DEUTSCHLANDFUNK - Köln im Deutschlandradio Redaktion Hintergrund Kultur Essay & Diskurs Dr. Norbert Seitz/Dr. Matthias Sträßner Essay & Diskurs Exil - Traumatisierung und Mission (3/3) Diplomatische Interventionen Der Schriftsteller Liao Yiwu im Gespräch mit Jochanan Shelliem Gesprächsleitung: Jochanan Shelliem Gesprächspartner: Liao Yiwu Sprecher: Jochen Nix Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Sonntag, 11. August 2013, 09:30 - 10:00 Uhr Shelliem: Liao Yiwu, seit Sie 2011 über Vietnam aus China flüchteten, leben Sie in Berlin. Für Ihre Beobachtungen, Interviews und Zeugenberichte wurden Sie 2012 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels geehrt. Ihr Exil beginnt jedoch nicht erst mit Ihrer Flucht. Liao Yiwu, lassen Sie uns dessen Facetten betrachten, die Elemente, Leiden und Aggregationszustände ihres Exils. Ihr Exil beginnt mit einem Bruch in Ihrem Leben, den ein Datum markiert. Ihr Exil beginnt mit Veröffentlichung Ihres Gedichtes Massaker über die Niederschlagung der Demokratiebewegung am 4. Juni 1989 auf dem Tiananmen-Platz in Peking, dem wahrscheinlich dreitausend Menschen zum Opfer gefallen sind. Dabei waren Sie an diesem Tag gar nicht in Peking. O-Ton Liao Yiwu Sprecher: Als ich am Tag vor den Ereignissen auf dem Tiananmen-Platz das Gedicht Massaker geschrieben habe, habe ich die Zukunft des chinesischen Volkes unbewusst in eine Metapher gefasst. In dem Gedicht habe ich geschrieben, das chinesische Volk hat kein Zuhause mehr. Das Zuhause ist bloß ein zarter Wunsch. Der Tod ist unser Zuhause. Allein im Tod können wir unsere innere Ruhe finden. Damit habe ich die Zukunft des chinesischen Volkes vorhergesagt. O-Ton Liao Yiwu Sprecher: Es ist die Vorhersage mit dem Instinkt des Dichters, und seitdem waren alle Polizisten des Staates hinter mir her. Und dafür ging ich auch ins Gefängnis. O-Ton Liao Yiwu Sprecher: An allen Bahnhöfen, in allen Hafenstädten standen die Soldaten. Seit 1989 kann keiner das Land als sein Heim betrachten, ganz egal wo er lebt. In jenem Jahr wurden West- und Ostdeutschland vereint und in diesem Jahr ging China, auseinander. O-Ton Liao Yiwu Shelliem: Gestatten Sie mir eine persönliche Frage: Vor dem 4. Juni 1989 finden wir einen Liao Yiwu in Chengdu, der privat ist, einen Bohemien, einen Anarchisten in einer Gesellschaft, die er kritisiert, aber in der er sich halbwegs wohlfühlt. Was passiert mit Ihnen nach diesem Termin, was passiert mit China? O-Ton Liao Yiwu Sprecher: In meinen Jugendjahren erlebte ich das Ende der Kulturrevolution. In Maos China war das Land verschlossen. Mit dem Ende der Kulturrevolution kamen die westlichen Ideologien, Philosophien und die Literatur des Westens in das Land. Für mich war das ein Segen nach der großen geistigen Hungersnot. Ich habe alles aufgesogen, was ich kriegen konnte. Und was mich besonders fasziniert hat, war die Lebensweise der Beat Generation. Ich war noch sehr jung. O-Ton Liao Yiwu Sprecher: Ich war damals viel unterwegs, lebte wie ein Wanderer und fühlte mich sehr angezogen von der Beat Generation in den USA. Ich protestierte gegen den Staat und alles Kollektive, aber ich hatte keine Ziele. Utopien hatte ich auch nicht. Ich lebte nach dem Motto der Beat Generation: "We are on the road, we will find our goals on the way." O-Ton Liao Yiwu Sprecher: Als sich die politische Bewegung auf dem Tiananmen-Platz