DEUTSCHLANDFUNK Abteilung Hörspiel/Hintergrund Kultur Redaktion: Ulrike Bajohr Erziehungsrat statt Erziehungsgeld? Möglichkeiten einer sinnvolleren Familienpolitik von Godehard Weyerer Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Sendung: Freitag, 04. September 2015, 19.15 - 20.00 Uhr Atmo SPRECHER 1: 12 Uhr. Zeit fürs Mittagsessen im Lotte-Lemke-Haus. Die niedersächsische Nordseeküste und das Wattenmeer liegen vor der Tür. Vor eineinhalb Wochen sind die Mütter nach Bensersiel zur Mutter-Kind-Kur gekommen. CUT: (MZ-Mutter 2) Ich habe halt gedacht, ich fange wieder an zu arbeiten nach einem Jahr, habe meine Teilzeitstelle, habe mein Kind in der Kita untergebracht. Und ich habe halt gedacht, wenn die Rahmenbedingungen alles klar sind, Kita-Platz, alles ist rundherum organisiert, das Holen und Bringen, dann läuft das schon. CUT: (MZ-Mutter 1) Ich habe als Mutter meine Hobbys komplett aufgegeben. Ich habe keines mehr übrig behalten. Ich war aktive Musikerin, bin jede Woche über 25 Jahre regelmäßig zur Probe des Instrumentes gegangen, habe an den Wochenenden früher Auftritte gehabt. Das habe ich mit den Kindern nicht mehr realisieren können. CUT: (MZ-Mutter 2) Also ich habe dann angefangen, einen Französisch-Kurs abends zu machen. Im Nachhinein würde ich da sagen, es war wohl ein bisschen zu ambitioniert. Aber ich wollte ja gleichzeitig was für mich weitermachen neben dem Job und dem Kind. Vielleicht auch so, wie ich es von früher auch gewohnt war. CUT: (MZ Mutter 1) Das staut sich schon langsam auf. Dann kommen die Anlässe einfach sehr häufig, dass man von außen gesagt bekommt zum Beispiel von meinem Mann, egal wann ich nach Hause komme, hier ist immer nur Gebrülle und Geschrei. Ich komme durch die Tür und die Laune ist auf dem Tiefpunkt, was ist denn hier schon wieder los. Man hinterfragt sich dann irgendwann selber und stellt fest, dann tut es einem selber leid, denn so wollte man es eigentlich nie haben. Atmo weg CUT: (Flick) Die meisten Mütter leiden unter einem Überforderungs- und Erschöpfungssyndrom, viele haben aber inzwischen auch Diagnosen wie Angststörung, depressive Verstimmungen und sind oft auch mit ihrer Alltagssituation überfordert. Und ein großer Teil, und es wird mehr, nimmt eben an Erziehungskursen teil. Atmo Erziehungsrat statt Erziehungsgeld? Möglichkeiten einer sinnvolleren Familienpolitik Ein Dossier von Godehard Weyerer CUT: (Flick) Es gibt heute Mütter, die sagen, das erste Kind, was ich auf dem Arm habe, war mein eigenes Kind. Die haben nicht die Erfahrungsschätze, wie es früher vielleicht in größeren Familien war, dass man schon mal gesehen hat, wie geht man den eigentlich mit einem Kindern um. SPRECHER 1: Diplom-Psychologin Renate Flick leitet im Lotte-Lemke-Haus die psychosozialen Therapien. CUT: (Flick) Die Frauen haben manchmal auch den Spaß mit ihren Kindern verloren. Manchmal wird hier auch erst mal wieder so eine Mutter-Kind-Zeit gefördert wird, dass die einfach wieder Spaß haben, hier an der Küste gemeinsam am Strand spazieren gehen. Das sind Dinge, die manchmal auch ganz klein sind und die man im Alltag einfach nicht hinbekommt zwischen dem Beruf, Haushalt, Familiensystem. Musik SPRECHERIN: Kindergeld, Elterngeld, Erziehungsurlaub, Krippen- und Kindergartenplätze, Ehegattensplitting, beitragsfreie Ehegattenmitversicherung in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung, Kinderfreibeträge: 196 Milliarden Euro geben Bund, Länder und Gemeinden pro Jahr zur Förderung von Familien aus. Auf 2,1 Kinder müsste statistisch betrachtet jede gebärfähige Frau kommen. Fällt die Geburtenrate unter diesen Wert, schrumpft die Bevölkerung. Daran ändert auch ein prognostizierter Anstieg der Geburtenrate in Deutschland von derzeit 1,4 auf 1,6 bis zum Jahr 2030 nichts. SPRECHER 1: Wer Kinder in die Welt setzt, tut dies in aller Regel nicht, um staatliche Transferleistungen abzuschöpfen – zumal sie die tatsächlichen Ausgaben auf Dauer nicht decken. CUT: (MZ Mutter ) Die Entscheidungen sind unabhängig von irgendwelchen finanziellen Bereicherungen gewesen. Beim zweiten Kind gab es dann auch schon diesen Erziehungsurlaub für den Vater, der dann bisschen zu Hause geblieben ist. Da haben wir das schon ein bisschen genutzt. Klar, das Elterngeld kommt ja sowieso. CUT: (MZ-Mutter 2) Ich war sehr glücklich, dass es grade in die Zeit fiel, als es dieses Elterngeld, 2008 ist mein Sohn geboren, und da gab es seit kurzem das Elterngeld. Das, muss ich sagen, hat schon erstmal eine Last von mir genommen, da wird ein bisschen von dem Einkommen abgefedert, ein bisschen. Aber den Ausschlag dafür hat es nicht gegeben. Nee. SPRECHER 1: Viele junge Frauen und Männer in Deutschland entscheiden sich gegen Kinder, obwohl Eltern mehr öffentliche Förderung zuteilwird als je einer Generation zuvor. Warum? SPRECHERIN: „Junge Erwachsene in Deutschland haben überhöhte Ansprüche ans Elternsein: So glauben über 80 % der 20- bis 39-Jährigen, dass man bei der Erziehung viel falsch machen kann. Zudem stimmt ein Viertel der Befragten persönlich der Aussage zu, wonach Eltern ihre Bedürfnisse komplett denen ihrer Kinder unterordnen sollten. Innerhalb der Gesellschaft nimmt sogar knapp die Hälfte einen starken Druck auf Eltern wahr, sich aufzuopfern.“ http://www.bib-demografie.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Broschueren/familien_leitbilder_2013.pdf?