COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur 29.5.2007, 19.30 Uhr Deutschlandkomplex. Der Blick polnischer Autoren auf den Nachbarn im Westen. Von Frank Meyer TEXT: Musik 0: O-Ton 1 Stefan Chwin, polnischer O-Ton, Übersetzung, Sprecher 2: Meine Mutter hat das Buch mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Sie hat einen Satz gesagt, den ich mir gemerkt habe: Du schreibst zu gut über die Deutschen. Das haben sie nicht verdient! Sprecher 1: Stefan Chwin, Autor aus Gdansk Sprecher 3, Lesung aus: Andrzej Stasiuk ?Deutschland?, S.1: Nüchtern kann man nicht aus Polen nach Deutschland kommen. Machen wir uns da nichts vor. Das ist immerhin ein Trauma. Es betrifft Spargelzuchtspezialisten und Schriftsteller gleichermaßen. Man kann nicht einfach mal locker nach Deutschland fahren. So, wie zum Beispiel nach Monaco, Portugal oder nach Ungarn. Nach Deutschland fahren, das ist Psychoanalyse. Sprecher 1: ?Deutschland? heißt das neue Buch von Andrzej Stasiuk, das er in seinem südpolnischen Beskidendorf Czarne geschrieben hat. O-Ton 2 Wojciech Kuczok, Übersetzung, Sprecher 3: ?Ja najczesciej to czuje ?? Ich habe öfter gedacht, dass das heutige Berlin ein Alptraum für Adolf Hitler sein müsste, weil die Stadt jetzt so ein multikulturelles Mosaik ist. Man kann sich kaum vorstellen, dass es dort vor 60, 70 Jahren einen Verrückten gab, der eine totale Reinigung betreiben wollte, der nur noch Blonde mit blauen Augen sehen wollte. Ich bin voller Bewunderung für den Reifeprozess in Deutschland, hin zu mehr Offenheit für andere Ethnien, andere Kulturen, andere Lebensentwürfe. Wenn in Polen jemand zwei Schwule Hand in Hand gehen sieht oder eine Schwarze in der Provinz, dann ist das immer noch eine Sensation. Sprecher 1: Wojciech Kuczok, ein 35jähriger Autor aus Oberschlesien. Für seinen Roman ?Dreckskerl? hat er den wichtigsten polnischen Literaturpreis, den NIKE-Preis bekommen. Musik 1: O-Ton 3 Renate Schmidgall, Dira 13?45: Stefan Chwin ist Literaturprofessor an der Danziger Universität, Polonist, Philosoph und auch ein hervorragender Essayist. Sprecher 1: Renate Schmidgall, Übersetzerin und Publizistin: O-Ton 4 Renate Schmidgall, Dira 13?55: Seine Romane sind eher geprägt von den Ideen, die er vermitteln will, er will ganz bestimmte Thesen vermitteln und konstruiert danach Handlungen. Allerdings haben die ersten Romane, ?Tod in Danzig? - ?Hannemann? auf Polnisch, noch sehr stark diesen autobiographischen Hintergrund. O-Ton 5 Stefan Chwin, polnischer O-Ton, Übersetzung, Sprecher 2: Das ist eine Autobiographie eines polnischen Jungen, der während der stalinistischen Zeit in einer ehemaligen deutschen Wohnung lebt, eine Art Psychoanalyse einer früheren deutschen Wohnung. Sprecher 1: ?Kurze Geschichte eines Scherzes?, dieses Buch von Stefan Chwin ist 1991 in Polen erschienen und noch nicht ins Deutsche übersetzt worden. In fiktiver Form erzählt Chwin auch in seinem Roman ?Tod in Danzig? von einer polnischen Familie, die aus den östlichen Teilen Polens vertrieben wurde und in Danzig ein neues Zuhause finden muss. Das Paar kommt Anfang 1945 zum ersten Mal in die neue Wohnung, die gerade erst von den früheren deutschen Bewohnern verlassen scheint. Sprecher 2, Lesung Stefan