entfaltete und der Tod des Politikers Liao Bang die Emotionen der Studenten große Wellen schlagen ließ, bin ich fortgefahren. Ich bin von Beijing nach Chengdu zurückgekehrt, denn ich wollte demonstrieren, dass ich kollektive Bewegungen verachte. Ich wollte mein Gedicht "Massaker" auf dem Tiananmen-Platz auch nicht öffentlich lesen. O-Ton Liao Yiwu Sprecher: Der spätere Nobelpreisträger für Frieden Liu Xiaobo stellte sich damals auf die Seite der Studenten. Gemeinsam mit Zhou Duo, Gao Xin und Hou Dejian begannen diese vier hoch angesehenen Intellektuellen einen Hungerstreik, um gegen den Staat zu protestieren. Ich habe das verachtet, habe gedacht, das ist nicht meine Art. Ich habe mich davon distanziert. O-Ton Liao Yiwu Shelliem: Welche Folgen hatten für Sie, Ihr Denken, die Repression, die mit der Veröffentlichung Ihres Gedichtes "Massaker" einsetzt. O-Ton Liao Yiwu Sprecher: Ich sehe, was ich damals getan habe, wie es mein Freund Michael Day formuliert hat: Es war sehr dämlich. Ich habe das Gedicht geschrieben. "Massaker" erschien in einer Zeit, wo sich alle Menschen, alle Demonstranten auf der Flucht befanden. Selbst der Akademiker Fang Li Yü hat in der US-Botschaft Zuflucht gesucht. Zwar hat mein Freund, der Amerikaner Michael Day das Gedicht mit mir gemeinsam auf Tonbandkassetten übertragen, damit es verbreitet werden konnte, aber als er die Kassetten in seinen Rucksack gepackt hat, hat er schon gespürt, dass dies eine dämliche Aktion gewesen ist. Sie hat lediglich die Beweismittel geschaffen, die mich ich ins Gefängnis gebracht haben. O-Ton Liao Yiwu Sprecher: Und diese Bänder mit meiner Stimme, die das Gedicht "Massaker" deklamiert, waren der einzige Protest in diesen Terrortagen, die Polizisten waren überall unterwegs. Welchen Einfluss hat das Gedicht gehabt, welches Echo haben diese Kassetten erwecken können, ich weiß es heute auch nicht, ich weiß aber, es war die einzige Stimme des Protestes zu einer Zeit, da der Horror und der Terror in vollem Gang gewesen sind. Viele Menschen kamen wegen der Verbreitung dieser Kassetten ins Gefängnis. O-Ton Liao Yiwu Sprecher: Nach so vielen Jahren empfinde ich dieses Tondokument als surreal. Meine eigene Stimme aus dem Jahr 1989 erscheint mir wie eine Stimme aus dem Zweiten Weltkrieg oder eine Stimme aus der chinesischen Hungersnot von 1953/54. Wenn ich meine damalige Stimme wieder hören würde, würde ich sagen, das hat mit meinem eigenen Leben nichts mehr zu tun, es ist beliebiger historischer Augenblick geworden. O-Ton Liao Yiwu Shelliem: Liao Yiwu, Sie wurden zu vierjähriger Haft verurteilt, Haft ist ein Begriff, den man in Deutschland übersetzen muss, weil diese Situation in einem Gefängnis in einem demokratischen Staat sieht anders aus, als die Lebenssituation der Inhaftierten in China. Ich erinnere mich bei Ihren Aufzeichnungen, von denen ich den Mut und die Präzision gar nicht begreife, die Sie dann aufgebracht haben, diese Ereignisse, diese Lebensschicksale anderer Gefangener zu beschreiben, ich erinnere mich an eine Situation, in der Ihnen ein Häftling sagt: "Hör zu, du hast eine Gabe, du kannst schreiben, ich bin zu alt, ich habe nicht mehr die physische Kraft, du kannst schreiben, schreib auf, schreib ohne Tabus auf."Und ohne Tabus haben Sie ja dann aufgeschrieben und sind letztlich geflohen, um dieses Manuskript zu retten. Berichten Sie mir von