Wie viel „OM“ braucht Yoga? Eine Gratwanderung zwischen Sport und Religion „Nachspiel“ für Deutschlandradio Kultur, am 8.12. 2013 Autorin: Marianne Allweiss Musik Festivalsong „OM, mein Dom“ Stefan Datt: „Applaus. Na, gut, also schön, dass Ihr da seid, dass wir gemeinsam feiern können. Wir haben ein tolles Programm. (…)“ mit Atmo hinten dran. Darüber: Das Programm, das Stefan Datt anpreist, ist das des Berliner Yoga-Festivals. Es findet schon zum 9. Mal statt und ist eine der größten Veranstaltungen dieser Art in Europa. Ein Motto gibt es auch: „OM sweet hOMe“ heißt es dieses Jahr. Aber mit einem einfachen, oder dreifachen OM ist es hier, bei der Eröffnung des Festivals in einem Zelt in Kladow an der Havel nicht getan. Stefan Datt: „So, wir singen für Euch, oder mit Euch gemeinsam einen Ganesha-Kirtan, ganz kurz, ein paar Minütchen. Ganesha, die Energie, die man zu Beginn einer Veranstaltung dann auch immer anruft.“ Dann Gesang Ganesha-Kirtan und darüber: Kirtan ist Sanskrit und bedeutet das Singen eines Mantras, also einer heiligen Silbe, eines heiligen Wortes oder eines heiligen Verses. Das wichtigste Mantra im Hinduismus ist OM. Es verbindet die drei Klänge a, u und m. Es hat keine Bedeutung im Wortsinn, gilt aber als Symbol des Hinduismus, da es als Urklang und als Klang des Absoluten verstanden wird. Eine standesgemäße Einstimmung also, zumindest für alle Hindus oder für alle, die an Ganesha glauben. Eine Figur dieses Gottes mit dem Elefantenkopf steht auf der Bühne, mit Blumenkränzen geschmückt. Neben der Holzfigur sitzt Stefan Datt. In einem langen, weißen Hemd über einer orangefarbenen Hose. Er ist Physiotherapeut und Yogalehrer und hat das Festival zusammen mit seiner Freundin Miriam Kretzschmar organisiert. Stefan Datt: „Miri wird das Festival jetzt eröffnen, mit dem Blasen des Muschelhorns. Und in Indien, bevor man eine spirituelle Veranstaltung, einen Besuch im Tempel macht, macht man erst Mal ein bisschen Krach oder man ruft mit der Muschel, damit der Himmel auch gerade herschaut, wen wir was Spirituelles machen. Damit der nicht gerade irgendwo anders, auf dem Klo beschäftigt ist. Da wird das Muschelhorn geblasen. Ach, Yogafestival schon wieder! (Lachen).“ Ganesha-Kirtan mit Muschelhorn und Eröffnungsruf und darüber: Das Berliner Yogafestival will also eine spirituelle Veranstaltung sein. Oder, wie Miriam Kretzschmar es ausdrückt, eine ganzheitliche Veranstaltung. Mit sportlichem Yoga für den Körper, mit philosophischen Vorträgen für den Geist, mit Musik und Meditation für die Seele, also mit ganz vielen OMs. Miriam Kretzschmar: „OM sweet hOMe ist natürlich eine kleine Wortspielerei. Wir wollten damit zum Ausdruck bringen, dass dieser Begriff OM, dieses Mantra OM, für uns das Zuhause ist. Als Yogis drückt OM etwas aus, was mit Zuhause insofern zu tun hat, als es mit unserer Seele direkt zu tun hat. Wir sind noch mehr in OM zuhause, als in unserem physischen Raum.“ Wer an die Havel gefahren ist, um ein bisschen Yoga zu machen oder um mehr über Yoga zu erfahren, der kann das auch. Aber zu Beginn findet er sich inmitten einer hinduistischen Zeremonie wieder, inmitten einer Puja. Die leitet der Berliner Inder Govinda. Govinda: „Ich freue mich sehr, dass ich vor Euch unser Yogafestival eröffnen darf. Das ist eine große Gnade für uns, einfach Yoga zu üben, diese Verbindung zur Seele herzustellen.