__blob=publicationFile&v=7 SPRECHER 1: Das ergab eine repräsentative Studie über die Familienleitbilder in Deutschland, die das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung am 15. März 2015 veröffentlichte. Dort heißt es weiter: SPRECHERIN „Diese kulturelle Dimension ist in der Diskussion um den demografischen Wandel zu selten in den Mittelpunkt gerückt worden, obwohl sie hilft, das anhaltend niedrige Geburtenniveau in Deutschland besser zu verstehen und die (Familien-)Politik bedürfnisorientierter zu gestalten.“ SPRECHER 1: Eine Familienpolitik bedürfnisorientiert zu gestalten, heißt: Sie muss die Eltern in gleicher Weise im Blick haben wie die Kinder. Hier ziehen aber nicht alle an einem Strang. Zäsur Atmo SPRECHERIN: Ein familienpolitisches Modell will jungen Eltern, insbesondere jungen Frauen, Mutterschaft und Beruf ermöglichen. SPRECHER 1: Es wird auch von Frauke Brosius-Gersdorf favorisiert. Die Professorin am Lehrstuhl für öffentliches Recht der Universität Hannover hat sich über das Thema „Demografischer Wandel und Familienpolitik“ habilitiert. Frauen, sagt sie, seien heutzutage besser ausgebildet, hätten bessere Erwerbschancen und wollten diese nicht ungenutzt lassen. Sie würden sich nur dann für eine Familie entscheiden, wenn sie die mit ihrer Erwerbstätigkeit vereinbaren könnten. CUT: (Brosius-Gersdorf) So ganz plakativ kann man es vielleicht nicht zuspitzen. Aber Frauen, die gute Chancen dafür sehen, dass sie nicht längere Zeit aus dem Beruf aussteigen müssen oder gar nicht erst in den Beruf kommen, wenn sie Kinder bekommen, die sind sicher eher gewillt, zumindest viele Frauen, sich tatsächlich für Kinder zu entscheiden. Und wenn man das Geld aus dem Ehegattensplitting nehmen würde, die 20 Milliarden Euro im Jahr, und die zum Beispiel in den besseren Ausbau der Kinderbetreuung stecken würde, da wäre es sehr gut aufgehoben. Dazu kommen ca 13 Milliarden – es liegt sogar etwas drüber, die Zahl - für die Ehegattenmitversicherung, die ja ins gleiche Horn bläst. SPRECHER 1: Eine sinnvolle Familienpolitik, meint Frauke Brosius-Gersdorf, müsste also zu allererst berufstätige Mütter fördern. Hier hat sich freilich in den vergangenen Jahren einiges getan. Musik SPRECHERIN Die Geburtenrate steigern sollte - neben Erziehungsurlaub und Vätermonaten - vor allem der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz auch für Kinder unter drei Jahren. Er besteht seit August 2013. Und KitaPlus heißt ein 100-Millionen-Euro teures Förderprogramm, das der Bund dieses Jahr aufgelegt hat, um die Öffnungszeiten in den Kindergärten zu verlängern. SPRECHER 1: Ob diese Maßnahmen die deutsche Gesellschaft kinderfreundlicher machen? SPRECHERIN „In Deutschland dominiert eine Kultur des Bedenkens, Zweifelns und Sorgens im Hinblick auf Elternschaft, obwohl der Wunsch nach einem eigenen Kind groß ist“, SPRECHER 1: schreibt der Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, Prof. Dr. Norbert F. Schneider. Atmo: Kinder innen SPRECHER 1: Die beiden Frauen im Lotte-Lemke-Haus Bensersiel, die über den Grund ihrer Mutter-Kind-Kur Auskunft geben, haben jeweils zwei Kinder – zwei Söhne im Alter von drei und sieben hat die eine Mutter; die andere hat zwei Töchter, ein Mädchen geht noch in den Kindergarten, das ältere ist gerade in die weiterführende Schule gekommen. Die Mütter sind beide Mitte 30, berufstätig, ihre Ehemänner ebenso. Die Mütter passen ideal ins Konzept fortschrittlicher Familienpolitik. Trotzdem sind sie häufig ausgelaugt, erschöpft, desillusioniert. CUT: (MZ-Mutter 2) Ich habe dann die Kita gewechselt mit längeren Öffnungszeiten, weil ich einfach gemerkt habe, es bringt mir mehr Entspannung, wenn die Öffnungszeiten länger sind und ich nicht um punkt halb drei da stehen muss. Das war allesviel zu viel Gehetze. Ich habe damals 50 Prozent, 20 Stunden gearbeitet – das war viel zu viel Gehetze. Ich bin dann eben eine Kita, die nicht so …, war halt ein bisschen anderes Konzept, also nicht so kuschelig, vielleicht nicht ganz so engagiert. Aber die hatten längere Öffnungszeiten, das war dann eben für uns als Familie besser. CUT: (MZ-Mutter 1) Ich wünsche mir, Zeit zu finden, um aufzutanken, und aus diesem Hamsterrad zwischendurch mal auszusteigen. Einen Zeitpunkt zu finden, der würde mir einmal die Woche reichen, wo ich sage, dass ist jetzt meine Zeit, mein Vormittag, oder mein Nachmittag, oder vielleicht sogar mal fast ein ganzer Tag, in dem ich nicht putze, wasche, bügel, Garten, Haushalt, Kinder, Schulbetreuung, Schwiegermutterbetreuung, sondern dann bin ich mal ich. Wo sage ich mal nein, wo sage ich auch mal meinen Kindern, nein, Das wäre zwar jetzt schön für euch, aber heute habe ich keine Zeit dafür. Zäsur Atmo SPRECHERIN: Besser wäre es doch, mehr Zeit für die Familie zu haben. So lautet ein zweites familienpolitisches Modell. In manchen Ohren klingt es nach „Heimchen am Herd“. Es gilt als rückwärtsgewandt. Und will doch ganz anders verstanden werden. Jedem sollte die Möglichkeit gegeben werden, frei wählen zu können zwischen Berufstätigkeit und Elternschaft. SPRECHER 1: Michael Opielka knüpft daran an. Er ist Leiter des Berliner Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung und Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens. Auch Opielka fordert eine höhere Wertschätzung von Familien und Kindern in der Gesellschaft und eine tragfähige Eltern-Kind-Beziehung. Erziehungsgehalt