dieser Veränderung in Ihnen und geben Sie mir ein Bild, um zu verstehen, woher Sie diese Kraft genommen haben, sich neu zu erfinden? O-Ton Liao Yiwu Sprecher: Wenn Sie mich so fragen, würde ich mit einem Verweis auf die Tradition meines Landes reagieren. Es ist mein Schicksal, das mir diesen Weg gewiesen hat: Ich wurde ausgewählt von meinem Schicksal, von dem lieben Gott, dass ich dieses Gedicht geschrieben und dafür gebüßt habe. Danach habe ich dokumentiert, was mir zustieß, was ich erlebt habe. Es blieb mir kein anderer Weg. Ich hatte meine Würde verloren. Ich bin allen anderen Gefangenen gefolgt, die unmenschliche Art und Weise, wie sie miteinander umgegangen sind, habe ich gesehen, die Menschenwürde wurde niedergetrampelt auf das niedrigstes Niveau. In der Tat ist das Gefängnis eine andersartige Erziehung. Der Mensch wird niedergeschlagen, man ist nur noch eine Hülle, man ist weniger als ein Hund und man versucht wieder hochzukommen, aber auf dem Wege muss man aufpassen, dass man nicht wieder zu Boden geschlagen wird, man hat nur Angst, nur Angst ... Es ist eine Lebenserfahrung, die voller Verzweiflung ist. O-Ton Liao Yiwu Sprecher: Ein normaler Mensch empfindet den Himmel als einen vollständigen Himmel, den Wind betrachtet man als eine sanfte oder starke Brise, man hat natürliche, gesunde Gefühle der Natur gegenüber. Im Gefängnis aber ist der Himmel oftmals ein kleines Stück geschrumpft, der Wind gelangt nur unter sehr bedingten Umständen zu uns. Das heißt, diese Gefühle für die Natur wurden verformt, teils sind wir ihrer beraubt worden, die Haftbedingungen zwangen Menschen, nicht mehr Menschen zu sein, sondern Monster zu werden. Ein Tier zu werden, war längst nicht genug. Man durfte nicht als Schaf erscheinen, ist man ein Schaf in so einem Gefängnis, wird man gerissen, hat man keine Überlebenschance. Man muss noch schlimmer werden als ein Tier, unter derartigen Haftbedingungen kann man nur als Monster existieren. O-Ton Liao Yiwu Sprecher: Als Liu Xiaobo meine Gefängnisdokumentation gelesen hat, schrieb er mir einen langen Brief. Da hat er erst realisiert, was ein normaler Mensch für seine Ideale oder Lebenswerte zahlen musste. Er war selbst sehr überrascht, was für Haftbedingungen ich erleben musste. Die Gefängnisse in China sind eigentlich sehr verschieden, sie sind in Klassen eingestuft. Politische Gefangene kommen in bestimmte Gefängnisse und andere Leute kommen in Schlimmere. Liu Xiaobo hatte eine Einzelzelle, er konnte auch noch lesen, er konnte auch noch denken, er hat sich sein Leben zum Ziel gemacht, er wollte so leben, wie seine Vorbilder Václav Havel oder Martin Luther King. Das Gefängnis war für Liu Xiaobo fast wie eine Universität, er konnte seine Gedanken filtern, weiterdenken. Meine Haftbedingungen jedoch waren etwas völlig anderes. Alles, was den Menschen ausmacht, wurde mir geraubt, ich wurde zum Tier gemacht, das ist ein sehr großer Unterschied. O-Ton Liao Yiwu Sprecher: Heute kann man sagen, dass Liu Xiaobo durch seine Gefängniserfahrungen eine Zeit lang zum Märtyrer geworden ist. Im Gefängnis haben sich seine Gedanken weiterentwickelt, hat er seine Konzepte formuliert und er ist zum Retter des Volkes aufgestiegen. Durch meine Gefängniserfahrungen bin ich zu einem Untier geworden, bin ich in derartige Tiefen des Daseins abgesunken, dass ich nicht wieder hochkam. Es hat nur eine einzige