“ Dann Zeremonie und darüber: Eine Dreiviertelstunde lang bittet Govinda den Elefantengott um seinen Beistand. Er badet Ganesha symbolisch mit Früchten, Milch und geklärter Butter. Dabei singt er, läutet Glöckchen und spricht Gebete. Anschließend segnet er diejenigen, die das wollen, mit einem roten Punkt zwischen den Augen, mit dem symbolischen dritten Auge. Lied Shiva Shambo freistehen lassen und darüber: Govinda: „Das ist wunderbar im hinduistischen Glauben: Viele Wege führen zu Gott. Ein Christ kann die Puja mitmachen oder nicht mitmachen, und mit seinem Glauben 100 Prozent dabei sein. Ich war von zu Hause aus Hindu und ich bin zehn Jahre in die Kirche gegangen, eine evangelische. Das ist nichts anderes als der heilige Geist.“ Den spüren einige Festivalbesucher offenbar auch während der Eröffnungszeremonie. Mehr als 100 Männer, Frauen und Kinder sitzen auf dem Grasboden auf ihrem Matten oder auf Decken, einige ältere auf Stühlen. Viele tragen weiß, orange, rot oder lila. Einige, vor allem jüngere sind ausgesprochen sportlich angezogen und sehen ausgesprochen sportlich aus, aber das sind die wenigsten. Manche hören gar nicht zu, sondern studieren das Programm des Wochenendes und gehen nach einer Weile aus dem Zelt. Andere liegen mit geschlossenen Augen auf dem Boden oder sitzen ganz aufrecht, die Hände flach vor der Brust zusammengelegt wie beim Gebet. Festival-Besucher: Matthias aus Berlin: „Die Zeremonie hat mich eingestimmt auf dieses Festival, auf die nächsten zwei Tage, die so ein bisschen wie ein kleiner Urlaub sind, sein können und ganz viele Möglichkeiten bieten, zu sich selbst zu finden.“ Gabriele aus Berlin: „Also für mich war's wie ein Kirchengang, so möchte ich das mal bezeichnen.“ Musik Festivalsong „OM, sweet home“ Mantra Gabriele kommt aus Berlin und ist Christin. Sie kann sich dennoch gut auf diese hinduistische Zeremonie einlassen. Indem sie das von ihrem Glauben trennt. Sie macht schon seit 40 Jahren Yoga und hat, wie viele andere auch, mit den Übungen, den Asanas, angefangen, um ihrem Körper etwas Gutes zu tun. Seit kurzem erst interessiert sie sich für die Herkunft von Yoga und beschäftigt sich mit Spiritualität. Das kommt der Yogalehrerin Miriam Kretzschmar bekannt vor. Sie hat beobachtet, dass vor allem Schüler in Krisensituationen mehr suchen: Miriam Kretzschmar: „Viele kommen ja aus dem Wunsch der Entspannung zum Yoga, weil wir die Muskeln dehnen, strechen, drehen, Wirbelsäule drehen, Blockaden lösen. Und dieses führt eine körperliche Entspannung herbei und gleichzeitig auch eine geistige Entspannung. Und über diese geistige Entspannung haben wir die Möglichkeit, unserer Seele näher zu kommen, weil wir vielleicht ein bisschen Abstand gewinnen für einen kurzen Augenblick zu Problemen, Arbeit, Umfeld, alles, was uns sonst so umtreibt.