nennt er seinen Vorschlag. CUT: (Opielka) Ich sehe in der Grundidee des Erziehungsgehaltes eine Anerkennung der Erziehungsarbeit, also der Familienarbeit, die meines Erachtens in den ersten drei Lebensjahren auch durch die Gesellschaft erfolgen muss und nicht nur durch den jeweiligen Partner erfolgen kann. Ein Erziehungsgehalt, das heißt ein existenzsicherndes Elterngeld für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr, finden sie in einigen skandinavischen Ländern wie Norwegen oder in Schweden, und steht nicht im Widerspruch zu einer hohen Investition in Kindertagesstätten. SPRECHER 1: Das Erziehungsgehalt sollte nach Ansicht Opielkas in den ersten drei Lebensjahren ausgezahlt werden. Der Grundbetrag für das erste Kind würde bei 1.500 Euro pro Monat liegen, Alleinerziehende bekämen 200 Euro mehr. Der Betrag für jedes weitere Kind läge bei 750 Euro monatlich. Im Gegenzug fielen Kindergeld, Kinderfreibetrag, das bisherige Elterngeld und der Rechtsanspruch auf einen Platz in der Kinderbetreuung weg. CUT: (Opielka) Man kann es auch als Elterngeld nennen, das ist eine reine Begriffsfrage, aber was auskömmlich ist, was existenzsichernd ist und den Eltern die Option bietet, anders als übrigens beim Betreuungsgeld, frei über die Erziehungspraxis zu entscheiden. SPRECHER 1: Opielka will, dass die Dominanz des Erwerbsdenkens zumindest für Eltern kleiner Kinder in den Hintergrund tritt. Fremdbetreuung, sagt er, dürfe für ein einjähriges Kind nicht das Maß aller Dinge sein. CUT: (Opielka) Ich selbst bin psychoanalytisch ausgebildet, bin Gruppenanalytiker und sehe die Bindungserfahrung für Kleinstkinder und Kleinkinder für ein zentrales Aufgabenfeld für Familie und für die Gesellschaft, dafür zu sorgen, dass Kinder eine sichere Bindung erleben können. Was richtig wäre, und da gibt es klare entwicklungspsychologische Befunde, wäre eine sehr intensive Betreuung im öffentlichen Bereich für Kleinstkinder, wenn sie Kinder mit einem halben Jahr oder einem Jahr öffentlich betreuen wollen, dann können sie Gruppen von maximal vier Kindern haben. Deswegen glaube ich, ist diese Kombination und Verknüpfung von Entwicklungspsychologie, Kinderpsychotherapie und Erzieherinnenpraxis fundamental für eine erfolgreiche Unterstützung von Familien. Zäsur Musik SPRECHER 1: Dass es in keinem anderen Land außer in Deutschland zwei so grundverschiedene Ansätze von Familienpolitik gibt, erklärt Opielka mit einem Blick in die Geschichte. CUT: (Opielka) Der Kindergarten wurde, wenn man historisch korrekt ist, in Deutschland erfunden. Friedrich Fröbel, also die Idee in Thüringen ist damals entstanden, die Idee einer öffentlichen Betreuung von Kindern, das ist eine deutsche Geschichte. In der Weimarer Republik, da wurde es zum ersten Mal in einem breiteren Umfang auch in den Kommunen realisiert. Die Familienpolitik als Geldleistungspolitik gab es damals noch nicht, es gab kein Kindergeld, das ist alles erst nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt worden. Deutschland war noch bis zur Weimarer Republik im üblichen Strom der Modernisierung, dann gab es den Faschismus. Das gab es auch in Italien, aber in Deutschland war er besonders ausgeprägt, weil hier eine Familienideologie propagiert worden ist, die bis heute fortwirkt. In kaum einem anderen Land der Welt finden Sie den Begriff Herdprämie für Geldleistungen an erziehende Eltern. Mutterkreuz-Ideen. Also die Idee, dass die Unterstützung von Mütterlichkeit etwas Reaktionäres oder gar Faschistisches ist, diesen Vorwurf finden sie nur in Deutschland. Danach kam das Besondere in Deutschland, dass Sie dann die Spaltung in Ost und West hatten und wir in Westdeutschland ein explizit konservatives Familienbild verfochten sahen und in der DDR eine Veröffentlichung der Familie, eine Vergesellschaftung der Familie propagiert worden ist. Und diese Spaltung, einerseits diese faschistische Geschichte und anschließend diese Spaltung in ein eher linkes und ein eher konservatives Modell, was dann ab 1990 zusammengeführt worden ist, dieser historische Weg, das ist ein deutscher Sonderweg und der wirkt sich bis heute in ein Dauerrumpeln in der Familienpolitik aus. Zäsur Musik SPRECHERIN: Am 21. Juli 2015 hat das Bundesverfassungsgericht das Betreuungsgeld gekippt – aus formalen Gründen. Der Streit um diese familienpolitische Leistung spiegelt die ideologischen Grabenkämpfe in der deutschen Familienpolitik wider. Auf der einen Seite die Hüter der Ehe mit traditioneller Rollenverteilung, ihnen gegenüber die Gleichstellungsverfechter. SPRECHER 1: An den Bedürfnissen der Kinder gehen beide vorbei. Die familienpolitischen Förderprogramme müssten sich stärker an der Frage orientieren: Was ist gut für die Kinder? Kinder benötigen eine verlässliche, stabile und wohlwollende Bezugsperson, die weiß, was sie brauchen, die ihr Verhalten versteht, ihre Bedürfnisse erkennt und erfüllt. Eine Person, die weiß, was Erziehung bedeutet. Das muss nicht die Mutter sein. Das können die Großeltern sein oder bei entsprechendem Betreuungsschlüssel auch die Erzieherinnen in den Kitas. Und das kann ebenso gut der Vater sein. Dass Männer gute Väter sein wollen und ihren Lebenssinn auch jenseits der Erwerbsarbeit suchen, zeigt ein Beispiel aus Hamburg. In einem Hinterhof im Stadtteil Altona hat der Verein Väter e.V. seine Räume. CUT: (Specht) Gegründet wurde der Väter e.V. von