Methode, einen einzigen Rettungsweg für mein Leben gegeben, das alles aufzuschreiben, keiner hätte mich sonst retten können. O-Ton Liao Yiwu Shelliem: Aber haben Sie sich nicht geschämt? Als Mann schämt man sich, wenn man Impotenzgefühle hat. Man schämt sich, wenn man geschlagen wird, misshandelt wird, man möchte ja schön und stark sein, und wenn man aus dem Gefängnis kommt, will man sagen, ich habe es denen gegeben, die haben mich nicht klein gekriegt, das zu beschreiben ist ja eine erneute Erniedrigung. O-Ton Liao Yiwu Sprecher: Ich war voller Scham und Verzweiflung, durch meine Erfahrungen im Gefängnis war ich wie ein wildes Tier. Ein wildes Tier, das jedoch in der hoffnungslosen Dunkelheit der Helligkeit gegenüber sehr sensibel ist und aus diesem Instinkt versucht, sich in diese Helligkeit zu behaupten. Ich kann mich sehr gut an einen Augenblick erinnern, nach langen Jahren im Gefängnisalltag kam ich mit einem alten Mönch in Kontakt. Von ihm habe ich das Xiao-Flötenspiel gelernt. Bei ihm habe ich mit großem Erschrecken feststellen müssen, was ich alles verloren hatte, meine Sensibilität für die Natur, für Menschen, selbst wie ich eigentlich in das Gefängnis gekommen war, hatte ich vergessen. Er hat mir sehr viel beigebracht, das Menschsein, hat mir meine Gefühle für das Leben wieder zugänglich gemacht. Zum Beispiel hat er mir gesagt, die Menschen draußen sind nicht sehr viel anders als wir, in unserer Welt gibt es viele Wände, die Leute draußen leben in einer anderen Welt, sie haben nicht die Wände, die wir hier haben, doch sie sind auch nicht frei, letzten Endes leben wir in der gleichen Welt. Die Freiheit ist weder hier noch dort, es gibt sie nur in unserem Inneren, nur dort kann die Freiheit gefunden werden. Das war für mich wie ein Donner aus dem Himmel und ich habe angefangen, über mein Gefängnisleben nachzudenken. O-Ton Liao Yiwu Shelliem: Wann haben Sie den Entschluss gefasst, China zu verlassen? Warum sind Sie ins Exil gegangen? O-Ton Liao Yiwu Sprecher: Den Weg in das Exil habe nicht ich gewählt, der Staat zwang mich dazu. Damals wollten der S. Fischer Verlag und der taiwanesische Verleger Asian Culture meinen "Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen - Für ein Lied und hundert Lieder" veröffentlichen, die Sicherheitskräfte hatten dies über eine Email festgestellt. Sie kamen dann zu mir, setzten sich neben mich und durchsuchten meinen Computer. Sie haben nach meinem Vertrag mit dem S. Fischer Verlag gesucht. Gott sei Dank haben sie ihn nicht gefunden, sonst säße ich heute nicht hier. Seitdem jedoch wurde ich harschen Sicherheitsauflagen unterworfen. Ich durfte nicht mehr ausreisen, das Buch sollte im Ausland nicht erscheinen. Wenn es doch veröffentlicht werden sollte, so hätte das für mich mehr als zehn Jahre Haft bedeutet. Der Staat hat mich gezwungen ins Exil zu gehen. O-Ton Liao Yiwu Shelliem: Sie haben an anderer Stelle gesagt, Liao Yiwu, dass Sie wegen der Hausdurchsuchungen geflohen sind. Erzählen Sie mir von diesem Prozess, der Sie dialektisch in der Ferne zu einem Botschafter Ihres Landes gemacht hat. Denn Sie sind heute das Periskop für uns in Europa, vor Kurzem in den USA, in New York, nach China. Sie berichten uns von den Dingen, die wir nicht in den Medien sehen können, Sie sind ein Botschafter der chinesischen Gesellschaft geworden, der unsichtbaren chinesischen