“ Auch wenn Yoga für die meisten anfangs oder eben auch jahrelang ein Gesundheitssport ist, bietet dieser Weg für die 43-Jährige mehr: Durch die Möglichkeit der Selbsterfahrung und wegen des Ziels der Selbsterkenntnis. Auf der anderen Seite betont Miriam Kretzschmar, dass Yoga zwar aus dem hinduistischen Kulturkreis kommt, aber keine Religion ist. Gesang Mata Urmila Devi und darüber: So sieht es auch Mata Urmila Devi. Eine Inderin, die im Schwarzwald lebt, im europäischen Zentrum des Vereins „Die Kunst des Lebens“. Im Festivalprogramm ist sie angekündigt als eine der wenigen Frauen unter den spirituellen Meistern: Mata Urmila Devi: „Yoga heißt Union, Zusammentreffen, Zusammensein. Mit was? Mit dem Selbst, mit dem tieferen Wesen. Yoga ist keine Religion. Yoga ist eine Lebensphilosophie, eine gesunde Lebensphilosophie, würde ich sagen.“ Auf dem Yogafestival kann man allerdings tief in den Hinduismus eintauchen. Und selbst wenn Yoga „nur“ eine Lebensphilosophie ist, geht auch das einigen Besuchern manchmal zu weit. Nicht das Singen von Mantren oder das Meditieren an sich, sondern die philosophischen oder spirituellen Einschübe einiger Lehrer beim Unterrichten. Manchmal sind das Dogmen einer der unzähligen Yogarichtungen, manchmal persönliche Überzeugungen. Und das kommt auch bei sportlichen Yogastilen vor: Sportliches Yoga auf dem Festival und darüber: Katrin: „Also da gibt’s Lehrer, da hab ich wirklich Probleme damit. Da sitze ich dann beim Meditieren und denk mir: Oh ne, ich muss mich jetzt nur damit beschäftigen, entweder nicht zuzuhören oder mich nicht aufzuregen.“ Woran sich die Yogaschülerin Katrin stört, sind zum Beispiel Erklärungen, warum vegane Ernährung am besten sein soll oder warum Krankheiten selbst verschuldet seien sollen. Dabei möchte sie nur schwitzen und abschalten. Gegen reine Wissensvermittlung über die Wurzeln des Yoga hätte sie gar nichts einzuwenden. Doch die kommt oft zu kurz. Schließlich will Yoga, wie Miriam Kretzschmar es ausdrückt, keine Wissenschaft sein. Es gehe um eigene Erfahrungen oder um Erzählungen eines guten Lehrers und nicht darum, ein Buch zu lesen. Dem widerspricht Mathias Tietke. Der Berliner hat mehrere Bücher über Yoga geschrieben. Angeregt durch seine vierjährige Yogalehrerausbildung in Braunschweig. Mathias Tietke: „Es wurde auch dort von den Referenten und von der Schulleitung gesagt, dass wir uns über die Inhalte der Texte, das heißt der Mantren, der Gebete, keine Gedanken machen brauchten, weil es nur um die Schwingung geht. Und da ich aber westlich sozialisiert bin und skeptisch denke, habe ich dennoch gefragt: Was singen wir denn da eigentlich?“ Musik Festivalsong „OM, sweet home“ Reggae Von den Yogalehrenden hat der 54-Jährige damals keine Antworten erhalten. Also hat er die Mantren übersetzt und die alten Yogatexte, in denen sie stehen, studiert. Und das, was er dabei herausgefunden hat, kam ihm für eine Meditation denkbar ungeeignet vor: Mathias Tietke: „Die Inhalte sind partiell derart befremdlich, weil es aus alten vedischen Texten stammt, die partiell einen klaren Rassismus beinhalten, wo ich gesagt habe, ich kann mich damit nicht identifizieren. Jemand, der einen Krieg verherrlicht, oder dass man die Dunkelhäutigen aus ihren Dörfern vertreibt, an den zu beten, an den zu glauben! Und ich halte das auch nicht für notwendig.