DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hhörspiel Redaktion: Sabine Küchler Feature DAS LAND IN MEINEM KOPF Eine Reise von Ostpreussen nach Polen Feature von Rainer Schildberger Produktion: SWR/DLF 2014 Personen: Erzähler Im O-Ton: Monika Schildberger, 84, Ostpreussenflüchtling aus Braunsberg Leon Rynkiewicz, 66, Schneider, Frombork Regie: Karin Hutzler Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 04. April 2014, 20.10 - 21.00 Uhr Atmo 01 Musik Kammer Sieben, Ostpreußenlied ?Land der dunklen Wälder?, Intro (nur leise Trommel) Atmo 02 HR Nachrichten 1990 (Drei Pieptöne/ Sprecherin) Am Vorabend der Reise von Bundeskanzler Kohl nach Polen hat der Bundestag die Unverletzlichkeit der polnischen Westgrenze betont. Atmo 03 Ausschnitt Satire Magazin X3 vom NDR (Moderator) ?Kennen Sie eigentlich den Bund der Vertriebenen?? Atmo 04 Ostpreußentreffen 2011 Fahnenauszug Marschmusik Atmo 03 Ausschnitt Satire Magazin X3 vom NDR (Moderator) ?Wie, das sagt Ihnen nichts? Der kümmert sich um die, die vor dem Zweiten Weltkrieg jenseits der Oder-Neiße-Grenze gelebt haben. Was ? Die kennen Sie jetzt auch nicht? Na gut. Das ist da, wo heute Polen ist. Und dieser Bund feiert jedes Jahr den Tag der Heimat.? Atmo 04 Ostpreußentreffen 2011 Fahnenauszug Marschmusik Atmo 05 Ausschnitt Tagesschau 1990 Sprecherin: Der Hauptredner der heutigen Kundgebung, der CSU-Vorsitzende Theo Waigl. Waigl: Mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8.Mai 1945 ist das Deutsche Reich nicht untergegangen. Atmo 06 Ausschnitt aus Unterhaltungssendung mit Peter Frankenfeld im Dialekt ?Erbarmung, was haben wir in Königsberg? Ein Wetterchen, na, wenn ich Ihnen sag, also wir haben keinen Sandsturm nischt. Neij,neij. Wir haben gar nüscht. Keine Springflut, kein Gefrier, gar nüscht. Atmo 05 Ausschnitt Tagesschau 1990 (Waigl) ?Es gibt keinen völkerrechtlich wirksamen Akt, durch den die östlichen Teile des Deutschen Reiches von diesem abgetrennt worden sind. Atmo 01 Musik Kammer Sieben, Ostpreußenlied, Instrumental-Intro (Geige) Ansage (Erzähler) Das Land in meinem Kopf Eine Reise von Ostpreußen nach Polen Feature von Rainer Schildberger O-Ton 01 Monika Schildberger Mit dem Fahrrad bin ich 15 Kilometer durch den Wald gefahren. Das war richtiger Tannenwald. Das war schon ganz schön dunkel. Und meine Mutter hat immer gesagt, dass du dich das traust. Da sind doch überall Russenlager, also Gefangenenlager. Dich kann ja einer überfallen. Da hab ich gesagt, solange ich fahre, singe ich. Das habe ich immer gemacht. Dann bin ich singend durch den Wald gefahren. (Lachen) Erzähler Land der dunklen Wälder und kristall´nen Seen. Über weite Felder lichte Wunder geh´n O-Ton 02 Leon Rynkiewicz Einmal wir fahren, ich war vielleicht fünf Jahre alt, wir fahren mit Fuhrwerke mit Pferden durch die Felder und Gehöfte. Und ich frage, Vati, warum ist das ausgebrannt? Vater sagte, das war ein Krieg. Von Bomben und von Feuer wurde ausgebrannt. Aber ich frage ja, aber wo sind diese Menschen? Warum renovieren nicht diese Häuser? Vater sagte, ich damals noch nicht verstanden: Die Menschen sind weg. Ich frage warum? Naja, wir auch sind weg-gegangen aus unsere Heimat. Was für Menschen das sind? Deutsche Menschen. Deutsche Menschen? Nicht gewusst, was für Mensch ist das, mit Hörnern mit Schwanz? Was die sehen aus diese Menschen? Sagt er, genauso wie wir, nur die sprechen andere Sprache. Wenn du willst noch mehr wissen das, du musst lernen diese Sprache, weil diese Menschen kommen wieder her. Und die werden dir persönlich alles erzählen. Atmo 01 Musik Kammer Sieben, Ostpreußenlied O-Ton 03 Monika Schildberger Noch im Wald, da siehst du plötzlich, alles weiß, du denkst, das ist so hell, dass man glaubt, was ist das? Und das ist der Sand. Der ist so wahnsinnig hell dort in Ostpreußen, dann gehst du durch den Sand, dann bist du am Meer und von da siehst du das tolle blaue Meer. Es ist einmalig landschaftlich schön. Das ist so unverdorben und so unbeschwert. Das habe ich ganz toll in Erinnerung. Atmo 01 Musik Kammer Sieben, Ostpreußenlied, geht über in Atmo 07 Polnischer Bahnhof, Ansagen, Pfeife, Abfahrt Zug Atmo 08 Rollkoffer nachts, Scherben Erzähler Mitternacht. Nach 13 Stunden umständlicher Bahnfahrt betrete ich zum ersten Mal Braniewo. Eine Kleinstadt im Nordosten Polens unweit der russischen Grenze. Eine breite Straße führt vom Bahnhof in die Stadt. Nur eine verrostete Laterne beleuchtet den holprigen Bürgersteig. Die Häuser sind dunkel. Vielleicht auch unbewohnt. Manche haben Einschusslöcher. Sofort ist da das Gefühl, in einer anderen Zeit gelandet zu sein. In einer Geisterstadt am Ende der Welt. Ich kenne hier nichts und niemanden. Nur die Geschichten meiner Mutter. Immer wieder erzählt. 70 Jahre alte Traumgebilde. Familienerbe. Bin ich deswegen hier? Ich weiß es nicht. Meine Mutter hatte mich sogar gewarnt. Da ist nichts mehr. Was willst du da? Ich gehe weiter über Glasscherben und lose Steinplatten. Ihren Stadtplan von Braunsberg aus dem Jahr 1939 im Kopf und die Geschäftsstraße, die Flaniermeile bis rauf zum Markt, wo es eine Brücke über den Fluss gab. O-Ton 04 Monika Schildberger Dann gab es ?die Renn?, da haben wir Jugendlichen uns alle getroffen, die Renn hieß das, und dann hat man da Freundschaften geschlossen auch mit Schülern vom Gymnasium und das war in der Bahnhof-Strasse. Und da haben wir uns immer alle getroffen und haben gequatscht und erzählt was wir anstellen wollten und so. Atmo 09 Ampelsignal Erzähler Da läuft plötzlich vor mir eine Gestalt über die Strasse. Will der was? Nein, der verschwindet um die Ecke. Autoscheinwerfer blenden. Ich