Chwin ?Tod in Danzig?, Seite 95: Es war, als betrete sie das Badezimmer in einem Hotel: neugierig auf die Farbe der Kacheln, besorgt, ob in der Wanne keine Rostspuren waren, mit einem raschen Blick, ob der Spiegel unter der Lampe auch keine grauen Flecke hatte. Aber dies hier war kein Badezimmer in einem Hotel. Einmal, vor langer Zeit, hatte Oma sie zu Frau Janina geschickt, der Nachbarin in der Ulica Nowogrodzka. Sie hatte zögernd die Wohnung betreten, weil die Tür offen war, und das Herz blieb ihr fast stehen, als sie eine Männerstimme hinter sich hörte: ?Was machst du denn hier? Geht man vielleicht in fremde Wohnungen, ohne anzuklopfen?? Schamrot bis zu den Haarwurzeln, brachte sie kein Wort heraus, ihre Ohren brannten wie Feuer. Dabei machte sich Herr Bogdanowicz nur darüber lustig, wie erschrocken sie war. Als sie sich jetzt in dem gekachelten Badezimmer umsah, fühlte sie sich ganz ähnlich. O-Ton 6 Stefan Chwin, polnischer O-Ton, Übersetzung, Sprecher 2: Das ist für mich ein sehr wichtiges Thema, denn es betrifft mein Leben und das meiner Familie, die hier in Danzig eingetroffen ist nach der Deportation meines Vaters aus Litauen und nachdem meine Mutter sich nach dem Warschauer Aufstand hierher geflüchtet hat. (Tr. 5) Das ist eine Erfahrung sehr vieler Menschen meiner Generation, die jetzt in den ehemaligen Reichsgebieten leben. Die Psychoanalyse begann damit, dass ich in einem sehr starken Hass gegen die Deutschen erzogen worden bin. Meine Mutter hat schreckliche Dinge während des Warschauer Aufstands 1944 gesehen. Sie war Sanitäterin und sie hat zum Beispiel gesehen, wie die Deutschen ein Krankenhaus der Aufständischen angesteckt haben, die Verwundeten sind in diesem Krankenhaus verbrannt. Das ist eine Erinnerung, die im Leben meiner Familie sehr oft zurückgekehrt ist, ein Trauma, eine psychische Wunde. Sprecher 2, Lesung Stefan Chwin ?Tod in Danzig?, Seite 99: Als sie sich am Abend im mittleren Zimmer ins frisch gemachte Bett legten, da vermischten sich die beiden fremden Gerüche ? des Warschauer Leintuchs und des Überzugs mit dem hellgrauen Monogramm ?W?, den Elsa Wallmann 1940 bei Julius Mehlers im Ahornweg 12 gekauft hatte, und vertrieben den Schlaf. O-Ton 7 Stefan Chwin, polnischer O-Ton, Übersetzung, Sprecher 2: Als kleiner Junge habe ich mir die früheren deutschen Bewohner unserer Wohnung vorzustellen versucht. Das war schwierig, denn wegen der Erinnerungen meiner Mutter habe ich mir damals die Deutschen als Verkörperung des Bösen vorgestellt. Aber diese deutsche Wohnung zeigte das Gegenteil von dieser Vorstellung. Tr. 7: Das Haus war voller Spuren der früheren deutschen Bewohner. Im Keller gab es z.B. eine Riesenmenge von Notenheften, u.a. mit der ?Forelle? von Franz Schubert. Und es gab herrliche deutsche Atlanten, die Geographie der Welt habe ich mit diesen deutschen Atlanten gelernt. Das war allerdings eine seltsame Lehre, denn der deutsche Junge, dem die Atlanten früher gehört haben, der hat mit einem roten Strich alle vom Deutschen Reich eroberten Gebiete markiert. Der deutsche Schüler war sehr fleißig, er hat diese Markierungen der deutschen Eroberungen sehr sorgfältig durchgeführt. Sprecher 2, Lesung Stefan Chwin ?Tod in Danzig?, Seite 99: Vater nahm vorsichtig das Bild ab, blies die Spinnweben von dem hellen Rechteck, das auf der teerosenfarbenen Tapete zurückgeblieben war, und betrachtete die Rückseite. Darauf stand ?Ballerstaedt. Photograph. Atelier?, und mit Tinte war hinzugefügt: ?Juli 1938?. Vater legte das Bild in die untere Schublade des Nussbaumschranks, zu den mit gleichmäßiger Kinderhand beschriebenen Heften, dem Westermann Weltatlas und dem Stoß Postkarten aus Bayern, die mit einer Wachsschnur zusammengebunden waren. O-Ton 8 Stefan Chwin, polnischer O-Ton, Übersetzung, Sprecher 2: Die Psychoanalyse in diesem Buch, das ist die Beschreibung, wie man sich vom Hass und von der Angst befreit. Das war eine dramatische Geschichte für mich, denn als ich mich vom Hass auf die Deutschen befreite, da habe ich mich damit gleichzeitig gegen meine Eltern gewandt. Die Folge war eine Art Privat-Krieg gegen meine Eltern, die einfach eine ganz andere Meinung dazu hatten. Tr. 10: Das Tor, das sich für mich zum Deutschen geöffnet hat, das war die deutsche Ästhetik, die Schönheit der Gegenstände. Im Keller hatte ich hervorragende Alben der deutschen Malerei gefunden. Als kleiner Junge war ich dadurch ein ganz guter Kenner der romantischen deutschen Malerei. (deutsch:) CASPAR DAVID FRIEDRICH! Musik 2: Sprecher 1: Wie sich Deutsches und Polnisches überlagert und vermischt, in Wohnungen, Dörfern und Landschaften, das wird auch bei Olga Tokarczuk zum Thema, vor allem in ihrem Roman ?Taghaus Nachthaus? aus dem Jahr 1999. Einer der deutschen Übersetzer von Olga Tokarczuk ist Olaf Kühl. Er hat immer wieder neue polnische Autoren für die deutschen Leser entdeckt, Andrzej Stasiuk zum Beispiel oder auch die junge Dorota Mas?owska. O-Ton 9 Olaf Kühl: Bei Olga Tokarczuk finde ich sehr schön, wie sie das Problem der Vertriebenen behandelt. Das finde ich wirklich echt, weil ihre Familie selbst vertrieben worden ist aus Ostpolen. Sie beschreibt, wie sie heimisch geworden ist in den Gegenden und gleichzeitig sensibel geblieben ist dafür, dass dort irgendwann mal andere Menschen wegziehen mussten. Das ist literarisch gut gemacht, das hat mich bewegt. Sprecher 1: In Olga Tokarczuks Roman ?Taghaus Nachthaus? kommt ein altes deutsches Ehepaar nach Niederschlesien, um die frühere Heimat des Mannes zu besuchen. In dieser Gegend bei Wa?brzych - in der Nähe der polnisch- tschechischen Grenze - lebt Olga Tokarczuk. Sprecherin 1, Lesung Olga Tokarczuk ?Taghaus Nachthaus?, Seite 104: Peter wollte sein Dorf wiedersehen, und Erika wollte Peter sehen, wie er sein altes Dorf betrachtete. Erika dachte, dann verstünde sie endlich den ganzen Peter, vom Anfang bis zum Ende, all seine Traurigkeit, seine lakonischen Antworten, die Neigung dazu, Entscheidungen plötzlich umzustoßen, was sie immer wütend machte, oder sogar diese hartnäckige Angewohnheit, Patiencen zu legen und Zeit auf solche Dummheiten zu verschwenden, die riskanten Überholmanöver auf der Autobahn und all dieses Fremde, das immer in ihm gewesen war und sich auch nach den vierzig Jahren ihres Zusammenlebens nicht geändert hatte. O-Ton 10 Brigitta Helbig-Mischewski: Olga Tokarczuk wird in Polen geliebt. Sie ist keine kontroverse Schriftstellerin, es ist nicht so, dass sich die Geister