“ Für notwendig hält Mathias Tietke allerdings, dass zumindest jeder, der Yoga unterrichtet, sich mit diesen alten Texten befasst, und zwar in ihrem historischen Kontext. Er selbst hat das in seinem Buch: „Der Stammbaum des Yoga“ getan. Darin hat er sowohl die Wurzeln des Yoga ergründet, als auch Yoga in der Gegenwart beschrieben. Wobei ihm eines aufgefallen ist: Die Entwicklungsgeschichte und die grundlegenden Schriften spielen heute keine große Rolle, weder in Yogastudios noch in der populären Yogaliteratur. Und wenn doch, dann nur in einer bestimmten Interpretation. Meist aber wird Bekanntes abgeschrieben. So haben sich Fehler und Unwahrheiten eingeschlichen. Das fängt schon beim Wort „Yoga“ an. Auf Deutsch heißt es wörtlich übersetzt „Joch“. Mathias Tietke: „Ganz viele benutzen den Artikel falsch und sprechen von das Yoga. Der richtige Artikel, eindeutig zugeordnet, wenn man sich mit Sankrit beschäftigt, ist maskulinum, der Yoga.“ Im Auswählen der Quellen an sich sieht Mathias Tietke hingegen kein Problem. Schließlich ist der Pool an Schriften, an mündlichen Überlieferungen und daraus folgend an Philosophien riesig, extrem vielfältig und teilweise auch widersprüchlich. Er fordert aber Transparenz: Mathias Tietke: „Das ist ja immer die Frage, was ist meine Präferenz. Worauf beziehe ich mich? Beziehe ich mich auf die Bhagavad Gita? Beziehe ich mich auf die Hatha-Pradipika? Beziehe ich mich auf das Yoga-Sutra? Oder beziehe ich mich auf gar keine Schrift, sondern sage, wenn der Lehrer mir sagt, beug Dich nach vorn, geh in den Kopfstand, halt das eine halbe Stunde, dann wird das schon so sein.“ Wer sich auf die Bhagavad Gita bezieht, wird bei Yogaschülern außerhalb Indiens wahrscheinlich am meisten Unverständnis ernten – zumindest ohne erklärende Kommentare. Die 700 Verse sind Teil des indischen Volksepos Mahabharata. Darin belehrt Gott Krishna den Krieger Arjuna und zeigt ihm einen mehrstufigen Yoga-Weg, der zur höchsten Wirklichkeit führt. Von einer sportlichen Übungspraxis ist hier nicht die Rede. Dafür aber von Kastengesellschaft, von Kriegerethik und Götterglaube. Musik Bhagavad Gita Dhyana Mantras Recitation in Sivananda Ashram Rishikesh Für Hindus ist dieses Lehrgedicht eine der zentralen Schriften. Mahatma Gandhi hat es verehrt. Aber auch gewaltbereite Hindu-Nationalisten berufen sich darauf. Genau wie einige hochrangige Nazis das getan haben. Heinrich Himmler etwa, der Holocaust-Organisator. Dieses Beispiel zeigt, wie sich einzelne Elemente der Yogaphilosophie missbrauchen lassen und wie wichtig es ist, nach den Quellen zu fragen. Zu diesen gehören auch Texte, die teilweise noch älter sind. Musik „Yogash Chitta Vrtti Nirodaha“ von Clair Oaks vom Album Patanjali Am bekanntesten ist heute aber das Yoga-Sutra. In diesem Leitfaden, der aus 195 Versen besteht, definiert der Weisen Patanjali gleich zu Beginn, was Yoga ist. Einer der vielen möglichen und teilweise widersprüchlichen Übersetzungen aus dem Sanskrit folgend, ist Yoga die „Stilllegung der Bewegungen des Geistes“. Anschließend erklärt er, wie dieser Zustand der Versenkung erreicht werden kann. Mathias Tietke: „In der Präferenz Nummer eins im Yoga, dem Yoga-Sutra, circa 2000 Jahre alt, geht es nur um ein Asana. Das ist der Sitz. Der Sitz sollte stabil und bequem sein und das zu gleichen Teilen, dann spricht man von Asana. Und diese Definition von Asana ist auch nur innerhalb dieses achtgliedrigen Weges, Ashtanga – das ist ja die Übersetzung davon –, ist das eine Stufe.