Männern, die gesagt haben, wir wollen uns ja beteiligen an der Erziehung und würden uns auch gerne austauschen über das Rollenverständnis, über das, was gut lauft, und das, was nicht so gut läuft. SPRECHER 1: Geschäftsführer Ralf Specht ist selbst Vater von zwei Söhnen; sechs und drei Jahre sind die beiden alt. CUT: (Specht) Die Väter sind in dem Dilemma, dass sie sich aufmachen, eine neue Rolle zu besetzen, aber das eher positiv sehen wollen. Das Gefühl, sich beraten zu lassen, das Gefühl irgendwo hingehen zu müssen und Ratschläge zu bekommen, ist für sie keine so angenehme Vorstellung. Sie möchten auch erstmal erleben, wie das eigentlich so ist. Ich glaube, das ist auch verständlich, dass die Väter sagen, ich möchte erst einmal positiv gesehen werden und nicht gleich darüber reden, was ich alles nicht kann. Atmo: Kinder innen SPRECHER 1: Das Lotte-Lemke-Haus an der Nordsee war auch mal für Väter offen. Aber die Gemeinschaft von Männern und Frauen habe sich als Nährboden für neue Konflikte erwiesen, sagt Karin Flick. Die Diplom-Psychologin leitet einen Erziehungskurs, das Effekt-e-Training. CUT: (Flick) Da geht es um positive Erziehungskonzepte, weil manchmal, das wissen wir, dass Menschen, die sehr depressiv und erschöpft sind, nur noch so eine negative Brille aufhaben. SPRECHER 1: Auf sechs Doppelstunden ist der Kurs angelegt. Wie kann ich das Selbstvertrauen meines Kindes stärken? Wie erkläre ich meinem Kind klare Regeln? Wie unterstütze ich die Freundschaften meines Kindes am besten? Eine Art Crash-Kurs zum Elternführerschein. CUT: (Flick) Der Vorteil dieses effekt-e-Programms ist, da bekommen die Mütter eine Mappe mit, da ist von jeder Stunde noch Hintergrundinformationen, da steht drin, wie redet man ruhig mit dem Kind oder was kann ich machen für mich selbst als Stressminderung. Und dann wäre das nächste tatsächlich eine Erziehungsberatungsstelle vielleicht noch mal, wenn man merkt, man braucht noch mehr Hilfe oder es gibt Sozialpädagogische Familienhilfen, die in Familien kommen. Das wird im Einzelfall auch überlegt, was bräuchte die Familie vielleicht zuhause noch zur Unterstützung. Atmo Kinder Atmo: Vater: Wo ich dann arbeiten war – ich bin dann ja auch mal zehn, zwölf Stunden aus dem Haus - das war dann nach Feierabend ganz schön stressig, da habe ich erst einmal eine Beschallung gekriegt. Mutter: Aber jetzt funktioniert. Vater: Jetzt ist alles o.k. Mutter: Da mein Gesundheitszustand auch nicht so pralle ist, kommt man eben schneller an die Grenzen, wo man sagt, so ich habe die Schnauze voll, kein Bock mehr. SPRECHER 1: Mutter und Vater sitzen am Wohnzimmertisch. Der 16-jährige Sohn ist nicht zu Hause, er macht eine Ausbildung, die 14-Jährige hat sich in die Küche zurückgezogen, der Neunjährige ist noch in der Schule. CUT: Vater: Unser Kleinster hatte ne massive Essstörungen, … Mutter: Er war untergewichtig, er hat einfach nichts Grobes essen wollen. Vater: Nur breiige Sachen. Für den normalen Menschen, für den normalen Lehrer sieht das so aus, oh der Junge isst nichts und Gefahr. Alarm… als würden wir ihn vernachlässigen, und und und. Mutter: weil er eben auch so dünn war. Mutter: Dann kam Jugendamt mit ins Spiel, dann haben wir Familienhilfe bekommen. Und jetzt läuft das so peu à peu. SPRECHER 1: Zwei Jahre unterstützte eine Familienhelferin diese Bremer Eltern. Fünf Stunden pro Woche. CUT: Mutter: Dann ist nicht mehr der Fokus so, alle haben immer nach Leon geguckt, isst er jetzt? ‚Kommt‘, sage ich, ‚ganz normal, wir essen, er isst und dann hat sich die Sache‘. Auch nicht mehr so loben, ‚oh prima, das hast du super gemacht‘ und so. Sondern ganz normal. Also ganz normaler Alltag bei uns. Das klappt wunderbar. Jetzt hat es bei uns selber Klick gemacht, was los ist. Jetzt binden wir die Großen mehr mit ein, nehmen sie in den Arm. Vater: Der Zusammenhalt in der Familie ist wesentlich noch mehr gestärkt. Wir sind eine Einheit. Zäsur Atmo SPRECHERIN Mit der sozialpädagogischen Familienhilfe sind freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe von Städten und Gemeinden beauftragt. Alle Eltern haben einen Anspruch darauf – vorausgesetzt das Jugendamt stimmt zu, dass die Eltern Hilfe bei der Erziehung ihrer Kinder benötigen. SPRECHER 1: Kerstin Reimann ist Diplom-Pädagogin und arbeitet seit 13 Jahren in der Sozialpädagogischen Familienhilfe. CUT: (Reimann) Es ist ein breites Spektrum von Erziehungstraining, Begleitung zu Ämtern und Behörden, Schuldenfragen bearbeiten, das heißt für uns dann häufig, dass wir gucken, gibt es da ein Problem mit Geld, Begleitung zu den solidarischen Hilfen, mit denen wir hier kooperieren, um eben Schulden und solche Dinge in den Griff zu bekommen. Partnerschaftsberatung, Beratung und Hilfen bezüglich der Kinder, also viel Arbeit liegt auch darin, dass wir erstmal Kontakt zu den Kindern aufbauen und gucken, was ist deren Problem, ist es vielleicht ein anderes, als die Eltern haben, Kooperation mit Schulen, allen Einrichtungen, die mit Kindern und Familien zu tun haben, Begleitung in Suchtkliniken. Manchmal ist es so, wenn eine akute Situation ist, dass wir dann auch vier, fünf Mal in der Woche dann da sind. SPRECHER 1: Häufig mangele es in den Familien an elementaren Dingen wie festen Tagesstrukturen. CUT: (Reimann) Ich bin immer so ein bisschen dagegen zu sagen, wir müssen das jetzt ganz, ganz schnell machen. Das funktioniert nicht. Was sich 20 oder 30 Jahre aufgebaut hat, können wir nicht rückgängig machen. Ganz gucken wir da nie hinter. Aber im Laufe der Zeit kristallisiert sich das heraus. Wir bearbeiten dann mit der Mutter, die ihr Kind nicht aus dem Bett kriegt, so ‚Sie müssen dann und dann aufstehen, dann müssen Sie das und das machen, wenn Sie Ihr Kind rechtzeitig in die Schule bringen wollen. Probieren Sie das aus. Nächste Woche reden wir darüber, wie gut das geklappt hat.