an ihr scheiden. Sie wird geliebt, weil sie die Kunst des Erzählens beherrscht, weil ihre Bücher Themen berühren, die offensichtlich nach 1989 angesprochen werden MUSSTEN. Wichtige Themen sind für sie solche, die mit der menschlichen Existenz, mit der geistigen Welt zusammenhängen, mit der Metaphysik, mit der Mystik. Es bestand durchaus Bedarf danach nach 1989. Wobei diese Mystik nicht unbedingt stark mit dem Katholizismus oder mit der christlichen Religion verbunden ist, sondern an sehr viele verschiedene Religionen anknüpft, zum Beispiel an den Buddhismus, der nach 1989 in Polen sehr populär geworden ist. Sprecher 1: Die Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Brigitta Helbig- Mischewski. Sie stammt aus Szczecin, lebt aber seit über 20 Jahren in Deutschland. In ihrem Roman ?Engel und Ferkel? hat sie über den Zusammenprall polnischer Emigranten mit dem deutschen Alltag geschrieben, als Polonistin hat sich Brigitta Helbig-Mischewski unter anderem mit den Büchern von Olga Tokarczuk auseinandergesetzt. Sprecherin 1, Lesung Olga Tokarczuk ?Taghaus Nachthaus?, Seite 106: Zuerst führte der Weg zwischen Brachland entlang, dann in einen Fichtenwald. Schließlich hörte auch der Wald auf, und Peter hatte das Bergpanorama vor sich, das er in seinem Kopf mit sich herumgetragen hatte. Er schaute nur einmal rundum, denn er hatte Angst, den Anblick allein durch sein Schauen zu zerstören, ähnlich wie bei kostbaren Briefmarken, die Farbe und Klarheit verlieren, wenn man sie zu oft betrachtet. Erst oben auf der Höhe blieb er stehen und dreht sich langsam im Kreis, er sog diesen Anblick ein, er trank ihn. Alle Berge der Welt hatte er immer mit diesen Bergen verglichen, und keine hatte er so schön gefunden. Sie waren entweder zu groß und gewaltig oder zu unscheinbar. O-Ton 11 Brigitta Helbig-Mischewski: Interessant an ihrer Prosa ist, dass sie die Magie des Ortes in ihre Prosa hineinbringt. Nicht die Zeit ist der Hauptheld dieser Romane, die nach 1989 entstehen, sondern bestimmte Orte mit ihrer Mythologie, mit ihrer Vergangenheit, mit oft fremder Vergangenheit, zum Beispiel der deutschen, mit ihren Legenden. So etwas hat es vor der Wende in Polen nicht gegeben, daher das große Interesse und die Faszination. Sprecherin 1, Lesung Olga Tokarczuk ?Taghaus Nachthaus?, Seite 108: Wenn er an den Rückweg dachte, wurde ihm schlecht. Und wenn er jetzt hier stürbe? dachte er und schleppte sich zu den Grenzpfosten. Der Gedanke kam ihm aus irgendwelchen Gründen komisch vor. Nachdem er ein solches Stück bergauf gestiegen und durch halb Europa gereist war, jahrelang in einer Hafenstadt gelebt, zwei Kinder gezeugt, ein Haus gebaut, geliebt, den Krieg mitgemacht hatte. Er lachte in sich hinein und zog ein Stück Schokolade aus der Tasche. Er blieb stehen und wickelte es sorgfältig aus dem Goldpapier, aber als er es in den Mund steckte, wusste er, dass er es nicht mehr hinunterschlucken würde. Etwas anderes nahm seinen Körper in Anspruch. Sein Herz zählte die Schläge ab, die Arterien erschlafften, das Hirn schüttete ein Betäubungsmittel aus, das einen sanften Tod bescherte. Mit der Schokolade im Mund setzte sich Peter an einen Grenzpfosten, und der ferne Abgrund des Horizonts zog langsam