüdern und Schwestern im Osten nicht so gut geht, aber die Einheitsfahne zu schwenken oder die Geschichte vor 25 Jahren noch mal aufzuwärmen: das hätte etwas Revanchistisches. Da kann man zum Picknick ins Grüne ziehen - und den Politikern das irgendwie noch nötige Feiertagsritual überlassen - wie eben Walter Scheel, dem Bundespräsidenten, der 1978 in einer Gedenkstunde des "Kuratoriums unteilbares Deutschland" bemerkenswert offen die Probleme im Umgang mit dem nationalen Feiertag anspricht. 14. O-Ton (17.6.1978/ DZ1223 74 002/ Bundespräsident Walter Scheel in der Gedenkstunde des Kuratoriums unteilbares Deutschland) Wir begehen heute den Tag der deutschen Einheit, aber die gibt es nicht. Und nach Menschenermessen wird es sie noch lange nicht geben...Es gibt heute nichts zu feiern. Was also tun wir, wenn wir diesen Tag begehen, wenn die Kinder an diesem Tag schulfrei haben, wenn die Behörden und die Geschäfte schließen. Der Bundesverkehrsminister hat für dieses Wochenende vorsorglich auf große Stauungen auf der Autobahn aufmerksam gemacht, der 17. Juni gehört zum sozialen Besitzstand des arbeitenden Menschen. Er ist ein freier Tag, auf den man gesetzlichen Anspruch hat. Große, inhaltsschwere Worte, denen niemand widersprechen kann und widersprechen will, liegen dem zugrunde. Aber wer denkt noch an diese großen inhaltsschweren Worte, wenn er gar bei schönem Wetter ins Grüne fährt? Sind wir also hier zusammen gekommen, um der Opfer des Volksaufstandes zu gedenken, ist dieser Tag ein anderer Volkstrauertag? Wird nicht auch gesagt, gerade dieser Aufstand von 1953 sei ein Zeichen der Hoffnung? Ein Zeugnis des Freiheitswillens unseres Volkes? Ein Augenblick unserer Geschichte, auf den wir stolz sein dürfen? Ist dieser Tag ein Tag der Trauer oder ein Tag des Stolzes? 25 Jahre sind seitdem vergangen, die Hoffnungen haben sich nicht erfüllt, der Freiheitswille hat nicht gesiegt. .. Wollen wir uns mit einer solchen Gedächtnisstunde über die Vergeblichkeit unserer Bemühungen um die deutsche Einheit hinwegtrösten, indem wir sie wieder einmal beschwören, aber wie häufig kann man Beschwörungsformeln wiederholen, ohne das sie leer werden? Musik als Trenner: Rondo aus dem Film "Kuhle Wampe" Sprecher 1983: Der 17. Juni ist der dreißigste Jahrestag des Aufstands. Das deutsch-deutsche Nebeneinander ist eine Selbstverständlichkeit geworden. Auch nach dem Regierungswechsel von der SPD- zur CDU-geführten Bundesregierung unter Helmut Kohl wird die sozialliberale Ostpolitik fortgesetzt. Mehr noch: CSU-Chef Franz-Josef Strauß hilft der DDR gar mit Milliardenkrediten aus der finanziellen Klemme. Eine ganze Generation ist mit der Zweistaatlichkeit aufgewachsen und nimmt im Westen kaum mehr Anstoß daran. Das interessanteste Ereignis des 17. Juni 1983 ist nicht das offizielle Feiertagsritual, sondern die Begegnung zweier älterer Männer, die den Aufstand 1953 diesseits und jenseits der Grenze erlebt haben: Egon Bahr und Stefan Heym. Der Architekt der neuen Ostpolitik, der 1953 als RIAS-Chefredakteur die Ereignisse kommentiert hatte, und der DDR-Schriftsteller, Autor des Buches "5 Tage im Juni" und mittlerweile nach eigenem Verständnis in der DDR zur dissidenten Unperson geworden. Heym hatte die Niederschlagung des Aufstandes durch sowjetische Panzer seinerzeit mit dem kühlen Hinweis verteidigt, es wäre fatal, wenn eine Besatzungsmacht nicht auch Ordnung halten könne. Zum 17. Juni 1983 sendet der Deutschlandfunk ein Gespräch, in dem beide Herren über die Ereignisse 1953 und über die deutsche Einheit reflektieren. In dieser Diskussion spricht Stefan Heym offen an, dass der 17. Juni in der DDR keineswegs ein vergessenes Ereignis ist, sondern für die SED-Herrscher ein fortwirkendes Trauma, weil sie seit dem Aufstand dem eigenen Volk nicht mehr trauen. 