‘ Ist die Situation aber so akut, dass das Kind seit drei Wochen schon nicht mehr da war, dann kann es auch durchaus sinnvoll sein, dass wir sagen: ‚so, das machen wir jetzt mal zwei Tage zusammen. Kommen Sie nicht aus dem Bett, weil Sie vielleicht Depressionen haben? Oder weil Ihnen das eh alles zu viel ist, oder weil Sie gerade Streit mit Ihrem Mann hatten‘, um dann zu schauen, reicht es, dass wir jetzt einen Plan machen und das einfach mal aufschreiben. Oft sagen wir dann auch: ‚Schreiben Sie doch mal auf, was Sie denken, was gut wäre.‘ Dann gehen wir das zusammen durch und dann ist das ein bisschen wie try and error. Wir versuchen, und wenn es nicht klappt, gucken wir, woran es liegt, und probieren was anderes. Oder wo ist vielleicht doch eine Therapeutin vielleicht mal angesagt entweder fürs Kind oder für die Mutter. SPRECHER 1: Der erste und wohl auch schwierigste Schritt, sagt Kerstin Reimann, sei für die Eltern, sich einzugestehen, dass sie in der Erziehung ihrer Kinder an ihre Grenzen gestoßen sind, dass sie Hilfe benötigen und sie auch einfordern. CUT: (Reimann) Wir würden jetzt nach Huchting fahren zu einer Familie mit vier Kindern. Die Dame ist jetzt verheiratet mit ihrem Lebensgefährten, von dem sind zwei Kinder. Die anderen zwei Kinder sind von dem anderen Lebenspartner. Eins lebt nicht bei der Mutter. Es leben drei Kinder bei der Mutter. Atmo: (Treppenhaus) Guten Tag. Hallo. Kommen Sie rein. Alles gut? SPRECHER 1: Bremen, Stadtteil Huchting. Ein sozialer Brennpunkt. Drei Jahre hat Kerstin Reimann die Mutter schon betreut. Gerade 16 Jahre alt war sie, als der Älteste zur Welt kam. Die Töchter sind sieben, fünf und zwei Jahre alt. Die Mutter wurde ungeduldig, wenn die Kinder nicht sofort machten, was sie ihnen sagte. Sie war überfordert und überforderte die Kinder. Kerstin Reimann hat behutsam das Vertrauen der Mutter gewonnen - durch Respekt, Neugier und im Bewusstsein, dass jedes Lebensmodell nur eines von vielen ist. Was wir anbieten, sagt die Familienhelferin, kann nur fruchten, wenn die Familien das auch wollen. Atmo: Hey, Süße. Das ist wiederum die Kleinste hier im Haus. Die Große: Habe gestern ein ganzes Buch gelesen…. CUT: (Mutter Huchting) Die Familienhilfe habe ich mir ins Haus geholt, weil es immer Unstimmigkeit gab zwischen mir und dem leiblichen Papa meiner großen Tochter. Deswegen wohnt der Große auch nicht hier, deshalb wurde er mir weggenommen damals. Ich war ja sehr streng. Mittlerweile bin ich so ein bisschen weicher geworden, dass ich sage, schimpf nicht wegen jeder Kleinigkeit, lass sie Kind sein, lass sie machen bis zu einem gewissen Punkt. … das funktioniert eigentlich ganz gut. Wir haben zum Beispiel das Problem gehabt, dass meine Große viel Märchengeschichten erzählt hat und ich immer gesagt habe, höre auf zu lügen und mir dann erzählt wurde, dass es gar nicht Lügen ist, sondern eher der Fall ist, dass sie erzählt das aus ihrer Sicht, wie sie es empfindet und wahrnimmt und nicht so, wie wir Erwachsenen das sehen, dass sie das noch gar nicht unterscheiden kann, das ist die Wahrheit, das ist gelogen. Also so mit Kleinigkeiten haben wir das hingekriegt, dass der Alltag ganz gut funktioniert. Atmo: (Verabschiedung) Bis demnächst. Gruß an den Gatten. Mache ich, wenn ich zu Wort komm. SPRECHERIN: Sozialpädagogische Familienhilfe zählt zu den Hilfen zur Erziehung, geregelt im Kinder- und Jugendhilfegesetz. Die Hilfe findet in den Familien statt. Die Helferinnen und Helfer geben den Eltern vor allem pädagogische Ratschläge im Umgang mit den Kindern heute und jetzt. SPRECHER 1: Oft reicht das aus. Aber nicht immer. Wenn die Ursachen der Probleme tiefer liegen, ist es wichtig, in die Vergangenheit zu blicken. Zu erkennen, was in der Eltern-Kind-Beziehung falsch gelaufen ist, die daraus resultierenden Defizite in der Entwicklung des Kindes zu verstehen und nach und nach abzubauen. SPRECHERIN Jetzt sind die Psychologen der Erziehungsberatungsstellen gefragt. Zäsur Atmo CUT: (EB Mutter 1) Unser Problem ist eigentlich Ende 2008 richtig doll geworden, weil mein Mann Alkoholiker war und 2008 das offenkundig wurde und sich dann eine sehr chaotische Zeit anschloss. 