“ Und zwar die dritte Stufe. Die ist heutzutage, vielleicht noch zusammen mit der nächsten Stufe, mit Pranayama, den Atemübungen, die beliebteste Yoga-Form. Viele setzen die Körperübungen auch mit Yoga gleich. Zu Patanjalis Weg gehört aber mehr: Auf Stufe eins und zwei sind je fünf Verhaltensregeln beschrieben. Die vier höchsten Stufen betreffen die Ausrichtung nach Innen, die Konzentration, die Meditation und als oberstes Ziel die Versenkung, oder All-Einheit, auf Sanskrit Samadhi gennant. Um dieses Ziel zu erreichen muss ein Yogi unter anderem stabil und bequem sitzen können. Er kann sich auch einem unpersönlichen Herrn hingeben und über den Urklang meditieren, als Mittel zum Zweck. Indische Götter anrufen muss er allerdings nicht, auch wenn das in vielen Yogastraditionen mittlerweile dazugehört. Musik „OM, Namah Shivaya“ von Sundaram von Yoga Vidya Das hält der indische Yogalehrer Desikachar für ein folgenschweres Missverständnis. Er ist der Sohn von Krishnamacharya, einem der Begründer des modernen Yogas, und er kritisiert die Gleichsetzung von Yoga mit Hinduismus. Desikachar selbst unterrichtet einen sportlichen, fließenden Yogastil, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Südindien entstanden ist. Einzelne dieser Übungen haben aber eine lange Tradition, betont Mathias Tietke: Mathias Tietke: „Es gibt auf Siegeln und auf Terrakotta-Figuren aus der Industalkultur eine ganze Reihe von Funden mit verschiedenen Sitzen schwierigster Art, also mula bandhasana. Ich kenne nur ganz wenige Yogalehrer, die diese anspruchsvolle Haltung ausführen können. Da werden die Fußflächen aneinandergelegt, die Füße werden nach unten gebogen und man setzt sich auf diese Füße. Es gibt Drehhaltungen, es gibt den Strecksitz. Das findet man in der Industalkultur und die ist etwa 5000 Jahre alt.“ Das sind allerdings nur Bilder. Schriftliche Beschreibungen einzelner Körperhaltungen tauchen erst im Mittelalter auf. Zum Beispiel in der Hatha-Pradipika von Svatmarama. Dieser soll im 14. Jahrhundert gelebt und die Yoga-Weisheiten seiner Zeit zusammengefasst haben. Er benutzt den Begriff Hatha, also Gewalt, Kraft oder Anstrengung, für die körperliche Praxis. Die ist aber auch hier kein Selbstzweck. Das Ziel heißt samadhi, verstanden als Unsterblichkeit, Glück und höchste Seligkeit. Der Gott Shiva ist hier nur Verkünder dieser Lehre. In vielen deutschen Yoga-Studios sind indischen Götterfiguren und Gesänge vermutlich auch nur als Hommage an Indien gedacht. Oder als folkloristisches Beiwerk, das sich sehr gut verkauft, wie Mathias Tietke sagt. Ganz klar ist das oft aber nicht, findet der Yogalehrer und Buchautor: Musik noch mal unter den Text und dann: Mathias Tietke: „Wenn ich OM Namah Shivaya singe oder Hare Krishn ,dann beziehe ich mich auf eine persönliche Gottheit und wenn ich das weiß, dass ich vedische Götter anrufe, dann kann ich mich dafür oder dagegen entscheiden. Ich finde es halt problematisch, wenn es verbrämt wird, wenn es verschleiert wird.“ Studio-Atmo, dann Victor Thiele: „Klingeln. Kann jemand die Tür aufmachen? Cool, danke!