15. O-Ton (17.6.1983/ Streitgespräch Bahr - Heym im DLF) Heym: Innen-, DDR-politisch, sind wir mit diesen Sachen noch längst nicht fertig. Der 17. Juni gilt als tabu, es wird nicht diskutiert, wieso er kam, was er bedeutet hat, aber ohne das und ohne dass wir die Gewerkschaftsfrage lösen bei uns und ohne dass wir die Frage des Verhältnisses der Partei und ihrer Kader zu den Massen der Arbeiter - ohne dass wir das gelöst haben, wird bestehen bleiben die innere Schwäche und aus dieser inneren Schwäche heraus die Abkapselung und die Unmöglichkeit, dass diese Deutschen je wieder zusammen kommen. Bahr: Ich bin überzeugt davon, dass Adenauer .. in der Sicherung des freien Restes von Deutschland die höhere Priorität gesehen hat als in der Wiedervereinigung. Und dies ist eine Sache, die ist historisch und auch nicht mehr rückholbar. Was sich daraus für mich ergibt, ist, dass es nicht möglich ist mehr, über die Frage der deutschen Einheit zu sprechen als ob es möglich wäre, sie isoliert in Europa zu lösen - gewissermaßen, dass wir eines Tages aufwachen und in der Zeitung lesen, die deutsche Einheit ist ausgebrochen, sondern dass es sich um einen historischen Prozess handelt, von dem wir nicht wissen, a) wie lange er dauert und b) ob es Gelegenheiten gibt, c) ob die Menschen in beiden Staaten das dann noch wollen oder nicht wollen, d.h. dass alles sich darauf konzentriert meiner Meinung nach - und das hat am 17. Juni, wenn man so will, begonnen - im Ergebnis sich alles darauf konzentriert, dass die beiden deutschen Staaten, so wie sie sind, versuchen müssen, möglichst gut miteinander auszukommen, dass sie in der Mitte Europas fast exemplarisch etwas vom Zusammenleben der Europäer allen unseren Nachbarn geben können. (Applaus) Heym: Vielleicht darf ich ergänzend dazu einen Satz sagen. Ich glaube nicht mit Egon Bahr, dass die Frage der deutschen Wiedervereinigung jetzt auf der Tagesordnung steht. Sprecher Der 17. Juni 1983. Sechs Jahre später gärt es in der DDR. Am 17. Juni 1989 ahnt noch niemand, dass in wenigen Monaten die Mauer überwunden sein wird. Aber es liegt etwas in der Luft, und der SPD-Politiker Erhard Eppler hält im Bundestag eine der bemerkenswertesten Reden, die je an diesem Feiertag gehalten worden sind. O-Ton Eppler, 17. 6. 1989 Jetzt am Ende der 80er Jahre lockern sich überall ideologische Bindungen, nationale Bindungen und Antriebskräfte werden wirksamer. Ich bin nicht sicher, ob es auf die deutsche Frage nur eine Antwort, die endgültige Antwort gibt, die Lösung für das Problem, und eben das schwingt im Begriff der deutschen Frage mit. .. Gerade wenn wir in Prozessen, nicht in Endzuständen denken, bleibt vieles unberechenbar. Dazu gehört die Zukunft der Deutschen Demokratischen Republik. Es gibt bei vielen Menschen dort so etwas wie ein DDR-Bewusstsein, ein manchmal fast trotziges Gefühl der Zugehörigkeit zu diesem kleineren, ärmeren deutschen Staat, aus dem sie gerne etwas machen wollen. Wenn ich mich nicht täusche, war dieses Gefühl vor 2 Jahren stärker als heute. Aber noch dürfte in der DDR eine Mehrheit geben, deren Hoffnungen sich nicht auf das Ende, sondern auf die Reform dieses Staates richtet. Wenn sich die Führung der SED allerdings weiterhin in jener realitätsblinden Selbstgefälligkeit übt, die wir aus den letzten Monaten kennen, dann könnte in weiteren zwei Jahren aus dieser Mehrheit eine Minderheit geworden sein. Wir sehen ja ein, dass sich die SED auf dünnem Eis befindet. Aber hier handelt es sich nicht um dünnes, sondern um tauendes Eis, um das schmelzende Eis des Kalten Krieges, und wer sich da nicht bewegt aus Furcht, er könnte einbrechen, dürfte dem kalten Wasser nicht entkommen, und es wird viel kälter sein als das im Schwimmbad. Sprecher