2010 habe ich mich dann getrennt von meinem Mann und inzwischen ist mein Mann verstorben, vor zwei Jahren. SPRECHER 1: Als sie sich von ihrem Mann trennte, erzählt die Frau, war die jüngere ihrer beiden Töchter zwei, die Große sieben Jahre alt. CUT: (EB Mutter 1) Ich habe den Kindern gesagt, Papa ist krank. Das war insbesondere für die Kleine total schwer zu begreifen, weil er gar keinen Gipsarm hatte und auch nicht im Bett lag, also nicht im Krankenhaus. Ich habe auch irgendwann den Kindern versucht, Alkoholismus zu erklären. Das haben die natürlich auch nicht verstanden, weil sie gesagt haben, warum hört Papa damit nicht einfach auf. SPRECHER 1: Der Vater starb, als die Kleine in die erste Klasse kam. Sie sprach nicht, klagte über Bauchschmerzen, weinte abends und wollte am nächsten Tag nicht in die Schule. Die Mutter wusste nicht, wie sie ihrer Tochter beistehen konnte, machte sich Vorwürfe. Schließlich rief sie die Erziehungsberatungsstelle an. CUT: (EB Mutter 1) Ich glaube, das Band sagte, geben Sie Name und Telefonnummer an. Wir haben eine Wartezeit von einem halben Jahr und melden uns unaufgefordert zurück. Das habe ich mir in den Kalender markiert, … und dann habe ich schon den Kalender auch angeguckt und das Verstreichen der Zeit und dann habe dann noch mal angerufen und dann war es aber so, dass ich auch direkt dran gewesen wäre. Das war dann sehr gut. CUT: (Oldenburg) Ich versuche im Erstgespräch, den Eltern ansatzweise, soweit sie dafür offen sind und das Gespräch gut läuft, deutlich zu machen, was ihr Anteil sein könnte an diesem Problem. SPRECHER 1: Diplom-Psychologin Gundula Oldenburg arbeitet in einer Erziehungsberatungsstelle. CUT: (Oldenburg) Das lässt sich ganz einfach deutlich machen an einem Mobile, was Sie hier hängen sehen. Das Mobile, das wäre eine Familie, Vater, Mutter, Kind, wenn sich ein Teil bewegt, bewegen sich alle Teile. Daran wird den Eltern deutlich: wenn sie möchten, dass ihr Kind sich verändert, das es auch dazugehört, dass sie offen sind, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren. Und je nachdem wie alt das Kind ist, können Eltern nicht erwarten, von einem fünfjährigen Kind, dass das Kind das Verhalten verändert, wenn das System um das Kind herum, das Verhalten beibehält. In der Regel überlegen die Eltern und kommen wieder und auch wenn es schwer wird, sie wollen also die Beratung in Anspruch nehmen. CUT: (EB Mutter 1) Letztlich ist es aber auch so, dass mir natürlich auch klar war, dass die Kleine, die jetzt akut der Auslöser dafür war, dass ich angerufen habe, dass die ja nur ein Teil dieses Systems ist, dass es ihr schlecht geht, das liegt ja nicht nur in ihr begründet, sondern ja auch in uns dreien, die wir jetzt hier geblieben sind, sozusagen. Und sie hat mitgenommen, dass das, was mit uns gemacht hat, dass wir keine Schuld an der Erkrankung meines Mannes haben und auch nicht an dem Tod meines Mannes. Das wurde ganz klar besprochen an der Stelle, wo noch mal über Sucht und Alkoholismus gesprochen wurde. CUT: (Oldenburg) Die Eltern haben oft ein geringes Selbstwertgefühl, wenn sie das Gefühl haben, ich mache es nicht gut. Und viele haben keine eigenen Vorbilder gehabt, also was macht ein guter Vater, eine gute Mutter, weil sie das selber nicht erfahren haben. Wir machen halt das, was wir können, so wie es geht. Aber wer hier angekommen ist und ein Problem schildert, der bleibt solange, bis er hier zufrieden raus geht. Das kann nach vier Wochen sein, das kann nach einem, zwei, drei Jahren sein. Zäsur Musik SPRECHERIN: Das Kinder- und Jugendhilfegesetz verpflichtet die Kommunen, für die Finanzierung von Erziehungsberatung und Sozialpädagogische Familienhilfe aufzukommen. Die Höhe des Etats für die Familienhilfe hängt von der Anzahl der Fälle ab, die das Jugendamt bewilligt. Je mehr Fälle, desto mehr Geld muss die Kommune bereitstellen. 760 Millionen Euro waren es im vergangenen Jahr in der Bundesrepublik insgesamt. SPRECHER 1: Doppelt so viel wie bei der Erziehungsberatung, in der Psychologen, Kinder- und Jugendlichentherapeuten und Sozialpädagogen mit familiensystemischer Zusatzausbildung arbeiten. SPRECHERIN: Für die Erziehungsberatungsstellen haben die Kommunen feste Etats. Je mehr Eltern sich beraten lassen wollen, desto länger sind die Wartezeiten. SPRECHER 1: Dabei sind nicht immer aufwendige Sitzungen nötig. Manchmal genügten einfache Ratschläge. Herbert Junk, Erziehungsberater aus Bremen, nennt ein Beispiel. CUT: (Junk) Also, ich hatte mal Eltern, die bei einem vier, fünfjährigen Kind sehr bereit waren, auf alles zu reagieren, was dieses Kind sozusagen von sich gegeben hat, immer versucht haben, das Kind zu beruhigen, den Wünschen gerecht zu werden. Wenn das Kind abends nicht schlafen konnte, immer wieder zum Kind hingegangen sind, immer wieder aus dem Bett genommen haben, die einfach versucht haben, Erziehung völlig konfliktfrei zu gestalten. Und denen konnte ich sagen, machen Sie es mal anders, Sie müssen sich da mal durchsetzen, sie müssen dem Kind auch mal zeigen, wenn Sie von einer Idee überzeugt sind, zu sagen, das ist richtig und das machen wir jetzt so. Ihr Kind muss auch lernen, da ist jemand, der hat einen Plan, der hat eine Idee und der macht das so und dann ist es auch gut für mich. Die konnten das so zack umsetzen und kamen schon in der nächsten Stunde wieder und haben gesagt, es ist viel beruhigter, es gibt viel weniger Geschrei als vorher. Das hat wunderbar geholfen. SPRECHER 1: Eltern müssten lernen, für welches Alter was gut ist: Grenzen setzen sei bei einem Kind angebracht, an dessen Verstand man appellieren kann, sagt Junk – nicht aber bei einem Säuglingen. CUT: (Junk) Selbst kleinste Kinder, die schreien, sollten die Erfahrung machen, dass die Eltern sich dann ihnen zuwenden und versuchen herauszufinden, was ist mit meinem Kind, warum schreit es. Es gibt Eltern, die kriegen das nicht hin, manchmal spielen da auch psychische Erkrankungen eine Rolle. Wenn sie sich vorstellen, wenn jemand selber sehr depressiv ist, dann ist häufig mimischer Ausdruck und Tonlage sehr reduziert. Die Leute sprechen manchmal überhaupt nicht mehr und