atme auf. Doch keine Geisterstadt. Und bald erreiche ich eine hell erleuchtete Kreuzung mit Springbrunnen und Bänken ringsherum und Ampeln, die auch mitten in der Nacht noch blindengerecht Stop and Go signalisieren. Und auch die Brücke ist da, wo sie auf meinem alten Stadtplan eingezeichnet ist. O-Ton 05 Monika Schildberger (Blättern) Ich such bloß mal das Bergschlösschen. Damit du mal siehst, wie schön das war. Erzähler Wochen vor meiner ersten Reise war meine Mutter aufgekratzt wie lange nicht. Versorgte mich mit Büchern, Fotos und frischte alles auf. Irgendwie glücklich, dass ich nach Ostpreußen, in ihr altes Leben fahren würde. Aber stets einsilbig, wenn ich von meinem Wunsch sprach, auch das Polen von heute dabei kennen zu lernen. Als wollte sie mich davon abhalten, daran womöglich Gefallen zu finden. Als könnte ich das Falsche erleben. O-Ton 06 Monika Schildberger Die Passarge floss ja durch Braunsberg. Diese Passarge bestimmte auch die ganze Land-schaft bei uns in der Stadt, weil sich da viel abgespielt hat. Da bin ich als Kind im Winter immer Schlittschuhlaufen gegangen. Wir haben vom Krieg nichts gespürt. Für uns gab es gar keinen Krieg. Da wurde Musik angestellt und Schlittschuh gelaufen. Atmo 10 Glocken Pfarrkirche, Stadtatmo Erzähler Braunsberg vor dem Krieg. Hauptstadt des Ermlandes. Direkt an der Bahnlinie Berlin-Königs-berg gelegen. Sieben Kilometer flussaufwärts von der Mündung der Passarge ins frische Haff. Eine Schulstadt, eine Garnisonsstadt und das Zentrum des Katholizismus im ansonsten protestantischen Ostpreußen. Mit Kloster, Priesterseminar und einer imposanten Pfarrkir-che. Der 60 Meter hohe Turm schon von weitem zu sehen. Barocke Giebel zieren die Häu-ser, mächtige Fachwerkspeicher stehen am kleinen Binnenhafen. In den Hotels hat schon der Kaiser übernachtet. Es gibt eine Leder-, eine Likör-, eine Zigarren- und eine Dosenfabrik. Die große Amtsmühle verarbeitet das Getreide der umliegenden Landwirtschaften.1940, zur 700-Jahrfeier leben 21000 Menschen hier. O-Ton 07 Monika Schildberger (Rascheln mit der Landkarte) Monika: Und das ist das Rathaus. Und so schön waren die ganzen Häuser. Alles Barock.. Das nimm mal mit, wenn du das durchstudiert hast, bist du besser im Bilde. Rainer: Und hier auf dem Plan, kannst du mir zeigen, wo Euer Haus war? Monika: Es ist so schlecht zu lesen. Was steht hier, Ludendorffstrasse. Da bin ich immer durchgegangen. Rainer: Hier ist die Artilleriekaserne. Monika: Aha!.... O-Ton 08 Monika Schildberger (Rascheln mit der Landkarte) Rainer: Da! Hier ist die Simon-Wichmann-Strasse. Hier ist der Knick. Monika: Aha. Rainer: Dazwischen ist noch die Flieh?Monika: Flemmingstrasse. Rainer: Und hier ist ein Friedhof offensichtlich. .Monika: Ja. Rainer: Dann kann man sich ja orientieren, wenn man da hinfährt, wo alles ist. Wenn die Straßenzüge noch so sind. Monika: Aber vieles existiert nicht mehr. Atmo 11 Stimmung Straße Atmo 12 Krähen Erzähler Am Morgen. Der erste Blick aus dem Hotelfenster. Ein weiter Platz, eingerahmt von Platten-bauten. Auf dem Platz Baucontainer. Reparaturarbeiten an der Brücke über den Fluss. Spätsommer 2012. Schon melden sich die Geschichten meiner Mutter. Das Land in meinem Kopf. Durch den geistern Bilder eines schmucken Rathauses, einer mehrstöckigen Post und überhaupt einer dichten Bebauung mit kleinen Läden und Vorgärten. Irgendwann vor dem Krieg. Bilder aus einem Fotoband. Und Plätze sind da, die Namen tragen wie Pflaumengrund, Schwanenteich oder Himmelsleiter. Orte, die zu meiner Mutter gehören, die hier 1929 geboren wurde und bis zu ihrer Flucht, im Februar 1945, lebte. Atmo 13 Musik Ostpreußenlied (Läuferisch-fröhlich) O-Ton 09 Monika Schildberger Die Himmelsleiter, die hatte neunzig Stufen, und sportlich wie ich war und immer auf Achse, bin ich mit meinem Schlitten diese 90 Stufen runtergerodelt. Das soll man sich mal vorstellen, links und rechts waren Bretter. Das war nur eine ganz schmale Treppe, vielleicht 1 Meter oder 1,50 breit, und da bin ich einfach, weil ich nicht zu Fuß gehen wollte, bin ich mit meinem Schlitten im Winter über diese Treppe gerodelt. Atmo 14 Schritte auf der Holzbrücke Atmo 15 Stimmung Simon-Wichmann-Strasse Erzähler Ich laufe den ganzen Tag durch die Straßen. Der Grundriss der Stadt hat sich nicht sehr verändert. Nur die hölzerne Fußgängerbrücke über die Passarge ist an einer anderen Stelle. Alles ist leicht und schnell zu finden. Ich gehe die Plätze ab, die mir meine Mutter auf dem Stadtplan von 1939 markiert hat. Das meiste existiert nicht mehr oder ist durch Neues ersetzt. Die Schule durch die Feuerwehr. Das Kino durch ein Lokal. Ihr Elternhaus ist einem klobigen Betonwürfel gewichen. Ich stehe davor und versuche mir vorzustellen, wie sie hier lebte. Aber es gelingt mir nicht. Und weiter hinten, die Kopfsteinpflasterstrasse runter, steht schon ein Mann mit Hund am Zaun und fragt stumm, was ich da zu gucken habe. O-Ton 10 Monika Schildberger Ich hatte zwei Brüder und zwei Schwestern, die waren alle wesentlich älter als ich. Und wir wohnten im eigenen Haus mit Garten und Grundstück. Erzähler Nur ein paar Amtsgebäude, das Kloster und die Pfarrkirche stehen unverrückt. Das alles bedeutet mir nichts. Ich bin nicht hier, um Erinnerungen aufzufrischen. Denn das sind nicht meine Erinnerungen. Ich möchte neue Bilder. Und doch sitzen manche Geschichten, die meine Mutter erzählte, schon so lange in meinem Kopf, als seien es meine eigenen. In vielem sind wir uns tatsächlich ähnlich. O-Ton 11 Monika Schildberger Im Sommer war ich immer in der Badeanstalt. Ich hab immer viel Sport gemacht. Und war auch in der Woche