seinen Blick in sich hinein. Ein Bein hatte er in Tschechien, das andere in Polen. So saß er vielleicht ein Stunde lang und starb, Sekunde um Sekunde. O-Ton 12 Brigitta Helbig-Mischewski: Interessant ist das, weil dieser Mann direkt in diesem Grenzgebiet stirbt, und nachdem er stirbt, sein Körper mal auf die polnische, mal auf die tschechische Seite getragen wird von den Grenzsoldaten. So dass der Mann praktisch keine Ruhe findet und immer wieder diese Grenze überschreiten muss. Der ganze Roman handelt davon, dass Grenzen dazu da sind, sie zu überschreiten, der Roman handelt von Grenzüberschreitungen auf ganz verschiedenen Gebieten, zum Beispiel auf dem Gebiet der Nationalitäten, die Erzählerin will zeigen, dass es keinen so großen Unterschied gibt zum Beispiel zwischen polnisch und deutsch, oder auch zwischen weiblich und männlich. Das Hauptthema des Buches ist die Aufhebung der Differenz zwischen Leben und Tod. Auch diese Grenze hebt die Erzählerin auf, und sie wertet sehr stark den Tod auf in diesem Buch, das Tote, das Vergangene. Sprecherin 1, Lesung Olga Tokarczuk ?Taghaus Nachthaus?, Seite 109: Das letzte Bild, das in seinem entschlafenden Hirn auftauchte, war die Erinnerung an die Krippe in Alberndorf: kleine Menschlein aus Holz, die sich in einer aufgemalten Landschaft bewegen und die ihnen vorgeschriebenen mechanischen Bewegungen ausführen. Die hölzernen Menschlein gehen umher, sie treiben hölzerne Kühe auf die Weide, hölzerne Hunde laufen, ein Mensch lacht hölzern auf, eine andere Gestalt mit Eimern in der Hand winkt, über dem aufgemalten Himmel zieht aufgemalter Rauch, aufgemalte Vögel fliegen gen Westen. Zwei Paar hölzerne Soldaten tragen Peter Dieters hölzernen Körper bis in die Unendlichkeit von einer Seite auf die andere. Musik 3: Sprecher 2, Lesung aus Marek Krajewski ?Tod in Breslau?, S. 34: Der Kriminalrat befand sich in einer schwierigen Situation. Seit einigen Monaten schon hatte er beunruhigende Veränderungen innerhalb des Polizeipräsidiums feststellen können. So war ihm aufgefallen, dass einer seiner besten Mitarbeiter, der Jude Heinz Kleinfeld, von vielen mit deutlicher Geringschätzung behandelt wurde. Sprecher 1: Der Altphilologe und Schriftsteller Marek Krajewski lebt wie Olga Tokarczuk in Niederschlesien, in Wroc?aw. Er hat das Thema ?deutsche Vergangenheit? in Polen populär gemacht durch eine Krimi-Reihe um den deutschen Kriminalrat und Freimaurer Eberhard Mock. Die vier Romane dieser Reihe spielen im Breslau der Zwischenkriegszeit und während des zweiten Weltkriegs. Sie sind in Polen zu Bestsellern geworden, einer der Romane ? ?Weltuntergang in Breslau? - wurde 2004 als polnischer ?Krimi des Jahres? ausgezeichnet. Im ersten der Mock-Krimis ? ?Tod in Breslau? ? erlebt Kriminalrat Mock die Machtübernahme der Nazis in der schlesischen Stadt: Sprecher 2, Lesung aus Marek Krajewski ?Tod in Breslau?, S. 34: Am 31. Januar war Hermann Göring Innenminister geworden und somit auch Vorgesetzter der ganzen preußischen Polizei. Einen Monat später war der neue braune schlesische Gauleiter Helmuth Brückner in das prunkvolle Gebäude der schlesischen Regierung in der Lessingstrasse eingezogen, und keine zwei Monate später gab es im Breslauer Polizeipräsidium