sehr eintönig. Wenn Eltern von so einer psychischen Erkrankung betroffen sind, dann können die Kinder dieses feine Wechselspiel nicht mitkriegen. Und wenn diese Kinder später selber Eltern sind, dann fehlt ihnen eine ganz grundlegende Erfahrung, die haben keine Vorstellung davon, wie es in einem anderen aussehen kann. So was ist in einer Beratung nicht einfach zu vermitteln. Es gibt Dinge, die muss man erfahren und erlebt haben und die brauchen einen langen Zeitraum, bis sie herausgebildet sind. SPRECHER 1: Neben seiner Tätigkeit in Bremen arbeitet Herbert Junk im Vorstand der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung, einem Dachverband der Beratungsstellen. CUT: (Junk) Ich fände es schön, wenn wir besser ausgestattet wären, personell, um mehr von diesem Angebot auch anbieten können. Und die Bundeskonferenz, unser Fachverband, beklagt auch immer wieder, dass ein Stellenausbau eigentlich notwendig wäre und versucht es auch, mit statistischen Zahlen zu belegen. Musik SPRECHERIN: Erziehungsberatung ist so alt wie die Reformpädagogik. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts standen Ärzte und Hebammen mit Rat und Tat besorgten und überforderten Eltern zur Seite. Nach dem 2. Weltkrieg trat in der Bundesrepublik 1953 das Jugendwohlfahrtsgesetz in Kraft; Die „Beratung in Fragen der Erziehung“, wie es damals hieß, wurde in den Zuständigkeitsbereich der Jugendämter gelegt. In der DDR gab es gleichfalls ein Netz von kinder- und jugendpsychiatrischen Beratungsstellen, Mütterberatungsstellen, Schwangerenberatungsstellen und Kureinrichtungen. Seit der Wiedervereinigung regelt das Sozialgesetzbuch die Kinder- und Jugendhilfe. Laut Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation sollte für je 50 000 Einwohner ein vierköpfiges Erziehungsberatungsteam zuständig sein – in Deutschland müsste es demzufolge etwa 1.600 Beratungsstellen geben. SPRECHER 1: Tatsächlich sind es genau 1.056. CUT: (Dörner, Stimme oben) Man muss schon sehr differenziert drauf gucken, wofür wir unsere Bundesmittel investieren SPRECHER 1: Berlin, Büro der Bundestagsabgeordneten Katja Dörner. Sie ist stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion Bündnis90/Die Grünen und Mitglied des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. CUT: (Dörner) Ich glaube, dass wir eine ganze Reihe von Maßnahmen haben, die eben nicht wirklich dazu dienen oder nur auf den ersten Blick dazu dienen, Familien wirklich zu unterstützen. Das hat ja auch die Evaluation der ehe- und familienbezogenen Leistungen ergeben, dass wir eine Reihe von Maßnahmen haben, die eigentlich nicht wirklich effizient sind. SPRECHER 1: In der Kritik steht vor allem das Ehegattensplitting. Nach Ansicht der Grünen führt es dazu, dass Ehefrauen nicht berufstätig werden und im Alter ohne eigene Absicherung dastehen. SPRECHERIN: Und zu welchem Ergebnis ist die von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Evaluation in Bezug auf den gesellschaftlichen und familienpolitischen Nutzen der Erziehungsberatung gekommen? CUT: (Dörner) Ich bin mir gar nicht sicher, dass die im Detail untersucht worden sind. Ich glaube, dass das einen relativ simplen Grund hat, der in der Gesetzessystematik unseres Kinder- und Jugendhilfegesetzes, des SGB VIII, liegt. Wir haben im SGB VIII bestimmte Bereiche, wo Familien bzw. Kinder und Jugendliche einen individuellen Rechtsanspruch haben. Das sind auch die Bereiche, in denen es in den letzten Jahren eine große Dynamik gegeben hat. Ich habe einen individuellen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz, den muss die Kommune mir zur Verfügung stellen, ich habe einen individuellen Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung, dann muss die Kommune mir das zur Verfügung stellen. Bei der Erziehungsberatung, bei der Familienberatung ist es eben was anderes, sie muss es nicht. Und ich glaube, an der Schraube müsste man noch mal drehen auf Bundesseite. SPRECHER 1: Eine Nachfrage beim Bundesfamilienministerium ergibt die schriftliche Auskunft: SPRECHERIN Eine strukturelle finanzielle Beteiligung des Bundes an der Erziehungsberatung ist finanzverfassungsrechtlich nicht möglich. Zäsur Atmo SPRECHER 1: Alles bleibt beim Alten. Einen Rechtsanspruch auf Familienberatung gibt es nicht, was angeboten wird, liegt im Ermessen der Kommunen. Die Erziehungsberatung kann im Prinzip jeder in Anspruch nehmen - nur muss er auf einen Termin lange warten. Und wenn die Not groß ist, kann Beratung schnell zu spät kommen. Währenddessen streiten sich Familienpolitiker über Zuständigkeiten. CUT: (Lehrieder) Also gut, wir haben in den letzten Monaten bei den gesetzgeberischen Vorhaben im Ausschuss per se die Familienberatung nicht sonderlich im Fokus. SPRECHER 1: Paul Lehrieder, Vorsitzender des Familienausschusses, ist Mitglied der CSU-Bundestagsfraktion. CUT: (Lehrieder) Das ist nicht völlig neu, dass die Länder versuchen, den Bund in die Finanzverantwortung zu bekommen und sagen, bitte schön, kümmert ihr euch darum, und wenn ihr uns was vorschreibt, dann gebt uns Geld dafür. Aber wir müssten erst einmal die Erziehungshilfen, die Möglichkeit der Erziehungsberatung zumindest ausreichend bekannt machen und dann niedrigschwellig auch versuchen, in die Familien reinzukommen. Zäsur Atmo SPRECHERIN: Die Jugend- und Familienministerkonferenz der Länder richtete auf ihrer Sitzung im Mai 2014 die Bitte an den Bund, die Hilfen zur Erziehung weiterzuentwickeln und insbesondere die Vorschläge der Länder zur besseren Finanzierung umzusetzen. SPRECHER 1: Frage an das Bundesfamilienministerium: „Inwieweit wurde der Bitte der Länder entsprochen? In wieweit wird die Erziehungsberatung hierbei berücksichtigt?