Gesellschaft. O-Ton Liao Yiwu Sprecher: Als ich das Gefängnis verließ, empfand ich mich als eine arme Ratte. Ich war voller Selbstmitleid und konnte mich selbst kaum ernähren. In so einem Zustand kam ich in Berührung mit den Personen, die ich in meinem Buch "Die Kugel und das Opium" porträtiere. Erst durch sie bin ich wach geworden. Erst da habe ich gesehen, dass diese Menschen ein noch miserableres Leben hatten als ich. Für wen hatten sie eigentlich gekämpft? Sie hatten sich für die Studenten auf dem Tiananmen-Platz eingesetzt. Sie konnten nicht ertragen, dass diesen Studenten mit dem Henker gedroht werden sollte und deshalb gingen sie auf die Straße und haben sich vor die Panzer gestellt. Eigentlich hatten sie nur die Studenten retten wollen, die "Säulen der Gesellschaft", so kamen sie ins Gefängnis und nach der Entlassung ließ man sie im Stich, von allen wurden sie im Stich gelassen, auch von den damaligen Studenten. Der Prozess der Interviews mit diesen Menschen war sehr langwierig. Viele wollten nicht mehr darüber reden, sie hatten ihre Vergangenheit aufgegeben, sie hatten auch ihre Gegenwart aufgegeben, eigentlich hatten sie auch die Hoffnung auf das Volk, die Menschen aufgegeben. "Die Kugel und das Opium", das waren zwölf, dreizehn Geschichten, mehr war das eigentlich nicht, aber es hat viele Jahre gedauert, weil es so schwierig war. Und hier bedanke ich mich so herzlich bei einem Maler, dessen Geschichte auch in dem Buch erscheint, Wu Wenjian, durch ihn konnte ich überhaupt mit den so genannten "Rowdys vom 4. Juni" in Berührung kommen. Die Regierung hatte sie als "4. Juni Gangster" bezeichnet. Zwischen uns herrschte zunächst eine sehr große Distanz, sie hatten gegenüber den so genannten Intellektuellen und der gesellschaftlichen Elite einen großen Hass entwickelt. Deshalb wollten sie sich mir gegenüber gar nicht öffnen. Ohne Wu Wenjian wäre dieses Buch "Die Kugel und das Opium" überhaupt nicht zustande gekommen. O-Ton Liao Yiwu Shelliem: Liao Yiwu welche Erfahrungen haben Sie im Exil gemacht? Wie hat das Exil Ihr Leben verändert, denn eigentlich sind Sie in der Sprachlosigkeit noch sprachmächtiger geworden. Das heißt, Sie bewegen sich jetzt in Berlin, in einer Stadt, deren Sprache Sie nicht sprechen, aber Sie sind mehr gefragt, mehr gefordert denn je, über Ihre Erfahrungen, über die chinesische Gesellschaft zu sprechen. O-Ton Liao Yiwu Sprecher: In meinem so genannten Vaterland war ich stets auf dem Weg des Exils. In meinem zweiten Lebensjahr habe ich die Große Hungersnot erlebt, die mehr als vierzig Millionen Menschen forderte. Viele Menschen in meiner Nähe starben. Das habe ich in jungen Jahren erlebt. Als ich sieben oder acht Jahre alt war, war die Kulturrevolution in vollem Gange und meine Eltern wurden verhaftet. Ich bin ein Waisenkind, ein Straßenkind geworden. Das Schulsystem war stillgelegt und ich habe nie eine richtige Erziehung genossen. Als die westliche Philosophie und Bücher aus dem Westen importiert worden sind, zog mich das einerseits sehr an, aber dann entwickelte sich auch schon die politische Bewegung von 1989 und ich musste schon ins Gefängnis gehen. Rückblickend kann man sagen, dass ich eigentlich lebenslang im Exil gewesen bin. O-Ton Liao Yiwu Sprecher: In diesem Leben habe ich von klein auf bis heute in China nur Verluste gekannt. Ich verlor meine Familie, ich habe meine