“ Studio-Atmo bleibt darunter. In dem Berliner Yogastudio, in dem Victor Thiele, seinen Level 1-Kurs gibt, stehen keine Götterstatuen. Stattdessen lauwarmes Wasser und grüner Gemüsesaft. Ein OM singen seine Schüler heute auch nicht. Victor Thiele: „Dann atmet durch die Nase, gleich mit Ujjayi, Stimmritzen leicht zusammenziehen, ein. Zieht den Atem noch ein Stückchen mehr nach oben, in Richtung Brustbein und Lungenspitzen...“ Atmo hinten dran, darüber: Der 41-Jährige legt viel Wert darauf, Atmung und Bewegung in den Haltungen zusammenzubringen. Seit acht Jahren unterrichtet er Hatha-Yoga in einer dynamischen, kraftvollen Form. Immer mit einer stillen Mediation zum Abschluss einer Stunde. Ihm geht es um Gesundheit, Konzentration und ein besseres Bewusstsein. Yoga war für das ehemalige Model nie nur Sport. Eine Philosophie oder Religion aber auch nicht. Obwohl er das schon erlebt hat. Und zwar in einer spirituellen Gemeinschaft, wo indische Götter verehrt UND christliche Kreuze angebetet werden. Das war in Nordrhein-Westfalen, im Yoga-Ashram. Victor Thiele: „Also, als ich da angekommen bin, habe ich den erst mal so erlebt, dass man einen ganzen Wust von Verboten und Geboten aufgezwungen bekommt. Man darf nicht rauchen, man darf keinen Alkohol trinken, man darf keinen Kaffee trinken, keine Zwiebeln essen, keinen Knoblauch, kein Fisch, kein Fleisch. Alles, was ein Gesicht hat, darf man nicht essen. Und was dann noch war: dieses sehr, sehr Spirituelle. Auch weil man wirklich die ganze Zeit mit Mantrensingen und mit Gebeten und mit solchen Sachen sehr stark konfrontiert wird.“ Sechs Monate lang hat Victor Thiele in Bad Meinberg ein Praktikum gemacht, im Rahmen seiner Ausbildung zum Fitnesskaufmann. Ihm war schon vorher klar, worauf er sich einlässt: auf Verzicht, ein geringes Gehalt und einen streng geregelten Tagesablauf. Daher hat er diese Zeit als reinigend, heilsam und bereichernd erfahren. Victor Thiele: „Besonders hab ich mich immer so als schwuler Mann in Berlin lebend gedacht, ich habe so einen ganz großen Horizont, ich bin total offen für neue Eindrücke. Und dann bei Yoga Vidya hab ich einen ganz großen Teller vor die Nase gesetzt bekommen, mit Essen, was ich nicht kannte. Umgehen mit vielen alten Menschen, mit Leuten, die eine ganz andere Gesinnung haben, mit Leuten, die überhaupt nicht so auf Kleidung und so weiter achten, für die das alles total egal war. Und ich komme aus Berlin und dachte: Oh, wow, Victor, Du hast echt eine ganze Menge hier zu tun!“ Eine ganze Menge zu tun hatte der frühere Filialleiter einer Jeansmarke am Berliner Ku'damm auch nach seiner Zeit im Ashram. Er wollte die Regeln und Rituale nicht einfach übernehmen, sondern sie überprüfen und sich nicht komplett aus seinem früheren Leben zurückziehen, sondern die Yoga-Welt in seinen Alltag integrieren. Dabei hat ihm nach einer Yogalehrerausbildung dort, noch eine weitere, dieses Mal deutlich längere geholfen. Das hätte er nicht tun müssen. Denn bei Yoga Vidya, dem gemeinnützigen Verein, der den Ashram als Ausbildungszentrum betreibt, geht das in zwei Jahren oder in vier Wochen. Podcast von Sukadev: „Namasté und herzlich Willkommen zum Yoga Vidya-Übungspodcast. Yogastunde mit besonderer Konzentration auf die Chakras und Affirmationen.