Vier Monate später ist die Macht der SED gebrochen, die Mauer geöffnet - und der verdrängte Inhalt des Tags der deutschen Einheit rückt völlig unerwartet auf die Tagesordnung der Politik. Die DDR wählt erstmals in freier Wahl ihr Parlament, und die erste frei gewählte Regierung macht sich daran, den zweiten deutschen Staat abzuschaffen. Plötzlich erhält der 17. Juni eine ganz andere Bedeutung. In Berlin begehen Abgeordnete des Bonner Bundestages und der Berliner Volkskammer 1990 das Gedenken an den 17. Juni gemeinsam. Es sprechen Sabine Bergmann-Pohl, die Präsidentin der DDR-Volkskammer, und Rita Süssmuth, die Präsidentin des Bundestages. 16. O-Ton (17. Juni 1990/ DZ351151 002, Bergmann-Pohl, Süßmuth) (a) Bergmann-Pohl: Heute können wir diesen Tag in unserem Land zum ersten Mal in Freiheit und Wahrheit zuwenden und es ist zugleich das erste Mal, dass wir als frei gewählte Abgeordnete zusammen mit den Abgeordneten des deutschen Bundestages dieses Ereignisses gedenken. ... (b) Süssmuth: Der 17. Juni ist noch nie so unumstritten gewesen wie in diesem Jahr. Der 17. Juni mahnt uns hier an die deutsche Einheit. Der Tag, an dem wir die deutsche Einheit gemeinsam verwirklichen, könnte, wenn es denn das Parlament so entscheidet, zu unserem gemeinsamen nationalen Feiertag werden. (Applaus) Sprecher Dieser Gedanke drängt sich auf, aber die Regierung Kohl entscheidet anders: Nicht der Tag des Aufstands, sondern der Tag, an dem die deutsche Einheit in Kraft tritt, wird zum nationalen Feiertag erklärt, der 3.Oktober 1990. Etwas resigniert kommentiert der Schriftsteller Erich Loest am 17. Juni 2003 bei einer Lesung in Leipzig: 17. O-Ton (17.6. 2003/ DZ 20 06 16, Loest) Seltsamerweise avancierte nicht der 17. Juni zum gemeinsamen deutschen Feiertag. Über den 9. November, an dem sich deutsche Geschichte im Prachtvollen wie im Entsetzlichen bündelt, dachten wir oft folgenlos nach, Leipziger brachten den 9. Oktober ins Spiel, endlich bescherten uns die Mächtigen den 3.Oktober, - wir behalten ihn, man kann nicht dauernd über alles frische Debatten anzetteln. Sprecher Nach 1990 war der 17. Juni kein Feiertag mehr, aber er war mehr denn je ein Tag der historischen Erinnerung. Vor allem dort, wo er sich abgespielt hatte, auf dem Territorium der untergegangenen DDR, machten sich die Geschichtsforscher an die Arbeit. Die Akten waren zugänglich, die unterdrückte Wahrheit konnte ans Licht gezerrt und offen besprochen werden. So folgte der Befreiung der Ostdeutschen von der SED-Herrschaft auch die Aneignung des wichtigsten Kapitels der eigenen Geschichte aus der Frühzeit der DDR. Der Jahrestag bekam nun einen Inhalt und einen Sinn, den der Feiertag im Westen nie gehabt hatte. Musik als Trenner: Rondo aus dem Film "Kuhle Wampe" Sprecher "Wir wollen freie Menschen sein": So heißt der Titel einer Plakatausstellung, die von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in diesem Jahr in Umlauf gebracht worden ist, zum 60. Jahrestag des Volksaufstandes. Als sie im Januar vorgestellt wurde, rückte der Theologe und Politiker Richard Schröder genau jenen Aspekt in den Vordergrund, der vor 60 Jahren, bei der Ausrufung des Feiertages, eher in den Hintergrund gedrängt worden war: 18. O-Ton (29.01.2013/ X087552, 01A001/ Dok&Debatten, R. Schröder) Ich finde, es ist ein wichtiger Beweis für uns Deutsche, dass den Deutschen der Untertanengeist offenbar doch nicht in den Genen liegt, weder 1953 noch 1989 hat der Untertanengeist gesiegt. In die europäische Freiheitsgeschichte gehört der 17. Juni als der erste von einer Reihe von Aufständen in den ehemals sozialistischen Ländern. Der erste. Ganz schön, dass wir da mal die ersten waren. Sprecher Ein verschmitzt-gelassener Blick zurück: Selbst das ist inzwischen möglich geworden. 1