Tochter verloren, sie ist jetzt 26 Jahre alt, ich war wahrscheinlich höchstens zwei Monate mit ihr zusammen, zweimal bin ich geschieden. In China führte ich ein Leben, aus dem meine Wurzeln ständig herausgezogen worden sind. Ich musste mich ständig bei den Sicherheitskräften melden, so sah mein Leben aus, das war der Alltag in meinem so genannten Vaterland. Doch in mir gab es auch den Wunsch, eine Heimat zu finden, und da bedanke ich mich bei meinem Vater. Er hat mir die chinesischen Klassiker beigebracht, in deren Schriften wird Heimat für mich sehr fassbar und konkret, in den alten chinesischen Klassikern finde ich meine Heimat. Aber kennen wir Konfuzius, Motse oder Laotse, die alten Philosophen? Ihre Bücher bieten eine wunderbare Heimat, aber diese Heimat, die großen Trost spenden kann, findet sich in der Realität nicht. Dazwischen liegt eine verdammt große Distanz. Deshalb muss ich sagen, mein ganzes Leben hat eigentlich allein das Wort wieder gespiegelt, Exil. O-Ton Liao Yiwu Sprecher: Ich lebe jetzt im Ausland, hier in Deutschland, in Berlin. Ich habe eine Wohnung gekauft und es ist ein fantastisches, ein wunderbares Gefühl der Sicherheit zu wissen, dass die Polizisten nicht einfach bei mir eindringen werden. Ich weiß, dass meine Manuskripte nicht beschlagnahmt werden. Zwar befinde ich mich in einem Land, dessen Sprache ich nicht mächtig bin, aber ich kann mich langsam anpassen, kann auch die Sprache langsam lernen. Ich spüre Freiheit und ich spüre auch eine Art von Beruhigung, die mir meine wirkliche Heimat, das Vaterland, nie hat geben können. O-Ton Liao Yiwu Sprecher: Sie haben mein Herz angesprochen und ich will Ihnen beschreiben, wie sich meine Gefühle im Exil verändert haben, nachdem ich mich in Berlin niederließ. Ich habe mir eine Wohnung in Berlin gekauft. Jeder Mensch, jeder normale Mensch würde sich darüber freuen und anfangen, die Wohnung einzurichten, all das zu tun, was damit verbunden ist. Doch es war komisch, ich wollte nicht. Ich wollte diese Wohnung nicht einrichten, ich war ständig empört, prangerte Zustände in China an, ich zeigte meine Wut, auf Twitter kann man sehr leicht mit den Menschen in China verbunden sein. Und dann haben meine Freunde hier in Berlin für mich ein Bett gekauft. Also habe ich angefangen, in dieser Wohnung zu schlafen. Doch mir kam alles eigentlich recht fremd vor. Ich war gewohnt, mit den Provisorien des Exillebens zurechtzukommen. Ich hatte eigentlich noch nie so ein Bedürfnis, eine Heimat zu finden, doch allmählich habe ich kapiert, mein ganzes Leben in China war ich schon auf der Flucht. In Deutschland aber hat mich meine Freundin Guo ständig ermahnt: "Du, mach das mal, du hast doch eine Wohnung gekauft, du musst doch ein Nest haben." Dieser Begriff war mir sehr fremd. Ein Nest? Wozu brauche ich ein Nest? Ich war es eigentlich gewohnt, mich mal hier ein paar Monate aufzuhalten, ein paar Monate dort zu wohnen, jetzt aber spüre ich etwas Neues für mich. In mir entwickelt sich ganz langsam das Empfinden auf dem Weg in ein nagelneues Leben zu sein. Vor zwei Monaten bei meiner Friedenspreisreise begegnete ich in Brüssel einer Journalistin von der New York Times und diese Dame, vielleicht weil sie eine Frau ist, hat mich ständig nach meiner Wohnung gefragt, sie fragte mich: "Was haben Sie denn in der Wohnung?" "Ich habe ein Bett." "Ja was denn noch?" "Ja, ein paar Pfannen habe ich auch."