dreimal auf der Aschenbahn, hab mir auch jede Siegernadel geholt, die es damals gab zu der Zeit. War eben sportlich durchtrainiert. Ich war immer unterwegs, ich war immer an der frischen Luft. Es ging mir gesundheitlich phantastisch. Atmo 16 Stimmung Stadion (Stimmen, Ansagen, Pfeife, Reaktionen Zuschauer) Erzähler In Braniewo ist wenig los. Es gibt kein Theater und keine Straßencafes. Das einzige Kino bringt einmal die Woche Filme, die bei uns schon Monate nicht mehr im Programm sind. Außerdem verstehe ich die Sprache nicht. Englisch spricht hier kaum einer. Also gehe ich erstmal ins Stadion. Die Eintrittskarte für das Fußballspiel zwischen Braniewo und Danzig kostet einen Euro. Die kleine Tribüne rostet. Hier, wo die Fahnen der Mannschaften flattern, war schon vor dem Krieg der Sportplatz. Aus dem Wäldchen hinterm Tor ragt die Pfarrkirche in den breiten Himmel. Atmo 16 Stimmung Stadion (Stimmen, Ansagen, Pfeife, Reaktionen Zuschauer) Atmo 17 Gang durch Scherben im Hotel Astra Erzähler Als das Spiel zu Ende ist, spaziere ich ziellos umher. Die Geschäfte sind Bretterbuden oder schäbige Pavillons, in denen es vor allem Schnaps und billige Kleidung gibt. Überall stehen Häuser leer. Auch das ehemalige Hotel Astra, das die russische Mafia gebaut hatte. An der Strasse, die aus der Stadt hinausführt, steht der neue Lidl-Supermarkt. Davor parken Autos mit russischen Kennzeichen. Bis zur Grenze sind es nicht einmal drei Kilometer. Kaum Betrieb, seit der neue Grenzübergang samt Autobahn vor einigen Jahren weiter südlich eröffnet wurde. Eine Bahnverbindung nach Königsberg gibt es schon lange nicht mehr. (Atmo 17 Ende) Erzähler Braniewo, die Hauptstadt der Woiwodschaft Warmia, hat 18000 Einwohner. Eine Stadt ohne nennenswertes Gewerbe. Bis auf eine Baumschule und eine kleine Möbelfabrikation. Wer kann, sucht sich eine Arbeit im Ausland. O-Ton 12 Monika Schildberger (Blättern) Ich such das Bergschlösschen. Wo hab ich das Bergschlösschen? Hier ist das Bergschlösschen. Guck mal, das war das Bergschlösschen. Erzähler Ich suche das Bergschlösschen. Mein Weg führt zur Brauerei. Ein riesiges Gelände oberhalb der Passarge. Nagelneue Anlage. Steht leer. Noch vor ein paar Jahren war die Brauerei der größte Arbeitgeber in Braniewo. Kurz vor Polens EU-Beitritt kaufte Heinecken den Konkurrenten, brachte das Unternehmen dann mit Fördergeldern der EU auf den neuesten Stand. Nach Auslaufen der Subventionen wurde das Werk geschlossen. Seitdem wird das Gelände direkt am Fluss, auf dem es schon vor dem Krieg eine Brauerei gegeben hat, nur noch bewacht. Das Bergschlösschen, der angrenzende Biergarten, ist längst abgerissen. O-Ton 13 Monika Schildberger Das ist der Pflaumengrund hier, wo wir immer die Liebespärchen belauscht haben. Hier hinter lag der Friedhof (Lachen), ich sag dir, ich hab Erinnerungen an Ostpreußen... O-Ton 14 Monika Schildberger Der Pflaumengrund, der war ganz tief, und da war eine riesengroße Fläche. Da wurden Volkstänze aufgeführt und bei Hitler war da immer großes Theater. Aufmärsche und wer weiß was, und da war ein großes Kriegerdenkmal noch aus dem 1.Weltkrieg. Und auf der anderen Seite war ein Schwanenteich, da schwammen die Schwäne rum. Das war sehr idyllisch. Atmo 18 Pflaumengrund, Wasser, Enten Atmo 19 Jugendliche (Polnischer HipHop) Erzähler Der neue Pflaumengrund ist ein Becken, in dem Enten schwimmen und Kinder ihre fern-gesteuerten Segelboote kreuzen lassen. In die Anhöhe des ehemaligen Stadtgrabens wurde ein kleines Amphitheater gebaut. Da sitzen Liebespaare im Abendlicht. Und Jugendliche haben eine Musikanlage aufgestellt und rauchen und träumen oder tanzen zur Musik. Ich schaue ihnen dabei zu. Lächle. Genieße den Frieden. O-Ton 15 Monika Schildberger Die jungen Burschen, die haben uns manchmal verfolgt uns Mädchengruppen. Und dann wurde diskutiert, wie die aussieht und die aussieht. Und dann hörte ich, wie der eine Junge sagte: Monika, das bin ich, ist eigentlich das schönste Mädchen von Braunsberg. Ich war ja keine Hässlichkeit. Atmo 13 Musik Ostpreußenlied (Läuferisch-fröhlich) O-Ton 16 Monika Schildberger Meine Tante hatte da ne Postagentur, und dann hab ich dort auf der Post alles gemacht, hab Geld angenommen und auch Pakete, hab meiner Tante geholfen zum Wochenende. Und plötzlich stand da einer am Schalter, hat mich von oben bis unten beäugt, der war aber in Uniform, und der hatte ein großes Auge auf mich geworfen. Das war der Sohn vom Revier-förster, und der hat mir nachher auch immer geschrieben und hatte Pläne wer weiß wie sehr. Wenn der Krieg vorbei wäre. Atmo 20 Sirene Fliegeralarm O-Ton 17 Monika Schildberger 44, im Dezember 44 kamen die ersten Flüchtlinge aus Tilsit, aus dem Memelland, da kamen ja die Russen zuerst von oben rein. Da ging der Krieg los für uns. Und dann haben sie Königsberg angegriffen. Die Feuerscheine hast du bis nach Braunsberg gesehen, das war ganz schlimm. Als das alles losging hat mein Vater noch sehr viel Pakete gepackt, hat Betten reingepackt, weil er gesagt hat, hier passiert was, hier werden wir raus müssen. Mein Vater hat ja immer den englischen Sender gehört. Der war ja immer im Bilde. O-Ton 18 Leon Rynkiewicz Ich heiße Leon Rynkiewicz. Ich bin Schneider hier und Dolmetscher. Und Taxifahrer und Mu-siker und alles in einer Person. Ich bin hier geboren. Meine Eltern gelebt vor dem Krieg und in Kriegszeit in polnische Gebiet, jetzt ist litauische Gebiet. Wenn das Krieg kam zu Ende, Russe hat abgenommen unsere Heimat und wir mussten weg. Der Zug unserer Familie wurde gebracht nach Braunsberg. Das war 46 im Mai. Ich bin geboren 1947. Ich bin echter Ostpreuße. (lacht) Atmo 