“ Dann Text und später noch mal hoch. Yoga Vidya ist laut eigenen Angaben nicht nur Europas führendes Netzwerk von Seminarhäusern, sondern auch von Yogalehrern und Yogaschulen. Den Verein leitet der deutsche Volker Bretz, der sich Sukadev nennt, was übersetzt „Engel der Wonne“ bedeutet. Podcast noch mal hoch: „Führe uns vom irrtümlichen Verständnis zur Erkenntnis der Wahrheit. (…) Führe uns von der Identifikation mit dem Vergänglichen zur Verwirklichung des Ewigen.“ Er will laut Eigendarstellung ganzheitliches Yoga für Gesundheit, Persönlichkeitsentwicklung und spirituelle Öffnung verbreiten. Und zwar in einer bestimmten Tradition, nämlich der des indisches Yogalehrers Vishnu-devananda und dessen Lehrer Sivananda. Von Hinduismus ist auf der ausführlichen Internetseite und in zahlreichen Werbeprospekten nicht die Rede. Der Berliner Yogalehrer Victor Thiele hat das aber anders kennengelernt: Victor Thiele: „Der Sukadev ist halt Hinduist, ne. Das darf man nicht außer Acht lassen. Aber ich hatte jetzt nie in irgendeiner Weise das Gefühl, dass man mich missionieren will. Niemals.“ Eine Mission hat Sukadev aber: Niemand soll länger als eine halbe Stunde unterwegs sein, um in eine seiner Yogaschulen zu kommen. Mit rund 100 Zentren hat er das fast schon erreicht. Und auch im Internet ist er präsent, unter anderem mit einer auf den ersten Blick neutralen Enzyklopädie, dem Yoga Wiki im Wikipedia-Design. So erreicht der Yoga Vidya-Gründer viele und unterschiedlich gläubige Menschen. Indem er Jesus als möglichen Yogameister darstellt. Und indem er erklärt, es gehe nicht um bestimmte Götter, sondern um eine „höhere Wirklichkeit an sich“. Dennoch versteht auch er Yoga nicht als Religion, sondern als religionsübergreifend. Wie er das meint, wird auf der Yoga Vidya-Homepage deutlich. Dort schreibt er in der Rubrik „Fragen an Sukadev“ über die Widersprüche zwischen christlicher und hinduistischer Weltsicht: Sprecher: „Selbstverständlich kannst Du Jesus verehren, die Dreifaltigkeit, und ebenso Lakshmi. Wenn Du im Bibelkreis bist, sprich besser nicht von indischen Göttern als Manifestationen des Einen Gottes (…).“ Und weiter: Sprecher: „Versuche aber bitte nicht, Christen davon zu überzeugen. Das wird nichts bringen. Du kannst aber sehr wohl an Jesus und an Reinkarnation/Karma glauben. Es ist wahrscheinlicher, dass Jesus daran geglaubt hat als an das, was evangelische Theologie sagt. Dies ist sogar der moderne Stand der wissenschaftlichen Bibelforschung.“ Die evangelische Kirche ihrerseits mag früher versucht haben, Christen davon zu überzeugen, dass Yoga gefährlich ist. So ist diese Spitze vielleicht zu verstehen. Und noch immer beobachtet die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin die breit gefächerte Yogaszene. Nicht um Yoga pauschal abzulehnen oder pauschal zu befürworten. Sondern um Kriterien dafür aufzustellen, wie Christen mit Yoga umgehen können. Der Theologe Friedmann Eißler ist dort unter anderem für nichtchristliche Religionen, neue religiöse Bewegungen und östliche Spiritualität zuständig. Yoga Vidya ist für ihn immer wieder ein Thema. Weil die Gemeinschaft großen Zulauf hat. Friedmann Eißler: „Zuletzt war es etwa so, dass eine christlich aufgewachsene junge Frau in die Gemeinschaft aufgenommen wurde. Da gibt’s dann richtig so eine Art Ritus. Und dann wurde sie auch mit einem Bibelvers beglückwünscht. Die Wahrheit wird Euch freimachen, oder so. Das würde ich jetzt aus meiner Perspektive für einen etwas zweifelhaften, oder jedenfalls missverständlichen Gebrauch von Bibelstellen halten, weil hier im Grunde eine Vermischung vorgenommen wird.