einen neuen Vorsitzenden, Edmund Heines, dem bereits ein übler Ruf vorausgeeilt war. Eine neue Ordnung war eingekehrt. O-Ton 14 Marek Krajewski: Mein Held ist kein Nazi! Nach dem Erscheinen meines vierten Buches ?Festung Breslau? ? die Handlung dieses Buches spielt sich während der Belagerung Breslaus ab, und Mock trägt SS-Uniform. Warum? ? weil SS und Polizei ein Organismus waren. Mock hat den Rang eines Hauptmanns der SS und der Polizei. Eine Buchbeurteilung eines polnischen Journalisten war so: ?Das ist schrecklich, dass ein SS-Mann die Hauptfigur unseres polnischen Autors ist!? Tr. 17 Das ist ein Fehler!, Mock ist kein Nazi, er trug die SS-Uniform, weil er keine andere Wahl gehabt hat, wenn er ein Polizist sein wollte, musste er diese von ihm gehasste SS-Uniform tragen. Das ist ein alter Liberaler, ein Zyniker, mit dem Nazismus hat er nichts zu tun. Sprecher 2, Lesung aus Marek Krajewski ?Tod in Breslau?, S. 37: Gewiss, Mock könnte sich von der Loge lossagen und zu den Nazis überlaufen, aber dagegen protestierten dann doch die Reste des ?guten Geschmacks?, die der 24 Jahre lange Dienst bei der Polizei ihm noch gelassen hatte ? ebenso wie das Bewusstsein, dass es mit seiner Karriere dann endgültig vorbei sein würde. Denn die Loge hätte sich auf die einfachste Art an ihm rächen können, indem sie jedem, der es wissen wollte, Informationen über seine freimaurerische Vergangenheit zukommen ließ. O-Ton 16 Marek Krajewski: Ich hatte keinen Plan, zur Normalisierung der deutsch-polnischen Verhältnisse beizutragen. Das war nicht mein Ziel, nicht mein Plan. Aber: wenn es mir gelungen ist, freue ich mich sehr darüber. Ich sehe unsere gemeinsame Geschichte, das interessiert mich sehr, das ist für mich eine Faszination, und wenn ich einen Teil dieser Faszination weitergeben könnte, ist das meine große große Riesenfreude. Musik 4: Sprecher 3, Lesung aus: Andrzej Stasiuk ?Deutschland?, S.1: Freunde fuhren als Gastarbeiter nach West-Berlin, nach Düsseldorf, egal wohin. In Paketen und Briefen versteckt, schickten sie LSD-Portionen. Einige machten Musik in Kneipen oder auf der Straße. Sie schickten anständige Gitarrensaiten. Sprecher 1: In seinem ?Deutschland?-Buch erzählt Andrzej Stasiuk vor allem von seinen vielen Lesereisen durch das heutige Deutschland, aber er blickt auch zurück, zum Beispiel auf die Erfahrungen seiner Gastarbeiter-Freunde aus den 80er Jahren. Sprecher 3, Lesung aus: Andrzej Stasiuk ?Deutschland?, S.1: Sie wurden arbeitslos und lebten von der Sozialhilfe. Ich habe nie gehört, dass sie sich mit Deutschen angefreundet hätten. Deutsche eigneten sich nicht für eine Freundschaft. Meine Freunde bezogen deutsche Sozialhilfe, aber in ihren Erzählungen kamen die Deutschen nicht als Menschen vor. Höchstens als Arbeitgeber, Polizisten oder Beamte. Und aus diesen Erzählungen war ersichtlich, dass Deutschland ein viel angenehmeres Land wäre, wenn es dort keine Deutschen gäbe. O-Ton 17 Olaf Kühl: Andrzej Stasiuk ist einer der bedeutendsten Prosa-Autoren der mittleren Generation in Polen, 1960 geboren. Einer, der eigentlich ein Poet ist, ein Lyriker, der sich in Prosaform äußert. Er hat leider vor langer Zeit das Gedichtschreiben aufgegeben, ist aber wirklich ein Poet. Wenn