21 Stadtstimmung Braniewo Atmo 22 Krähen Erzähler Jeder Deutsche, der nach Braniewo kommt, lernt dort auch Leon kennen. Schon seit frühester Kindheit interessierte sich der kleine, untersetze Mann für die Deutschen, die hier vor dem Krieg gelebt haben. Die Sprache brachte er sich selbst bei. Als in den 70er Jahren die ersten Besucher aus dem Westen kamen, schickte man sie immer zu ihm. So erfuhr er nach und nach von Leben und Schicksalen, die in Polen offiziell nie erzählt werden durften. Als wir in sein klappriges Auto steigen, bin ich plötzlich froh, hier zu sein. Einen Übersetzer zu haben und einen Menschen, der in Braniewo geboren wurde. Nach dem Krieg. O-Ton 19 Leon Rynkiewicz Ich bin erzogen zwischen deutsche Sachen. Die Blume in Garten, noch geblieben die Kreuze mit deutsche Schrift und die Teller. Und auch bei uns zuhause die Schuhe und die Kleider geblieben deutsche? deutsche Bilder, deutsche Möbel und Küche und alles. Mein Vater immer erzählt, was ist das, warum ist das. Das gehört nicht zu uns. Das waren deutsche Sachen. Atmo 23 Kampfflugzeuge O-Ton 20 Monika Schildberger Braunsberg haben die Russen bombardiert am 5.Februar. Werde ich nie vergessen. Nie. Von morgens bis abends. Es war entsetzlich. Das Haus hat gezittert und vor unserem Haus war ein Krater, da konntest du drei Pferdefuhrwerke reinstopfen. So ein Bombentrichter war da, wo wir immer gespielt haben. Meinen Vater hatten sie zum Volkssturm gezogen. War niemand mehr da. Nur meine Mutter und ich waren noch im Haus. Atmo 24 Kampfflugzeuge (Motorengedröhn kurz, Knistern, dann dt. Kommentar) Die erste Aufgabe ist gelöst. Nun soll Zieldorf mit Bomben belegt werden. Erzähler Ich weiß nicht mehr, wann mir meine Mutter zum ersten Mal ihre Ostpreußengeschichte erzählt hat. Aber immer wenn sie es tat, war sie erstaunlich gefasst. Nie hat sie gestockt oder gar geweint. Immer klang es wie ein Abenteuer in einer fernen Zeit. Fast wie in den Büchern, die ich las. Und so ist es auch in meinen Kopf geraten. Wie eine spannende Geschichte. O-Ton 21 Monika Schildberger Nach dem 5.Februar haben wir uns sofort auf die Socken gemacht. Und dann waren wir unterwegs bis zum 23.Februar. Ich hatte von meinem Vater nen Gehpelz mit Innenfutter und mit nem Bisamkragen drauf?Der ging mir bis an die Füße. Aber dadurch war ich geschützt. Auf dem hab ich auch geschlafen und alles. Ich war dann eben eingemummelt. Und dann haben wir uns ein Rad geschnappt und haben alles aufgeladen, was wir tragen konnten. Papiere, was weiß ich, vielleicht Zeugnisse. Ja doch, Handelsschulzeugnis hatte ich noch bei. Und dann hatte ich noch die Briefe von meinem Freund Theo, hat meine Mutter gesagt: Mit was plagst du dich hier rum? Lass das bloß alles liegen. Nee, die nehme ich mit. Und dann hatte meine Mutter noch eine Büchse Schmalz mitgenommen und ein Brot. Trinken kriegste unterwegs. Wenn nicht, haben wir Schnee gegessen. Es war ja genug Schnee da. O-Ton 22 Monika Schildberger Mein Vater hat gesagt, wir treffen uns alle in Brieselang. Das war unsere Anlaufadresse.. Das war allen eingeimpft, nach Brieselang in die Sudermannstrasse. Da treffen wir uns alle bei Tante Gretel. Das war unser Ziel. Atmo 25 Eisgehen 1 O-Ton 23 Leon Rynkiewicz (draußen) (Schritte) Wir stehen auf dem Stelle, wo in Fluchtzeit die alle Wagen mit Flüchtlinge und die Menschen mussten zu Fuß gehen durch die Haff. Das war eine gute Platz zum Einfahrt zum Eis. Das ist genau dieser Platz. Erzähler Mein Bild des Sommers: Kinder tummeln sich im Wasser. Ausflügler besteigen die Fähre hinüber zur Nehrung. Segler kreuzen auf dem Haff. Im Winter ein anderes Bild. O-Ton 24 Leon Rynkiewicz (draußen) Jetzt wir sehen schönes frisches Haff. Bedeckt mit Eis und schöne Himmel. Aber damals war Bombenflugzeuge. Und die Russen habe die Bomben geworfen und geschossen. Ich wollte nicht hier durchmarschieren, die Menschen musste. In Ungewisse. Atmo 26 Eisgehen 2 Erzähler Als meine Mutter am 7.Februar 1945 auf das Eis musste, war es von russischen Angriffen bereits brüchig geschossen. Dieser 7.Februar, an dem ich mit Leon auf einem kleinen Strand am Haffufer stehe, ist ein zauberhafter Tag. Die zugefrorene, verschneite Fläche glitzert im Sonnenlicht. Die Nehrung, die dünne Landzunge am Horizont zwischen Eis und Himmel, scheint zu schweben. Weit draußen sitzt ein Eisangler vor seinem Loch. Die Winterluft ist klar und brennt ein bisschen beim Einatmen. Ein Mann mit Hund wagt sich aufs Eis. Leon schüttelt den Kopf, zeigt auf die dunklen Risse, die sich schon gebildet haben. Doch der Mann mit Hund kennt sich offenbar aus. Er folgt der Spur des Anglers. Bald ist er nur noch ein schwarzer Punkt auf grellem Weiß. Auch ich will es wenigstens probieren. Vorsichtig setze ich meinen Fuß auf die undurchsichtige Schneedecke. Es knackt, es gluckst. Das Eis gibt nach. Schnell ziehe ich meinen Fuß zurück. O-Ton 25 Monika Schildberger Dann sind wir eine Weile gelaufen und mit einem Mal gab das Eis an einer Stelle nach und dann bin ich eingesackt. Und dann kam ein Landser, die waren ja immer alle neben uns, ir-gendwo fuhr ja immer Militär, und dann haben die mich rausgezogen da, und meine Mutter ist fast vor Schreck gestorben. Mit den nassen Klamotten bin ich noch bis nach Pillau zu Fuß gelaufen. Ich war zum Eisklumpen erstarrt. Das sind so von Braunsberg bis Pillau 50 Kilometer. O-Ton 26 Leon Rynkiewicz Rainer: Gehst du manchmal aufs Eis? Ich hab Angst, wegen einmal, ich habe mit Schlittschuhen gefallen in eine Loch. Habe ich geöffnet so unter dem Eis die Augen und schaue eine Helle wie Sonne, das muss sein diese Loch, ich muss treffen wieder