“ Eine Vermischung, die aus hinduistischer Sicht unproblematisch, aus christlicher Sicht aber unmöglich ist. Zumindest dann, wenn das Ziel von Yoga, samadhi, definiert wird als Lösung vom Kreislauf der Wiedergeburten, als Einssein mit Gott, als Erlösung aufgrund eigener Fähigkeiten, wie das einige Traditionen verstehen. Dies ist für Friedmann Eißler ein seriöses religiöses Anliegen sein. Aber: Friedmann Eißler: „Das widerspricht tatsächlich christlichen Grundoptionen einer Sicht von Gott und Mensch und Welt, weil die christliche Sicht der Welt doch ein Gegenüber festhält. Ich muss angesprochen werden, um zu sehen, was für mein Leben gut ist, wie ich mich weiterentwickeln kann.“ Für diese Weiterentwicklung kann Yoga auch für Christen bereichernd sein. Doch die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen weist auch auf die Gefahren einzelner Yogarichtungen hin. Die sieht sie vor allem am Rand der Szene, am fließenden Übergang zur Esoterik, bei speziellen Gurus mit großen Heilsversprechen. Hier erhält sie auch die meisten Anfragen von Betroffenen oder Angehörigen, die etwa über finanzielle oder psychische Abhängigkeit oder über sexuellen Missbrauch klagen. Ähnliche Erfahrungen hat auch die Leitstelle für Sektenfragen des Berliner Senats gemacht. Sie wird außerdem von Ratsuchenden gefragt, wie sie seriöse Anbieter finden können. Ihre Antwort: Sprecher: „Offene Kommunikation, große Transparenz über Lehre, Konzepte, Strukturen und über finanzielle Bedingungen sind wichtig. Ein Hinterfragen von Konzepten, Verhalten und Handeln auch der Unterrichtenden sollte nicht nur zugelassen, sondern gleichfalls Kritik erwünscht sein und zu Veränderungen führen.“ Auch Yoga hat sich im Laufe seiner Geschichte immer wieder verändert und sich seiner Umwelt angepasst. Für Yogapraktizierende kann das heute heißen, auf das OM als Symbol einer hinduistischen Ausrichtung zu verzichten. Denn auch ohne Mantren und religiöse Rituale kann Yoga mehr sein als nur Gymnastik. Genauso gilt aber: Wer Yoga nur für seine Gesundheit üben will, kann das tun. Wer Yoga als philosophischen Weg gehen will, kann das tun. Und wer im Yoga indische Spiritualität sucht, wird auch die finden. Quellenangaben: Desikachar über OM: http://www.byz.de/diskussion/index.php Podcast: Chakra Yogastunde mit Affirmationen vom 10.7.2012 Fragen an Sukadev: http://www.yoga-vidya.de/Fragen-an-Sukadev/Fragen.htm Mail von Yoga Vidya vom 14.11.2013 Mail der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft vom 26.6.2013 Literaturangaben: Klaus Mylius: Die Bhagavadgita. Des Erhabenen Gesang, Deutscher Taschenbuch Verlag 1997. Helmut Maldoner: Yoga Sutra. Der Yogaleitfaden des Patanjali, Raja Verlag 2007. Swami Swatmarama: Hatha-Yoga Pradipika. Die Leuchte des Hatha-Yoga, Phänomen-Verlag Gitta Peyn 2004. Mathias Tietke: Der Stammbaum des Yoga. 5000 Jahre Yoga.Tradition und Moderne, Theseus Verlag 2007. Mathias Tietke: Yoga im Nationalsozialismus. Konzepte, Kontraste, Konsequenzen, Verlag Ludwig 2011. Mathias Tietke: Yoga kontrovers. 10 populäre Irrtümer in Bezug auf Yoga, Phänomen-Verlag 2013. 1