[...] Irgendwie habe ich den Eindruck, dass diese verdammte Wohnung einzurichten zu einem Problem geworden ist. Selbst Herta Müller fragt mich: "Ja, wie weit bist du mit der Wohnung?" Sie fragt: "Was brauchst du denn? Du hast einen Garten, habe ich gehört, welche Pflanze, welchen Baum hättest du denn gerne?" "Ja", habe ich da gesagt, "ein Ginkgo. Ein Ginkgobaum, das ist eine gute Idee." Oder auch Pamela Biermann, die Frau von Wolf Biermann, hat mich besuchen wollen. Irgendwie habe ich jetzt angefangen zu verstehen, was man von mir will und was ich verdammt haben muss, eine Heimat. O-Ton Liao Yiwu Shelliem: Ich bin ein Mann, Liao Yiwu und ich würde gerne eine ebenso intime Frage stellen: Finde ich bei Ihnen, in Ihrer Wohnung, in Ihrem Portemonnaie, in Ihrer Hose, wo auch immer, Dinge des Exils, gibt es etwas, eine Fahrkarte, ein Foto, einen Zettel, ein Etwas, das für Sie ein wichtiges Element Ihrer Kindheit, Jugend, ihrer chinesischen Existenz in China repräsentiert, symbolisiert und das Ihnen wichtig ist, mitgenommen zu haben. O-Ton Liao Yiwu Sprecher: Sie haben eine sehr interessante, gute Frage gestellt. Klar hatte auch ich dieses Bedürfnis, etwas mitzunehmen, wenn ich mich im Exil befinde, in China habe ich immer Bücher mitgenommen. Immer wenn ich flüchten musste, habe ich immer meine Bücher mitgenommen, beispielsweise das "Shi Ji", die Chronologie der Geschichte von Sima Quian. Sima Quian war einer der größten Historiker Chinas, er lebte vor zweitausend Jahren. Fotos von meinem Vater und von meiner älteren Schwester trage ich auch bei mir, seit vielen, vielen Jahren. Das sind meine Lebensgewohnheiten geworden. Diese Dinge habe ich immer in meinem Rucksack, sie sind bei mir. Die Bücher führen dazu, dass ich vergesse, wo ich mich gerade befinde. Und die Bücher haben noch eine Funktion, sie ziehen mich zu meinen Vorfahren, zum Beispiel zu Konfuzius, der sich im hohen Alter von 56 Jahre in sein Exil begab. Erst als er siebzig Jahre alt ist, kehrt er in seine Heimat zurück und danach bleiben ihm gerade noch drei Jahre, um diese gewaltige Philosophie mit den verschiedenen Zweigen des damaligen China zusammenzufassen. Er hat viele großartige Werke hinterlassen. Konfuzius ist eigentlich der Urahn, der Urgroßvater des Exils in der chinesischen Geschichte. Oder auch Laotse, der Philosoph konnte nicht in seiner Heimat bleiben, er musste flüchten. Ich habe das von meinen Vorfahren gekannt: Um die Bedeutung, die substanzielle Bedeutung der Heimat zu finden, muss man oftmals seine Heimat verlassen. Nach meiner Flucht wohnte ich in der Uhlandstraße in Berlin. Unweit der Uhlandstraße ist ein Friedhof im Volkspark, zu dem es mich hingezogen hat. Ich habe damals fast täglich Spaziergänge gemacht. Auf dem Friedhof begegnete ich vielen Verstorbenen, deutschen Verstorbenen. Ich führte während dieser Spaziergänge auf dem Friedhof im Volkspark Dialoge mit den Verstorbenen des ersten großen Krieges oder vom Weltkrieg. Ich bekam nie eine Antwort. Oft waren das auch Monologe, aber ich spürte immer ihre Ermutigung. Diese Verstorbenen antworteten auf meine Frage nicht, aber ich hätte sowieso kein Deutsch gekonnt, um mit ihnen einen Dialog zu führen, für mich waren es wunderbare Erlebnisse. Sie gaben mir das Gefühl, mit diesem Friedhof so eng verbunden zu sein. Er war fast meine Heimat. O-Ton Liao Yiwu 13