in diese Loch. Und ist gelungen. Und seitdem ich will nicht. Jetzt, ich bin vorsichtig. O-Ton 27 Monika Schildberger In Pillau kamen wir an, und da kriegte ich ne Nierenbeckenentzündung. Ich hatte hohes Fie-ber und dann hat mir ein Arzt ne Bescheinigung ausgestellt, dass ich sofort abtransportiert werden muß. Auf alle Fälle sind wir an den Hafen und dann haben sie Pillau angegriffen. Und wie der Bombenangriff vorbei war, will ich aufstehen und kam nicht mehr hoch. Ich hab so einen Schock gehabt, dass ich gelähmt war. Ich konnte keinen Schritt mehr tun. Atmo 27 Hafen Nowyport (mit Flugzeug) Erzähler Da der Landweg von Ostpreußen ins Reichsgebiet Ende Januar 1945 abgeschnitten ist, bleibt nur noch die Flucht über das Eis und zur See. Wer Pillau, den Marinestützpunkt der Wehrmacht, überhaupt lebend erreicht und nicht schon im Haff ertrinkt, für den beginnt nun der Kampf um die freien Plätze auf den Schiffen. Das Gepäck muss im Hafen zurück-gelassen werden. Viele haben Glück im Unglück und schaffen es bis nach Rostock oder sogar Kiel. Tausende gehen mit der Gustloff und anderen ehemaligen Kraft-durch-Freude-Dampfern unter. Kleinere Minenräumboote fahren zwischen Pillau und Danzig Tag und Nacht hin und her. O-Ton 28 Leon Rynkiewicz (draußen) (Schritte; liest auf polnisch) 450000 ostpreußische Flüchtlinge flohen über Haff und Nehrung, gejagt vom unerbittlichen Krieg. Viele ertranken, andere starben in Eis und Schnee. Ihr Opfer mahnt zu Verständigung und Frieden. Januar und Februar 1945. Erzähler Unweit der Stelle, wo die Flüchtlinge auf das Eis gingen, steht seit einigen Jahren ein Gedenkstein. Leon geht oft hier vorbei. Auch weil er dort häufig deutsche Besucher trifft. O-Ton 29 Leon Rynkiewicz (draußen) Dieser Mann von Mainz?wenn er kommt, sitzt er hier und weint. Warum weinen Sie, das ist schönes Blick, wunderbares Wasser und Himmel? Nein, zwei Kilometer von hier meine Mama von Wagen gefallen und dort ist beerdigt. Für dich, das ist schönes Land, aber für mich das ist Grab von meine Mutter. Wenn ich komme hier, immer denke um diese Men-schen. Der Kollege von Mainz hatte geflogen mit Mama mit Schlitten am 25.Januar, dass ich immer um diese Datum um acht Uhr bringe eine Kerze oder ein kleines Blümchen für alle die sind gerettet und für alle die sind beerdigt hier. O-Ton 30 Monika Schildberger Du steigst über Leichen, du steigst über alles. Es lag alles an den Straßenrändern. Von Aussteuer, Geld, bis Schmuck, es lag alles da. Aber es hat dich gar nicht interessiert. Du wolltest nur weg. Erzähler Auf einem Minenräumboot gelangt meine Mutter bis nach Danzig. O-Ton 31 Monika Schildberger Und da sind wir in einer großen Halle gelandet. Da haben die Leute alle hingepüscht, das lief da alles. Das war ein altes Kino. Wir haben da nur in so nem Sessel gesessen und gedacht, wie kommen wir hier bloß weg. Erzähler Eine direkte Zugverbindung nach Berlin gibt es nicht mehr. Nur noch die Strecke an der Ostseeküste entlang. Ein Offizier schenkt meiner Mutter ein Pfund Sahnebonbons und einen Kamm. Dafür soll sie Briefe mitnehmen für seine Angehörigen irgendwo im Westen. O-Ton 32 Monika Schildberger Da ging nur Ellbogenfreiheit, sonst wärst du da nicht reingekommen. Es war ein ?Muss? dahinter. Du musstest, du wolltest einfach überleben. Erzähler Die Menschen hängen draußen an den Waggons. Nur noch das dabei, was sie am Leibe tragen. Für die kaum 200 Kilometer lange Strecke bis nach Kolberg, braucht der Zug mehr als eine Woche. O-Ton 33 Monika Schildberger Weil der Zug immer hin und her pendelte. Zurück und wieder vorwärts. Es hieß, die Russen sind schon wieder da. Und hinter uns hatten wir einen Waggon nur mit toten Kindern, die alle zwischendurch gestorben waren. Krieg Gänsehaut, wenn ich noch dran denke. Atmo 28 Bunker Tropfen Erzähler In Kolberg finden die Flüchtlinge Unterschlupf für eine Nacht. Sie bekommen sogar etwas zu essen. Am nächsten Tag kämpfen sie um die Plätze nach Stettin. Hier angekommen, werden sie sofort in einen Bunker unter den Bahnhof geschleust. O-Ton 34 Monika Schildberger Meine Mutter war immer unten, die konnte gar nicht mehr. Und ich hab das alles, ich war ja 16 Jahre jung, hab ich geguckt, kommt ein Zug, ja, hab ich meine Mutter raufgeholt, da war schon Himmel und Menschen auf dem Bahnsteig, da sind wir noch mit rein gekommen?Und dann hieß es, wir können nicht nach Berlin rein fahren, Berlin brennt. Atmo 29 Zug, quietschende Bremsen Erzähler Am 23.Februar steigen meine Mutter und meine Großmutter in Brieselang, einem Vorort westlich von Berlin, aus dem Zug. Da sind sie fast drei Wochen unterwegs gewesen. O-Ton 35 Monika Schildberger Wir haben vielleicht ausgesehen, musste dir mal vorstellen, verkommen und nicht gewaschen (lacht) wir haben ausgesehen wie die letzten Henker. Und dann sind wir zu Tante Grete und ich nüscht als nur ins Bett. Drei Tage Jalousien runter. Ich habe nur geschlafen. Meine Mutter auch. Wir waren total erschöpft, total erschossen. Erzähler Bis Kriegsende wird vor allem gehungert und gewartet. Im April taucht der Vater auf. Der ist mit Kameraden auf einem Floß über die Ostsee geflohen und hat sich zu Fuß durchgeschla-gen. Die Geschwister sind in der britischen Zone gelandet. Nur ein Bruder meiner Mutter findet den Weg nach Brieselang. Dort lebt die Familie von dem, was der Garten hergibt oder sich beim Klauen auf den Feldern oder in den Güterwaggons auf dem großen Verschiebe-bahnhof von Wustermark noch findet. Die Pakete, die der Vater schickte, kamen dort nie an. O-Ton 36 Monika Schildberger Dann habe ich meinen Mann kennen gelernt und der hat uns auch noch mit versorgt. Die