man ?Dukla? oder andere Bücher von ihm liest, dann sieht man, dass er die Welt praktisch besingt und weniger vom Kopf her arbeitet sondern von der sinnlichen Wahrnehmung her. Sprecher 1: Olaf Kühl, der Entdecker von Andrzej Stasiuk und sein wichtigster deutscher Übersetzer. Sprecher 3, Lesung aus: Andrzej Stasiuk ?Deutschland?, S.2: Ich musste Distanz zu den sowjetischen und polnischen Kriegsfilmen gewinnen. Musste meine Kindheit aufgeben. Musste auf all diese schönen Flüche verzichten: ?Hände hoch, raus, polnische Schweine!?, die wir als Siebenjährige auf dem Hof benutzten und uns so die Grundlagen der deutschen Sprache aneigneten. Aber ich war tapfer, es gelang. Ich legte gewisse Reflexe ab. Wenn ich einen Deutschen fortgeschrittenen Alters sehe, sehe ich einfach nur einen grauhaarigen Alten, kein Mitglied der einen oder anderen militärischen Formation. Heute helfe ich ihnen, den Koffer ins Gepäckfach zu heben. Ich halte die Tür auf, wenn sie mir in Eile nachtrippeln. Ich lächle sie im Fahrstuhl an. Seit einiger Zeit kümmert es mich nicht mehr, ob sie in der Wehrmacht oder in der SS waren, oder in der Luftwaffe. Irgendwo waren sie bestimmt. Gott hat ihnen genug Zeit gegeben, darüber nachzudenken. O-Ton 18 Olaf Kühl: Der Titel ist Deutschland, aber eigentlich macht er sich ein bisschen lustig, aber auf wohlwollende Art. Er schreibt sehr viel darüber, was für Whisky er trinkt, wo er übernachtet, und dadurch macht er sich natürlich ? aus deutscher Sicht - so ein bisschen lustig über die Tiefe, die hier herrscht, über die Kultur, die Probleme. Er geht nur ganz vorsichtig und langsam daran, was eigentlich auch den deutschen Leser interessieren könnte: wie sieht ein Pole Deutschland. Ansonsten sieht Stasiuk natürlich sehr stark in der Provinz das Spießbürgerliche, die dicken deutschen Ehepaare, die dann mit ihm am Frühstückstisch im Hotel sitzen und mag aber gerade das! Er sagt: das finde ich das echte, das wahre Deutschland; das andere, das mediengeprägte, liberale, offene, das ist alles gespielt, das überzeugt mich nicht. Erst wenn er die wirklich abstoßenden deutschen Spießer sieht, fühlt er sich zuhause. Typisch dafür ist auch, dass er die DDR vorzieht. Er sagt immer: die DDR ist für mich das anziehende Deutschland, und er sagt interessanterweise: die DDR ist für mich die Brücke zwischen Westen und Osten und zwischen Germanentum und Slawentum. Ob er das nun in die Neuen Länder reinprojiziert, oder ob er das wirklich dort sieht, das ist die andere Frage. Sprecher 3, Lesung aus: Andrzej Stasiuk ?Deutschland?, S.4: Gut gezügelte Melancholie und Alkohol in vernünftigen Dosen ? nur so hält man die literarische Tour von München bis Hamburg aus. Beim Anblick eines Mercedes die Tränen schlucken. In die silberne Zigarre des ICE steigen, Herbst im Herzen. Einem siebzigjährigen Bürger mit Goldrandbrille in die Augen blicken, der dir im silbernen ICE gegenübersitzt, und einen osteuropäisch großen Schluck Jim Beam nehmen. Meistens wendet der Bürger dann den Blick ab, weil er Angst hat, man könnte ihm einen Schluck anbieten. Das sind einfache Ratschläge, aber vielleicht ganz nützlich, wenn man für ein, zwei Wochen dorthin fährt. O-Ton 19 Olaf Kühl: Er hat dieses Theaterstück