“ SPRECHERIN: Antwort: „Bund und Länder sind hierzu in Gesprächen. Auf Sitzungen der zuständigen Bund-Länder-Arbeitsgruppe werden sorgfältig Handlungsbedarfe und -optionen ausgelotet. Ergebnisse liegen derzeit noch nicht vor.“ CUT: (Wunderlich) Im Ausschuss ist deshalb wenig Resonanz, weil es ja auch primär ein Finanzthema ist, was den Haushalt angeht und die Zuweisungen an die Länder, und keine originäre Aufgabe des Bundes. SPRECHER 1: Jörn Wunderlich, parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestagsfraktion der Linken und deren familienpolitischer Sprecher. CUT: (Wunderlich) Wir arbeiten jetzt gerade am Einzelplan 17 Familienministerium, wo der Bundesfinanzminister eben sagt, ihr könnt gerne in irgendwelchen Einzeltiteln dieses Haushaltsplans aufstocken, aber ihr müsst eine Deckung aus dem eigenen Einzelplan dann erwirken. Das heißt, das was ich Familien auf der einen Seite gebe, nehme ich ihnen auf der anderen Seite weg. Zäsur Atmo SPRECHER 1: Der Begriff „Prävention“ wird in vielen gesellschaftlichen Bereichen gern verwendet. In der Kinder- und Jugendhilfe bedeutet Prävention etwas Gravierendes: Eine Heimunterbringung oder „Inobhutnahme“, wie es Amtsdeutsch heißt, nach Möglichkeit zu vermeiden. Durch rechtzeitige, systematische Hilfen zur Erziehung kann das gelingen. CUT: (Wunderlich) Das sind lohnende Investitionen in die Zukunft, die bringen auch Rendite. Heute ist ja alles renditebedacht, was kommt an Rendite raus. SPRECHERIN: Nach Angaben der Bundeskonferenz Erziehungsberatung kostet eine abgeschlossene Erziehungsberatung durchschnittlich 1.300 Euro. Der Tagessatz in der Heimunterbringung liegt bei 130.- bis maximal 200.- Euro. Wird ein Kind aus der Familie herausgenommen, schlagen im Durchschnitt 81.000 Euro jährlich zu Buche. SPRECHER 1: Nicht beziffern lässt sich, in wie vielen Fällen rechtzeitige Erziehungsberatung eine Fremdunterbringung tatsächlich abwenden kann. SPRECHERIN: Aber laut Statistischem Bundesamt haben Bundesländer, die die Erziehungsberatungsstellen finanziell besser ausstatten, geringere Kosten in der Heimunterbringung. In Schleswig-Holstein etwa waren im vergangenen Jahr von 10.000 Jugendlichen unter 21 Jahren 375 bei einer Erziehungsberatung. In Heime eingewiesen werden mussten 55. SPRECHER 1: In Hamburg lag die Quote bei 168 zu 110. SPRECHERIN: In Bremen wurden sogar weniger Jugendliche in Erziehungsstellen betreut als in Heime eingewiesen. Das Verhältnis lag hier bei 142 zu 152. SPRECHER 1: Die Bundeskonferenz Erziehungsberatung passt ihre Konzepte den veränderten gesellschaftlichen Problemlagen an: Trennung, Migration, Neue Medien. SPRECHERIN: Scheidungskinder sind überproportional betroffen. Ein Drittel der Kinder, derentwegen Erziehungsberatung erbeten wird, hat zumindest ein Elternteil mit Migrationshintergrund. SPRECHER 1: Und die Nachfrage an Online-Beratungen ist enorm gestiegen. Zäsur Musik SPRECHER 1: Resümee: SPRECHERIN: Über 150 verschiedene ehe- und familienbezogenen Leistungen gibt es mittlerweile in der Bundesrepublik. Die Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden dafür summieren sich auf 196 Milliarden Euro pro Jahr. Laut einer Erhebung der Zeitschrift „Eltern“ finden 80 Prozent der Befragten, dass diese Leistungen ihren Familienalltag nicht hinreichend entlasten. SPRECHER 1: Nur vier Prozent der Gesamtausgaben, 7,4 Milliarden Euro, lässt sich die öffentliche Hand Hilfen zur Erziehung kosten. SPRECHERIN: Auf die Erziehungsberatung entfallen 0,2 Prozent der jährlichen Gesamtausgaben. Atmo (Kinder) SPRECHER 1: Die Freude an den eigenen Kindern lässt sich mit Geld nicht erkaufen – aber oft mit den richtigen Worten zur rechten Zeit zurückgewinnen. Eine obligatorische Erziehungsberatung – vergleichbar mit Vorsorgeuntersuchungen – könnte dazu beitragen. Natürlich müsste das Beratungsangebot erheblich erweitert werden. Finanzieren ließe es sich mit den öffentlichen Mitteln, die durch den Wegfall des Betreuungsgeldes freigeworden sind. 450 Millionen Euro - genügend Geld, um die Zahl der derzeit tätigen Erziehungsberater mehr als zu verdoppeln. Derzeit gibt es 6.800 in Deutschland - Fachleute wie Gundula Oldenburg. CUT: (Oldenburg) Für mich ist es wichtig, dass die Eltern verstehen, dass das Verhalten eines Kindes, egal ob autistisch oder ein aktives oder depressives Kind, was auch immer es für Störungsbilder für Kinder gibt, dass das Verhalten eines Kindes für das Kind wichtig ist, subjektiv, das Kind will damit was ausdrücken. Auch ein störendes Verhalten hat für das Kind einen Sinn. Ich sehe es als meine Aufgabe an, mit den Eltern den Sinn dieses Verhaltens zu verstehen. … Und wenn ich das Verhalten eines Kindes verstanden habe und die Eltern auch, dann kann ich mit den Eltern Lösungen entwickeln. Absage: Erziehungsrat statt Erziehungsgeld? Möglichkeiten einer sinnvolleren Familienpolitik Sie hörten ein Dossier von Godehard Weyerer Es sprachen: Gregor Höppner und Nicole Boguth Ton und Technik: Hendrik Manook und Anna D´hein Regie und Redaktion: Ulrike Bajohr Eine Produktion des Deutschlandfunks 2015. 1