hatten ja ne Kuh. Der hat uns immer Milch gebracht und Butter. Dann haben wir uns nachher verlobt 1948. Erzähler Auch Theo, der Sohn des Revierförsters, dessen Briefe irgendwo abhanden kamen, steht eines Tages vor ihrer Tür. Er hat sie über das Rote Kreuz ausfindig gemacht. Aber er kommt zu spät. Die Nachkriegsgeschichte der Familie hat schon begonnen. O-Ton 37 Monika Schildberger Ich hab dann vieles auch überwunden und hab auch dort Freundschaften gehabt in Briese-lang. Mein Vater wollte mit aller Gewalt zurück. Der hatte schon Leute zusammengestellt, die tatsächlich nach Ostpreußen zurück wollten 45/46. Das ging nicht. Ich wusste ja, es ist alles kaputt. Was sollte ich da? Was soll das? O-Ton 38 Leon Rynkiewicz Keine Deutsche geblieben. Ganz wenig in dieser Gegend. Braunsberg ein paar Familien, kurze Zeit, vielleicht ein Jahr, bis zu letzte Abtransport nach Westen war 1948. In jede Haus, deutsche Familie ist bekannt in jede polnische Familie. Bin geboren in Familie Grandaus Haus. Und wir gewartet. Wir immer gesagt, wir brauchen das nicht renovieren, kommt deutsche Familie, muss renovieren eigenes Haus. Wir nur gewartet auf diese Zeit, wann wir werden können nach Heimat fahren. Atmo 30 Ausschnitt Satire Magazin X3 vom NDR (Moderator) Hier z.B. in den 50ern, echt toll! (Marschmusik) überleiten zu Atmo 31 Rede Adenauer vor Vertriebenen 1953 Ich bin, ich wiederhole es nochmals, zutiefst davon überzeugt, dass im Laufe der gesamten europäischen Entwicklung auch für Euch, meine lieben Freunde, der Tag der Rückkehr in die Heimat kommen wird. O-Ton 39 Monika Schildberger Da kam man auch nicht hin. Und die Polen wollten ja unbedingt auch da bleiben, weil die das Land von den Russen gekriegt haben. Sie sind ja auch vertrieben worden von den Russen. Und das war nun ihr Land. Ostpreußen war ihr Polen. Du weißt ja mit Brandt, wie die alle drum gekämpft haben. Erzähler Während die DDR das Flüchtlings- und Vertriebenenproblem offiziell leugnet und die Oder-Neiße-Linie als Grenze zu Polen anerkennt, formieren sich in der Bundesrepublik die Landsmannschaften und Vertriebenenverbände, die sich mit dem Verlust der Heimat nicht abfinden wollen. Über Jahrzehnte bestimmen sie die Außenpolitik der konservativen Bundesregierungen mit. Bis zu einem endgültigen Friedensvertrag sollen die ehemaligen deutschen Ostgebiete unter polnischer bzw. sowjetischer Verwaltung bleiben. Atmo 32 Ausschnitt Satire Magazin X3 vom NDR (Moderator) Fragensteller: Haben die inzwischen dort geborenen Polen und Tschechen auch ein Heimatrecht erworben? Antwort: Nein! Erzähler Längst sind Fakten geschaffen worden, die eine Revision ohne erneuten Krieg unmöglich machen. Willy Brandt wagt mit seiner Ostpolitik einen Neuanfang. Im Dezember 1970 fährt er nach Warschau. Atmo 33 Gespräch mit Egon Bahr Es wird eine schwere Reise? Erzähler Egon Bahr anlässlich des 40.Jahrestages dieser Reise 2010. Atmo 33 Gespräch mit Egon Bahr ?weil man den Heimatvertriebenen die Illusion nehmen muss, die ihnen die Union weiterhin verpasst hat oder gepflegt hat, einer Rückkehr in die verlorenen Gebiete. Die Grenzen des vereinten Deutschland waren nur mit der Oder-Neiße-Linie, nicht durch eine Revision zu kriegen. Insofern war das ein direkter Schritt zur Vorbereitung der Einheit, aber belastet mit der Anerkennung der Realität oder dem psychologischen Opfer derer, die die Heimat verloren hatten. O-Ton 40 Leon Rynkiewicz Ende von 60er Jahre wir schon gewusst, dass wir bleiben. Und nach dem Vertrag, die pol-nische Familie hat angefangen renovieren. Erzähler Das Bild des Kniefalls von Willy Brandt in Warschau geht um die Welt. Atmo 34 Gespräch mit Egon Bahr Es wurde plötzlich mucksmäuschenstill. Und als wir rankamen und fragten, flüsterte einer: Er kniet. Ich hab das erst gar nicht gesehen. Ich hab das erst später in Fotos gesehen. Und wir waren genauso betroffen, berührt wie alle anderen. Und ich hab mich fast nicht getraut abends auf den Punkt zu kommen. Ich hab dann etwas burschikos gesagt: Das war ja doll. Und er hat nur reagiert: Ich hatte das Gefühl, einen Kranz niederlegen reicht nicht. O-Ton 41 Leon Rynkiewicz Wir Polen immer hatten Angst vor dem Deutschen. Unsere Propaganda gesagt, jeder Deutsche ist Spion und Bandit. Und deswegen wir hatten Angst. Atmo 34 Gespräch mit Egon Bahr Vor diesem Deutschland braucht man keine Angst zu haben. Das ist ein anderes Deutschland geworden. Atmo 35 Ausschnitte Reden Bundestag zur Ostpolitik 1970 Rainer Barzel Und wenn wir dann in der Zeitung lesen, in der Grenzfrage ginge es für die Bundesregierung nun zwischen Warschau und Bonn nur noch um eine Formel. Dabei geht es um ein Stück von Deutschland. Das uns alle angeht und nicht etwa nur die, die dort herstammen, meine Damen und Herren. (Beifall) Hier geht es nicht um eine Formel, hier geht es um Menschen, um Schicksale, hier geht es um Recht, hier geht es um Schlesien, um Pommern und um Ostpreußen. O-Ton 42 Monika Schildberger Na ja, viele haben gesagt, die verschenken so ein reiches, der Boden ist ja soviel wert. Da wächst ja Getreide wie weiß wie sehr. Hieß ja auch immer die Kornkammer Deutschlands. War ja im Grunde ein reiches Land. Da hat der Barzel auch zeitweilig gelebt, der Rainer Barzel. Atmo 36 Debatte Ostverträge 1971 Rainer Barzel Sie haben früher gesagt, es muss erst etwas für die Menschen rauskommen, dann können Verträge in Kraft treten. Sie sagen heute, ich mache erst Verträge und hoffe, dass dann für die Menschen was herauskommt. (Beifall) Zwischenruf: Unwahrheit!! Herr Kollege Wehner, Sie können ruhig rufen und brüllen... (Zwischenruf: Brunnenvergifter, Glocke. Tumult. Erzähler