geschrieben ? ?Nacht? ? wo ein deutscher Juwelier einen polnischen Autodieb erschießt, dabei einen Herzinfarkt bekommt - und die deutschen Ärzte ihm das Herz dieses polnischen Autodiebes einpflanzen. Und dann wacht er auf dem Operationstisch auf und hat furchtbare Angst, dass er jetzt mit dem polnischen Herzen auch polnische Charaktereigenschaften bekommt. Das endet damit, dass der polnische Autodieb, seine Seele, den Juwelier noch mal besucht im Krankenhaus und sich zu ihm ins Bett legt. Der Pole und der Deutsche liegen zusammen im Bett und reden über deutsche Automarken, über Rüstung, über Abfangjäger. Das ist die Art, wie Stasiuk damit umgeht, er bringt alle Stereotype - die Polen sind Autodiebe, die Deutschen waren Kriegsverbrecher ? alles spricht er aus, aber nicht um Fronten aufzubauen, sondern um durch ein befreiendes Lachen vielleicht doch noch eine Brücke zu schaffen. Musik 5: Sprecher 1: Andrzej Stasiuk, Olga Tokarczuk, Marek Krajewski, Stefan Chwin ? sie alle gehören zur mittleren polnischen Autorengeneration. Die jüngeren Schriftsteller gehen ganz anders mit dem deutsch-polnischen Thema um, sagt W?odzimierz Nowak, Publizist und Journalist bei der liberalen Gazeta Wyborcza: O-Ton W?odzimierz Nowak, polnischer O-Ton, Übersetzung, Sprecher 2: Natomiast mlodzi ? Grundsätzlich ist es so, dass sich die jüngere Generation von einigen Komplexen gelöst hat und sich mit anderen Themen beschäftigt, mit der polnischen Subkultur, mit ihrer eigenen Umwelt, für sie ist das deutsch-polnische Thema eher ein normales Thema und keines, das besonders stark emotional belastet ist. Dorota Mas?owska zum Beispiel, sie ist mit dem Nike-Preis ausgezeichnet worden, ein ganz wichtiger Literaturpreis in Polen, sie schreibt über polnische Themen, das deutsch-polnische Verhältnis interessiert sie nicht. ? sprawami polsko-niemieckimi. Sprecher 1: Die 23jährige Dorota Mas?owska wird zurzeit als Shooting-Star der ganz jungen polnischen Literatur gehandelt. Gut zehn Jahre älter als sie ist Wojciech Kuczok, der mit seinem Roman ?Dreckskerl? in Polen eine hitzige Debatte über Tradition, Religion und nationale Identität ausgelöst hat. Der Roman erzählt von einer katastrophalen, von Gewalt und Erniedrigung geprägten Kindheit, Kuczok rührt damit an ein polnisches Heiligtum: die Familie. O-Ton Wojciech Kuczok, Tr. 48, polnischer O-Ton, Übersetzung, Sprecher 2: Ja gdzies jeszcze ? Ich habe meine Kindheit im kommunistischen Polen in Schlesien verbracht. Damals musste ich mit viele Dinge erst begreiflich machen, zum Beispiel: warum ich meinen Großvater in unserem Familien-Foto-Album in einer deutschen Uniform gesehen habe. Ich musste mich mit meiner Familiengeschichte, mit der mit der schlesischen Geschichte und der polnischen Geschichte auseinandersetzen, damit ich verstehe wer ich bin und wo ich lebe. Dorota Maslowska braucht so etwas nicht für Ihre Literatur, ich würde ihre Bücher und die von einigen anderen jüngeren Autoren ahistorisch nennen, das ist keine Literatur, die eine Reflexion, ein Nachdenken über Geschichte betreibt. Vielleicht ist diese Art von Literatur, wie sie Dorota Mas?owska schreibt, ja auch eine Art Glück, eine Art Freiheit von der Geschichte. ? wolna od histori. Musik 6: 5