Die Debatte um die Ostgebiete ist in meiner Familie nie ein Thema. Vielleicht auch, weil sie zusammenfällt mit dem Tod meines Vaters im Januar 1972. Da bin ich 14. Die Heimat mei-ner Mutter ist im Diercke-Schulatlas das Land mit dem Querstrich. Über dem Strich steht ?Zur Zeit unter sowjetischer Verwaltung?, unter dem Strich ?Zur Zeit unter polnischer Verwaltung?. Meine Mutter winkt nur ab. Erst 1975 fährt sie zum ersten Mal zu einem Treffen ihrer Landsmannschaft nach Münster. Trifft die alten Freunde, singt die alten Lieder. Ein kurzer Moment der Nostalgie. Dann ist alles wieder wie immer. Weit weg und ohne Sehnsucht. Das Ostpreußischste in unserer Familie bleiben die Königsberger Klopse. O-Ton 43 Monika Schildberger Der Jude sagt immer fürs Gewesene gibt der Jude nichts. Auf dem Standpunkt stehe ich heute. Ich bin ein Realist immer gewesen. Erzähler In der öffentlichen Wahrnehmung sind die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie noch lange präsent. Nicht nur im Schulbuch. Atmo 37 Land der dunklen Wälder (Heino) Atmo 38 Peter Frankenfeld im Dialekt über das Wetter in Schlesien (Fluch) Kommst du zu uns nach Breslau zu uns in die sieben Berge, verstehst du, wenn du kimmst, gutes Wetter, kommst du nicht, schlechtes Wetter. Aber wenn du kimmst bei jedem Wetter, kriegst du immer einen guten Schnaps, verstehst du? O-Ton 44 Leon Rynkiewicz Das war vielleicht 75. Vor meine Haus steht ein Mann mit ein Stock und schaut in Fenster. Und ich frage, was möchtest du? Er sagte, ich bin ein Deutscher, in dieses Haus war eine Spielschule, Kindergarten. Ich sage, wenn du willst, bitte reingehen. Sagt er nein, nein. Bitte komm! Und wir gekauft viel Bier und gesprochen 6 Stunden. Das war ganz nette Mensch. Atmo 01 Musik Kammer Sieben, Ostpreußenlied O-Ton 45 Monika Schildberger Und wie mein Bruder gesagt hat, lass uns doch nach Ostpreußen fahren, mal gucken wie es da aussieht, hab ich gesagt, mit ganz gemischten Gefühlen fahr ich da hin, Hans. Dann habe ich mich breitschlagen lassen, dann sind wir 96 rüber gefahren. Dann habe ich zu meinem Bruder gesagt, hätten wir´s bloß nicht getan. O-Ton 46 Monika Schildberger Als ich die Stadt betreten habe, habe ich eine unheimliche Traurigkeit verspürt. Es war nicht meine Heimat, es war überhaupt nicht meine Stadt, meine Kindheit. Atmo 22 Krähen O-Ton 47 Leon Rynkiewicz Habe nie getroffen die deutsche Mensch, die gesagt, wir kommen für immer hier. Alle Men-schen gesagt, wir haben eigene Häuser, eigene Familie in Westen, aber hier wir will nur kommen, besuchen unsere Heimat. O-Ton 48 Leon Rynkiewicz Eine Frau kommt, ein bisschen geweint, alles erklärt, gezeigt, Kinderzeit, Geschichte und dann gesagt, Leon frag diese polnische Familie, ob die leben glücklich in mein Haus. Und diese polnische Frau sagte, ja, wunderschön. Da sagte, Gott sei dank, wir möchten das nur haben, ob die Familie ist glücklich. Atmo 39 Rundgang mit Leon durch Braniewo 2013 Kreuzung wurde genannt im Volksmund Kutschkow-Eck. (Blättern im Buch) Erzähler Leon zeigt mir alte Fotos. Nennt die deutschen Straßennamen. Weiß, wo Hitler im offenen Wagen lang fuhr. Wo welches Geschäft war. Die Synagoge brannte. Die Schule meiner Mutter stand. Die Fabrikhalle, in der sich die verbliebenen Deutschen zum Abtransport sammelten. Aber ich höre nur mit halbem Ohr zu. Atmo 40 Tauben, Bauarbeiten Erzähler Ich bin müde vom Barocktraum meiner Mutter, mag nicht ständig hinter der Planierraupe der Gewalt herlaufen und das Elend der Geschichte denken. Das Abgleichen der Stadtpläne habe ich längst aufgegeben. Sobald ich das Hotel verlasse, möchte ich in die Gegenwart eintauchen. Weitergehen ins neue Bild. Wo Mütter in Trainingsanzügen Kinderwagen schie-ben, ein Mann sich im Auto an der Ampel rasiert. Eine Frau im schicken Hosenanzug auf dem Markt drei Äpfel und eine Sonnenblume kauft und in eine Bank geht. Am Brunnen vor dem Supermarkt sitzen junge Burschen und trinken Bier. Hinter der Gardine im dritten Stock eines Plattenbaus steht ein alter Mann. Das sind die Striche meines neuen Bildes. Und am Himmel fliegen Wolkenfetzen. Der Wind weht kräftig. Riecht nach Meer. Fegt die Müdigkeit aus dem Kopf. O-Ton 49 Monika Schildberger Aber entschädigt hat mich die Ostsee?Da sind wir mit dem Schiff rüber gefahren. Und auf der Ostsee wurde gehalten, weil ja auf der Ostsee sehr viele Leute mit Schiffen versenkt worden sind 45. Und dann wurde eine Gedenkminute gehalten, um der Toten zu gedenken. Die Ostsee ist nach wie vor da und genau mit dem wunderschönen weißen Strand. O-Ton 50 Monika Schildberger Als ich das gesehen habe, kam meine Kindheit wieder. O-Ton 51 Leon Rynkiewicz (Auf dem Boot) Wo weiße Stelle man konnte sehen, das ist schon russische Seite. Das ist Sperrgebiet für Rote Army. Ist eine Dorf, die früher hieß Narmeln, alle Braunsberger gefahren mit Schiff nach Narmeln. Jetzt ist geschlossen, weil das ist Extrazone für die Rote Army. Atmo 41 Fahrt mit Boot aufs Haff Erzähler Ein Spätsommertag. In einem kleinen Fischerboot fahren Leon und ich auf das Haff. Wir kreuzen nur so ein bisschen hin und her. Am Horizont die Nehrung und die Dächer der Ferienhäuser von Kahlberg. Ich halte meine Hand ins Wasser. Es ist warm und klar. Und plötzlich sehe ich das, was auch meine Mutter sah. Den schmalen Waldgürtel. Die hellen Strandflecken. Den unbeschwerten Himmel. Die glücklichen, ahnungslosen Tage. Und es ist schön, auf diese Weise mit ihr verbunden zu sein. Was wohl aus meiner Mutter hier geworden wäre, hätte es die Nazis, den Krieg und die Flucht nie gegeben. Die Frau des Revierförstersohnes? Eine medizinisch-technische Assistentin, wie sie es vorhatte? Oder doch die Geschäftsfrau, die sie später anderswo wurde? O-Ton 52 Leon Rynkiewicz (Auf dem Boot) Langsam ich bin ein bisschen deutsch geworden. Von April bis zum September ich bin ein Deutscher. Mehr spreche deutsch als polnisch. Und dann von September ganze Winter ich bin eine Pole. Im Winter ich bin Schneider. Atmo 42 Anlegen O-Ton 53 Leon Rynkiewicz Ich habe eine gute Freund, hier geboren bei Braunsberg. Ich gekannt ein paar Jahre. Und er mir vorstellen für ganze Gruppe und gesagt: Heißt Leon, lebt hier, eine Pole, und er ist eine Brückebauer. Er brauchte kein Zement, kein Stahl, keine Maschine für diese Brücke, eine Freundschaftsbrücke zwischen Deutschland und Polen. Als Stoff er brauchte nur Liebe und Freundschaft. Wir leben als eine Familie. Atmo 43 Autofahrt über holprige Strasse Erzähler In Leons klapprigem Wagen geht es hinaus aus der Stadt durch die Wälder, die Felder entlang auf zeitlosen Alleen. Durch die ehemaligen Frontlinien. An Orten vorbei, die nicht mehr existieren, die sich der Wald zurückgeholt hat. Atmo 44 Leon 2 Am verschwundenen Dorf Ich gesehen die Kapelle und Kirche die Wände gestanden bis zum Dach. Guck mal vielleicht die Reste Treppen! (Schritte, Rascheln) Zu meine Kinderzeit ich kam mit meine Vater. Keine Bäume aber viele viele Gräber. Atmo 45 Wind, Laufen durch Gebüsch Atmo 46 Wind, Vogel Erzähler Immer wieder halten wir irgendwo an und Leon erzählt, zu welchem Haus diese Treppe gehört, die ins Unterholz führt, wo sich welche Tragödie abspielte, die Äcker blutgetränkt sind, aber auch, wo Agnes, eine Deutsche, die fliehen konnte und eines Tages bei ihm im Garten stand, zum ersten Mal geküsst hat. Atmo 47 Am Tisch bei den Polen (Stimmen, Lachen, Tassen) O-Ton 54 Leon Rynkiewicz Ein Mann seit vielleicht 20 Jahre kommt. Der Deutsche hat renoviert ein Zimmer und Küche und hat von April bis September gelebt zusammen mit polnische Familie. Zusammen gekocht, in eigene Haus. Und wollte bezahlen und sagt der Pole, nein, das Haus gehört euch. Atmo 47 Am Tisch bei Familie Piszcek Erzähler Wir landen am Kaffeetisch der polnischen Familie Piszcek. Im Haus, das sie heute bewohnt, haben früher die Hasselbergs gelebt. Ewald Hasselberg ist ein Jugendfreund meiner Mutter. Er lebt bei Köln. Als Rentner ist er in das Dorf seiner Kindheit zurückgefahren. Im Sommer bewohnt er hier sein altes Kinderzimmer. Der 85-jährige gehört inzwischen zur Familie. Die Piszcek-Kinder nennen ihn Opa. O-Ton 55 Leon Rynkiewicz (Am Tisch bei Familie Piszcek) Wenn Ewald kommt, er ist wie Heiliger für diese Familie. Ist stolz. Sagt, ich bin zuhause, mit Freunde. Erzähler Ewald selbst treffe ich nicht an. Er kommt erst nächstes Jahr wieder, wenn es seine Ge-sundheit erlaubt. Alicja Piszcek überlegt, ob sie ihm ihre Hilfe anbieten soll, wenn er einmal pflegebedürftig wird. Das wäre auch eine Gelegenheit, in Deutschland beruflich Fuß zu fassen. Die Sprache lernt sie schon. Sie fragt, ob meine Mutter noch lebt. Plötzlich bin ich mittendrin in der deutsch-polnischen Wirklichkeit, denn meine Mutter ist so alt wie Ewald Hasselberg. O-Ton 56 Monika Schildberger Das ist noch ein Verrückter. Der Hasselberg, der kennt alles noch. Der fährt ja auch jedes Jahr nach Ostpreußen. O-Ton 57 Monika Schildberger (am Tisch mit Autor) Monika: Mich zieht da nichts mehr hin. Das ist alles für mich fremd. Was reizt den Mann, da hin zu fahren. Mich reizt da gar nichts mehr. Atmo 48 Prozession, Solo-Stimme Mädchen polnisch Erzähler Abschied aus Braniewo. Ich sitze auf dem Platz vor der Pfarrkirche. Bis 1975 war sie eine Ruine. Sollte Mahnmal sein. Dann haben die Polen aus Braniewo und die Deutschen aus Braunsberg sie wieder aufgebaut. Das Wahrzeichen der alten und der neuen katholischen Stadt. Und wie ich da so sitze, öffnen sich plötzlich die Kirchentüren und eine Prozession beginnt. Die Menschen strömen aus der Kirche. Ordensschwestern, Männer in Uniformen, Priester im Ornat. Junge und Alte fein gemacht. Die Statue der Heiligen zwischen Blumen in einer Sänfte. Begleitet von einem Blasorchester. Die halbe Stadt marschiert hinter der Schutzheiligen her, die auch schon die Deutschen verehrten. Dreimal umrunden sie den Platz. Ich stehe nur da und staune. Auch die Leute wundern sich. Was steht der da? Wer ist das? Bis mir einer zuwinkt. Mich einlädt. Komm, geh einfach mit. Auf einmal kann ich mir vorstellen, eines Tages wiederzukommen. Ohne Auftrag, ohne Erbschein. Einfach so. In das neue Land in meinem Kopf. Atmo 48 Prozession O-Ton 58 Monika Schildberger (am Tisch mit Autor) Rainer: Das war´s aus Braniewo. Monika: Braniewo. Meine Güte. Naja. O-Ton 59 Leon Rynkiewicz Mein armes Herz, du darfst nicht klagen, die Heimat liegt so weit und fern, liegt wie ein Traum von goldenen Tagen, so unerreichbar wie ein Stern. Der Tag erfordert jede Stunde, dir nur die Arbeit ist geweiht, doch kommt der Abend bricht die Wunde aufs Neue auf in tiefem Leid. Und doch mein Herz, du darfst nicht klagen, und frag nicht mehr warum, warum? Das Schicksal bleibt für immer stumm. O-Ton 60 Monika Schildberger Ich habe echt gar nichts mehr von Ostpreußen, absolut nichts mehr. Leider. Nur im Kopf, im Kopf hab ich das alles registriert. Atmo 01 Musik Kammer Sieben ?Land der der dunklen Wälder? (Instrumental) Atmo 49 Bahnhof, polnische Ansagen, Stimmen, Schritte, Züge Absage: Das Land in meinem Kopf Eine Reise von Ostpreußen nach Polen Feature von Rainer Schildberger Mit: Monika Schildberger, Leon Rynkiewicz und Rainer Schildberger Ton: Andreas Narr Regie: Karin Hutzler Redaktion: Walter Filz Produktion: Südwestrundfunk mit dem Deutschlandfunk 2014